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Über dir Polarlichter, unter dir die schneebedeckte Weite Islands Lauras Welt bricht zusammen: Ihr Mann verlässt sie – und das kurz vor Weihnachten! Die gemeinsame Reise nach Island, Lauras Sehnsuchtsziel schlechthin, fällt damit ins Wasser. Oder? Auf Drängen ihrer Freundin stürzt sie sich allein ins Abenteuer. Am Flughafen erwartet sie ein äußerst mürrischer Isländer. Als Laura erfährt, dass sie die kommenden Wochen an der Seite dieses Mannes verbringen wird, macht sie sich Sorgen um ihr Weihnachtsfest. Doch auf dem Rücken ihres Islandpferds findet sie unter den atemberaubenden Polarlichtern endlich wieder den Glauben an sich selbst. Und vielleicht auch an die Liebe?
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Winterglück auf dem kleinen Pferdehof in Island
CHRISTIANE LIND liebte es schon ihr Leben lang, Geschichten zu erzählen. 2010 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, auf den zahlreiche weitere folgten. Ihre Texte wurden für unterschiedliche Preise nominiert, haben einige gewonnen, und die Autorin erhielt mehrere Stipendien des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst für ihre Projekte. Seit Christiane Lind das erste Mal im Tölt auf dem Rücken eines Islandpferdes durch den Wald geschwebt ist, ist sie den charakterstarken und temperamentvollen Ponys verfallen. Die Insel aus Eis und Feuer ist ihr Traumreiseland. Mit ihrem Mann und fünf Katzen lebt sie in einem Dorf bei Kassel.
Christiane Lind
Roman
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Oktober 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka, MünchenTitelabbildung: © Sabine Kwauka unter Verwendung von shutterstock-Motiven: © kzww (Himmel / Hintergrund); / © Andrew Mayovskyy (Landschaft/Häuser); / © winyuu (Schnee); / © wirakorn deelert (Schneeflocken); / © Juice Verve (Paar); / © Rodrigo Lourezini (Islandpferd); / © Naurider (Pferdeschweif); / © Annabell Gsoedl (kleine Islandpferde); / © Life morning (Tasse); / © Edalin Photography (Sahne/Zimt); / © Nattika (Anisstern); / © Anastasiia Malinich (Zapfen); / © LUMIKK555 (Zweig oben); / © domnitsky (Zweig unten); / © New Africa (Plätzchen); / © Irina Rogova (Sternanhänger)E-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3040-2
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Anhang
Danke
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Aufgeregt beugte Laura sich vor, um aus dem winzigen Flugzeugfenster zu spähen. Noch versperrte ihr eine dichte Wolkendecke den Blick auf ihr Ziel. Die Stimme des Kapitäns erklärte den Passagieren, dass sie bald mit dem Landeanflug auf Keflavík, den internationalen Flughafen Islands, beginnen würden.
Laura konnte es kaum erwarten, Island das erste Mal zu sehen. Endlich spürte sie im Magen, wie der Flieger Schub wegnahm und tiefer sank. Sie ließen die Wolken über sich zurück, und langsam konnte Laura etwas anderes erkennen als deren endloses Weiß. Ihr Herz pochte schneller vor Aufregung und Freude, bald die Insel aus Feuer und Eis erblicken zu können.
Doch bisher gab es auf ihrer Seite nur Himmel und Wasser zu sehen. Das Meer schimmerte in tiefen Blautönen, der Himmel zeigte sich in einem bläulichen Weiß, durchzogen von sanften orangefarbenen Schlieren.
Doch auf einmal zeigte sich noch etwas anderes: Unter den tief hängenden Wolken, die wie muntere Schafe über den Himmel zogen, erhob sich Land aus dem Wasser. Laura spähte an dem großen Flügel vorbei, und ja, dort war es – Island. Ihr Herz schlug schneller, als sie die Insel erspähte, von der sie so viel gehört und über die sie so viel gelesen hatte.
Selbst aus dieser Höhe konnte Laura Strände erkennen, die sich ins Blau des Meeres erstreckten. Weiß brandete das Wasser an diese dunklen, fast schwarzen Flächen. Obwohl sie nur einen ersten Eindruck gewonnen hatte, war Laura sicher, dass Island ganz anders aussah als alle Länder, die sie bisher bereist hatte.
Die Strände gingen in braune Erde über, was Laura ein wenig enttäuschte, denn sie hatte so sehr auf Schnee gehofft. Sie liebte weiße Winter, es machte sie glücklich, wenn alles unter einer dicken Schneedecke verschwand und die Welt hell und glitzernd aussah. Wann hatte es in Deutschland das letzte Mal weiße Weihnachten gegeben? Meist schneite es vor dem Fest und nach dem Fest, aber an Weihnachten selbst war die Welt grau, matschig und trostlos, etwas, das Laura inzwischen persönlich nahm.
Als wollte Island ihren Wunsch erfüllen, tauchten die ersten Schneefelder auf. Ruhig zog das Flugzeug darüber hinweg, Laura spürte nur an dem leichten Druck im Magen und in den Ohren, dass die Maschine tiefer sank.
Ihr Sitznachbar, der den ganzen Flug über an einer PowerPoint-Präsentation auf seinem Laptop gearbeitet hatte, lehnte sich ebenfalls vor und beugte sich an ihr vorbei, um aus dem Fenster spähen zu können. Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel. Er war groß und schlank, hatte dunkle Haare und tiefblaue Augen. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, und zu seinen Füßen stand eine elegante Aktentasche. Was er wohl beruflich machte?
Laura stellte sich vor, wie er als erfolgreicher Geschäftsmann durch die Welt reiste und in luxuriösen Hotels übernachtete. Dagegen fühlte sie sich klein und unbedeutend. Was führte ihn wohl nach Island? Als hätte er ihre Neugier gespürt, lächelte er sie an.
»Waren Sie schon mal in Island? Für mich ist es das erste Mal«, sagte sie stockend.
Es hatte sie Mut gekostet, ihn auf Englisch anzusprechen. Laura hatte sich die Worte im Kopf zurechtgelegt, bevor sie das Gespräch mit ihrem Sitznachbarn begann, und selbst dann war ihre Zunge über die fremde Sprache gestolpert. Kurz hatte sie überlegt, ein paar isländische Worte einzuflechten, die sie in den vergangenen Wochen gelernt hatte, aber das hatte sie sich nicht getraut. Vielleicht würde sie bei ihrer Gastfamilie einen Versuch mit der Sprache wagen.
»Oh nein.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Ich lebe hier, war beruflich in den USA und komme rechtzeitig zu Weihnachten nach Hause.«
»Wie schön. Weihnachten ist das Fest der Familie«, antwortete Laura nachdenklich, und sie wusste nicht, ob sie mehr mit dem Fremden oder zu sich selbst sprach. Für sie war Weihnachten die schönste Zeit des Jahres. Sie liebte es, die Fenster mit weihnachtlichen Fensterbildern zu dekorieren, Lichterketten über den Bäumen im Garten zu verteilen, Lichterbögen im Haus aufzustellen, einen Weihnachtsbaum auszusuchen. Auch wenn sie ihn allein schmücken musste. Weder ihr Ehemann Dominik noch ihre Tochter Merle waren Weihnachtsfans. Jedenfalls nicht so sehr wie Laura. Nein, an Dominik wollte Laura jetzt auf keinen Fall denken, daher wandte sie sich wieder an ihren Sitznachbarn.
»Ich beneide Sie darum, auf dieser wunderschönen Insel zu leben. Island ist doch wundervoll, nicht wahr?« Die Reiseführer und Dokumentationen, die sie sich angesehen hatte, hatten ihr die Insel von der schönsten Seite gezeigt, allerdings meist im Sommer. »Wie ist Island im Winter?«
»Island ist zu jeder Jahreszeit etwas ganz Besonderes.« Der Fremde lächelte und klappte den Laptop zu. »Ich beneide Sie, dass Sie zum ersten Mal meine Heimat kennenlernen. Reisen Sie über den Golden Circle?«
Der goldene Kreis war eine der beliebtesten Routen für Islandreisende, und ursprünglich hatte Laura geplant, sich die Sehenswürdigkeiten dieser Tour anzusehen. Doch dann war alles anders gekommen, und sie hatte ihren Plan Hals über Kopf geändert.
»Ich reise in den Norden, um dort drei Wochen auf einem Pferdehof zu verbringen.« Noch immer konnte sie kaum glauben, dass sie diese Entscheidung wirklich getroffen hatte. »Ich bin vor Jahren geritten und freue mich sehr, die Islandpferde kennenzulernen.«
»Das mit dem Norden sollten Sie sich gut überlegen.« Er zwinkerte ihr zu. »Reykjavík ist eine Reise wert. Ich bin dort aufgewachsen.«
»Vielleicht auf dem Rückweg. Erst einmal fliege ich weiter nach Akureyri und werde dort abgeholt.«
»Und ist es nicht zu kalt für einen Reiturlaub?« Laura bemerkte, dass ihr Sitznachbar sie skeptisch musterte. »Und es gibt nur vier Stunden Tageslicht.«
»Ich weiß.« Laura zuckte mit den Schultern, als wäre das kein großes Ding, aber in Wahrheit fragte sie sich erneut, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie hatte spontan und rein nach Bauchgefühl den Hof namens Dalurstadir aus der Vielzahl der Angebote im Norden Islands ausgewählt. Der Norden sollte es sein, weil ihre Mutter vor vielen Jahren dort auf einem Hof namens Bláskógur gewesen war, den Laura allerdings nicht hatte finden können.
Irgendetwas an den Bildern von Dalurstadir auf der Internetseite hatte ihr Herz angesprochen. Die Stallungen lagen neben einem roten Haus, strahlend weiße Wellblechhütten mit einem taubenblauen Streifen darauf. Die Farbe wiederholte sich in den Fensterrahmen und bei der großen Scheunentür. An die Wand des Stalls hatte jemand ein Islandpferd gemalt, dessen Mähne und Schweif im Wind flatterten. Möglicherweise hatte das den Ausschlag zur Buchung gegeben. Der Hof gehörte einer Familie namens Halldórsson, das klang sympathisch. Und sehr isländisch.
»Reiten Sie?«, fragte sie ihren Sitznachbarn. »Ich habe gelesen, in Island gibt es mehr Pferde als Menschen.«
»So viele Pferde sind es nicht«, antwortete er mit einem Lächeln. »Früher bin ich geritten. Heute arbeite ich zu viel.« Er deutete auf das Notebook.
»Viel Erfolg.« Laura blickte wieder aus dem Fenster, und ihr Herz machte einen Sprung. Vor ihren Augen erstreckte sich eine unendliche Eisfläche. Das musste der Vatnajökull sein, der größte Gletscher Islands, der in einem unwirklich anmutenden Weißblau glitzerte. Es war das eine, den Gletscher auf Fotos zu sehen, aber es war etwas vollkommen anderes, daran entlangzufliegen und sich klein und winzig neben dem gewaltigen Eis vorzukommen. Viel zu schnell flogen sie an den Eismassen vorbei. Wolken zogen auf und beeinträchtigten die Sicht auf das Land. Es kam Laura vor, als wäre Island eine Insel in einem mystischen Reich über den Wolken, umgeben von tiefblauem Wasser.
Zwischen den schäfchenweißen Wolken tauchten plötzlich graue Rauchschwaden auf. Brannte es etwa irgendwo? Laura verengte die Augen und beugte sich weiter vor, bis sie fast mit der Nase an das Plastikfenster stieß. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht sein, oder?
Sie wandte sich ihrem Sitznachbarn zu, der auf seine Tastatur eintippte.
»Entschuldigung, dass ich noch einmal störe, aber ist das der Rauch eines Vulkans?« Sie flüsterte, so beeindruckt war sie von dem Naturschauspiel.
»Sie reisen auf die Insel aus Eis und Feuer«, antwortete er mit einem Glitzern in den blauen Augen. »Und nun haben Sie schon beides gesehen, bevor Sie einen Fuß auf den Boden gesetzt haben. Beeindruckend, nicht wahr?«
Laura konnte nur nicken, verstummt vor der Urwüchsigkeit dieses besonderen Landes. Und immer wieder schimmerte das Meer in den unterschiedlichsten Blautönen unter ihnen. Die Maschine überflog nun eine breite Straße und eine tiefblaue Bucht, und dann entdeckte Laura sie im Hintergrund: majestätische, mit Schnee bedeckte Berge.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Nun konnte sie endlich verstehen, warum ihre Mutter sich gewünscht hatte, nach Island zurückzukehren. Umso trauriger war es, dass es ihr nicht gelungen war. Beim Gedanken an Clara wurde Lauras Herz schwer, hatten sie diese Reise doch gemeinsam geplant. Erst nach dem Tod von Lauras Vater vor drei Jahren hatte ihre Mutter ihr verraten, wie sehr es sie auf diese Insel zog. Es war, als hätte sie Laura in ein jahrelang gehütetes Geheimnis eingeweiht. Vorher hatte sie nie ein Wort über Island verloren, sondern die Urlaube entweder in Deutschland oder irgendwo im Süden verbracht. Erst nach und nach war ihre Mutter damit herausgerückt, dass sie vor fast 40 Jahren auf einem Hof im Norden Islands gearbeitet hatte. Warum sie ihrer Tochter diesen Aufenthalt verschwiegen hatte, würde Laura wohl nie erfahren … Der Blick aus dem Fenster lenkte sie von ihren düsteren Gedanken ab. Überrascht legte Laura die Hand auf ihren Mund. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, doch das Bild vor ihr blieb bestehen. Unter ihr zeigte sich ein tiefblauer Fjord, der so schön war, dass Laura den Atem anhielt.
Viel zu schnell setzte das Flugzeug nun zur Landung an, und Laura tat es leid, dass sie nur für den Transfer in Reykjavík bleiben würde. Sie hätte ihren Urlaub anders planen, ein paar Tage die Hauptstadt genießen sollen. Aber nein, dafür hätte ihr die Geduld gefehlt. Sie konnte es kaum erwarten, endlich den Norden des Landes kennenzulernen, auf den Spuren ihrer Mutter zu wandeln und herauszufinden, was sie mit dieser Insel verbunden hatte. Sie dachte an den sehnsuchtsvollen, aber auch traurigen Blick, den sie in den Augen ihrer Mutter gesehen hatte, wann immer diese über Island gesprochen hatte.
Das Flugzeug setzte auf, und Lauras Herz pochte schneller.
»Geht die Landung immer so schnell?«, wandte sie sich an ihren Sitznachbarn, der sein Notebook inzwischen zugeklappt hatte und es in seiner Aktentasche verstaute.
»Ja, die Landebahn ist kurz und der Anflug ebenfalls, aber nichtsdestotrotz faszinierend, nicht wahr?«
Sie konnte nur nicken, denn Traurigkeit stieg in ihr auf, Bedauern darüber, dass sie die Reise nicht wie geplant mit einem Menschen, den sie liebte, unternahm. Weder mit ihrer Mutter, die es zu Lebzeiten nicht mehr nach Island geschafft hatte, noch mit Dominik, der sie im Stich gelassen hatte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ihr Sitznachbar in diesem weichen, sanft klingenden Englisch, das ganz anders war als der harte deutsche Akzent, der ihre Aussprache begleitete.
»Ich wollte die Reise eigentlich mit meiner Mutter antreten«, sagte Laura zu ihrem Erstaunen. Seit wann suchte sie den Trost von Fremden? Ihre Stimme versagte, und sie schaute auf ihre Hände, um dem Blick des Mannes auszuweichen.
»Wo ist Ihre Mutter?«, fragte er jetzt.
»Ich habe die Reise so oft verschoben und …« Erneut fehlten ihr die Worte. Der Fremde sah sie nur an, sein Blick war sanft und freundlich, was ihr die Kraft gab weiterzureden. »Meine Mutter ist im Frühjahr unerwartet gestorben.« Laura schluckte schwer. Noch immer schmerzte es, als wäre es erst gestern gewesen, dass das Schicksal zugeschlagen hatte.
»Das tut mir sehr leid.«
»Danke. Meine Mutter war als junge Frau auf Island.« Sie lächelte, um dem Gespräch die Schwere zu nehmen. »Genau genommen waren wir beide hier. Sie war mit mir schwanger, als sie auf Island war.«
»Dann wären Sie fast auf Island geboren worden?«, hakte er nach. »Dann könnten Sie jetzt Ingibjörg oder Dagný heißen.«
»Ich glaube nicht. Ich meine, ich weiß gar nicht, ob meine Mutter bereits wusste, dass sie schwanger war. Aber es ist eine schöne Vorstellung, dass wir gemeinsam …« Erneut stieg Traurigkeit in ihr auf, und sie wechselte das Thema. »Sagt man eigentlich ›auf Island‹ oder ›in Island‹?«
Das hatte sie sich schon oft gefragt, denn Island war eine Insel, und deshalb hätte es »auf Island« heißen müssen, aber gleichzeitig war es ein Land, was für »in Island« sprach.
»Soweit ich weiß, heißt es ›auf Island‹, wenn es um die Insel geht, und ›in Island‹, wenn man den Staat meint.« Er nickte ihr zu. »Ich wünsche Ihnen jedenfalls eine großartige Zeit auf unserer schönen Insel.«
»Danke.«
Das Licht, das an den Anschnallgurt erinnerte, war bereits erloschen, und etliche Menschen, dem Anschein nach Touristen, erhoben sich aus den Sitzen, um ihre Siebensachen zusammenzusammeln, auch wenn der Kapitän um Ruhe und Gelassenheit bat. Nur wenige Reisende blieben entspannt sitzen. Der Mann neben Laura wartete gelassen, genauso wie einige andere Männer und Frauen, die ihm ähnelten. Laura hatte viel über Island gelesen, und es schien tatsächlich zu stimmen, dass die Isländer es nicht so eilig hatten wie die Deutschen. Dass sie das Leben mit mehr Spaß und Freude annahmen. Vielleicht würde es ihr gelingen, auf dieser Reise ihre Freude wiederzufinden, die ihr so sehr fehlte.
Während sie darauf wartete, dass der schmale Gang sich leerte, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem furchtbaren Tag vor zwei Monaten, an dem sie ihre Islandpläne hatte begraben wollen.
Zwei Monate zuvor
Island! Noch konnte Laura kaum glauben, dass sie wirklich für fast drei Wochen dorthin reisen würde. Vor einer halben Stunde war sie aus der Innenstadt zurückgekehrt, wo sie die Flugtickets für ihren Islandurlaub abgeholt hatte. Laura kniff sich in den Unterarm. Sie und Dominik würden wirklich und wahrhaftig nach Island reisen.
Erneut spürte Laura den Stich des schlechten Gewissens, weil sie die Reise mit ihrer Mutter immer wieder verschoben hatte, bis es plötzlich zu spät gewesen war. Tränen traten in ihre Augen. Immer wieder war etwas dazwischengekommen, und Clara und Laura hatten einander versprochen, dass sie spätestens zu Lauras vierzigstem Geburtstag den Plan in die Tat umsetzen würden.
Doch dann war alles anders gekommen: Clara hatte die Diagnose Krebs erhalten und war unerwartet verstorben. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Laura beschlossen, ihr Versprechen zu halten und noch vor ihrem vierzigsten Geburtstag auf die Insel zu reisen. Sie plante eine Rundreise durchs Land und wollte auf jeden Fall den Hof im Norden besuchen, auf dem ihre Mutter gearbeitet hatte. Bláskógur – so hieß er, mehr wusste Laura nicht. Jede Frage danach, was sie auf Island damals gemacht hatte, hatte Clara mit den Worten abgewehrt: »Das erzähle ich dir, wenn wir dort sind.«
Nun musste Laura es selbst herausfinden. Obwohl ihr Mann Dominik lieber im Süden Urlaub machte, hatte er sich bereit erklärt, Laura nach Island zu begleiten. Nun hatte Dominik vorgeschlagen, ihren vierzigsten Geburtstag auf Island zu verbringen. So konnte sie das Versprechen an ihre Mutter einlösen und gleichzeitig ihren runden Geburtstag feiern, der am 27. Dezember sein würde. Als Kind hatte Laura es gehasst, kurz nach Weihnachten Geburtstag zu haben. Denn es hatte immer geheißen: »Das große Geschenk bekommst du zum Geburtstag.«
Inzwischen hatte Laura sich mit dem Termin arrangiert. Das Haus war an ihrem Geburtstag noch weihnachtlich geschmückt, es waren noch Kekse da, und man konnte gemütlich bei Kerzenschein feiern und hoffen, dass der Schnee noch käme.
Nur nicht in diesem Jahr. In diesem Jahr würden Dominik und sie die Ringstraße in Island bereisen, Gletscher sehen, in heißen Quellen baden, an schwarzen Stränden entlangspazieren, sich möglicherweise sogar in die Nähe eines aktiven Vulkans wagen. Obwohl es noch mehr als zwei Monate bis zu ihrer Reise waren, klopfte Lauras Herz aufgeregt vor Vorfreude.
Erneut senkte sie ihren Blick auf den Bildband über Island, den sie sich am vergangenen Tag gekauft hatte. Das Buch zeigte wunderschöne Bilder von prachtvollen Wasserfällen, grünen Landschaften, schneebedeckten Bergen und hübschen Ponys, und Laura freute sich wahnsinnig, wenn sich auch eine Spur Traurigkeit in die Vorfreude mischte, weil sie Island ohne ihre Mutter bereisen würde. Sie würde ihr nicht einmal von ihren Erlebnissen dort erzählen können.
Laura saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und studierte die Landkarte. Sie dachte an ihre Mutter und daran, wie sie vom Norden Islands geschwärmt hatte. Von den endlosen Weiten, der magischen Landschaft, den majestätischen Bergen und den geheimnisvollen Fjorden. Laura spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie sich vorstellte, all das mit eigenen Augen zu sehen. Sie lächelte, als sie an all die Abenteuer dachte, die Dominik und sie erwarten würden. Sie würden über die einsamen Straßen des Nordens fahren, in abgelegenen Dörfern übernachten und die atemberaubende Schönheit der Natur erleben. Sie würden wandern und die heißen Quellen besuchen, die ihre Mutter so geliebt hatte. Laura spürte, wie ihre Augen feucht wurden, als sie an Clara dachte. Mit aller Kraft versuchte sie, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Im Kopf ging sie immer wieder durch, was sie im Vorfeld der Reise zu tun hatte. Auf gar keinen Fall durfte sie den Adventskalender für Merle vergessen, ebenso wenig wie das Weihnachtspaket für ihre Tochter. Glücklicherweise waren keine Impfungen für die Reise notwendig, da musste Laura also nicht weiter drüber nachdenken. Aber es blieb auch so noch genug zu tun. Der Winter auf Island war garantiert kälter als der in Deutschland, vor allem würden sie ja auch viel Zeit draußen verbringen. Laura musste sich um die richtige Kleidung kümmern, ihr feiner Wollmantel würde ganz sicher nicht ausreichen, fror sie darin auch im deutschen Winter schon oft.
Da das schöne Buch Besseres verdient hatte als einen Menschen, der es nur halbherzig durchblätterte, legte Laura es mit einem Seufzer zur Seite, nahm Block und Stift zur Hand und begann, in ihrer geschwungenen Handschrift eine Liste zu schreiben:
Adventskalender Merle
Die Post nach Australien brauchte ziemlich lange; daher war es wichtig, den Adventskalender bald vorzubereiten und ihn spätestens Mitte November loszuschicken.
Weihnachtspaket Merle
Auch das durfte sie auf keinen Fall vergessen.
Belle anrufen
Ihre beste Freundin hatte mehrfach gesagt, wie gern sie Laura begleitet hätte, aber Belle musste an den Feiertagen arbeiten. Außerdem konnte Laura sich nicht vorstellen, dass Dominik und Belle es miteinander aushalten würden. Obwohl Laura sich darauf freute, mit ihrem Ehemann Island zu erkunden, gab es einen Teil in ihrem Herzen, der dieses Erlebnis lieber mit Belle geteilt hätte. Denn Belle hatte Lauras Mutter gut gekannt und beinahe so sehr geliebt wie Laura. Mit ihrer Freundin könnte Laura Erinnerungen teilen und sich gemeinsam fragen, was für eine Geschichte Clara und Island wohl verband. Dominik dachte zu praktisch, um darüber zu spekulieren, was es mit dem Hof Bláskógur auf sich hatte.
Temperaturen recherchieren und Kleidung kaufen
Winterstiefel
Reiseführer
Ponyhof anfragen?
Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Mann sich auf den Rücken eines Islandpferdes setzen würde, war gering, aber einen Versuch war es wert. Schließlich galten die zähen Ponys als gutmütig und auch für Menschen geeignet, die noch nie auf einem Pferd gesessen hatten. Vielleicht konnte sie Dominik bei seinem sportlichen Ehrgeiz packen und ihn dazu überreden, wenigstens einen kurzen Ritt zu wagen.
Als Teenagerin hatte Laura eine Pferdemädchen-Phase gehabt, allerdings hatte sie bisher nie ein Islandpferd geritten. Der Urlaub wäre eine großartige Gelegenheit, das endlich nachzuholen. Sie schwelgte in der Vorstellung, wie Dominik und sie auf diesen niedlichen Ponys an einem schwarzen Strand entlanggaloppierten.
Laura fröstelte. Es war zwar nicht bitterkalt im Haus, aber kühl genug, um das Feuer im Kaminofen zu entzünden. Der gewaltige Kachelofen nahm eine Wand im Wohnzimmer ein, ein Korb mit Feuerholz und Anzünder standen daneben. Laura mochte die besondere Wärme, die der Ofen abgab, und hatte ihre Anzündetechnik perfektioniert. Die warmen Flammen strahlten eine Gemütlichkeit aus, die sie liebte.
War es schon Zeit, das Abendessen vorzubereiten? Laura sah auf ihre Armbanduhr. Dominik würde erst in einer Stunde nach Hause kommen, denn er trainierte wieder im Fitnessstudio. Damit hatte er vor einem halben Jahr angefangen, als Merle nach Australien gegangen war. Lauras Auffassung nach übertrieb ihr Ehemann es mit seiner Sportbegeisterung, legte er doch inzwischen fast jeden Abend nach der Arbeit eine ausgiebige Einheit an den Geräten ein, doch Dominik behauptete, es wäre gut für seine Gesundheit, und da konnte Laura natürlich nicht widersprechen.
Zuerst hatte es ihr noch gefallen, dass ihr Mann aktiv wurde. Denn in den vergangenen Jahren hatten sie sich zu Couch-Potatoes entwickelt, und das tat weder der Gesundheit noch ihrer Beziehung gut. Laura hatte gehofft, sie würden eine gemeinsame Aktivität finden. Sie hatte Joggen oder Nordic Walking vorgeschlagen, aber beides hatte abgelehnt.
»Melde dich doch auch im Studio an«, hatte er ihr vorgeschlagen, obwohl er genau wusste, dass Laura diese Einrichtungen nicht mochte. Sie fühlte sich unwohl, wenn sie an einem Fitnessstudio vorbeiging und die schlanken, jungen Menschen dort sah. Sie befürchtete, dass man sie dort belächeln würde.
Dominik schien damit kein Problem zu haben. Aber musste er so übertreiben? Inzwischen hatte er zehn Kilo verloren und wirkte hager und sehnig. Wenn Laura sich an ihn kuschelte, fühlte sich das ungewohnt an; vorher hatte er ihr besser gefallen. Aber Laura kannte die intensiven Phasen ihres Mannes schon. Wenn er etwas machte, dann zog er es durch und ordnete alles seinem neuen Hobby unter.
Doch aktuell schien Dominik sein Leben grundlegend infrage zu stellen. Mit seinem Beruf als Ingenieur war er auf einmal nicht mehr glücklich, sondern suchte etwas Erfüllendes, wie er es nannte. Er hatte zunächst in Erwägung gezogen, Winzer zu werden, dann sah er sich plötzlich als Physiotherapeut, um Menschen zu helfen.
Kurz wollte er ein Medizinstudium anfangen, um dann in die Entwicklungshilfe zu gehen. Der Plan hatte ungefähr zwei Monate gehalten. Aktuell wollte ihr sportbegeisterter Partner Archäologe werden.
Laura hoffte, dass auch dieser Plan unausgeführt an ihnen vorbeiziehen würde. Denn sie mochte ihr Leben so, wie es war. Sie liebte das Haus am Stadtrand, das ihnen gemeinsam gehörte, auch wenn es ihr zu groß vorkam, seit Merle für ihr Auslandsjahr nach Australien gegangen war. Sie war zufrieden mit ihrer Stelle als Sachbearbeiterin im Jugendamt der Stadtverwaltung. Den Gedanken, dass sie noch nicht alles erreicht hatte, dass noch mehr auf sie warten musste, als sie bisher erlebt hatte, hatte sie nur selten. Sicher fragte sie sich manchmal, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hatte, den passenden Beruf gewählt, die großen Entscheidungen so getroffen hatte, dass sie sie auch in Zukunft glücklich machen würden – aber dann holte sie der Alltag wieder ein, und sie lebte in den Tag hinein und sorgte sich nicht um die Zukunft. Auch weil sie Dominik hatte.
Sie liebte ihren Mann. Sicher, es war nicht mehr die große überwältigende Liebe, das Herzklopfen, die Schmetterlinge im Bauch, die sie vor zwanzig Jahren gespürt hatte, als sie frisch verliebt gewesen waren. Inzwischen waren sie ein eingespieltes Team. Sie kannte seine Stärken und Schwächen, und er kannte ihre, wobei Laura manchmal den Eindruck hatte, sie kannte ihn besser als er sie. Aber das war bei Männern wohl so.
Zu ihrer Überraschung hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss der Haustür drehte. Sie stand auf und ging in den Flur.
»Dominik? Bist du heute nicht im Fitnessstudio?« Sie musterte ihren Mann, der irgendwie ertappt wirkte, obwohl sie nur eine schlichte Frage gestellt hatte. Er starrte sie an. Dann wandte er den Blick ab, seine braunen Augen fixierten einen Punkt neben ihrem Kopf, was Laura langsam nervös machte. Warum verhielt sich Dominik so seltsam? Sie erkannte ihn kaum wieder. Klassische Midlife-Crisis, scherzte sie manchmal mit Belle, doch in diesem Moment begann Dominiks Verhalten, ihr Angst zu machen.
Langsam zog Dominik seinen dunkelblauen Mantel aus. Er trug ein pinkfarbenes Hemd, das Laura zum ersten Mal sah. Wann hatte er es gekauft? Sie war gewohnt, dass ihr Mann zu klassischen Farben griff, Hellblau und Weiß. Das Pink blendete sie geradezu, und sie wollte gerade einen Scherz über seinen modischen Fehlgriff machen, als Dominik seinen Mantel an der Garderobe aufhängte, ihn glatt strich und sich mit einem Seufzer zu ihr umwandte.
»Laura. Wir müssen reden«, presste er hervor und sah sie ernst an.
»Ja?«, fragte Laura überrascht. Welches neue Lebensziel hatte ihr Mann sich wohl diesmal gesteckt? Hoffentlich plante er nicht, ihre Ersparnisse in einen Porsche zu investieren.
»Lass uns ins Wohnzimmer gehen.« Dominiks Tonfall klang so düster, dass Laura begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Was zur Hölle passierte hier gerade?
»Bitte, du machst mir Angst. Ist etwas mit Merle?« Laura folgte ihrem Ehemann, die Gedanken rasten durch ihren Kopf. »Oder ist etwas im Büro schiefgelaufen? Egal, was es ist, wir stehen es gemeinsam durch.« Sie versuchte sich an einem Lächeln.
Da Dominik sich auf den Sessel setzte, nahm Laura auf dem Sofa Platz. Sie blickte ihren Mann an, der auf seine Hände starrte, die er ineinander verschränkt hatte. Vor Aufregung zog sie ihre zur Faust geballte Hand an den Mund. Warum sagte er denn nichts?
»Ich habe es versucht, Laura.« Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Du musst mir glauben, ich habe es so sehr versucht.«
Laura fühlte sich, als würde eine Hand ihren Magen zusammendrücken. Sie öffnete ihre Faust und griff an ihre Kehle, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Himmel! Was wollte er ihr sagen? Diese Ungewissheit zerrte schlimmer an ihren Nerven, als jede Nachricht es tun könnte.
»Bitte, sag es doch endlich, Dominik.« Sie hatte ihm doch bereits versichert, dass sie ihm zur Seite stünde, warum rückte er nicht mit der Sprache heraus?
Endlich hob er den Kopf und sah sie an, mit diesem besonderen Blick, den er immer aufsetzte, wenn er Mist gebaut hatte. Obwohl sie sich vor dem fürchtete, was ihm auf der Seele lag, hätte sie ihn am liebsten geschüttelt und gerufen: »Sprich es endlich aus!«
Inzwischen war Laura sicher, dass es um ihre Ehe ging. Hatte er etwa eine Affäre? Die Signale waren eindeutig: der übertriebene Sport, die späten Feierabende, das pinkfarbene Hemd – aber trotzdem konnte sie es sich einfach nicht vorstellen. Nicht er, nicht ihr Dominik. Er war doch eine treue Seele.
»Ich wollte wirklich mit dir über Weihnachten nach Island reisen«, brachte er endlich heraus. »Aber ich kann nicht.«
Der Knoten in Lauras Magen löste sich auf, und sie stieß einen Seufzer aus. Das also war es. Sicher, es war schade, dass Dominiks Beruf wieder einmal ihren Urlaubsplänen im Weg stand, aber so schlimm war das nun wirklich nicht. Wie hatte sie nur denken können, dass er sie betrog?
»Dann feiern wir Weihnachten eben hier, und ich kann mich bei der Deko austoben.« Sie lächelte ihn an. »Es ist ohnehin schöner, wenn wir nächstes Jahr im Sommer fahren. Die Mittsommernacht muss unglaublich sein.«
»Laura, ich kann nicht mit dir nach Island fahren«, setzte er leise hinzu.
»Wie? Was? Warum?«, platzte sie heraus. Sie verstand nicht, was er ihr sagen wollte. »Was habe ich falsch gemacht?«
»Ich habe mich wirklich bemüht«, wiederholte Dominik.
Er stand auf, ging zum Sofa, nahm die Sofakissen nacheinander auf und schüttelte sie. Anschließend rückte er die Zeitschriften, die auf dem Couchtisch verteilt lagen, gerade. Sein Verhalten machte Laura Angst. So war Dominik: Wenn er emotional bewegt war, musste er aufräumen.
»Bitte setz dich, und erzähl mir endlich, was los ist.« Sie betonte jedes einzelne Wort, um ruhig zu bleiben. »Dominik, du kennst mich. Es macht mich verrückt, nicht zu wissen, was los ist.«
»Ja, ich kenne dich und sage es einfach, wie es ist. Ich wollte dir deinen Geburtstag nicht verderben und habe deshalb angeboten, mit dir nach Island zu fahren.« Er ließ sich wieder auf den Sessel sinken und bildete mit den Händen eine Raute. »Außerdem weiß ich, wie viel dir die Reise bedeutet. Wegen Clara.«
Sie nickte nur.
»Aber mit dir dorthin zu reisen wäre eine Lüge«, hörte sie ihren Mann jetzt sagen.
»Du magst Island nicht? Warum hast du das nicht gesagt?«
Als Antwort verdrehte Dominik die Augen, was Laura unverschämt fand. Er hatte ihr gerade Weihnachten und ihren Geburtstag verdorben. Da musste er doch verstehen, dass sie Antworten wollte.
»Du machst es mir echt schwer.«
»Was soll das heißen?« Sie fühlte sich, als spräche er Spanisch und sie Finnisch – sie konnte einfach nicht begreifen, was er ihr sagen wollte.
»Es geht nicht um Island, es geht um dich. Es geht um uns.«
»Was habe ich falsch gemacht?«, brachte Laura hervor.
»Nichts.« Sein Blick war leidend. »Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Du hast eine Affäre.«
»Nein.«
Am liebsten hätte sie vor Erleichterung laut ausgeatmet, aber etwas in seiner Miene ließ sie abwarten.
»Es ist keine Affäre. Vanessa ist meine große Liebe«, sagte er mit fester Stimme.
Vanessa? Wer, um Himmels willen, war Vanessa? Es konnte nicht sein, dass es eine andere Frau gab. Sie liebten sich, sie waren seit Ewigkeiten ein Paar. Hatten gerade ihre gemeinsame Tochter nach Australien verabschiedet. Erst vor einer Woche hatten sie darüber gesprochen, nach der Islandreise den Antelope Canyon in den USA zu besuchen und für eine längere Zeit nach Neuseeland zu fliegen oder vielleicht zu Merle nach Australien. Dominik war doch ihr sicherer Hafen, ihre Konstante, ihre Zukunft.
»Das … das glaube ich nicht.« Sie hasste es, dass ihre Stimme brach. »Du kannst zwanzig Jahre nicht einfach so wegwerfen.«
Dominik seufzte. Er rieb mit den Händen über seine Oberschenkel und seufzte: »Glaub mir, ich wünschte auch, es wäre anders.«
»Du hast es doch in der Hand. Es ist deine Entscheidung.« Lauras Stimme zitterte, sie spürte Tränen in sich aufsteigen. »Gib uns noch eine Chance, bitte.«
»Ach, Laura, so einfach ist das nicht. Ich liebe Vanessa … Ich habe mich noch nie so gefühlt.«
»Bitte nicht.« Laura senkte den Kopf und legte die Hände vors Gesicht. Ihre Schultern bebten vor Schluchzen. »Bitte sag das nicht.«
»Es ist wohl besser, wenn ich jetzt gehe.« Als Laura den Kopf hob, sah sie, wie Dominik sich erhob. »Ich melde mich, und dann können wir besprechen, wie es weitergehen soll.«
Das konnte er nicht ernst meinen! Er konnte ihr doch nicht den Boden unter den Füßen wegziehen und dann verschwinden, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, mit ihm darüber zu reden, zu verstehen, was passiert war.
»Belle.« Lauras Stimme zitterte, sie umklammerte den Telefonhörer, als wäre er ihr eine Stütze in dieser ausweglosen Situation. »Dominik hat eine andere. Er ist weg!«
Nun, da sie es ausgesprochen hatte, traf sie die Wahrheit mit unerwarteter Härte. Jetzt konnte sie nicht mehr hoffen, es wäre alles nur ein böser Traum. Dass sie sich alles nur ausgedacht hatte.
»Oh nein, Liebes. Ich bin in zehn Minuten da.« Die Stimme ihrer besten Freundin klang besorgt. »Mit Schokolade und Aperol.«
Trotz ihrer Traurigkeit musste Laura kurz lächeln, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Das war so typisch für Belle. Ihre Freundin hob sich alle Fragen für später auf und konzentrierte sich auf das Wesentliche.
»Ich stelle Sekt kalt.«
»Tu mir einen Gefallen, hör bloß keine dramatische Musik oder ruf ihn an. Und fang nicht ohne mich an zu trinken.«
»Das mache ich auf gar keinen Fall.« Laura legte auf, ohne sich zu verabschieden. Sie stand auf, um eine neue Packung Taschentücher zu suchen.
Was für eine Zukunft erwartete sie jetzt? All ihre Pläne hatte Dominik über den Haufen geworfen, und sie würde neu anfangen müssen. Nun, da ihre Tochter aus dem Haus war, wollten Laura und Dominik eigentlich in die – wie man es so schön nannte – Phase der nachelterlichen Gefährtenschaft eintreten. Laura hatte sich darauf gefreut, ihre Zweisamkeit neu zu entdecken und gemeinsam Pläne zu schmieden. Sie hatten schon damit begonnen. Dominik wollte sie nach Island begleiten, schon bald sollte es losgehen. Stattdessen, Laura schniefte, stattdessen musste sie die Einsamkeit erleben. Und Dominik würde sich mit dieser Vanessa ein neues Leben aufbauen.
Als sie den Sekt aus dem Keller holte, kam Laura am großen Garderobenspiegel vorbei und erschrak. Nicht nur, weil ihr Gesicht rot und vom Weinen verquollen war, sondern weil sie die Frau kaum erkannte, die sie dort sah. Laura blieb vor dem Spiegel stehen und betrachtete ihr Spiegelbild. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dort stand, aber ihr Blick war leer, und ihre Gedanken weilten bei Dominik. Sie hatte sich in den vergangenen Jahren so sehr auf ihre Tochter und ihren Mann konzentriert, dass sie sich selbst vernachlässigt hatte.
Der Schnitt war aus ihren hellbraunen Haaren herausgewachsen, die Spitzen waren brüchig. Ihre Kleidung konnte man selbst mit gutem Willen nur als praktisch bezeichnen. Wann hatte sie angefangen, die kräftigen Farben, die sie eigentlich liebte, gegen Beige und Hellbraun auszutauschen?
Laura seufzte und betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Haut wirkte fahl. Hatte Dominik sie etwa deshalb verlassen? War sie ihm nicht mehr attraktiv genug? Hatte er sich eine andere Frau gesucht, die ihm mehr bieten konnte als sie?
Tränen traten ihr in die Augen, und sie schniefte. Genug! Nach einem letzten kritischen Blick schüttelte sie den Kopf und ging in die Küche, wo sie den Sekt ins Eisfach legte.
Aber die Gedanken ließen sich nicht einfach beiseitedrängen. Lag es an ihr, dass Dominik gegangen war? Hatte sie sich nicht genug um sich, um ihn, um ihre Ehe bemüht? Dominik hatte seinen Sport, seine immer neuen Hobbys, denen er sich hingab. Er hatte sich verändert – und sie?
Bevor sie vollkommen in Selbstmitleid versinken konnte, klingelte es Sturm. Belle. So war ihre Freundin nun einmal. Anabelle, die ursprünglich Anne hieß, was sie aber zu bieder fand und ihren Namen daher geändert hatte, und Laura kannten sich seit der ersten Klasse. Damals war Anabelle ein mageres, kleines Ding gewesen, das sich der Klassenrabauke als Opfer ausgesucht hatte. Niemand hatte den Mut gehabt, ihm etwas entgegenzusetzen. Niemand bis auf Laura, die dessen Gemeinheiten nicht ausstehen konnte. Zu zweit war es ihnen gelungen, dem Jungen Grenzen zu setzen. Viel wichtiger war jedoch, dass sie an dem Tag, an dem Laura Ingo eins auf die Nase gegeben hatte, während Anabelle ihn gebissen hatte, eine Freundschaft fürs Leben geschlossen hatten. Und bis heute hatte sich nichts daran geändert, obwohl ihre Leben unterschiedlicher nicht sein konnten. Laura war verheiratet mit Kind und einem sicheren Job, während Belle von einem Engagement zum anderen hüpfte und auch in der Liebe unbeständig blieb. Immer wieder gab es neue Männer in Belles Leben, die plötzlich auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden. Lauras Freundin sagte immer, sie liebte ihre Unabhängigkeit zu sehr.
Laura eilte zur Tür und öffnete sie. Vor ihr stand Belle, hielt zwei Aperol-Flaschen in der Hand und musterte sie prüfend. Mit dem knallroten Minirock, der schwarzen Lederjacke und den schwarzen Overknee-Stiefeln war Belle ein echter Hingucker. Neben ihrer modischen Freundin kam sich Laura heute gleich noch langweiliger vor.
Belles Haare, die sie schulterlang trug, waren schwarz gefärbt – eine Erinnerung an ihre letzte Rolle als böse Königin. Sie war noch immer sehr schlank, so wie als Kind, aber inzwischen einen Kopf größer als Laura, die sich jetzt in die Arme der Freundin stürzte und sich sofort geborgen fühlte.
Nachdem sie sich aus Belles Umarmung gelöst hatte, versuchte Laura sich an einem Scherz: »Passt Aperol nicht eher, wenn man etwas zu feiern hat?«
»Ich finde, du solltest dich freuen, dass er weg ist.« Belle stieß ein Schnauben aus, das einem Islandpferd alle Ehre gemacht hätte. Sie und Dominik waren miteinander ausgekommen, aber nur, weil sie es mussten. Dominik fand Anabelle überkandidelt, während Belle Dominik für äußerst langweilig hielt. Und fade zu sein, das war in Belles Augen das Schlimmste, was einem passieren konnte.
Manchmal fragte sich Laura, warum ihre Freundin sie nicht ebenfalls langweilig fand, denn ihre Leben unterschieden sich sehr. Laura arbeitete im Jugendamt, war verheiratet mit Eigenheim, während Belle als Theaterschauspielerin durchs Land reiste und nirgendwo sesshaft werden wollte. Aber vielleicht waren es gerade die Unterschiede, die dafür sorgten, dass sie durch dick und dünn miteinander gingen und sich aufeinander verlassen konnten. Nie ging ihnen der Gesprächsstoff aus, und sie standen einander bei, wenn sie sich brauchten.
»Wie geht es dir, Süße?« Belle stellte die Flaschen auf die Flurkommode. »Du darfst traurig sein, solange du dir nicht die Schuld gibst.«
»Wieso habe ich nichts bemerkt?« Endlich konnte Laura die Frage stellen, die seit Dominiks Beichte in ihrem Kopf herumspukte. »Alle Indizien waren da, und ich habe sie übersehen.«
»Wenn es dich tröstet, mir ist auch nicht aufgefallen, wie sehr er sich verändert hat.« Belle zog die Nase kraus. »Ja, er hat einige Kilos verloren, was ihm nicht gut steht, wenn du mich fragst. Aber sonst war er der gleiche alte Langweiler wie immer.«
»Belle!« Laura schüttelte den Kopf, aber sie musste trotzdem grinsen. »Ein bisschen recht hast du schon.«
»Endlich siehst du es ein.« Belle zwinkerte ihr zu. »Los, ab aufs Sofa.«
»Sekt für Aperol ist im Kühlfach. Ich fürchte, er ist nicht kalt genug.« Laura schlurfte ins Wohnzimmer. Sie fühlte sich müde und alt und wollte ihr Leben zurück. Ihre Ruhe. Die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft mit ihrem Mann. Sie hatte die Ehe nie infrage gestellt.
Dominik war ihre große Liebe gewesen. Kurz nach dem Abitur hatte Laura ihn kennengelernt, als sie gerade bei der Stadtverwaltung angefangen hatte. Belle reiste damals durch die Welt, und Laura fühlte sich einsam, fremd in der Stadtverwaltung und zweifelte an ihren Entscheidungen.
Auf der Geburtstagsfeier einer Kollegin war Dominik auf Laura zugekommen, groß, gut aussehend und so selbstsicher, wie sie es gern gewesen wäre. Sie konnte kaum glauben, dass er sich wirklich für sie interessierte. Und dann war alles ganz schnell gegangen: Schon wenige Monate nach der Party war Laura mit Merle schwanger gewesen, ungeplant. Und Dominik hatte ihr sofort einen Antrag gemacht, hatte sie nicht sitzen lassen, sondern Verantwortung für seine ungeborene Tochter übernommen. Und Laura hatte sich nur allzu gern darauf eingelassen. Mit Merles Geburt war Lauras Glück vollkommen gewesen, auch wenn Belle nie verstanden hatte, was sie an Dominik fand.
Bevor Merle eingeschult wurde, waren Laura und Dominik an den Stadtrand gezogen, weil die Schulen dort besser waren. Laura reduzierte ihre Stunden im Büro, um für ihren Mann und ihre Tochter da zu sein, und hatte immer gedacht, Dominik und sie würden gemeinsam alt werden.
So konnte man sich täuschen. Schwer ließ sie sich in die dunkelgrauen Polster fallen und griff sich ihre kuschelige Decke, die sie sich um die Schultern legte. Selbst der Flausch konnte die Kälte nicht vertreiben. Fühlte sich so Einsamkeit an?
Glücklicherweise lag die Packung Taschentücher in Griffweite, und sie konnte das feuchte Ding in ihrer Hand zur Seite legen und ein frisches Tuch vollheulen. Sie sah auf, als sie das Klirren von Gläsern hörte.
Belle trug ein Tablett mit zwei Gläsern, der Flasche Aperol und einer Flasche Sekt sowie einer Schale mit Schokoladenstückchen zum Wohnzimmertisch.
»Ich sage es ungern, Liebes, aber du siehst furchtbar aus.« Man konnte auf keinen Fall behaupten, dass Belle je ein Blatt vor den Mund nahm. »Dein Gesicht ist knallrot und angeschwollen. Müsste ich dir mal fotografisch festhalten, dann kannst du dich daran erinnern, was der Kerl dir angetan hat, falls du ihn vermisst.«
»Hmmhmm.« Zu mehr fühlte Laura sich nicht in der Lage. Sie schniefte, bevor sie ihre Brille abnahm und mit den Fingern über das Gesicht fuhr, um zu prüfen, ob Belles Worte stimmten. Oh ja, ihre Augen fühlten sich verquollen an, ebenso wie ihre Nase – und das wegen eines Mannes, der sie mies hintergangen hatte. Laura ballte die Hände zu Fäusten und stieß hervor: »Ich hasse ihn.«
»Na endlich. So gefällst du mir viel besser.« Belle gab ihr ein Daumen-hoch. »Ich hole dir einen Waschlappen und kaltes Wasser, und du öffnest die Sektflasche.«