Im Licht des Vollmondes - Vanessa Carduie - E-Book

Im Licht des Vollmondes E-Book

Vanessa Carduie

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Beschreibung

Ein Lamm, ein Sturz und eine verhängnisvolle Begegnung Um das Überleben ihrer Familie zu sichern, ist Emma gerne bereit, ihr persönliches Glück zu opfern und den Sohn des Schmieds zu heiraten. Allerdings steht die Ehe unter keinem guten Stern, denn ihr zukünftiger Gatte vergeht sich schon kurz vor der Hochzeit an ihr. Als dann auch noch ihr wertvollster Besitz, das kleine Lämmchen, verschwindet, muss Emma es unbedingt finden, denn es soll ihre Familie über den Winter bringen. Die Suche führt sie in den angrenzenden Wald, um den sich düstere Legenden ranken. Ein Sturz verhindert Emmas Rückkehr ins Dorf. Damit scheint ihr Ende besiegelt zu sein, denn im Licht des Vollmondes schleichen unheimliche Wesen umher. Als eines von ihnen auf die junge Frau aufmerksam wird, verändert sich Emmas Leben unwiederbringlich. Wird sie den dunklen Wald jemals verlassen können? Und wenn ja – zu welchem Preis?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Danksagung

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Das Buch

Ein Lamm, ein Sturz und eine verhängnisvolle Begegnung

Um das Überleben ihrer Familie zu sichern, ist Emma gerne bereit, ihr persönliches Glück zu opfern und den Sohn des Schmieds zu heiraten. Allerdings steht die Ehe unter keinem guten Stern, denn ihr zukünftiger Gatte vergeht sich schon kurz vor der Hochzeit an ihr. Als dann auch noch ihr wertvollster Besitz, das kleine Lämmchen, verschwindet, muss Emma es unbedingt finden, denn es soll ihre Familie über den Winter bringen.

Die Suche führt sie in den angrenzenden Wald, um den sich düstere Legenden ranken.

Ein Sturz verhindert Emmas Rückkehr ins Dorf. Damit scheint ihr Ende besiegelt zu sein, denn im Licht des Vollmondes schleichen unheimliche Wesen umher. Als eines von ihnen auf die junge Frau aufmerksam wird, verändert sich Emmas Leben unwiederbringlich.

Wird sie den dunklen Wald jemals verlassen können? Und wenn ja – zu welchem Preis?

Die Autorin

Vanessa Carduie erblickte an einem grauen Herbstmorgen 1988 in Dresden das Licht der Welt. Geschichten faszinierten sie von klein auf, und bald folgten die ersten eigenen Erzählungen. Sie hat Biologie studiert und widmet sich seit einigen Jahren aktiv ihrer Schreibleidenschaft.

Ihre Geschichten sind eine Mischung aus Liebesroman, Krimi und Fantasy, je nachdem, an welchem Projekt sie gerade arbeitet. Mit ihren Büchern möchte sie ihre Leserinnen und Leser zum Lachen, Weinen und manchmal auch zum Nachdenken bringen. Dafür beschreitet sie auch gern ungewöhnliche Wege.

http://www.vanessa-carduie.com/

https://www.facebook.com/VanessaCarduieAutorin

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Text Copyright © 2021 Vanessa Carduie

Dieses Buch unterliegt dem deutschen Urheberrecht. Das Vervielfältigen oder Veröffentlichen dieses Buches oder Teilen davon, ohne Zustimmung der Autorin, ist untersagt.

Coverdesign: Yvonne Less - art4artists.au

Korrektorat: Sandra Grüter

Lektorat: Jeanette Lagall - lektorat-lagall.de

1. Auflage (03.07.2021)

Vanessa Carduie

Bärwalder Str. 3

01127 Dresden

Inhaltswarnung:

https://www.vanessa-carduie.com/my-books/inhaltswarnungen/

Im Licht des Vollmondes

Ein düsteres Märchen

Vanessa Carduie

Widmung

Für Meike.

Ohne dich gäbe es dieses Märchen nicht.

1. Kapitel

Es war einmal vor langer, langer Zeit. Da lebte eine junge Frau namens Emma zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Hannes und ihrer Mutter Magarete in einem kleinen Dorf. Der Vater war vor einigen Jahren verstorben, und so mussten alle mitanpacken, um die hungrigen Mäuler zu stopfen und genug Holz für die langen kalten Wintermonate zu beschaffen. Doch trotz der widrigen Umstände waren sie zufrieden, denn sie waren einander in inniger Liebe verbunden und besaßen immerhin ein Schaf, das für ein wenig Wolle und Milch sorgte.

Emma war eine sanftmütige junge Frau, die seit einiger Zeit das Interesse der Männer im Dorf weckte. Ihr blondes Haar fiel in leichten Wellen bis zur Mitte ihres Rückens und leuchtete im Sonnenlicht wie gesponnenes Gold, wenn sie es denn einmal offen trug. Das tat sie selten, denn die Tradition wollte, dass sie es unter einem sittsamen weißen Häubchen verbarg.

Nun begab es sich, dass der Sohn des Schmieds, ein ungestümer Mann, der nur wenige Jahre älter als sie selbst war, um Emmas Hand anhielt. Sie fühlte sich geschmeichelt, denn sie mochte Gerald, sodass sie der Ehe mit ihm hoffnungsvoll entgegenblickte. Da ihre Familie arm war, würde der Bund mit dem Schmied dafür sorgen, dass Hannes und die Mutter hiernach nicht mehr Hunger leiden mussten.

Heimlich sehnte sich Emma zwar nach der großen Liebe, doch sie war zuversichtlich, dass sie für ihren zukünftigen Ehegatten bald derartige Gefühle entwickelte. Das Überleben ihrer Familie war für sie wichtiger als ihr eigenes Glück. Selbst wenn Gerald niemals ihre große Liebe würde, hoffte sie doch, dass sie ihm gesunde Söhne und Töchter schenkte, die sie glücklich machten.

Nur noch zwei Wochen, dann ist es soweit, dachte sie und träumte sich in diese Zukunft hinein.

Zwar hatte Emma als Ehefrau auch viele Pflichten, doch diese würde sie schon meistern. Ihre angehende Schwiegermutter Grete schien recht umgänglich und brachte ihr schon jetzt allerlei bei, was sie später benötigen würde.

Einzig vor dem alten Schmied, einem mürrischen, verschlossenen Mann mit breiter Statur und lichter werdendem dunklen Haar, fürchtete Emma sich ein wenig. Man munkelte, dass er nicht nur mit dem Hammer kräftig zuschlagen konnte und ein reizbarer Zeitgenosse sei. Allerdings hatte Emma derlei nie mit eigenen Augen gesehen und war daher nicht gewillt, sich von den Gerüchten verunsichern zu lassen.

In den ersten Jahren würden sie und Gerald ebenfalls in der Hütte seiner Eltern wohnen, bis sie genug Geld hatten, um eine eigene zu bauen. Das war üblich, auch wenn es Emma vor allem wegen der anstehenden Hochzeitsnacht verunsicherte. Schließlich wurde immer gesagt, dass kein Mann außer ihrem Gatten sie unbekleidet und mit offenem Haar erblicken durfte. Wie sie sich in Geralds Heim züchtig verhalten und gleichzeitig seine Bedürfnisse befriedigen sollte, war ihr ein Rätsel.

Generell fürchtete sie sich ein wenig vor diesen ‚ehelichen Pflichten‘. Ihre eigene Mutter hatte ihr zwar erklärt, dass der Beischlaf auch angenehm sein konnte, doch andere Frauen wisperten hinter vorgehaltener Hand immer wieder schreckliche Dinge. Zudem verstörte Emma der Brauch, dass zum Beweis ihrer Unschuld am Morgen nach der Hochzeit ein blutiges Laken vorgezeigt werden musste.

Was, wenn nicht genug Blut darauf war? Oder die Vereinigung so schmerzhaft ist, dass ich sie nie wieder erleben möchte? Emma wusste, dass sie Gerald als gutes Eheweib trotzdem zur Verfügung stehen musste, deshalb hoffte sie, dass dieser Teil ihrer Verbindung erträglich und fruchtbar werden würde.

Da sie nun offiziell verlobt waren, suchte Gerald sie in den letzten Wochen immer öfter auf, um sie in seine Arme zu reißen und ihr den einen oder anderen keuschen Kuss zu stehlen. Diese waren meist angenehm, wie Emma sich eingestehen musste, und ließen ihren Leib leicht prickeln.

Das eine oder andere Mal hatte ihr Verlobter auch versucht, sie zu überreden, ihre Röcke für ihn zu heben. Da sie ohnehin bald heiraten würden, sei dies keine Sünde mehr, behauptete er. Doch Emma hatte sich stets geweigert und Gerald musste sich fügen, auch wenn ihm das offensichtlich nicht gefiel. Ihre Jungfräulichkeit war mehr oder minder ihre Mitgift. Sie vorher zu verschenken, wäre nicht rechtens.

Die Zeit bis zur Hochzeit verging wie im Fluge. Emma wurde immer aufgeregter, auch Hannes und ihrer Mutter erging es nicht besser.

„Kommst du uns denn noch besuchen, wenn du bei Gerald wohnst?“, fragte ihr Bruder sie, der vier Jahre jünger war, und damit vierzehn Sommer zählte. Allmählich wurde aus dem schlaksigen Knaben ein junger Mann.

„Ja, natürlich“, beteuerte Emma und hoffte, dass sie dieses Versprechen auch einhalten konnte. Sie blieb im Dorf, von daher gab es keinen Grund, warum es nicht möglich sein sollte.

„Meine liebe Tochter“, seufzte ihre Mutter, der man die Strapazen ansah, die es bedeutete, allein für zwei Kinder zu sorgen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte Magarete nicht noch einmal geheiratet. Als Emma sie vor Jahren danach gefragt hatte, hatte sie geantwortet: „Ich hatte das Glück, den Mann zu lieben, den ich ehelichte. Das ist mehr, als viele andere Frauen haben. Solange mich die Umstände nicht in einen neuen Bund zwingen, werde ich als Witwe sein Gedenken in Ehren halten.“

Emma verstand ihre Mutter, denn in ihrer Erinnerung waren ihre Eltern glücklich gewesen und hatten einen liebevollen Umgang miteinander gepflegt. Nichts anderes wünschte sie sich für sich selbst und hoffte, dass Gerald dies ähnlich sah.

„Bist du dir sicher, dass du diese Ehe möchtest?“, fragte Magarete bestimmt schon zum hundertsten Mal.

Emma lächelte tapfer. „Ja, Mutter. Ich mag Gerald und denke, dass ich ihn mit der Zeit auch lieben könnte.“

Doch wie schon die Male davor, gefiel Magarete diese Antwort auch diesmal nicht. „Uns geht es gut genug, Kind. Wir haben zwar nicht viel, doch du musst dein Glück nicht opfern, nur damit wir abgesichert sind.“

Emma schloss ihre Mutter in die Arme und spürte, wie dünn diese geworden war. Doch, dachte sie. Ich muss dafür sorgen, dass ihr möglichst bald gut versorgt werdet. „Mach dir keine Gedanken um mich. Ich freue mich darauf, und du hast eine Sorge weniger.“

„Meine Kinder waren und sind für mich immer ein Quell der Freude gewesen, kein Grund zur Sorge“, widersprach Magarete.

Ihr Körper mochte nicht mehr so stark sein wie früher, doch ihr Wille war nach wie vor eisern. Das mittlerweile leicht ergraute Haar trug sie zu einem Zopf gebunden und hatte es ordentlich unter ihrer weißen Haube versteckt. Generell achtete ihre Mutter sehr auf ihr Äußeres und das ihrer Kinder. So arm sie auch waren, Emma und Hannes hatten immer saubere Kleidung.

Als Emma erfuhr, dass sie eine kleine Mitgift bekommen sollte, war sie überrascht. Doch offenbar hatte ihre Mutter über die Jahre ein wenig Geld beiseitegelegt und auch das eine oder andere Schmuckstück über diese schwere Zeit gerettet.

Der Großteil der Festlichkeiten für die Hochzeit wurde von der Familie ihres zukünftigen Ehegattens getragen. Was Magarete an Geld fehlte, machte sie jedoch durch ihren unermüdlichen Einsatz wett. Schon oft hatte Emma sich gefragt, wie ihre Mutter das alles bewerkstelligte. Sie wusste geschickt mit Nadel und Faden umzugehen, konnte Holz hacken und kannte sich auch ein wenig mit Kräutern und Salben aus. Zudem war Magarete immer zur Stelle, wenn irgendwo im Dorf Hilfe benötigt wurde, was dazu geführt hatte, dass alle ihrer kleinen Familie wohlwollend gegenüberstanden.

Nur aus diesem Grund war es ihnen möglich, ein eigenes Schaf, Molli, zu besitzen und es jedes Jahr decken zu lassen. Ronja, eine alte Bäuerin, hatte der Familie das Tier zum Dank für ihre Hilfe geschenkt. Wolle, Milch und nicht zuletzt das kleine Lämmchen ernährten sie für einige Monate. Zwar schmerzte es Emma immer sehr, die Lämmer in dem Wissen aufwachsen zu sehen, dass sie bald geschlachtet würden, doch bis zum Herbst hatten sie ein schönes, sorgloses Leben, und Emmas eigene Familie würde gut über den langen Winter kommen.

Da das Wetter heute schön sonnig und warm war, wollte Emma um die Mittagszeit mit Molli und ihrem wenige Wochen alten Lämmchen zu der großen Wiese am Waldrand gehen. Dort würde sie das Mutterschaf wie immer anpflocken, ein wenig mit dem Lämmchen spielen, und dann Blumen suchen, die sie zu einem Kranz binden wollte.

Sie nahm noch eine leichte Mahlzeit bestehend aus in Schafsmilch getränktem Brot zu sich, bevor sie im Sonnenschein mit Molli an einem Strick und dem Lämmchen an ihrer Seite zum Weidegrund ging.

In der Nähe des kleinen Bächleins pflockte sie das Schaf an und beobachtete das kleine Lamm, das freudig hin und her sprang. Neugierig erkundete es alles, was sich in seiner Umgebung befand. Dabei blieb es jedoch immer in ihrer Nähe. Falls es sich doch einmal etwas weiter entfernte, blökte Molli, und ihr Kind kam angesprungen.

Leise singend pflückte Emma einige Wildblumen und ließ sich damit im Schatten eines knorrigen Apfelbaums nieder, in dem die fleißigen Bienen summten. Endlich war der Frühling da, und die Temperaturen wurden wärmer. Die junge Frau genoss diese Jahreszeit, in der alles grünte und blühte und so voller Lebenslust war. Der harte Winter war vorüber. Obwohl es eine arbeitsreiche Zeit war, bekamen die Menschen bessere Laune und blühten beinahe ebenso auf, wie die Natur um sie herum.

Die Vögel zwitscherten in den Bäumen, und sogar der Wald erschien, erhellt vom Sonnenlicht, nicht so finster und gefährlich wie sonst. Tatsächlich betraten die Dorfbewohner diesen niemals nach Anbruch der Dämmerung, und selbst tagsüber wagten sie sich nur zu zweit hinein, und auch nur dann, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

Zwar lockten Wild, Beeren und Feuerholz die Menschen, doch sie wussten, dass zwischen den alten Eichen und knorrigen Buchen Wölfe hausten, die vor allem im Winter über sorglose Wanderer herfielen. Manchmal trauten sich die Raubtiere auch in der Dunkelheit hinaus und rissen Vieh, doch das geschah zum Glück nur selten. Deswegen hielt Emmas Familie das Schaf nachts in einem kleinen Pferch im Haus. Sie konnten es sich nicht leisten, das Tier zu verlieren. Obwohl Molli streng roch, kam ihnen die zusätzliche Wärme vor allem in der kalten Jahreszeit sehr gelegen.

Schaudernd dachte Emma an die Gruselgeschichten, die winters oftmals erzählt wurden, wenn draußen der Wind eisig um die kleinen Häuschen pfiff und man sich um das Herdfeuer scharte. Von Hexen, die in Sümpfen voller Irrlichter hausten, von blutrünstigen Dämonen und auch von so abscheulichen Wesen wie Werwölfen wurde in diesen Nächten berichtet. Alle trachteten auf ihre Weise den Menschen nach dem Leben oder verwünschten sie.

Besonders gruselig fand Emma die Werwölfe. Wesen, halb Mensch, halb Wolf, die bei Vollmond durch die Wälder schlichen und darauf lauerten, einen leichtsinnigen Wanderer zu erwischen. Diesem würden sie dann das Fleisch mit ihren scharfen Zähnen und Klauen von den Knochen reißen, um es roh zu verschlingen. Jungfrauen oder kleine Kinder waren bei diesen scheußlichen Wesen besonders beliebt. So recht wollte Emma nicht daran glauben, trotzdem mied sie wie alle anderen den Wald, sobald es dunkel wurde.

„Ah, hier versteckt sich also meine zukünftige Braut.“ Geralds Stimme ließ sie zusammenzucken. Emma blickte von ihrem halbfertigen Blumenkranz auf und entdeckte den jungen Schmied direkt vor sich.

„Seid gegrüßt“, murmelte sie und schlug schüchtern die Augen nieder. Ihr zukünftiger Ehegatte war durchaus angenehm anzusehen, doch sie wollte nicht unzüchtig wirken. Gerald besaß leicht kantige Gesichtszüge und eine stattliche Statur, die er von seinem Vater geerbt hatte, die aber auch durch die harte Arbeit in der Schmiede gefördert wurde. Sein dunkles Haar war kurz geschnitten, damit es ihn an der Feuerstelle nicht behinderte, und er hatte einen sauber gestutzten Schnauzbart. Wie üblich trug er robuste Hosen, ein einfaches Hemd und eine lederne Schürze darüber. Dem leichten Schweißfilm auf seiner Stirn und dem Geruch von Feuer nach zu urteilen, hatte er bis eben noch gearbeitet.

„Was denn? Will mich mein Weib gar nicht angemessen begrüßen?“, zog er sie auf.

Emma errötete und erhob sich. In letzter Zeit bestand Gerald immer öfter darauf, dass sie ihm einen Kuss geben sollte, und nahm sich auch die eine oder andere Freiheit heraus, die sie ihm niemals gestatten dürfte, stünde die Hochzeit nicht kurz bevor. Wie er von ihr erwartete, ging sie auf ihn zu und bot ihm ihren Mund dar.

„Na also, geht doch“, brummte er zufrieden und riss sie in seine Arme.

Erschrocken keuchte Emma auf und klammerte sich an seine Schürze. Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte er gnadenlos aus und drang mit seiner Zunge in ihren Mund ein. Sie wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Es fühlte sich überhaupt nicht gut an, wie seine raue Zunge ihren Mund erkundete und immer wieder grob in sie stieß.

Emma mochte diese Art des Küssens nicht, doch die vorherigen Male war er umsichtiger gewesen. Geralds rücksichtslose Eroberung verursachte ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend, trotzdem bemühte sie sich, nicht abweisend zu wirken.

Einmal hatte er ihr bereits zu verstehen gegeben, dass sie so leidenschaftlich wie ein toter Fisch sei. Obwohl sie unerfahren war, verstand sie, dass ihr Verlobter im Ehebett mehr erwartete als das.

Abgelenkt durch seinen Kuss, bemerkte sie erst nach einem Moment, dass er ihre Röcke raffte und mit seinen schwieligen Händen über die Haut ihrer Beine strich. Schockiert versuchte sie, sich von ihm loszumachen, und stemmte sich gegen seine Brust.

„Nein! Wir dürfen das nicht.“

„Was denn, Emma? In zwei Nächten wirst du mir gehören. Gib mir doch einen kleinen Vorgeschmack auf unsere Hochzeitsnacht. Niemand ist hier, der uns stören könnte. Es wird also unser kleines Geheimnis bleiben, wenn du dich mir jetzt hingibst.“

Vehement schüttelte sie den Kopf. „Bitte, lass mich los! Die Leute aus dem Dorf und die Kirche würden es nicht gutheißen.“

Gerald lachte rau und betrachtete sie gierig. „Das ist mir egal. Du bist mein Weib. Ich kann mit dir tun und lassen, was ich will.“

Zum ersten Mal verspürte Emma Angst in seiner Gegenwart. Offenbar würde Gerald eine erneute Zurückweisung nicht dulden.

Was soll ich nur machen?, fragte sie sich verzweifelt. Gerald war viel stärker als sie. Tatsächlich war niemand weit und breit in Sicht, der ihr zu Hilfe kommen konnte. Als er sie grob gegen den Stamm des Apfelbaums presste, wurde Emma schlagartig bewusst, dass bedeutungslos war, was sie tat – mitspielen oder sich mit allen Mitteln wehren – ihr zukünftiger Gatte würde sich von ihr nehmen, was ihm beliebte.

Noch einmal versuchte sie, ihn aufzuhalten. „Bitte, Gerald! Es sind doch nur noch zwei Tage. Warum willst du es überstürzen? Lass mich ziehen und ich werde dich zur Hochzeitsnacht freudig in meinem Bett empfangen.“

Doch er lachte nur höhnisch und machte sich an der Schnürung seiner Hose zu schaffen.

„Ich will dich jetzt, Weib! Nach unserer Hochzeit wirst du mir jederzeit zur Verfügung stehen, wann immer es mir nach dir gelüstet. Solltest du dich weigern …“ Er ließ den Satz unvollendet, doch die Härte in seinen braunen Augen war eine deutliche Warnung.

Die Hand, mit der er Emma an den Stamm gepresst hielt, war groß und rau. Emma wollte sich nicht vorstellen, welche Spuren diese auf ihrem Körper hinterlassen könnte.

Bitte, Gott! Lass mich das hier irgendwie überstehen! Um Hilfe flehte sie nicht, denn sie waren hier ohnehin allein.

Gerald zwängte sich grob zwischen ihre Beine, die sie verzweifelt zusammengepresst hatte.

„Du sollst mir gehorchen“, fauchte ihr Verlobter und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Emmas Kopf wurde gegen den Baum geschleudert, sodass Sterne vor ihren Augen tanzten. Sofort erlahmte ihr Widerstand, was ihr zukünftiger Gatte ausnutzte. Seine schwieligen Finger rissen am Ausschnitt ihres Kleides und bohrten sich in das weiche Fleisch ihrer Brüste. Emma stöhnte vor Schmerz und wand sich in seinem Griff, doch sie war machtlos.

„Das gefällt dir wohl, du kleine Hure“, keuchte Gerald, während er ihre Röcke hochschob und ihre Oberschenkel in die Höhe zerrte, nur um wenig später grob in sie zu stoßen.

Emma schrie vor Pein. So hatte sie sich den Akt der Vereinigung wirklich nicht vorgestellt. Sie wusste zwar, dass es oftmals schmerzhaft war, doch das hier fühlte sich an, als würde ihr Leib entzweigerissen. Tränen rannen aus ihren Augen, während ihr Verlobter wieder und wieder in sie eindrang und dabei kehlige Grunzlaute von sich gab.

Sie ließ es hilflos über sich ergehen und hoffte, dass es bald ein Ende haben würde. Mit einem Stöhnen vergrub Gerald sich ein letztes Mal in ihr und lehnte seinen Kopf schweratmend gegen ihre Schulter.

„Immerhin warst du noch Jungfrau“, stellte er zufrieden fest. „Du wirst mir viele starke Söhne schenken.“

Zumindest letzteres klang es in Emmas Ohren nach einer Drohung. Sie schluckte und nickte stumm.

Als Gerald sich endlich aus ihrem Körper zurückzog und sie losließ, gaben die Beine unter ihr nach, und Emma stürzte zu Boden. Das brachte sie auf Augenhöhe mit dem, was ihr eben so unsägliche Schmerzen verursacht hatte. Nicht mehr ganz so stramm, ragte Geralds Männlichkeit vor ihr auf, und die rötlichen Spuren daran ließen bittere Galle in ihr aufsteigen.

„Also, dieser Anblick gefällt mir“, verhöhnte er sie. „Ein andermal kannst du mir gern zeigen, wie geschickt du dich mit dem Mund anstellst. Jetzt muss ich zurück. Die Arbeit wird nicht weniger, während du hier auf der Wiese faulenzt. Wenn wir verheiratet sind, werde ich schon dafür sorgen, dass du dich nützlich machst.“

Er rückte seine Hose zurecht und schloss die Schnürung. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und ließ Emma auf der Wiese zurück.

2. Kapitel

Emma wartete, bis er außer Sichtweite war, dann hielt sie es nicht mehr aus. Wie ein kleines Kind rollte sie sich zusammen und schluchzte herzzerreißend. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie fühlte sich geschändet und beschmutzt.

Der eben noch so schöne, friedliche Tag war von einem Moment zum nächsten zu einem Albtraum verkommen.

Wird mein Leben von nun an immer so sein oder vielleicht sogar noch schlimmer werden?

Nachdem Gerald sich derart an ihr vergangen hatte, fürchtete sie sich umso mehr, in einem Haus mit seinem Vater zu wohnen. Nun glaubte sie an die Gerüchte, die sich um den Schmied rankten. Oder war damit sogar Gerald gemeint? Mit Schrecken fielen ihr auch einige Gelegenheiten ein, bei denen der ältere Mann sie lüstern gemustert hatte. Wenn sein Sohn und er sich ähnelten, dann wäre Emma wohl nie wieder sicher.

Was soll ich nur tun?! Sie hatte keinen Zweifel daran, dass so ein Leben sie schnell zu Grunde richten würde. Doch was habe ich für eine Wahl?

Emmas Jungfräulichkeit war verloren, und damit würde kein ehrbarer Mann sie mehr ehelichen wollen. Mutter und Hannes waren zudem auf den bescheidenen Wohlstand angewiesen, den die Ehe mit sich bringen würde.

Ich kann sie doch nicht einfach im Stich lassen!

Selbst wenn sie sich gegen diese Verbindung entschied, würde es ihren Untergang bedeuten. Nachdem Gerald sein wahres Gesicht gezeigt hatte, zweifelte Emma keine Sekunde daran, dass er alles tun würde, um ihr das Leben zur Hölle zu machen.

Was, wenn er mich der Hexerei beschuldigt oder behauptet, ich wäre keine Jungfrau mehr gewesen?

Sie konnte unmöglich das Gegenteil beweisen, und ihre Familie wäre gleichsam in Gefahr.

Das kann ich nicht zulassen!

Mühsam kämpfte Emma sich hoch und versuchte, ihre Kleidung zu richten. Es überraschte sie kaum, dass die Schnürung ihres Oberteils Schaden genommen hatte. Einige Schlaufen waren ausgerissen, und auch ihr Unterrock war beschädigt, aber mit etwas Geduld würde sie alles reparieren können. Von ihrem geschändeten Leib konnte sie das jedoch nicht behaupten. Es pochte und brannte zwischen ihren Schenkeln. Als sie aufstand, um sich im Bach zu waschen, lief etwas warm an ihrem Oberschenkel herunter.

Schnell schlüpfte sie aus ihren Schuhen und raffte die Röcke, damit sie nicht beschmutzt wurden. Emma betete, dass nicht alles Blut war, was sie spürte. Einerseits hoffte sie, dass der Samen, den Gerald in ihr vergossen hatte, schnell Früchte tragen würde, damit er sie in Frieden ließ, andererseits fürchtete sie genau das. Falls er sich doch von ihr lossagte, wäre sie gezwungen, ein uneheliches Kind auszutragen und müsste mit dieser Schande leben.

Natürlich würde ihr niemand glauben, dass ihr Verlobter sich an ihr vergangen hatte. Frauen galten als schwach und anfällig für unzüchtiges Verhalten und waren damit die perfekten Sündenböcke.

Vorsichtig tauchte sie einen Fuß in das kalte Wasser des Bächleins. Es fühlte sich an, als würde sie barfuß im Schnee stehen, doch Emma begrüßte die eisige Kälte. Diese würde den Schmerz zumindest für eine Weile betäuben. Sie hockte sich ins Wasser und wusch sich so gründlich wie möglich. Von ganzem Herzen hoffte sie, dass sie Gerald bis zur Hochzeit entgehen und sich erholen konnte.

Kann ich das Geschehene vor Mutter verbergen?, fragte sie sich bang. Ihre Mutter wäre außer sich vor Wut, wenn sie von den Geschehnissen erführe. Magarete war ohnehin nicht von dieser Ehe überzeugt und würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Tochter vor weiterem Schaden zu bewahren. Doch zu welchem Preis?

Während Emma sich wusch, überlegte sie, welche Wahl sie überhaupt hatte. Gerald ehelichen und fortan in der Hölle auf Erden leben? Die Hochzeit absagen und als Hure oder Hexe angeprangert werden? Oder mit meiner Familie in eine ungewisse Zukunft fliehen? Keine dieser Möglichkeiten war dazu angetan, ihre Verzweiflung zu lindern. Sie blickte zum Wald.

„Was, wenn ich einfach verschwände?“, murmelte sie, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. So sehr sie sich vor der Zukunft fürchtete, willentlich wollte sie nicht in den Tod gehen.

Als ihre Zähne zu klappern begannen, stieg Emma aus dem Bächlein und trocknete sich notdürftig ab. Zwar schmerzte ihr Leib noch immer, aber wenn sie krank wurde, würde das niemandem helfen.

Ein leises Blöken drang an ihr Ohr. Entsetzt erkannte sie, dass sie durch Geralds Überfall vergessen hatte, Molli umzupflocken. Das arme Tier stand nun schon seit geraumer Zeit an derselben Stelle und musste Hunger leiden, weil Emma nicht achtgegeben hatte. Schnell lief sie zu dem Schaf und streichelte es beruhigend. Tatsächlich hatte es alles in Reichweite gefressen und streckte den Hals, um an mehr Futter zu gelangen.

„Arme Molli, bitte verzeih mir meine Unaufmerksamkeit.“ Das Schaf blickte sie kurz an, bevor es sie anstupste.

So zügig es ihr schmerzender Körper zuließ, zog Emma den Holzpflock aus dem Boden und ging mit dem Mutterschaf an eine Stelle, an der besonders viel saftiges Grün zu finden war. Allerdings hielt das Tier nicht wie gewohnt an, sondern strebte weiter Richtung Waldrand.

„Halt! Dorthin können wir nicht“, rief Emma überrascht. Sie stemmte die Füße in den Boden. Nur mit Mühe gelang es ihr, Molli zu stoppen und an der neuen Stelle festzumachen. Protestierend blökte das Schaf und zog an seinem Strick.

„Was ist denn nur los mit dir?“, fragte sich Emma laut. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Molli und sie waren allein auf der Wiese. Das Lamm war verschwunden.

„Oh nein! Nicht auch das noch!“

Tränen stiegen der jungen Frau in die Augen, während sie kraftlos zu Boden sank. Durch die Ehe mit Gerald sollte ihre Familie abgesichert sein. Allerdings hegte sie langsam Zweifel, dass es Gerald oder seinen Vater kümmern würde, wenn ihre Mutter und Hannes verhungerten. So rücksichtslos wie er mit ihr umgegangen war, wäre er wohl auch ihnen gegenüber.

Das Lamm war also die einzige Hoffnung, ihre Familie den Winter über zu ernähren. Wenn es verschollen bliebe, müsste ihre Familie auf Almosen des Schmieds hoffen. Zwar erwirtschaftete er genug, um noch zwei Mäuler mehr zu stopfen, doch Emma befürchtete nun, dass Gerald einen Teufel tun würde, davon etwas abzugeben, ohne daraus einen Vorteil zu ziehen. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was für gottlose Dinge er im Gegenzug von ihr verlangen würde.

So hoffnungsvoll sie heute Morgen noch gewesen war, nun erschien ihr alles düster und aussichtslos.

„Ich muss es finden und zurückbringen!“

Dieser Entschluss verlieh ihr neuen Mut. Wenn schon ihr Schicksal besiegelt war, sie würde alles tun, um wenigstens ihrer Familie zu ermöglichen, das bevorstehende Jahr zu überstehen.

Sie warf einen Blick gen Himmel und erschrak, als sie den tiefen Stand der Sonne bemerkte. Wenn sie das Lamm finden und heil aus dem Wald zurückkehren wollte, musste sie sich sputen.

„Ich werde dein Kind finden“, versprach sie Molli und überprüfte noch einmal, ob das Tier auch sicher angepflockt war.

Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit würde ihre Familie sie suchen kommen und wenigstens das Schaf finden. Bis dahin wäre sie hoffentlich wieder zurück – wenn kein Unglück passierte.

Emma blickte noch einmal zur Sonne, bevor sie in ihre Schuhe schlüpfte und die Schultern straffte. Dann ging sie los und hoffte von ganzem Herzen, dass das Lämmchen und sie diesen angeblich verfluchten Wald lebend verlassen würden.

Einige Zeit später war ihre Zuversicht geschwunden. Während es draußen auf der Wiese noch hell gewesen war, herrschte im dichten Grün des Waldes ein bedrückendes Zwielicht, das es Emma schwer machte, sich zu orientieren. Schon mehrfach war sie gestolpert oder an einer dornigen Ranke hängen geblieben.

Seit einer Weile konnte sie auch die Spur des Lämmchens auf dem Waldboden nicht mehr erkennen. Obwohl sie versucht hatte, sich den Weg einzuprägen, befürchtete sie, sich verirrt zu haben. Angst kroch langsam ihren Rücken hinauf und nahm ihr die Luft zum Atmen.

Die knorrigen Bäume drohten immer näher zu kommen und schienen nach ihr zu greifen. Jedes Rascheln verstärkte ihre Furcht, und ungewollt musste Emma an die ganzen Schauergeschichten denken, die sie im warmen Sonnenschein noch belächelt hatte. Das Rauschen der Blätter im Wind klang in ihren Ohren plötzlich wie unheilvolles Flüstern, und hinter jedem huschenden Schatten schien ein schauriges Monster zu lauern.

Als sie wieder einmal hängenblieb und hinter ihr der unheimliche Ruf eines Käuzchens erklang, übernahm die Angst.

„Nein! Lasst mich!“

Blind rannte die junge Frau los. Weg von den schaurigen Bildern, die ihre Fantasie heraufbeschwor, immer tiefer in den Forst hinein.

Ein Heulen ließ sie erschrocken herumwirbeln. In den Tiefen eines Gebüschs wenige Schritte hinter ihr, vermeinte sie, glühende Augen zu sehen. Entsetzt sprang sie zurück, verlor den Boden unter den Füßen und fiel einen Abhang hinab. Steine schnitten in ihren Körper, Ranken zerkratzen ihre Hände, während sie verzweifelt versuchte, ihren Sturz zu stoppen.

Stöhnend schlug sie schließlich auf dem harten Untergrund auf und wagte nicht, sich zu bewegen. Nun gab es wirklich keine Stelle mehr an ihrem Leib, die nicht schmerzte.

Emma wusste nicht, wie lange sie dort gelegen hatte. Ihre Welt bestand nur noch aus Qualen und Dunkelheit. Kurz wünschte sie sich, dass sie einfach an Ort und Stelle sterben würde. Hauptsache, es war endlich vorbei.

Etwas Warmes in ihrem Gesicht und ein leises Blöken ließen sie schließlich die Augen öffnen. In dieser Finsternis konnte sie kaum etwas erkennen, doch die kleine, weiße Gestalt, die sich schutzsuchend an sie drängte, kam ihr seltsam bekannt vor. Das Lamm!, schoss es ihr plötzlich durch den schmerzenden Kopf, und Erleichterung stieg in ihr auf.

„Komm her, mein Schatz“, flüsterte sie zärtlich.

Sie hob das kleine Tier hoch, das merklich zitterte. Mühsam schob Emma sich in eine sitzende Position. Das Lämmchen fest gegen die Brust gedrückt, schaute sie sich um und erkannte, dass sie während ihrer blinden Flucht in eine schmale Schlucht gestürzt war.

Als der Vollmond hinter einer Wolke hervorschaute, erhellte sein fahles Licht für einen Moment auch diesen düsteren Ort. Vor und hinter ihr stieg die Erde steil an und wirkte steinig. Seitlich verlief sie tief in den Wald hinein. Zumindest erschien es Emma in der Dunkelheit so. Geröll und einige umgestürzte Bäume lagen herum und verstärkten das ungute Gefühl, in einer Falle gelandet zu sein, aus der es kein Entrinnen gab.

Langsam drang die Kälte durch ihre Kleider und kroch in ihre Glieder. Wenn ich hier verharre, werde ich mir noch den Tod holen.

Nun, da sie das Lamm hatte, wollte sie nicht aufgeben und unbedingt zu ihrer Familie zurückkehren. Emma versuchte aufzustehen. Mit einer Hand hielt sie das Tierchen an sich gedrückt, während sie sich mühsam auf die Beine kämpfte. Jedoch brach sie schon im nächsten Augenblick zusammen, denn Schmerz schoss siedend heiß durch ihren rechten Knöchel.

Mit Tränen in den Augen schob sie ihren mittlerweile völlig verschmutzten und zerrissenen Rock ein Stück nach oben und betrachtete ihren Fuß. Dieser wirkte unnatürlich verdreht und geschwollen.

„Oh nein!“, klagte Emma. „Das darf doch nicht wahr sein! Womit habe ich dieses Unglück nur verdient?“

Schluchzend presste sie das Lämmchen an sich, froh darüber, wenigstens nicht ganz allein zu sein. Wenn jedoch kein Wunder geschah, dann würden sie beide in diesem Wald sterben. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber mit einem gebrochenen Fuß würde sie den Rückweg niemals schaffen. Auch dann nicht, wenn sie gewusst hätte, wie sie aus diesem verdammten Hain herauskommen würde.

Als ganz in der Nähe ein schauriges Heulen erklang, erstarrte Emma.

Wölfe! Jetzt bin ich verloren.

3. Kapitel

Schnüffelnd hielt der große schwarze Wolf seine Schnauze in den Wind.

Der Vollmond stand am Himmel, und sein Jagdtrieb war erwacht. Normalerweise bevorzugte er gekochtes Fleisch, doch in jeder ersten Vollmondnacht war das Tier in ihm stärker, und das scheute weder Blut noch Fell. Ganz im Gegenteil: Nach erfolgreicher Hatz genoss der Wolf es, dem letzten angstvollen Quieken seiner Beute zu lauschen und die Knochen knacken zu hören, bevor er sein Opfer dann verschlang.

Nach solchen Nächten wachte er meist schmutzig und blutverschmiert auf, doch Finneus hatte sich daran gewöhnt und verachtete sich nicht mehr dafür.

Er war ein Aussätziger, den ohnehin nie jemand zu Gesicht bekam. Ein Monster, unwürdig unter den Menschen zu leben, wie er als Knabe schmerzvoll erfahren musste. Jagd hatten sie auf ihn gemacht, ihn mit Fackeln, Speeren und Musketen drangsaliert, bis kaum noch Leben in ihm gewesen war.

Mit letzter Kraft hatte er sich damals tief in den Wald geschleppt, wo kein Mensch sich jemals hinwagte. Dort hatte er auf dem feuchten Moos gelegen und blutend seinem Ende entgegengesehen. Doch seine Wunden waren verheilt, und die Instinkte des Wolfes hatten übernommen.

Seitdem war der verwunschene Wald sein Zuhause. Er hatte sich eine kleine Hütte gebaut und gelernt, alleine zurechtzukommen.

Mit den Jahren war auch die Sehnsucht nach Mutter und Schwester verschwunden, die die verhängnisvolle Nacht seiner ersten Verwandlung nicht überlebt hatten. Der wütende Mob hatte ihre kleine Hütte angezündet und johlend den Schreien der beiden Frauen gelauscht, die darin eingesperrt gewesen waren. Finneus selbst hatte dabei zusehen müssen, wie alles verbrannte, was er jemals geliebt hatte.

Das war nun zwanzig Jahre her. Der Schmerz war verblasst, doch der Hass auf die Menschen brannte noch immer tief in ihm.

Sie mieden den Wald, aber wenn sich doch einmal eine unglückliche Seele dorthin verirrte, machte er Jagd auf sie, so wie sie es damals bei ihm getan hatten. Nur selten ließ er Gnade walten. Ihm war sie schließlich auch verwehrt geblieben, obwohl er kaum mehr als ein Knabe gewesen war, und nicht gewusst hatte, was mit ihm los war.

Nachdem er seine Familie verloren hatte, war das hier ansässige Rudel zu einer Art Ersatzfamilie geworden. Glücklicherweise hatte das damalige Leitwolfpaar Mitleid mit dem verstörten Jungen und duldete ihn in ihrer Nähe. Sie spürten, dass er weder Wolf noch Mensch, sondern eine Mischung aus beidem war.

Auf diese Weise hatte er Zuneigung erfahren und war nicht vollkommen vereinsamt. Die Wölfe, die nun durch den Forst streiften, waren Nachkommen dieses Paares. Finneus hatte sie aufwachsen sehen, was für eine noch engere Verbindung zwischen ihnen gesorgt hatte.

Nun jedoch witterte er etwas Ungewöhnliches, denn ihm stieg der Geruch einer jungen Frau und eines Schafes in die Nase. Was die beiden so tief im Wald zu suchen hatten, war ihm ein Rätsel.

Neugierig und mit einer gewissen Vorfreude, machte er sich an die Verfolgung der Spur. Was er tun würde, sobald er seine Beute aufgespürt hatte, würde sich zeigen. Behände folgte er ihrem Duft, der stark von Angst durchtränkt war.

Vor irgendetwas oder jemandem musste sie geflohen sein.

Schließlich hielt er an einem Abhang. Die kleine Schlucht war ihm wohlbekannt. Oft genug stürzte ein Tier hinein – leichte Beute für ihn.

Nun hatte es wohl die Menschenfrau erwischt, was ihn mit einer gewissen Schadenfreude erfüllte. In dieser Dunkelheit würde sie ihm niemals entkommen. Überlebt hatte sie den Sturz, denn er konnte ihren viel zu schnellen Herzschlag und ihr leises Schluchzen deutlich wahrnehmen.

Mit einem Satz sprang er in die Tiefe und hob den Kopf, um zu heulen. Außer ihm streiften auch die normalen Wölfe durch den Wald. Manchmal gingen sie gemeinsam auf die Jagd, aber heute wollte er nicht teilen. Mit dem Geheul sagte er, dass Frau und Schaf seine Beute waren.

Das erschrockene Keuchen der Menschenfrau war Musik in seinen Ohren. Langsam schlich Finneus näher, bis er sie schließlich hinter einem kleinen Felsvorsprung entdeckte. Er witterte Blut und den Geruch eines anderen Mannes, doch über allem lag der vertraute Duft der Angst.

Als erstes fiel ihm das zappelnde Lämmchen in ihren Armen auf. Sie hatte es fest an ihre Brust gedrückt und hielt dem Tier die Schnauze zu, damit es sie nicht mit seinem ängstlichen Blöken verraten konnte. Zu spät, dachte er gehässig und näherte sich ihnen. Frau und Lamm musterten ihn mit weit aufgerissenen Augen.

„Bitte, friss mich und lass das Schaf in Ruhe!“, flehte sie und überraschte ihn damit. Ein Mensch, der statt eines Tieres sterben will?

Das war ihm bisher noch nie passiert. Meist wurde ihm alles Mögliche angeboten, um die eigene Haut zu retten. Offenbar war das kleine Wesen wichtig für die Frau.

Allerdings würde es nicht lange überleben, selbst wenn er es verschonte und nicht fraß. Es benötigte noch Muttermilch und wäre selbst für einen Wolf nur eine spärliche Mahlzeit.

Knurrend schlich Finneus näher. Tatsächlich war die Frau noch recht jung und erstaunlich hübsch anzusehen. Blonde Haare fielen über ihre Schultern und umrahmten ein schmales Gesicht mit grünen Augen und einer Stupsnase. Die weiße Haube, die ihr Haar bedeckt haben musste, lag wenige Schritte hinter ihr auf dem Boden. Obwohl die junge Frau zitternd vor ihm kauerte, konnte er erkennen, dass sie ihr einfaches hellbraunes Kleid an den richtigen Stellen gut ausfüllte.

Erstaunt stellte Finneus fest, dass ihr Anblick ihn erregte. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert.

Zu schade, dass ich in meiner wölfischen Gestalt gefangen bin, bis die Sonne aufgeht, dachte er bedauernd. Sonst hätte ich ein wenig Spaß mit ihr haben können.

Abschätzend umrundete er seine Beute und wunderte sich, warum sie nicht vor ihm davonlief. Natürlich würde sie ihm niemals entkommen können, doch das wussten die dummen Menschen nicht. Als sie versuchte, von ihm wegzurutschen, keuchte sie vor Schmerz. Neugierig folgte er ihrer Bewegung und sah, dass ihr Knöchel unnatürlich verdreht war. Offenbar hatte sie sich beim Sturz den Fuß gebrochen und war ihm nun hilflos ausgeliefert. Finneus verspürte eine gewisse Genugtuung.

„Wenn du Hunger hast, dann töte mich ruhig. Ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren.“ Obwohl sie vor Angst zitterte, hielt sie sich tapfer aufrecht. Sie entblößte ihre zarte Kehle und schloss die Augen.

Für einen Moment war der Wolf in ihm versucht, ihr Angebot anzunehmen, doch aus unerfindlichen Gründen widerstrebte es seinem menschlichen Ich, die junge Frau zu töten. Stattdessen stupste er sie mit seiner großen Schnauze an und beschnüffelte sie ausgiebig. Ihr Haar duftete leicht nach Apfel, und ihre Haut war trotz Kratzer und Schmutz weich. Er knurrte leise, als er den Geruch männlicher Erregung und auch ihre Furcht an ihr wahrnahm. Die letzten Stunden mussten alles andere als angenehm für sie gewesen sein, was ihre Anwesenheit im Wald zumindest zum Teil erklärte.

Was ist mit dir passiert, Mädchen?, überlegte er und überraschte sich damit selbst. Das Schicksal irgendwelcher Menschen interessierte ihn schon lange nicht mehr.

Bebend wartete Emma darauf, dass der furchteinflößende Wolf über sie herfiel und ihr die Kehle aufriss. Als sie etwas Kaltes auf ihrer Haut spürte, zuckte sie zusammen. Bevor sie sich fragen konnte, was das war, hörte sie das Schnüffeln des Tieres. Scheinbar wollte es erst einmal überprüfen, ob sie überhaupt essbar war, bevor es sie verschlang.

Noch nie in ihrem Leben hatte Emma so große Angst verspürt wie an diesem Tag. Erst die Schändung durch ihren Verlobten und nun würde sie von einem riesenhaften Wolf gefressen werden, der sich dabei auch noch viel Zeit ließ.

Spielen sie mit ihrer Beute, so wie es Katzen zu tun pflegen?, fragte sie sich. Vielleicht wartet er auch noch auf den Rest seines Rudels. Zumindest hatte sie gehört, dass Wölfe immer nur im Gruppen auftraten. Diese Aussicht verstärkte ihr Zittern nur noch. Als sie sein gefährliches Knurren direkt an ihrem Ohr wahrnahm, hielt sie vor Schreck die Luft an. Das kleine Lamm zappelte in ihren Armen, und Emma befürchtete, dass das arme Ding womöglich vor Angst sterben würde. Kurz hoffte sie, dass ihr ein ähnliches Ende vergönnt war. Zumindest stellte Emma sich vor, dass es angenehmer war, als bei lebendigem Leib gefressen zu werden.

Plötzlich fuhr etwas Warmes über ihre Wange und hinterließ eine feuchte Spur auf ihrer Haut. Verwundert begriff Emma, dass der Wolf sie gerade abgeleckt hatte. Ein seltsames Verhalten.

Vorsichtig öffnete sie die Lider und bemerkte, dass er sie mit seinen goldenen Augen musterte. Diese strahlten eine Intelligenz aus, die nicht so recht zu einem wilden Tier passen wollte, sondern eher zu einem Menschen. Generell erschien ihr das Tier wundersam. Im fahlen Licht des Mondes wirkte sein Fell pechschwarz. Dazu kam, dass es viel größer war, als sie es sich vorgestellt hatte. Obwohl sie aufrecht saß, überragte der Wolf sie um einen halben Kopf.

„Verstehst du mich?“, flüsterte sie.

Der Wolf legte seinen Kopf schief. Emma musste über sich selbst lachen.

„Offenbar werde ich wahnsinnig“, sagte sie mehr zu sich selbst. „Jetzt fange ich schon an, mit wilden Tieren zu reden, als wären sie der Sprache mächtig …“ Sie schüttelte den Kopf und streichelte das Lamm in ihrem Arm. Wenn sie schon verrückt wurde, konnte sie dem armen Ding immerhin ein bisschen Trost spenden.

„Fehlt nur noch, dass einer von euch beiden mir antwortet.“

Finneus wusste nicht, was er von der ganzen Sache und vor allem von der jungen Frau vor ihm halten sollte. Obwohl er Menschen abgrundtief hasste, verspürte er einen Hauch Mitleid. Außerdem gefiel ihm ihre Stimme und die Art, wie sie mit dem zitternden Schäfchen umging.

Vielleicht ist sie nicht so verdorben wie der Rest ihrer Sippe.

Scheinbar hatte sie beschlossen, dass sie ohnehin ihren Verstand verloren hatte, denn sie redete weiter.

„Armes Lämmchen. Nur zu gern würde ich dich zurück zu Molli und meiner Familie bringen, doch ich fürchte, wir beide werden niemals aus diesem Wald herauskommen – so wie viele andere vor uns.“ Sie seufzte leise. „Um mich ist es nicht schade. Tatsächlich dürfte der Tod im Wald ein gnädigeres Schicksal sein als die Ehe mit Gerald. Aber was sollen Mutter und Hannes nur ohne dich tun? Wenn du mit mir stirbst, wird Molli bald keine Milch mehr geben, und noch einmal können wir sie nicht decken lassen. Dafür fehlt uns das Geld.“

Aha, ein brutaler Gatte und eine mittellose Familie, dachte Finneus und hoffte, dass sie weitererzählen würde. Er ließ sich vor ihr nieder und legte den Kopf auf seine Pfoten. Aus unerfindlichen Gründen brannte er darauf, mehr über sie zu erfahren. Kurz blickte sie zu ihm, wobei sie unendlich traurig wirkte.

„Weißt du, noch heute Morgen war ich voller Hoffnung, dass sich alles endlich zum Besseren wenden würde. Die Hochzeit hätte dafür gesorgt, dass Mutter sich nicht mehr zu Tode schuften muss, und auch Hannes wäre versorgt gewesen. Liebend gern hätte ich mein Glück geopfert, damit es ihnen gutgeht. Einzig der Gedanke an meinen Schwiegervater verursachte mir leichtes Unbehagen.“ Sie lachte freudlos. „Da wusste ich noch nicht, was für ein rücksichtsloser und brutaler Mann mein zukünftiger Gatte ist.“

Tränen rannen aus ihren Augen, während sie sich den Schrecken ihrer Schändung von der Seele redete – von ihrer Furcht, den Schmerzen und der bedrückenden Hilflosigkeit berichtete.

Finneus lag ruhig da, obwohl ein wahrer Gefühlssturm in ihm tobte. Hass und Mitleid herrschten vor, aber darunter schwang auch etwas mit, das er seit dem Tod seiner Familie nicht mehr gespürt hatte: Zuneigung. Das arme Ding hatte so einiges erleiden müssen und glaubte nun, dass der Tod ihr einziger Ausweg sei. Auf gewisse Weise hieß sie ihn sogar willkommen.

Eigentlich sollte ihn das amüsieren, doch so sehr er es wollte, er konnte sich nicht an ihrem Leid ergötzen. Stattdessen spürte er das widersinnige Verlangen, sie in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Bei diesem absurden Gedanken musste Finneus den Kopf über sich selbst schütteln. Nichts ist gut und würde es auch nie wieder werden. Niemand wusste das besser als er. Trotzdem erhob er sich und schmiegte sich an sie. Zuerst erschrak sie, doch dann lehnte sie sich an ihn.

„Du bist so warm“, murmelte sie. „Und dein Fell ist erstaunlich weich.“ Ein leises Kichern entwich ihren vollen Lippen. „Ich muss wirklich verrückt geworden sein. Wahrscheinlich habe ich mir beim Sturz den Kopf angeschlagen und fantasiere nur. Weder das Lämmchen ist hier noch dieser große Wolf, der mich eigentlich fressen müsste.“

Sie fröstelte leicht und presste sich enger an seinen warmen Körper. Finneus gefiel nicht, dass sie selbst so kalt war. In ihrem dünnen Kleid musste sie furchtbar frieren.

„Einerlei, ob du echt bist oder nicht, deine Gegenwart ist tröstlich. So habe ich zumindest das Gefühl, nicht einsam sterben zu müssen. Denn ich fürchte, genau das ist es, was mir blüht. Die Kälte kriecht in meine Knochen, und es fällt mir zunehmend schwer, die Augen offen zu halten. Wenn ich einschlafe, werde ich erfrieren, und das arme Lämmchen wird verhungern, weil es schon viel zu lange keine Milch mehr bekommen hat.“

Finneus stupste sie leicht mit der Nase an. Die junge Frau hob die Hand, um ihm über den Kopf zu streicheln. „Schon gut. Ich betrauere mein Ende nicht. Es ist immerhin besser, als Gerald zu heiraten und hilflos ertragen zu müssen, wie er mich Stück für Stück zerstört.“ Sie schauderte. „Ich hatte gehofft, dass ich ihn irgendwann lieben könnte, doch nun ist es mir unmöglich. Er hat mir sehr deutlich gezeigt, dass es ihn nicht kümmert, wie es mir ergeht. Ein willenloses Gefäß für seine Söhne ist das Einzige, was ihn interessiert. Wenn ich ihm diese nicht schenken kann …“ Ein Zittern lief durch ihren Leib. „Was in diesem Fall auf mich zukäme, möchte ich mir nicht ausmalen.“

Sie kraulte ihn hinter den Ohren. „Weißt du, erst dachte ich, die Gerüchte über die Brutalität des Schmieds seien unwahr. Doch nachdem ich seinen Sohn erlebt habe, fürchte ich mich wirklich vor ihm. Seine lüsternen Blicke lassen nichts Gutes erahnen, und ich wüsste nicht, ob ich mit dieser Schande leben könnte.“

Finneus entwich ein wütendes Knurren. Genau deswegen verachtete er alle Menschen. Sie nahmen sich ohne Rücksicht, was sie wollten, und vergingen sich an den Schwächsten, um ihre niederen Gelüste zu befriedigen.

„Schsch. Du machst dem Lamm Angst“, ermahnte sie ihn leise.

Kurz war der Wolf verblüfft, dann musste er grinsen. Dieses Weibsbild ist einmalig, dachte er. Tatsächlich hatte sich das Lämmchen vertrauensvoll in ihren Arm gekuschelt. Na fein, jetzt haben weder Frau noch Lamm Angst vor mir …

Wirklich bedauern konnte er das jedoch nicht. Sie hatte nämlich recht, es war sehr kalt, und der Nebel kroch durch die Schlucht. Wenn er nicht wollte, dass sie hier erfror, musste er sich etwas einfallen lassen. In diesem Moment verfluchte er, dass er sich nicht nach Belieben verwandeln konnte. Zu jeder anderen Zeit wäre es kein Problem gewesen, in seine menschliche Gestalt zu wechseln, allerdings nicht in der ersten Vollmondnacht.

Nur, wie soll ich sie hier wegbekommen? Seine Hütte war nicht allzu weit entfernt, doch mit dem gebrochenen Fuß konnte sie nicht laufen. Und dann war da noch das Lämmchen … Finneus schnaubte verdrossen, dann fiel sein Blick auf das weiße Häubchen, das verloren auf dem Boden lag. Vielleicht kann ich das kleine Tier dort hineinlegen, um es zu tragen. Dann hätte die junge Frau beide Hände frei, um sich an ihm festzuhalten. So könnte es vielleicht funktionieren.

Er wandte sich ab, um seinen Plan umzusetzen, was die verletzte Frau augenblicklich schwanken ließ. Als er die Kopfbedeckung auf das Lamm fallen ließ, sah sie ihn mit großen Augen an.

„Was genau willst du mir damit sagen? Für sittsamen Kopfputz habe ich gerade keine Verwendung.“

Finneus schüttelte den Kopf und schob das Häubchen weiter zum Schäfchen. Erkenntnis machte sich auf ihren Gesichtszügen breit. „Ah, du willst, dass ich es dort hineinsetze.“

Er nickte.

„In Ordnung, ich versuche es.“ Vorsichtig nahm sie das kleine Tier von ihrem Arm und legte es in die Haube. Das Lämmchen protestierte leise, war jedoch zu schwach, um daraus zu entkommen. „So, und nun? Es ist vielleicht ein bisschen wärmer, aber ich fürchte, das wird es nicht retten.“

Finneus schob seinen mächtigen Kopf unter ihren Arm. „Huch!“, keuchte sie überrascht und hielt sich instinktiv an seinem Fell fest. Zufrieden brummte er und strebte ein Stück nach vorn, um ihr begreiflich zu machen, dass sie auf ihn klettern sollte.

„Das ist lieb gemeint, Wolf. Aber ich fürchte, dass selbst ein so stattliches Tier wie du mich nicht tragen könnte.“

Als Antwort knurrte er nur und stupste sie an. Komm schon! Du könntest es wenigstens versuchen. Das tat er so lange, bis sie schließlich nachgab.

„Na gut.“ Die junge Frau setzte das Lamm auf dem Boden ab und hievte sich mühsam ein Stück in die Höhe. Finneus kam ihr ein Stück entgegen und legte sich hin, damit sie ihren verletzten Fuß nicht zu sehr belasten musste. Außer Atem lag sie schließlich bäuchlings auf seinem Rücken und krallte sich in sein Fell, während er aufstand. Als er sein Maul öffnete und nach der Haube mit dem Lamm schnappte, rief sie erschrocken: „Nicht fressen!“

Doch Finneus ignorierte sie und nahm stattdessen vorsichtig die Schnürung der Kopfbedeckung in sein Maul.

---ENDE DER LESEPROBE---