Weserleuchten - Christiane Lind - E-Book

Weserleuchten E-Book

Christiane Lind

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Beschreibung

Bremen in Aufbruchsstimmung - zwei ungewöhnliche Frauen und ein großer Traum Bremen, 1890. Louise, Tochter aus gutem Hause, sehnt sich nach einem anderen, unabhängigen Leben und will ausbrechen.  Emilie, Botanikerin, kommt aus armen Verhältnissen, plant eine Forschungsexpedition nach Australien. Sie wirkt mutig und frei – aber ist sie das wirklich?  Als Louise Emilies Vortrag besucht, wittert sie die einmalige Gelegenheit, dem für sie vorgezeichneten Weg zu entfliehen und fasst den Entschluss, Emilie nach Down Under zu begleiten. Doch Emilie weist Louise harsch ab – feine Damen wie sie sind nicht für solche Abenteuer gemacht. Louise bleibt hartnäckig, und es entwickelt sich eine zarte Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen. Wäre da nicht Ludwig, auf den sie beide ein Auge geworfen haben … 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Weserleuchten

CHRISTIANE LIND liebt es schon ihr Leben lang, Geschichten zu erzählen. 2010 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, auf den zahlreiche weitere folgten. Die promovierte Soziologin interessiert sich für Auswandererschicksale, seitdem ihr Großvater von seinen Plänen berichtete, in den 1950er Jahren nach Australien auszuwandern. Die Familie blieb in Deutschland, aber das Interesse an fernen Ländern hat die Autorin nicht losgelassen. Für ihre Doktorarbeit lebte sie längere Zeit in den USA, von wo aus sie viele Reisen unternahm. Wenn sie nicht schreibt, spielt sie Doppelkopf, verbringt Zeit auf dem Pferderücken und liest viel. Einige Jahre lebte sie in Bremen, und die Stadt an der Weser gewann ihr Herz.

Zwei Frauen und der Traum von AustralienBremen, 1890. Louise, Tochter aus gutem Hause, fühlt sich in ihrem goldenen Käfig gefangen und sehnt sich nach einem anderen, unabhängigen Leben.Emilie, Botanikerin aus armen Verhältnissen, plant eine Forschungsexpedition in die Weiten Australiens.Als die beiden unterschiedlichen Frauen aufeinandertreffen, wittert Louise die einmalige Chance, dem für sie vorgezeichneten Schicksal zu entfliehen, und will Emilie nach Down Under begleiten. Doch Emilie weist Louise harsch ab, denn feine Damen sind bei solchen Abenteuern nicht zu gebrauchen. Louise bleibt hartnäckig, und langsam entwickelt sich eine zarte Freundschaft zwischen den Frauen, die immer wieder auf die Probe gestellt wird – auch durch Alexander, auf den Louise ein Auge geworfen hat ...

Christiane Lind

Weserleuchten

Aufbruch in eine neue Welt

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ISBN: 978-3-8437-3592-6

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Figuren

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Epilog

Danke

Historische Anmerkungen und Buchempfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Figuren

Figuren

Familie Gildemeester

Louise Charlotte Gildemeester, Bürgerstochter

Cicely Gildemeester, geborene Ingham, ihre Mutter

Johann Carl Gildemeester, ihr Vater

Johann Georg Victor Gildemeester, ihr Onkel

Rosette Caroline Wilhelmine Gildemeester, Ehefrau von Georg Gildemeester

Malvina Mathilde Henriette Gildemeester, Louises Tante, Schwester von Carl und Georg

Sophie Marie Wilhelmine Gildemeester, Louises Cousine, Tochter von Caroline und Georg

Johann Christoph Friedrich Gildemeester, Louises Cousin, Sohn von Caroline und Georg

Personal der Familie Gildemeester

Else, Dienstmädchen

Minna, Dienstmädchen

Grete, Köchin

Gustav, Hausdiener

Freunde und Bekannte der Gildemeesters

Amalie Henriette Antoinette von Baudisin, Louises Freundin

Leontine Ernestine Feldhusen, Louises Freundin

August Martin Alexander Feldhusen, Leontines Vater

Emma Marie Felicie Feldhusen, geborene Pauli, Leontines Mutter

Bernhardine Cornelie Wilhelmine Pauli, Leontines Tante

Jost Rudolf Ostherloh, Bremer Kaufmann und Mäzen der Australien-Expedition

Rudolf Alexander Ostherloh, Josts erstgeborener Sohn

Rudolf Christian Ostherloh, Josts zweiter Sohn

Cornelius Justus Burchardt, Arzt und Freund von Christian

Forschungsreisende

Oskar Nolthenius, Leiter der Expedition

Wilhelm Felix Smitt, sein Assistent

Familie Nebelthau und Umfeld

Emilie Nebelthau, Naturforscherin

Albert Heinrich Nebelthau, ihr Ehemann, ebenfalls Naturforscher

Dora Pflüger, Emilies Mutter

Clara Nebelthau, Emilies und Alberts Tochter

Johanna Lucie Henriette Hildebrandt, genannt Fisch-Lucie, Emilies Freundin in Bremen

Hedwig Henriette Everding, Vermieterin und Freundin von Emilie

Antonie Everding, Hennis Tochter

Ida Everding, Hennis Tochter

Paul Everding, Hennis Sohn

Willi Everding, Hennis Mann

Culpeper, Emilies Hund

Jeanne Baret, Emilies Katze

Prolog

»Mama! Mama, wo bist du?«

Als Emilie die Stimme hörte, wandte sie sich um. Ihr Blick glitt über die Sommerwiese, bedeckt mit rotem Mohn und blauen Kornblumen, auf der Suche nach ihrer fünfjährigen Tochter Clara. Unter ihren nackten Füßen spürte sie das weiche Gras, der Sommerwind strich über ihr Gesicht und spielte in ihren Haaren. Trotzdem raste ihr Herz, als sie den Kopf von rechts nach links und wieder zurück wandte.

»Clara?«, rief sie atemlos. »Wo bist du?«

Ein glockenhelles Lachen erklang, und wie aus dem Boden gewachsen stand ihre Tochter auf einmal neben ihr, das dunkle Haare zerzaust, die Wangen gerötet vom Laufen.

»Mama, komm mit und schau, was ich gefunden habe.« Clara streckte ihre Hand aus, Emilie nahm sie fest in ihre. Sie ließ sich von ihrer Tochter über die Wiese ziehen, freute sich über deren ansteckende Begeisterung. Endlich blieb die Kleine stehen, ging in die Knie und zog Emilie mit sich.

»Schau, ein Vergissmeinnicht!« Mit funkelnden Augen zeigte Clara auf eine himmelblaue Blume mit sonnengelber Mitte. »Der wissenschaftliche Name lautet Myosotis.«

Emilie lächelte voller Stolz und nickte ihrer Tochter zu, während sie behutsam die Blume berührte. »Wunderbar, mein Kind, das hast du perfekt behalten.«

In dem Moment schob Clara traurig die Unterlippe vor, und ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen.

»Schatz, was ist mit dir?« Emilie kniete sich neben ihre Tochter und umarmte sie liebevoll, erschrocken über deren Traurigkeit, die unerwartet kam wie ein Regenschauer an einem warmen Sommertag. Sie fühlte den zarten Druck von Claras Armen um ihren Hals und spürte, wie ihre Herzen im Einklang schlugen.

»Das arme Vergissmeinnicht, es ist ganz allein.« Clara wand sich aus Emilies Armen und zeigte mit der Hand auf die Wiese. »Von allen anderen gibt es so viele, aber das hier ist einsam.«

Bevor Emilie antworten konnte, lachte Clara bereits wieder und rannte davon. »Komm, Mama, wir suchen ihm ein zweites Vergissmeinnicht.«

»Ich komme gleich nach«, antwortete Emilie, deren Aufmerksamkeit von einem einzeln stehenden Löwenmaul angezogen wurde. Warum blühte die rosafarbene Blume denn jetzt bereits? Es war doch noch viel zu früh im Jahr. Kaum hatte sie diesen Gedanken vollendet, entdeckte sie eine ebenfalls rosafarbene Herbstzeitlose. Verwirrt blieb Emilie stehen und wandte sich um. Anstatt des Feldes voller Mohn und Kornblumen erstreckten sich nun Löwenmäulchen und Herbstzeitlosen bis zum Horizont. Ein einzelner Apfelbaum stand in der Mitte der Wiese, seine linke Seite voller Blüten, die intensiv dufteten, auf der rechten Seite glänzten tiefrote Äpfel, so appetitlich, dass Emilie ihre Süße förmlich spüren konnte.

»Clara, sieh dir das an!«, rief sie und drehte sich zu ihrer Tochter um. Doch die Kleine war nicht zu sehen. »Clara, wo versteckst du dich schon wieder?«

Sie erhielt keine Antwort und ging in Richtung des Vergissmeinnichts, wo sie ihre Tochter zuletzt gesehen hatte. Aber auch hier war Clara nicht, und vor Emilies suchendem Blick erstreckte sich plötzlich nur eine Wiese, reines Grün, nicht eine blühende Blume war mehr zu sehen. Voller Angst zog Emilie ihre Hand zur Kehle, die sich wie zugeschnürt anfühlte. Stolpernd rannte sie vorwärts, auf den Horizont zu, und stieß atemlos hervor: »Clara! Bitte, das ist kein Spiel.«

Weiterhin blieb ihre Tochter mucksmäuschenstill, nur Emilies keuchender Atem war zu hören. Die Wiese schien kein Ende zu finden. Emilie blieb stehen und rang nach Luft, um erneut nach ihrem Kind zu rufen: »Clara! Bitte, komm her.«

Es kam ihr vor, als hätte sie aus dem rechten Augenwinkel eine Bewegung gesehen. Rasch drehte sie sich dorthin, aber es war nur eine einzelne Sonnenblume, die sich im Wind wiegte. Wo eben noch das Lachen ihrer Tochter die Luft erfüllt hatte, herrschte nun gespenstische Stille. Von blinder Panik getrieben, stürzte Emilie vorwärts, rannte und rannte, in der Hoffnung, Clara am Ende der Wiese zu finden. Sie wollte nach ihrer Tochter rufen, doch ihre Stimme versagte. Ihr blieb nur eins: laufen, immer weiterlaufen, bis sie Clara fand. Doch dann verloren ihre Beine die Kraft, sie taumelte, stolperte, fiel auf die Knie, rappelte sich auf, stolperte weiter, bis sie schließlich zu Boden ging. Ihre Hände krallten sich in die warme Erde, während Tränen über ihr Gesicht strömten. »Clara«, flüsterte sie, »Clara.«

Mit einem lauten Schrei schreckte Emilie hoch, ihr Herz raste, und ihr Atem ging stoßweise. Schweißperlen bedeckten ihre Stirn, und sie starrte ins Dunkel, während sie verzweifelt versuchte, sich zu orientieren. Es war nur ein Traum, dachte sie und atmete erleichtert auf, bis die tragische Wahrheit sie einholte.

Sie würde nie wieder mit Clara auf einer Blumenwiese spazieren gehen.

Langsam schälten sich die Konturen des Zimmers aus dem Dunkel. Alles hier erinnerte sie an Clara. Emilie rang nach Luft, denn es war, als kämen Wände und Decke näher, um sie zu erdrücken. Emilie strampelte sich frei, erhob sich und öffnete das Fenster. Gierig sog sie die frische Nachtluft ein und lauschte in die Stille.

Langsam beruhigte sich ihr Herz, doch ein Gedanke blieb und wollte nicht verschwinden: Sie musste hier weg, sie musste dieses Haus voller Traurigkeit verlassen, sie musste ein neues Leben für sich finden. Vielleicht half es ihr, wenn sie wirklich ans andere Ende der Welt reiste. Vielleicht war es an der Zeit, das Unbekannte zu erkunden, um ihre Wunden zu heilen.

Kapitel 1

Bremen, September 1889

»Nun beeil dich doch!« Ungeduldig wandte Louise sich zu dem Dienstmädchen um, das ihr Skizzenbuch und die Zeichenstifte trug. Wenn Else sich nicht sputete, würde das Bremer Wetter wechseln und ihr Plan, die Schönheit der Herbstblüten aufs Papier zu bannen, ins Wasser fallen, genauer gesagt, in den Bremer Regen. Über ihnen zogen schwerfällig Wolken auf, grau und drohend, als wollten sie sich zu einer Verschwörung gegen Louises Vorhaben zusammenschließen. Ihr Blick, mit dem sie den Himmel betrachtete, war scharf und taxierend, so als könnte sie allein durch Willenskraft den drohenden Regen aufhalten. An den schmiedeeisernen Straßenlampen erspähte Louise feine Wassertropfen, Vorboten des Niederschlags, der das Kopfsteinpflaster in glatte Rutschbahnen verwandeln würde.

Noch nicht, sandte Louise ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte lass mir noch etwas Zeit. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Farbenmeer aus unterschiedlichen Herbsttönen, das im Bürgerpark darauf wartete, von ihr gezeichnet zu werden. Sie wünschte sich nichts mehr, als die Schönheit der Herbstastern und Wasserhortensien mit dem Zeichenstift einzufangen. In einem Anflug von Sorge verengte sie die grünen Augen bei dem Gedanken, dass ihr die kostbare Möglichkeit entgleiten könnte, bevor der Himmel seine Schleusen öffnete und den Bürgerpark in ein verwischtes Aquarell aus Tropfen und verlaufenden Konturen verwandelte.

In dem Moment frischte der Wind auf, pfiff durch die Straßen Bremens, zerrte an Louises eleganter Frisur, die in mühevoller Arbeit geflochten und gesteckt worden war, und ließ die seidenen Bänder ihres Huts flattern wie Fähnchen. Louise spürte die wechselhafte Laune des Wetters auf ihrer Haut, ein prickelndes Gefühl der Eile, das durch ihre Adern pulsierte und sich in ihren Fingerspitzen sammelte, bereit, sich in künstlerischen Linien auf dem Skizzenpapier zu finden.

Dankbar beobachtete sie, wie der Wind die Wolken vor sich hertrieb wie ein Hütehund die Schafe und ihr damit Zeit verschaffte, kostbare Zeit zum Zeichnen.

»Nun komm schon, Else«, drängte sie noch einmal, eine Mischung aus Flehen und Befehl in ihrer Stimme, »wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Ik bün gliek dar«, erwiderte das Dienstmädchen, kaum hörbar über dem Geräusch der pferdegezogenen Straßenbahn, die in der Bremer Innenstadt die Schienen entlangglitt. Mit trippelnden Schritten hastete sie auf Louise zu, ihr schlichtes Baumwollkleid verblasste neben dem leisen Flüstern des Satins und der Seide von Louises Garderobe.

Louise trat ungeduldig mit dem Fuß auf. Mit dem Blick einer Künstlerin musterte sie das Dienstmädchen. Obwohl Else sechzehn und somit neun Jahre jünger als Louise war, wirkte sie älter. In den Zügen des Dienstmädchens zeichneten sich deutlich die Spuren eines Lebens voller Arbeit ab: Unter Elses hellblauen Augen hatten sich dunkle Schatten eingegraben, Zeugnis ermüdender Morgenstunden und später Abende. Die Haut ihres schmalen Gesichts war fahl, und ihre Hände trugen die Geschichte harter Arbeit in den Rissen der Fingerknöchel.

Sofort überfiel Louise das schlechte Gewissen, weil sie das arme Dienstmädchen herumscheuchte wie die Köchin Grete die Hühner. Elses Leben war gewiss anstrengender als ihres, stets musste sie eilen und gehorchen. Doch auch Louise war gefangen in gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, begleitet in den Park zu gehen. Wie gerne wäre sie allein geblieben, ihre eigenen Wege gehend, ohne den stummen Schatten des Dienstmädchens. Doch die Regeln der guten Gesellschaft erlaubten es nicht, dass eine Dame von Louises Stand ohne angemessene Begleitung durch die Straßen der Stadt und den Bürgerpark spazierte. Nicht auszudenken, was für einen Skandal das hervorrufen würde.

Ein plötzlicher Windstoß ließ die Blütenblätter eines Rosenstrauchs zu Boden rieseln, und Louise hielt inne, um ihren atemberaubenden Duft einzuatmen. Die süße Schwere hüllte sie ein, erweckte vergessene Erinnerungen an glückliche Zeiten ihrer Kindheit in England, an die Rosenbüsche, die ihre Mutter so geliebt hatte. In diesem Moment fühlte sie sich so einsam wie die letzten Blätter in den Bäumen.

Vielleicht sollte ich versuchen, gegen die Konventionen zu verstoßen, so wie meine Mutter, dachte sie und erschrak gleich darauf über diesen rebellischen Gedanken. Sie wusste nur zu gut, dass sie ihren Verwandten dankbar sein musste, bei ihnen leben zu können, und dass sie es nicht riskieren durfte, den Zorn von Onkel und Tante auf sich zu ziehen.

Die unerbittliche Erwartung ihrer Verwandten, dass Louise den guten Ruf der Gildemeesters wahrte und ihre Rolle einer Bremer Bürgerstochter einnahm, lastete bleischwer auf ihren Schultern und erinnerte sie daran, dass ihr Platz in dieser Welt bereits bestimmt war. Bevor Louise in düsteren Gedanken versinken konnte, kam das Dienstmädchen herbeigeeilt.

Louise streckte Else die Hand entgegen: »Gib mir das Skizzenbuch.«

»Dat geiht doch nich.« Else schüttelte so heftig den Kopf, dass sie beinahe die Malutensilien fallen ließ. Ihr Dialekt war stark und bodenständig, eine Melodie, die so untrennbar mit der Hansestadt verwoben war wie das Wasser der Weser. »Wat schall de Lüüd denken?«

Ja, dachte Louise, aber sprach es nicht aus, das ist das Dilemma der Hanseaten. Alle fragen sich nur, was die anderen von ihnen halten, anstatt etwas Vernünftiges zu tun. Ungeduldig fuhr sie sich mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare.

»Dann komm mir halt nach.« Mit großen Schritten, gerade noch schicklich für eine Frau, marschierte sie in Richtung des Bürgerparks. »Du findest mich bei den Herbstastern.«

Als Louise endlich den Bürgerpark, ihren friedvollen Ort der Ruhe und Natur, erreicht hatte, ließ sie sich auf einer hölzernen Bank nieder, direkt neben einem blühenden Asternfeld. Die Farbenpracht der Blüten in reinem Weiß, zartem Rosa, kräftigem Rot und leuchtendem Lila faszinierte sie jedes Mal aufs Neue, so wie die Blüte der Rhododendren im Frühling. Wie bei jedem Besuch hoffte sie, dass es ihr heute gelingen würde, die Schönheit der Blumen mit ihren Buntstiften einzufangen. Sie beugte sich vor, und ihre feingliedrige Hand streifte sanft über die Blüten, um eine auszuwählen, die sie zeichnen wollte.

Ihr Blick fiel auf eine Aster, deren Ränder sich bereits kräuselten, als hätte sie ihren Zenit überschritten und wäre in wenigen Tagen verblüht. Obwohl es ein Beet wunderschöner, perfekt geformter Blüten gab, zog diese Blume Louises Aufmerksamkeit auf sich. Diese Aster sprach ihr Herz an. Es kam ihr vor, als flüsterte die Blume von einer Schönheit, die vergänglich war. Ja, die Aster war eine Herausforderung, und es juckte Louise in den Fingern, sie zu porträtieren. Die Leidenschaft einer Künstlerin erwachte in ihr. Nach einem weiteren Blick nach oben, der den launischen Bremer Himmel prüfte, nickte sie zufrieden. Der Herbstwind hatte die Wolken vertrieben, und ein einzelner Sonnenstrahl wärmte Louises Gesicht.

Wo Else nur blieb? Als hätten ihre ungeduldigen Gedanken das Mädchen herbeigerufen, kam es den Parkweg entlang, langsam, als trüge es eine schwere Last und nicht nur den Skizzenblock und die Stifte.

»Gib schon her.« Louise konnte es kaum erwarten, mit ihrer Zeichnung zu beginnen, und nahm Else die Malutensilien aus der Hand. »Setz dich auf die Bank und ruh dich aus.«

Das Dienstmädchen nickte und ließ sich mit einem Seufzer schwer auf die Bank fallen, als hätte es bereits einen langen Arbeitstag hinter sich. Louises Blick verweilte besorgt auf den blassen Wangen des Mädchens, doch ihr Künstlerherz wurde sogleich wieder von der Schönheit der Astern gefangen genommen. Inzwischen war es der Sonne gelungen, die letzten grauen Wolken zu vertreiben, und sie tauchte den Bürgerpark in ein warmes, sanftes Licht. Vögel zwitscherten in den Ästen der hohen Bäume, und ein Hauch von frisch gemähtem Gras lag in der Luft. Fast hätte man meinen können, es wäre Frühling und nicht Herbst.

Mit sanftem Druck führte Louise den Bleistift über das geschöpfte Papier ihres Skizzenbuchs, und ihre Hand glitt über die leere Seite, als würde sie den Rhythmus der Natur selbst nachzeichnen. Ab und zu hielt sie inne, um die Blüte zu betrachten. Ihr Blick war gefesselt von der zarten Komplexität, jeden Schatten und jedes Licht auf den Blütenblättern versuchte sie, in ihrem Bild einzufangen. Jeder Strich war eine sorgsame Abwägung, jede Linie ein vorsichtiges Ertasten der Grenzen zwischen der echten und der auf dem Papier wiedergegebenen Welt.

Louise versank tief in ihrem künstlerischen Schaffen. Ihr Versuch, die vergängliche Anmut einzufangen, erforderte höchste Konzentration. Die Welt um sie herum verschwand, während die Zeichnung unter ihren Fingerspitzen aufblühte, von dem lebhaften Gezwitscher der Amseln begleitet, die keck zwischen den Bürgerpark-Besuchern hüpften. Doch ein plötzliches Gefühl der Irritation unterbrach den kreativen Fluss. Louise fühlte sich beobachtet, ihre Hand zögerte, ihr Bleistift verhielt in einer feinen Linie, und sie hob den Blick.

Nur wenige Schritte entfernt stand eine ihr unbekannte Frau, wohl ein paar Jahre älter als Louise, mit dunklen Haaren und dunklen Augen. Ihre Erscheinung war bescheiden, das Kleid zwar abgetragen, jedoch peinlich sauber. Warum nur starrte diese Fremde sie dermaßen unverhohlen an? Louise senkte den Kopf und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Als wäre dies ein Zeichen gewesen, kam die Frau näher, so nahe, dass Louise sie riechen konnte. Sie roch nach Erde, Leim und nach etwas, das Louise nicht benennen konnte. Die Nähe der Unbekannten war aufdringlich, beinahe erdrückend, ihr Atem fast spürbar, was Louise äußerst unangenehm war.

Sie wandte sich der Frau zu: »Was wünschen Sie?«

»Sie sind begabt«, konstatierte die Fremde und verengte die Augen, während sie auf das Bild blickte. Dann trat sie einen weiteren Schritt heran, eine dreiste Annäherung, bei der sich ihre Ellenbogen berührten. Louise wäre am liebsten zur Seite getreten, doch sie widerstand dem Impuls. Ihre gesellschaftliche Stellung verlieh ihr das Selbstvertrauen, dem ungebetenen Eindringling keinen weiteren Raum zu geben. Stattdessen hielt sie stand, die Augen fest auf die Fremde gerichtet, erwartungsvoll und doch beherrscht – eine stumme Aufforderung an die Frau, sich zurückzuziehen.

Die Unbekannte jedoch ließ sich von Louises zornigen Blicken nicht stören, sondern sagte: »Es ist Ihnen erstaunlich gut gelungen, die Essenz der Blüte einzufangen.« Sie nickte bestätigend. »Allerdings haben Sie hier bei dem Blütenkorb einen Fehler gemacht. Er besteht aus einer Vielzahl langer Strahlen, den Zungenblüten. Sehen Sie hier.« Sie deutete mit einem langen schlanken Finger erst auf das Skizzenblatt, dann auf die Asternblüte vor ihnen. Ihre Stimme klang gelassen und selbstbewusst, als verfügte sie über tiefes Fachwissen.

»Das reicht!« Louise schlug das Skizzenbuch zu, als könne das Geräusch die Unverschämtheit der Fremden dämpfen. »Was maßen Sie sich an? Wer sind Sie überhaupt?«, platzte sie heraus.

Die Frau ließ sich von Louises Unmut nicht irritieren, sondern antwortete ungerührt: »Emilie Nebelthau, Naturforscherin.« Die Worte kamen gelassen, der Blick, mit dem sie Louise musterte, war durchdringend, einer, der die Natur und deren Geheimnisse zu lesen vermochte. »Und Sie? Sind Sie Pflanzenmalerin? Für wen arbeiten Sie?«

Diese Fragen überraschten Louise, die sich fühlte, als würde ihr Gegenüber sie einer Prüfung unterziehen. War diese Begegnung ein Zeichen des Schicksals?

»Ich, eine Pflanzenmalerin?« Sie konnte es nicht fassen, dass jemand mehr in ihren Bildern sah. »Nein, ich … Zeichnen ist mein Steckenpferd. Ich übe mich nur darin.«

»Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel.« Emilie Nebelthau streckte bittend ihre Hand aus, und nach kurzem Zögern legte Louise das Skizzenbuch hinein. Die Naturforscherin wendete Seite um Seite mit einer beinahe zärtlichen Bewegung, als würde jeder Strich, jeder Abdruck des Stifts eine Geschichte erzählen. Sie verharrte hier und da, nickte wohlwollend oder schüttelte den Kopf, als würde sie einen Dialog mit den stillen Abbildungen der Pflanzen führen. Zu ihrer Überraschung hielt Louise die Luft an, gespannt auf das Urteil der seltsamen Fremden.

Mit einem respektvollen »Danke« gab Emilie das Skizzenbuch zurück. »Sie sind wirklich begabt. Wissen Sie, jemanden wie Sie könnten wir gut gebrauchen.«

»Wir?« Louises Blick schweifte umher, suchte nach Begleitern, doch sie entdeckte niemanden.

»Mein Mann und ich«, sagte Emilie Nebelthau, und ein dunkler Schatten zog über ihr Gesicht. »Wir erstellen Herbarien und Wissensblätter, die die gepressten Pflanzen begleiten. Ich zeichne auch, aber nicht halb so gut wie Sie.«

Louise fühlte Stolz in sich aufsteigen. Wie konnte das sein? Da kam eine dahergelaufene Fremde, lobte ihre Zeichnungen, und sie sog diese Worte auf wie ein Schwamm das Wasser. Louise musste sich eingestehen, dass Emilies Worte sie berührten. Von Freunden und Verwandten hatte sie meist nur ein unverbindliches »hübsch« oder »reizend« erhalten, wenn sie ihre Blumenbilder gezeigt hatte. Die Naturforscherin hatte sie nicht nur gelobt, sondern auch mit einem geschulten Auge kritisiert; sie erkannte in Louises Skizzen mehr als nur gefällige Bilder, nämlich das Potenzial akkurater Darstellung.

»Was macht eine Naturforscherin?«, fragte sie nun neugierig. »Leben Sie ebenfalls in Bremen?«

»Ich bin nur auf der Durchreise.« Emilie Nebelthau lächelte und wirkte sofort deutlich jünger. »Gemeinsam mit Culpeper und Jeanne Baret bin ich auf dem Weg in die Niederlande.«

»Culpeper und Jeanne Baret?« Die Namen kamen Louise vage bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. »Sind das Ihre Kollegen?«

Zu ihrer Überraschung lachte Frau Nebelthau. »Culpeper ist mein Hund. Mein Mann hat ihn nach dem englischen Apotheker, Arzt und Astrologen benannt. Culpeper hat Complete Herbal geschrieben, einen Klassiker der Pflanzenkunde.«

»Aha.« Louise ärgerte sich, dass sie so etwas nicht wusste. Aber Mädchen lernten in der Schule nur das Nötigste, man legte im Unterricht mehr Wert auf Handarbeiten, Malen und Tanz. »Und Jeanne Baret?«

»Das ist meine Katze.« Das Lächeln wurde intensiver. »Ich habe sie zu Ehren der ersten Frau benannt, die die Welt umsegelte, um Pflanzen zu sammeln.«

»Eine Frau bereiste die ganze Welt?«

»Sie musste sich als Mann verkleiden.« Emilie Nebelthau nickte. »Heute sind wir moderner. Ich kann als Frau allein in die Niederlande reisen.«

»Was tun Sie dort?« Hinter sich hörte Louise das Dienstmädchen ein Schnauben ausstoßen. »Warum reisen Sie nach Holland?«

»Jetzt ist die beste Zeit, um Seetang zu sammeln. Das tun Naturforscher, zum Beispiel.«

Louise blinzelte verwundert, als könnte sie durch das Schließen und erneute Öffnen der Augen die Ungläubigkeit vertreiben, die diese befremdliche Erklärung hervorgerufen hatte. Wer war schon darauf erpicht, Seetang zu sammeln? Und warum reiste man dafür in die Niederlande? Es gab sicher an der deutschen Küste mehr als genug davon. Warum sollte man so einen weiten Weg auf sich nehmen? Und es musste ein weiter Weg sein, denn Frau Nebelthau sprach einen seltsamen Dialekt. Sächsisch, meinte Louise zu erkennen, denn ihr Onkel hatte ab und zu Kaufleute aus Dresden zu Gast, die sich ähnlich anhörten. Hinter deren Rücken mokierte sich der Onkel immer über diese Sprechweise.

»Seetang?«, wiederholte Louise, ihre Stimme getränkt von Skepsis. »Was machen Sie damit?«

»Ja, Seetang«, antwortete Emilie lebhaft, »ich sammele ihn, presse ihn, klebe ihn auf Blätter und erstelle daraus Herbarien.«

»Und dann?« Gegen ihren Willen war Louise fasziniert. Es gab eine Welt, von der sie noch nie gehört hatte. Und im Bürgerpark war sie ihr unerwartet begegnet.

»Ich versuche, die Pflanze möglichst genau zu beschreiben.« Man hörte Emilie die Liebe zu ihrem Handwerk an. »Wie sie aussieht, wenn sie wächst, ihre Samen, welche Farbe sie hat. Man muss sehr genau sein, denn getrocknete Pflanzen verlieren mit der Zeit die Farbe. Wie sie gerochen hat, wie sie sich anfühlt – die Beschreibung all dessen macht ein gutes Herbarium aus.«

»Das klingt …« Louise suchte nach Worten, die der Tiefe dieses Handwerks gerecht werden konnten, »nach viel Aufwand.«

Der Gedanke, dass jemand Herbarien fertigte – stumme Chroniken des Wachsens und Vergehens – in einer Zeit, die von Dampfmaschine und Telegrafen beherrscht wurde, war gleichzeitig verwirrend und wunderbar.

»Wer kauft Ihre Herbarien?« Louises Blick glitt unauffällig über Emilie Nebelthaus Kleidung, die von harter Arbeit, nicht von müßigem Vergnügen sprach. Nichts an der Frau ließ vermuten, dass ihr die Kunst der Botanik bloß ein Zeitvertreib war. Auch ihre Hände verrieten eine Person, die gewohnt war, sich ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten. Andererseits konnte Louise sich kaum vorstellen, wer gutes Geld für gepresste Pflanzen zahlen würde. Denn das konnte doch jeder selbst herstellen. Alles, was man benötigte, war eine Botanisiertrommel, eine Presse und Papier.

»Wir verkaufen an Studenten oder an Sammler. Hier in Bremen und auch in Hamburg gibt es einige reiche Herren, die unsere Dienste in Anspruch nehmen.« Brüsk wandte Emilie Nebelthau sich ab. »Auf Wiedersehen. Ich habe mich schon viel zu lange aufgehalten.«

Ohne Louise die Gelegenheit zu einer Antwort zu lassen, stiefelte sie davon, blieb dann jedoch abrupt stehen und kehrte zu Louise zurück. Ihre abgetragenen Stiefel knarzten auf dem Kiesweg.

»Hören Sie nicht auf zu zeichnen. Sie haben Talent. Würdigen Sie es.« Die Worte trafen Louise wie ein unerwarteter Sommerregen, erfrischend und belebend.

»Danke«, flüsterte sie, aber Emilie hob nur abwehrend die Hand, bevor sie sich umdrehte und davoneilte, ihre Silhouette verschwimmend zu einer fernen Erinnerung.

Louise stand wie angewurzelt, ihr Blick folgte der entschwindenden Frau. Fragen wirbelten durch ihren Kopf – reiste die Forscherin wirklich mit Hund und Katze? Und wo hatte sie ihre tierischen Reisegefährten verborgen? Wäre jemand wirklich bereit, sie für ihre Zeichnungen zu bezahlen? Gab es für sie einen anderen Lebensweg als den einer Ehefrau?

»Dat weer jo en afsünnerliche Fru«, riss Else sie aus ihren Gedanken. Das Dienstmädchen war leise herangetreten und deutete zum Himmel. »Wi schulln na Huus gahn. Dat treckt sik to.«

Louise blickte sorgenvoll nach oben. Über dem Bürgerpark sammelten sich dichte graue Wolken, formten eine fast durchgängige Decke am Himmel und verdrängten das Tageslicht. Die Luft war merklich abgekühlt, und aus der Ferne war ein leises Grollen zu hören. In Louises Innern regte sich ein Gefühl der Unruhe; sie spürte, dass ein Gewitter nahte, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Regentropfen fallen würden.

»Emilie Nebelthau ist nicht seltsam, sie ist eine ganz besondere Frau«, flüsterte sie nachdenklich. Warum nur weilten ihre besten Freundinnen ausgerechnet jetzt nicht in Bremen? Louise konnte es nicht erwarten, Leontine und Henriette von dieser außergewöhnlichen Begegnung zu erzählen.

Kapitel 2

Bereits zwei Wochen waren seit ihrer Begegnung mit Emilie Nebelthau vergangen, aber Louise hatte jeden Tag darüber nachgedacht und erinnerte sich an jedes Wort, das sie miteinander gewechselt hatten. Heute endlich konnte sie den beiden Menschen, die ihr am meisten bedeuteten, davon erzählen. Vor Aufregung hielt es sie nicht mehr im Bett. Ihr Herz pochte vor Erwartung, ihre Finger kribbelten, als sie die weiße Leinendecke beiseitewarf und sich erhob. Die Morgensonne fiel durch einen Spalt der bronzefarbenen Samtportieren und malte Lichtmuster auf das dunkle Parkett. Der bunte Teppich wärmte Louises Füße, als sie zum Fenster ging und mit einer fließenden Bewegung die schweren Vorhänge zur Seite zog.

Für einen Moment hielt sie inne – so spektakulär war der Blick auf den herbstlichen Garten, der in den Nebelschleiern des Morgens aussah wie eine verwunschene Märchenwelt. Louises Atem ließ die Scheiben beschlagen, als die Kälte des Morgens draußen auf die behagliche Wärme ihres Zimmers traf, die der blaue Kohleofen verbreitete.

Nur noch wenige Stunden und ich sehe Leontine und Henriette endlich wieder, dachte sie und begab sich in das kleine Badezimmer, das zu ihrem Zimmer gehörte, um sich der Morgentoilette zu widmen.

Begleitet von Else, dem schweigsamen Dienstmädchen, machte Louise sich auf den Weg zum Teekränzchen, das ihre Freundin Leontine ins Leben gerufen hatte. Obwohl sie sich danach sehnte, ihre Freundinnen wiederzusehen, passte Louise ihren Schritt an den des Dienstmädchens an. Es war eine Frage der Schicklichkeit, die sie daran hinderte, die kurze Strecke von der herrschaftlichen Villa am Contrescarpe hinüber zu den Feldhusens allein zu meistern. Immer war eine Begleitung erforderlich, eine Garantie für Anstand und Tugend in einer Welt, die die Selbstständigkeit einer Frau argwöhnisch beäugte. Wie ein unsichtbares Korsett umschlang die Etikette sie fest und unerbittlich. Manchmal fragte sich Louise, wie es wohl wäre, ein Mann zu sein. Ihr Cousin Johann musste sich gewiss nie Gedanken machen, ob er ein Dienstmädchen von der Arbeit abhielt, wenn er seine Freunde besuchen wollte. Wie gern würde sie die unsichtbaren Fesseln abstreifen und dorthin gehen, wo ihre Seele sie hinzog, ohne das stete Flüstern von Konvention und Pflicht.

Genug davon. Sie freute sich darauf, Henriette und Leontine zu sehen und mit ihnen gemeinsam den Nachmittag zu verbringen. Die drei Frauen verband eine tiefe Freundschaft, die in ihrer Schulzeit im Institut von Emilie Bendel ihren Anfang genommen hatte. In der Schillerstraße 24 waren sie, jede von ihnen auf ihre eigene Art, Außenseiterinnen gewesen und froh darüber, die anderen zu finden.

Henriette war die Tochter eines Professors, der in wissenschaftlichen Kreisen glänzte, dem es allerdings an Reichtum mangelte. Ihr scharfer Verstand, gepaart mit einer offen geäußerten Meinung, hatte Henriette an den Rand jener Kreise geführt, in denen der schöne Schein wichtiger war als Tiefgang.

Leontine hingegen war die Erbin eines immensen Vermögens, dessen Umfang selbst das von Louises Familie in den Schatten stellte. Doch Leontines Reichtum half nicht, ihre Schüchternheit zu überwinden oder eine Schutzmauer um ihr sanftes, träumerisches Herz zu bauen. Louise erschien ihre Freundin wie aus einem Gemälde von Rubens, ihr Herz voller Romantik, ihre Gestalt prächtig; ein deutlicher Kontrast zum schlanken Ideal der Zeitgenossinnen.

Bald nachdem Louise in das Institut Bendel eingetreten war, hatte sie sich mit Henriette und Leontine angefreundet. Die Gemeinheiten, die von Louises Cousine Sophie ausgingen, hatten die Bande zwischen den Freundinnen noch enger geknüpft. Sophie, deren spitze Zunge gerne an den verborgensten Verletz­lichkeiten kratzte, hatte Louise unfreiwillig geholfen, Menschen zu finden, auf die sie bauen konnte.

Beim Gedanken an Sophie stieß Louise einen Seufzer aus. Kaum vernehmbar, aber das aufmerksame Dienstmädchen hatte es dennoch gehört und blickte sie fragend an.

»Es ist nichts«, sagte Louise und ging weiter, die Gedanken um Sophie kreisend. Ihre Cousine schwebte durch ihr Leben wie eine Ballerina, die graziös über die Bretter des gesellschaftlichen Parketts tänzelte. Ihre Finger bewegten sich mit solcher Anmut, dass jede Handarbeit ein Kunstwerk schien. Auf den ersten Blick war Sophie die Verkörperung einer perfekten Bremer höheren Tochter.

Doch unter ihrer samtenen Oberfläche war etwas Dunkleres, eine raffinierte Grausamkeit, die sich hinter dem Vorhang aus Freundlichkeit und Schönheit verbarg. Sophies Lächeln, so hell und gewinnend es erschien, verzog sich zu einer spöttischen Grimasse, sobald sie jemanden fand, den sie als schwächer erachtete. Sie war die Meisterin des subtilen Spotts, verwob ihre Sticheleien so geschickt in Konversationen, dass Louise, Henriette und auch Leontine nie den Mut aufbrachten, gegen sie aufzubegehren.

Stattdessen fanden die anderen drei in stillem Widerstand zueinander – »Die drei Musketiere«, wie die belesene Henriette sie einmal liebevoll und mit ironischem Unterton getauft hatte, im Gedenken an die tapferen Helden Dumas’, die für Recht und Gerechtigkeit ihre Schwerter gekreuzt hatten.

Acht Jahre waren seit dem Ende ihrer Schulzeit verstrichen, die Zeit und das Leben hatten ihre Wege in unterschiedliche Richtungen gelenkt, doch die Bande, die sie einst geknüpft hatten, waren nur stärker geworden. Henriette, deren Geist so unabhängig wie ihr Herz war, hatte schon mit vierzehn Jahren erklärt, niemals heiraten zu wollen. Sie wollte ihre Freiheit behalten und sich keinem Mann unterordnen. Selbst wenn sie dafür als Gouvernante oder Lehrerin arbeiten musste. Leontine hingegen, mit ihrer romantischen Seele und ihrem Herz voll naiver Träume, konnte sich nichts Schöneres vorstellen als die Ehe. Und inmitten dieser Gegensätze stand Louise wie eine Brücke zwischen den Welten ihrer Freundinnen. Von der Gesellschaft war ihr der Pfad der Heirat vorgezeichnet, um den Reichtum ihrer Familie zu mehren. Aber bis dahin wünschte sie sich, noch etwas zu erleben. Sie beneidete die Männer, die hinaus in die Welt zogen, in Länder mit wohlklingenden, Abenteuer verheißenden Namen wie Australien, Guatemala oder Togoland. Die jungen Bremer ließen sich von der Sehnsucht nach Übersee leiten, um dort ihren Mut zu beweisen und Geschäfte zu betreiben. Sie erschlossen sich neue Welten und erweiterten die Grenzen des Familienimperiums, mehrten Reichtum und Macht.

Währenddessen blieben die Frauen zurück, ihre Aufgabe war das Warten: Warten auf Neuigkeiten, auf Briefe, auf die Rückkehr der Männer und schließlich das unvermeidliche Warten auf die Ehe – den nächsten Tanzschritt in der Choreografie ihres vorausgeplanten Daseins.

Als sie die prachtvolle Villa der Feldhusens in der Rembertistraße erreicht hatten, drehte Louise sich zu dem Dienstmädchen um. »Danke, Else, du kannst nach Hause gehen. Nachher wird mich jemand von der Familie nach Hause begleiten.«

Einen Moment sah das Dienstmädchen aus, als wollte es widersprechen, dann nickte es nur und wandte sich um. Louise betätigte die Klingel und wartete, dass ihr jemand öffnete.

»Guten Tag, Fräulein Gildemeester.« Der Hausdiener, elegant und distinguiert, winkte ein Dienstmädchen herbei, das Louise zu ihrer Freundin führen sollte. »Das gnädige Fräulein erwartet Sie bereits.«

Louise bedankte sich mit einem Nicken und folgte dem Dienstmädchen, dessen Schritte auf dem dicken Teppich nur ein leises Geräusch verursachten. Es geleitete Louise in den Salon, der den Wohlstand der Familie widerspiegelte. Im Kamin knisterte ein Feuer, das wohlige Wärme ausstrahlte.

Das graue Licht des Tages fiel durch die hohen Fenster, deren Seiten von schweren Samtvorhängen eingerahmt waren, und spielte auf den gemusterten Wandtapeten, wobei es funkelnde Akzente auf die Goldfäden der feinen Stoffe warf. Leontine in ihrem prachtvollen blassblauen Kleid erschien in dem Salon wie eine Porzellanfigur, die perfekt zu den kunstvoll arrangierten Blumenbuketts und den goldenen Bilderrahmen passte.

»Louise, wie schön, dass wir uns endlich wiedersehen.« Leontine erhob sich, um Louise in ihre Arme zu schließen. Ihre großen himmelblauen Augen glänzten vor Freude. »Wie geht es dir?«

Bevor Louise antworten konnte, öffnete sich die Tür erneut, und Henriette trat ein. Trotz ihrer schmalen Gestalt schaffte sie es, die Aufmerksamkeit sofort auf sich zu ziehen. Die klaren Züge ihres Gesichts, die von leuchtenden entschlossenen Augen gekrönt wurden, und das dunkle, zu einem schlichten Knoten gebundene Haar ließen sie zugleich unauffällig und bedeutsam erscheinen. Henriettes Kleidung spiegelte ihre Überzeugungen wider: praktisch, mit klaren Linien, ganz ohne den Zierrat oder die verschnörkelten Moden der Saison.

»Ich habe euch vermisst.« Wenn Henriette lächelte, wirkte sie jünger. »Ich kann es gar nicht erwarten zu hören, wie es euch ergangen ist.«

»Setzt euch.« Nachdem Leontine die Freundin zur Begrüßung umarmt hatte, deutete sie auf die Sesselgruppe. Davor stand ein Tischchen, beladen mit süßen Leckereien und Sandwiches. »Ich lasse uns Tee kommen.«

Sie klingelte nach dem Dienstmädchen, das sofort erschien und ihnen Tee einschenkte. Der vertraute Duft des Earl Grey ließ Louise einen Moment die Augen schließen, um zur Ruhe zu kommen. Doch ihr Erlebnis war zu wichtig, als dass es warten konnte. Kaum hatte sie Platz genommen, die elegante Drapierung ihres Rockes gerichtet und das Strickzeug aus ihrer seidenbestickten Tasche genommen, platzte Louise heraus: »Ich habe im Bürgerpark eine Naturforscherin getroffen.«

Henriettes Augen blitzten interessiert auf. »Eine Naturforscherin? Was macht sie?« Ihre Freundin wünschte sich nichts mehr als ein selbstbestimmtes Leben und war daher immer auf der Suche nach Pfaden, die aus dem engen Garten weiblicher Erwartungen herausführten.

»Sie sammelt Pflanzen und Seetang und erstellt Herbarien, die sie verkauft. Gemeinsam mit ihrem Mann.«

»Wie wundervoll.« Leontines Augen, blau wie der Ozean und voll unendlicher Träume, schienen in ihre Zukunft zu schauen. Sie lächelte. »Das muss eine glückliche Ehe sein.«

»Emilie Nebelthau, so heißt sie«, entgegnete Louise, »reiste allein. So glücklich scheint sie mit ihrem Ehemann nicht zu sein.«

Wie gern hätte sie die andere Frau nach ihrem Leben ausgefragt, aber die hatte sie einfach stehen lassen, und Louises Fragen blieben unbeantwortet.

»Wie mutig.« Henriette ließ den Strumpf sinken, an dem sie strickte, und lehnte sich vor. »Frauen können sehr wohl sehr gut allein leben. Erst kürzlich hat Mathilde Lammers darüber geschrieben.«

Natürlich musste Henriette sofort darauf zu sprechen kommen. Schließlich war es ihr Lieblingsthema, das sie mit missionarischem Eifer predigte. Und Mathilde Lammers, Vorsteherin des Lehrerinnen-Seminars und Schriftstellerin, war Henriettes Heldin, denn sie sprach sich für allein wirtschaftende Frauen aus. In ihren Schriften forderte sie immer wieder, dass Frauen etwas schaffen sollten, der Welt dienen und eine Arbeit finden sollten, die mehr als Zeitvertreib wäre. Für Louise klang das alles unerfreulich und bierernst.

Leontine setzte ein nachdenkliches Gesicht auf. Sie seufzte leise, ihre Hand wanderte zu den kleinen Kuchen auf der silbernen Etagere. »Warum sollte man sich wünschen, alleine zu leben?« Die Sehnsucht nach Liebe war ihr Leitstern, dem sie auch bei der Auswahl ihrer Bücher stets folgte. »In jeder Geschichte, die ich lese, geht es darum, den Richtigen zu finden.«

»Darum nennt man sie ja auch Märchen«, erwiderte Henriette, aber begleitete ihre Worte mit einem Lächeln. Das Thema war ihnen so vertraut wie die Melodie eines lieb gewonnenen Lieds. »Aber erzähl, Louise, wie kam es dazu, dass du diese Naturforscherin kennengelernt hast?«

Dankbarkeit durchflutete Louise, als sie auf Henriettes Frage antwortete. Ihre Freundin besaß die seltene Gabe, einem das Gefühl zu geben, dass die eigenen Worte wichtig waren – nicht so wie Louises Verwandte.

»Sie hat mich angesprochen, weil sie meine Skizze einer Asternblüte mochte.«

»Ich habe dir immer gesagt, du zeichnest sehr schön.« Leontine lächelte und nahm sich ein weiteres Petit Four. »Ich habe das Bild, das du mir geschenkt hast, an die Wand meines Zimmers gehängt.«

Henriette ergänzte: »Du könntest bestimmt Malerin werden. Immer mehr Frauen versuchen, sich dadurch ihr Leben zu sichern.« Sie seufzte. »Ich wünschte, ich hätte einen Funken Talent.«

Bevor Louise etwas erwidern konnte, sprang Leontine auf und klatschte in die Hände.

»Ihr geht doch auch zum Herbstball ins Hillmann’s?« Leontines Gedanken verblieben nie lange bei einem Thema. Es sei denn, sie sprachen über Heiratskandidaten und Bälle. »Ich habe gehört, Alexander Ostherloh ist aus Übersee zurückgekehrt und wird den Ball besuchen.«

»Er und hundert andere.« Henriette winkte voller Resignation ab. »Mein Vater wünscht sich bestimmt, dass ich mich dort präsentiere, aber ich kann mir kein neues Kleid leisten.«

Doch Leontine blieb unerschütterlich. »Ich kann dir eines von meinen geben«, sagte sie. »Du musst es nur enger machen, und dann steht es dir bestimmt viel besser als mir.«

Henriette zögerte. Leontines großzügiges Angebot war ihr sichtlich unangenehm, so wie der offensichtlich fehlende Reichtum ihrer Familie. Ihr Blick suchte Louises. »Ich weiß nicht. Wirst du gehen?«

»Mein Vater hat mir aus London geschrieben«, antwortete Louise. »Er wünscht sich, dass ich mir auf dem Ball endlich einen Mann suche.«

»London, die Stadt muss wunderbar sein.« Henriette seuf­zte. »Wie gern würde ich dorthin reisen.«

»Wird dein Vater dich nach London holen?«, fragte Leontine, arglos und unschuldig in der Annahme, alle Väter würden ihre Töchter ebenso verwöhnen, wie ihr eigener es tat. »Dort ist die Auswahl an passenden Herren sicher größer.«

Louise umklammerte den Schal, den sie strickte, damit ihr nicht die Tränen kamen. »Nein«, kam es fast flüsternd über ihre Lippen, »mein Vater wünscht, dass ich in Bremen bleibe und hier einen Gemahl finde.«

Dass er sie niemals gefragt hatte, was sie sich wünschte, konnte sie nicht einmal ihren besten Freundinnen erzählen. Es schmerzte zu sehr. Trotzdem würde sie eine gute Tochter sein, sich seinem Willen beugen und auf dem Ball nach einem Ehemann Ausschau halten.

Kapitel 3

»Louise! Wo bleibst du denn?« Sophie, gekleidet in ein elegantes rosafarbenes Kleid, stürmte, ohne anzuklopfen, in Louises Zimmer. Ihre Statur war zierlich, und in nahezu jeder ihrer Bewegungen lag ein Hauch von Grazie, um den Louise sie beneidete. Um ihre wohlgeformten Gesichtszüge ringelten sich honiggoldene Locken, aufgesteckt, um den schlanken Hals zu betonen. »In einer halben Stunde wollen wir zum Ball aufbrechen, und du bist noch nicht einmal angekleidet. Genau wie ich es befürchtet habe.«

»Ist es bereits so spät?« Mit einem Seufzer klappte Louise ihr Buch zu. Obwohl sie Die Frau mit den Karfunkelsteinen bereits fünfmal gelesen hatte, war sie jedes Mal aufs Neue von den Abenteuern der Heldin fasziniert, die Eugenie Marlitt so lebensecht beschrieb. Ach, wie sie sich danach sehnte, in die Fußstapfen der Romanheldin Margarete zu treten – die Welt zu bereisen, fernab dieses hanseatischen Lebens voller Konventionen! Warum konnte Louise nicht so ein Abenteuer erleben wie Margarete, die ihren Onkel auf archäologischen Expeditionen begleitete? Warum nur lehnte ihr Vater es so vehement ab, sie auf seine Reisen nach London oder Übersee mitzunehmen?

»Trödele nicht weiter.« Sophie stampfte mit dem Fuß auf und verzog das Gesicht. »Ich hole Else, damit sie dir hilft.«

»Danke.« Louise konnte einen weiteren Seufzer nur knapp unterdrücken. Für sie waren die Ballgesellschaften eine künstliche Welt, geprägt von glänzenden Oberflächen und versteckten Intrigen. Sie sehnte sich nach der Stille ihres Lesesessels, wünschte sich, in der Welt ihrer Romane zu verschwinden. Viel lieber würde sie mit Margarete und deren Onkel die Welt bereisen, als auf diesen Ball zu gehen. Sophie würde im Schein des Ballsaals erstrahlen, während Louise und ihre Freundinnen am Rande stünden. In der Nähe der Mütter und Tanten, die mit Adleraugen und leisem Flüstern das Geschehen beobachteten, darauf bedacht, ihre Schützlinge in den engen Bahnen der Etikette zu lenken. Buchstäblich führten sie Buch über jeden Tanzschritt, jedes Lächeln und jeden Augenaufschlag, stets bereit, Tratsch und Klatsch über mögliche Verlobungen zu verbreiten.

»Hast du zumindest dein Kleid bereits herausgesucht?«, fragte Sophie und wandte sich noch einmal um. Ihre Augen, grau wie ein Novembertag, verengten sich. Als Louise den Kopf schüttelte, stieß Sophie laut den Atem aus. »Louise, wie kannst du nur so … so du sein?«

Bevor Louise antworten konnte, humpelte ihre Cousine aus dem Raum. Sophies einziger Makel waren ihre ungewöhnlich großen und breiten Füße, die sie in enge Schuhe quetschte, um den Anschein von Anmut zu wahren. Louise konnte nicht umhin, ihre Cousine für den Schmerz zu bewundern, den sie auf sich nahm, um schön zu sein. Beim Tanzen würde sie Höllenqualen erleiden. Aber waren sie wirklich so verschieden, oder waren sie beide in einer Welt gefangen, in der Schmerz und Zwang dazugehörten?

Aber jetzt war nicht die Zeit, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Wenn sie ihre Familie nicht verärgern wollte, musste Louise sich für den bevorstehenden Anlass zurechtmachen. Sie öffnete die Tür des großen Schranks aus Walnussholz und ließ ihren Blick über ihre Kleider wandern. So viele gab es zur Auswahl, aber keines gefiel ihr auf Anhieb. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, klopfte es an der Tür.

»Herein.« Louise drehte sich um und sah, wie Else ihren Kopf zur Tür hineinsteckte. Das Dienstmädchen trat näher und spähte ebenfalls in den gut gefüllten Schrank.

»Welch Kleed soll dat hüüt wesen, gnädiges Fräulein?« Else strich mit ihren Fingern über die Reihe fein säuberlich drapierter Stoffwunder und zog ein hellblaues Kleid heraus, zart wie der Frühlingshimmel über der Weser. »Dit hier würd jo Ogen wunnerbor wiesen.«

»Ja, es schmeichelt meinen Augen, nur ist es allseits bekannt seit dem Sommerball im Hillmann’s.« Louise trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Ein neues Kleid hing verborgen in den Tiefen ihres Schrankes, der Bremer Gesellschaft noch unbekannt – seine Farbe ein Zwilling von Sophies Kleid, allerdings ein anderer Schnitt. Konnte Louise es wagen, dieselbe Farbe wie ihre Cousine zu tragen?

Aber warum nicht? Ein Teufelchen ritt sie, Sophie zu ärgern und mit einem ähnlichen Kleid in einen Wettbewerb mit ihr zu treten. Das sanfte Rosa, das Sophie so gut stand, würde sicher auch Louise kleiden und der sanften Blässe ihres englischen Teints, ein Erbe ihrer Mutter Cicely, schmeicheln.

»Das rosafarbene soll es sein.« Louise schlüpfte aus ihrem Tageskleid und in ihr Korsett. Das Dienstmädchen zog die Schnüre zusammen, so fest, dass Louise der Atem stockte.

»Schall ik ehr fester sneden?« Else musterte Louise und neigte den Kopf.

»Lass es mich ansehen.« Louise trat vor den hohen Spiegel und betrachtete sich. Ein weiteres Zugeständnis hätte ihre Figur zwar in jene geschwungene Linie verwandelt, die auf jedem Ball präsentiert wurde, aber sie spürte bereits jetzt die Enge der Stäbe um ihre Rippen.

»Ich weiß nicht«, wisperte sie und ließ die Luft aus ihren Lungen strömen, als wolle sie die Unsicherheit mit ihr vertreiben. »Nein, lass es so. Heute nehme ich mir die Freiheit – zu tanzen, zu schmecken, zu atmen.«

Für einen Herzschlag lang schien Else etwas sagen zu wollen, aber sie verweilte im Schweigen und half Louise, in die Unterröcke und das rosa Kleid zu schlüpfen. Der Farbton verlieh ihren mahagonibraunen Haaren einen goldenen Schimmer und ließ ihren Teint leuchten wie eine englische Rose.

Vorsichtig setzte sie sich an den Frisiertisch und drängte Else: »Wir müssen uns sputen. Schnell, steck mir die Haare auf.« Im Spiegel beobachtete Louise, wie das Dienstmädchen ihr mit geschickten Bewegungen eine elegante Frisur zauberte. Nachdem Else ihr Werk beendet hatte, erhob Louise sich, um einen Blick in den großen Spiegel zu werfen. Ja, die Farbe stand ihr wirklich ausgezeichnet. Wie bedauerlich, dass ihr Vater sie nicht begleitete. Heute könnte er wirklich stolz auf seine Tochter sein, dachte sie und drehte den Kopf nach links und nach rechts, um Elses Kunstwerk zu bewundern.

Um die Treppe hinabzusteigen, musste Louise ihren Rocksaum etwas anheben. Die hölzernen Stufen knarrten unter ihren Schuhen. Unten erwarteten ihre Verwandten sie bereits. Louise lächelte und hielt sich am geschwungenen Geländer fest.

»Gerade noch rechtzeitig, Kind.« Onkel Georg, eine Säule der hanseatischen Respektabilität, stützte sich mit einer Hand nachlässig, doch würdevoll ebenfalls auf das Geländer, während sein Sohn Johann Christoph ungeduldig auf den Fußspitzen wippte. Während das gute Leben ihrem Onkel zu einem Wohlstandsbauch verholfen hatte, war Johann Christoph schlank und hatte die langen eleganten Hände eines Künstlers. Seine braunen Haare, etwas länger als üblich, rahmten ein offenes, einladendes Gesicht. In seinen warmen braunen Augen spiegelte sich eine Welt voller Träume und Musik, die er hinter der Fassade eines angehenden Kaufmanns verbergen musste.

Sophie warf Louise einen Blick zu, der schärfer war als das geschliffene Kristall der Weingläser auf den Festtafeln. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, doch jede Regung des Zorns wusste sie geschickt hinter der Maske höflicher Gleichgültigkeit zu verstecken. Nicht eine Silbe des Missfallens entwich ihren Lippen – ihr Vater, der stets auf familiäre Harmonie bedacht war, stand zu nah. Nur eine Person fehlte, aber Louise hatte es nicht anders erwartet.

»Tante Caroline begleitet uns nicht?«, erkundigte sie sich dennoch, nachdem sie die Stufe des letzten Treppenabsatzes hinter sich gelassen hatte und den marmornen Fußboden der Eingangshalle betrat. Ihre Tante litt seit Jahren unter Kopfschmerzen und Schwächeanfällen. Sie lebte abgeschieden in ihrem Schlafzimmer, die Vorhänge meist zugezogen, um das Licht auszusperren. Nur sehr selten ließ sich Caroline zu den Mahlzeiten der Familie sehen, noch seltener nahm sie an Bällen und Empfängen teil. Obwohl Louise niemals gewagt hätte, ihre Vermutungen auszusprechen, hegte sie heimlich Argwohn, dass Tante Caroline ihre Schwächezustände als Ausflucht nutzte, eine stille Rebellion gegen die ihr auferlegten gesellschaftlichen Zwänge.

Etwas, das Louise auch gerne getan hätte, aber sie war nur zu Gast in der Familie. Eine Verwandte, von ihrem Vater vor fünfzehn Jahren hier in Bremen abgegeben wie ein unerwünschtes Paket. Kurz nach dem Tod ihrer Mutter hatten ihr Vater und sie London verlassen, um nach Bremen zu reisen. Louise hatte bleiben und sich an das Leben in der Hansestadt anpassen müssen, während ihr Vater sich auf Weltreise begab und nur alle Jubeljahre nach Bremen kam.

Die Familie Gildemeester hatte Louise mit einer Mischung aus Pflichtbewusstsein und oberflächlicher Freundlichkeit aufgenommen, wie es sich unter Verwandten gehörte. Doch unweigerlich fühlte sich Louise oft wie eine Kostgängerin, eine geduldete Verpflichtung am Rande des Familientischs. Das war ein Ansporn für sie, über eine Heirat nachzudenken. Wenn sie endlich einen Ehemann gefunden hatte, konnte sie die prachtvolle Villa verlassen, in der sie lebte, die ihr jedoch nie ein Zuhause geworden war.

»Es ist überraschend«, sagte Johann Christoph plötzlich, »wie unterschiedlich dieselbe Farbe an euch beiden aussieht.«

Während Sophie scharf die Luft einsog, lächelte Louise ihren Cousin an. Er war ihr der Liebste in der Familie, ein Träumer so wie sie. Mit Louise teilte der Achtzehnjährige die Liebe zur Malerei. Allerdings bedeutete ihm die Musik noch mehr, vor allem das Klavierspiel. Seine Virtuosität stellte Louise und Sophie in den Schatten, obwohl beide seit vielen Jahren ebenfalls Klavierunterricht erhielten.

Trotz seiner Künstlerseele war sich Johann Christoph des unausweichlichen Schicksals bewusst, das vor ihm lag: Er würde eines Tages den Handel von seinem Vater übernehmen und Kaufmann werden. Seine Musikalität würde er als Steckenpferd pflegen, mehr nicht. Auch Männer konnten ihren Weg nicht völlig selbst bestimmen, dachte Louise und fühlte eine stumme Verbundenheit mit ihrem Cousin.

»Lasst uns aufbrechen!«, erhob sich Sophies Stimme. »Wenn wir uns nicht beeilen, müssen wir uns ewig mit Begrüßungen aufhalten.« Sie rauschte mit hocherhobenem Kopf und zornigem Gesicht an Louise vorbei. Nun bereute Louise bereits, das rosafarbene Kleid gewählt zu haben. Sie fürchtete, dass Sophie ihr diesen Fauxpas auf dem Ball mit Zins und Zinseszins zurückzahlen würde.

Kapitel 4

Obwohl sie sich sagte, es wäre nur einer von vielen Bällen, die sie in ihrem Leben besuchen würde, klopfte Louises Herz voller Aufregung, als der Kutscher die Tür öffnete, damit ihre Familie und sie aussteigen konnten. Der schwere Stoff ihres Kleides drohte in der Tür hängen zu bleiben, und nur dank Johann Christophs beherztem Eingreifen wurde ein Sturz verhindert. Sie sah ihn dankbar an, und er lächelte und reichte ihr galant den Arm, um sie in das prachtvolle Hotel zu führen, in dem der Ball stattfand.

»Du brauchst dich nicht zu sorgen«, flüsterte ihr Cousin ihr zu. »Ich bin sicher, deine Tanzkarte füllt sich schnell.«

»Ich hoffe nur, es werden sich die Richtigen finden.« Louise schmunzelte. »Gute Tänzer, nicht wie beim letzten Ball, als mir Nikolaus Vietor die Zehen malträtierte.«

Mit der Leichtigkeit, die nur ein langjähriger Vertrauter leisten konnte, entgegnete Johann Christoph: »Dann werde ich dich retten. Vor mir sind deine Zehen sicher.« Seine Worte begleitete er mit einer kleinen Verbeugung, einer Geste, die lässig und voller Charme war. Johann Christoph war ein wunderbarer Tänzer, und Louise freute sich auf einen Walzer mit ihm.

Hinter Sophie und Onkel Georg betrat sie das Hotel. Ihr Blick glitt über die prächtige Eingangshalle – Marmorsäulen, geschickt platzierte Palmen, die der Szenerie eine exotische Note gaben, und edle Teppiche, die jeden Schritt weich abfederten. Erste Klänge eines Walzers waren zu hören, als sich die Tür zum Ballsaal öffnete. Einen Moment schloss Louise die Augen, geblendet vom Licht der Kristalllüster. Der herrliche Saal war gesäumt von stilvollen Stuckverzierungen und mit einem duftenden Blütenmeer geschmückt. Sophie hatte recht gehabt, sie zur Eile zu treiben, denn die ersten Paare bewegten sich bereits im Takt der Musik.

Das Rascheln der Kleider, aus edelsten Stoffen gefertigt, erfüllte die Luft mit einer Erwartung, die fast greifbar war. Die Männer, in Gehrock oder Frack gekleidet, strahlten eine stoische Eleganz aus; ihre Jacken waren an der schmalsten Stelle ihres Leibes geschlossen und fächerten dann nach außen auf. Die Westen, überwiegend in gediegenen Grautönen, nur selten in mutigen Farben, lagen glatt über gestärkten weißen Hemden, und schwarze Fliegen oder Krawatten betonten den festlichen Charakter des Anlasses.

Die Kleider der Damen jedoch waren wie lebendige Kunstwerke, ein Kaleidoskop der Farben und Formen, von tiefem Rubinrot bis zu zartem Himmelblau, zusammengehalten durch feine Spitzeneinsätze und verziert mit Perlenstickereien und funkelnden Kristallen, die geschickt in die Designs eingeflochten waren. Die Kleider fielen in weiten Bahnen, hoch aufgerafft an der Taille und dann fließend zu Boden, umspielt von Rüschen und Faltenwürfen, während Korsetts die Silhouetten betonten. Juwelen, Broschen und Haarnadeln glitzerten im Licht der Leuchter.

Ein feines Aroma von Orangenblüten und Rosenwasser lag in der Luft, gemischt mit dem herben Duft des Tabaks und der Kerzen, die in Kristallleuchtern flackerten und Glanzpunkte warfen. Das leise Rascheln von Seide, das Fächerspiel der Damen und der zuvorkommende, aber bestimmte Ton der Herren vermengten sich zu einer Hintergrundmelodie, über welche das Quartett seine Lieder spannte.

Nachdem sie ihre Tanzkarte erhalten hatte, blickte Louise sich suchend um, bis sie Henriette und Leontine entdeckte, die am Rand standen und ebenfalls suchend die Köpfe drehten. Leontine winkte ihr, und Louise erklärte ihrem Onkel: »Dort warten meine Freundinnen. Ich werde sie begrüßen.«

Er nickte. »Vergiss nicht, warum du hier bist«, mahnte er leise. »Verschwende deine Zeit nicht mit den jungen Damen.«

»Das kann ich gar nicht vergessen.« Louise lächelte, obwohl seine Worte schmerzten. Hinter ihnen verbarg sich die Aufforderung, dass sie endlich einen Mann finden und aus der Villa ihrer Verwandten ausziehen sollte. Die Alternative wäre ein Leben als alte Jungfer, geduldet und von den Launen der Familie abhängig, so wie es Tante Malvina führte, die wie jeden Herbst zur Kur in Bad Kissingen weilte.

Während Louise durch den Ballsaal schritt, begrüßte sie Bekannte, lächelte jungen Männern zu und trug erste Namen auf ihre Tanzkarte ein. Jede ihrer Bewegungen wurde beobachtet, von den Müttern und Tanten in edlen Kleidern und glitzernden Juwelen, die wie Wächter am Rande standen, alles sahen und über jeden tuschelten. Louise wusste gut: Nur ein zu langes Gespräch, nur ein einziger flüchtiger Moment zu viel mit einem der jungen Bremer Herren, und die Matronen dichteten ihr eine Verlobung an.

Endlich hatte sie ihre Freundinnen erreicht.

»Schön siehst du aus.« Leontine lächelte und fächerte sich Luft zu. »Ist das Kleid aus Paris?«

»Mein Vater hat es mir aus London senden lassen«, entgegnete Louise. »Dein Kleid ist ebenfalls sehr schön. Und deins auch, Henriette.«

Leontines Kleid war ein Traum in Hellblau, das leicht ins Violett spielte und ihre Augen betonte. Die silbernen Stickereien am Dekolleté glänzten und zogen Blicke auf sich. Nicht weniger entzückend war Henriettes Kleid in einem sanften Pastellgelb, das ihrem Teint schmeichelte und einen wundervollen Kontrast zu ihren dunklen Haaren bot. Feine Rüschen umspielten den Ausschnitt und verliehen der klaren Linie des Stoffs Lebendigkeit. Louise erinnerte sich daran, das Kleid an Leontine bereits gesehen zu haben, aber an Henriette wirkte es vollkommen anders.

»Die Farbe steht dir.« Henriette nickte bekräftigend. Dann stutzte sie plötzlich. »Wer ist das?«

Neugierig wandte Louise sich um, so wie nahezu alle jungen Damen um sie herum. Denn der Mann, der den Ballsaal betrat, war überaus stattlich. Hochgewachsen, mit blonden Haaren und tiefblauen Augen und einer kräftigen Bräune, die er sich gewiss nicht in Bremen zugelegt hatte. Sein Blick streifte über die Anwesenden, als suchte er jemanden. Er kam Louise bekannt vor, aber sie kam nicht drauf, woher sie ihn kannte.

»Das ist Alexander Ostherloh.« Leontine stieß einen kleinen Seufzer aus. »Die fünf Jahre in Übersee haben ihm gutgetan. Er sieht viel besser aus als sein Bruder, nicht wahr?«

»Ja«, stimmte Louise ihrer Freundin zu, denn Christian Ostherloh, der hinter seinem älteren Bruder hereintrat, war ein ganz anderer Typ: hochgewachsen und schlaksig, seine dunkelbraunen Haare in ungezwungener Manier nach hinten gestrichen, als wäre er gerade mit der Hand hindurchgefahren. Es hieß, dass er als Journalist arbeitete, was seinen Vater immens verärgerte. Als hätten ihre Gedanken ihn herbeigerufen, betrat Jost Ostherloh nun den Ballsaal und blickte sich ebenfalls suchend um. Louise schauderte, als der Blick aus Josts graublauen Augen sie traf. Der Kaufmann war ihr unheimlich. Bei ihren Begegnungen auf dem Bremer Parkett hatte sie stets etwas Düsteres in ihm gespürt und versucht, ihn zu meiden. Selbst ihr Onkel, der Geschäftssinn schätzte, empfand Ostherloh als zu risikofreudig und forsch.

Doch diese Gedanken verflogen, als Alexander mit großen Schritten auf Louise und ihre Freundinnen zukam. Leontine bekam vor Aufregung einen Schluckauf, als er sie begrüßte.

»Darf ich um einen Tanz bitten?« Alexander verbeugte sich vor Louise, sein Lächeln voller Versprechen. Erst als Leontine ihr einen Ellenbogenstoß versetzte, fand Louise zu sich und überreichte Alexander ihre Tanzkarte. Bei der Berührung ihrer Finger begann ihr Herz, schneller zu schlagen.

Nachdem er sich eingetragen hatte, verbeugte er sich erneut. »Ich kann es kaum erwarten.«

Louise lächelte nur, denn sie brachte noch immer kein Wort hervor. Selbstverständlich trug er sich auch auf den Tanzkarten ihrer Freundinnen ein, aber Louise war die erste Dame, die er aufgefordert hatte. Sie bedauerte, dass sie die ersten Tänze bereits vergeben hatte. Auch sie konnte es kaum erwarten, den veränderten Alexander Ostherloh kennenzulernen. Nachdem er sich fürs Erste verabschiedet hatte, sahen die Freundinnen ihm nach.

»Wie zielstrebig er auf dich zugekommen ist, Louise.« Leontine seufzte. »Alexander sieht aus wie ein Märchenprinz.«

»Er ist erwachsen geworden, mehr nicht.« Henriette schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. »Märchenprinzen gibt es nicht.«

Bevor Leontine antworten konnte, wurden die drei zum Tanz aufgefordert.

Louise ließ das geschliffene Geplauder ihres Tänzers an sich vorbeirauschen, während ihre Augen Alexander suchten. Schließlich erspähte sie ihn, im Gespräch mit Onkel Georg und Sophie. Während Louise mit dem schmucken, aber langweiligen Offizier über das Parkett glitt, blickte sie immer wieder zu Sophie und Alexander hinüber. Inzwischen hatte Alexander ihre Cousine zum Tanz aufgefordert, was Louise in ungekannte Eifersucht versetzte.

Als der Offizier sie in eine Drehung führte, bemerkte Louise aus dem Augenwinkel, dass Alexander und Sophie sich offenbar glänzend unterhielten und sich gemeinsam mit müheloser Leichtigkeit bewegten. Sie stolperte und führte den nächsten Tanzschritt mechanisch aus, ohne auf ihren Partner zu achten. Sie setzte ihren Fuß mit Kraft auf den des Offiziers, und ihm entfuhr ein Schmerzenslaut. Ein peinlicher Moment, der die Aufmerksamkeit der Tänzer um sie herum auf sich zog.

»Oh, Entschuldigung«, stammelte Louise. »Es tut mir leid. Wie konnte das nur geschehen?«

»Nicht so schlimm«, versicherte der Offizier. »Ein Soldat der kaiserlichen Armee kennt keinen Schmerz.«

»Danke«, hauchte sie und widmete ihm nun ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Noch vier Tänze mit belanglosem Geplauder musste Louise überstehen, bis Alexander sie endlich aufforderte. Zu Louises Freude war es ein Walzer, ihr Lieblingstanz. Während die Musik in ihren Ohren klang, spürte sie seine Hand warm auf ihrem Rücken. Sosehr sie sich auch bemühte, ihr wollte kein Gesprächsthema einfallen. Also glitten sie schweigend über das Tanzparkett, in perfekter Harmonie. Ein nervöses Kribbeln durchströmte ihren Körper, während der Takt der Musik sie umfing.

»Wie schön du heute Abend aussiehst, liebe Louise«, durchbrach Alexander schließlich das Schweigen. »Erinnerst du dich überhaupt noch an mich?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie und rang nach Worten. »Wie hat es dir in Übersee gefallen? Wo warst du überall?«