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Heiterer Gesellschaftsroman über ein Dorf im Waldviertel, über Einheimische und Zua'graste, Junge und Junggebliebene. Ob in der Pubertät, schon erwachsen oder noch gar nicht geboren – Kinder machen einfach immer Sorgen. So sieht es zumindest der Vater der politischen Aktivistin Edith, und die ist immerhin schon Ende zwanzig. Bürgermeister Paffler - der bisher mit Stieftochter Anna bestes Einvernehmen hatte - ist neuerdings gerne bereit, dem zuzustimmen. Seit eine Gruppe politischer Aktivisten – unter ihnen auch Edith - sich vor den Toren Waldstettens niedergelassen haben, ist es bei den Pafflers mit der Harmonie vorbei. Auch in der Gemeinde sorgen die Aktivisten für jede Menge Unruhe. Ganz andere Gefühle hegt Julia. Die Finanzexpertin ist schwanger – ein Wunschkind, dennoch macht ihr die Zukunft Angst. Ihre Freundin Gloria kann das gut nachvollziehen, denn ihr Mann hätte ebenfalls gerne Kinder, doch sie ist mit ihrem umtriebigen Leben hochzufrieden. Unlösbare Probleme? Nicht für unsere Waldstettener. Werden Sie Teil dieser besonderen Gemeinschaft - lesen Sie jetzt!
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Brigitte Teufl-Heimhilcher
Immer Ärger mit dem Nachwuchs
Band 5 – Reihe Stadt, Land, Zank
Roman
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Die Autorin
Prolog
1. Wie viele Stunden hat ein Tag?
2. Krisenbewältigung nach Art des Hauses
3. Endlich Hochzeit
4. Verschiedenes
5. Das Allerheiligen-Programm
6. Die Bürgerversammlung
7. Endlich Party!
8. Die Sache mit dem Nachwuchs
9. Wer die Wahl hat …
10. Nougateis und Salzgurke
11. Ariane lässt bitten …
12. Powerfrauen
13. Mauritius ist auch nur eine Insel
14. Ju-Ju
15. Die Diktatur der Gewohnheit
16. Moralapostel*innen
17. Julia allein zu Haus
18. Superdaddy
19. Die Blockade
20. Die Freuden des Lebens
21. Schwache Nerven
22. Annas Tag
23. Immer wieder Montag …
24. Eine schwerwiegende Entscheidung
25. Ein Sommertag
26. Freunde
27. Ermittlungen
28. Ein großer Schritt
29. Streichwurst gegen Streichquartett
Danke
Tante Adelheids Schloss
Besuch aus Rom
Weihnachten beginnt im September
Das alte Gutshaus
Sonst noch erschienen
Deutsche Erstausgabe 2023
Copyright: ©2023 Brigitte Teufl-Heimhilcher,
1220 Wien
https://www.teufl-heimhilcher.at
Buchsatz/Konvertierung: Autorenservice-Farohi
www.farohi.com
Covergestaltung: Xenia Gesthüsen
Lektorat: Eva-Maria Farohi, Autorenservice-Farohi
Alle Rechte vorbehalten
Ob in der Pubertät, schon erwachsen oder noch gar nicht geboren – Kinder machen einfach immer Sorgen. So sieht es zumindest der Vater der politischen Aktivistin Edith, und die ist immerhin schon Ende zwanzig.
Bürgermeister Paffler - der bisher mit Stieftochter Anna bestes Einvernehmen hatte - ist neuerdings gerne bereit, dem zuzustimmen. Seit eine Gruppe politischer Aktivisten – unter ihnen auch Edith - sich vor den Toren Waldstettens niedergelassen haben, ist es bei den Pafflers mit der Harmonie vorbei. Auch in der Gemeinde sorgen die Aktivisten für jede Menge Unruhe.
Ganz andere Gefühle hegt Julia. Die Finanzexpertin ist schwanger – ein Wunschkind, dennoch macht ihr die Zukunft Angst. Ihre Freundin Gloria kann das gut nachvollziehen, denn ihr Mann hätte ebenfalls gerne Kinder, doch sie ist mit ihrem umtriebigen Leben hochzufrieden.
Unlösbare Probleme? Nicht für unsere Waldstettener.
Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur.
In ihren heiteren Gesellschaftsromanen setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben - wie es ist, und wie es sein könnte.
Liebe Edith,
ich hoffe, dieser Brief erreicht dich, sei es über deine ehemalige Mitbewohnerin Lisa, sei es mittels Nachsendeauftrag.
Nach unserem letzten Streit habe ich erst versucht, dich telefonisch zu erreichen. Da du das Gespräch nicht angenommen hast, bin ich zu deiner Wohnung gefahren und musste von Lisa erfahren, dass du bereits ins Waldviertel übersiedelt bist. Die genaue Adresse wollte sie mir nicht verraten.
Jedenfalls möchte ich dich auf diesem Wege bitten, deine Kündigung in unserer Klinik und deine Übersiedelung ins Waldviertel noch einmal zu überdenken.
Du weißt, wie schwierig es war, deine Anstellung – trotz deiner Vorgeschichte – durchzusetzen. Wirf das um Himmels willen nicht weg, bitte! Es geht um nichts weniger als deine Zukunft!
Es mag ja sein, dass deine Mutter und ich, ja unsere ganze Generation, nicht alles richtig gemacht haben –, aber auch nicht alles falsch. Jedenfalls waren wir von unserem Tun nicht weniger überzeugt, als ihr es heute von eurem seid.
Einen Unterschied sehe ich allerdings. Wir wollten etwas aufbauen, ihr wollt es zerstören.
Der dahinterliegende Sinn erschließt sich mir nicht, aber das, was ihr vorhabt, macht mir Angst. Macht uns Angst, deiner Mutter geht es ja nicht anders, wenn sie auch anders darauf reagiert.
Mag sein, dass eure Absichten redlich sind, eure Mittel waren es schon bisher nicht. Deshalb habe ich Angst, als Vater und als Bürger dieses Landes.
Ihr nennt euch die Besseren Demokraten, wollt aber den Willen der Mehrheitsgesellschaft nicht akzeptieren. Glaub mir, das geht nicht zusammen.
Lass uns darüber reden, meinetwegen auch streiten, bei einem Campari-Orange – so wie früher.
Dein Vater
Als Daniel vom Elternsprechtag nach Hause kam, fand er seine Frau Gloria schlafend in der Küche vor. Sie war über ihrem Laptop eingeschlafen. Kein Wunder, bei allem, was sie sich in letzter Zeit aufbürdete.
Als sie vor wenigen Jahren hierhergezogen waren, in das Schloss von Glorias Ahnen, hatte sie nach sinnvollen und einigermaßen einträglichen Einnahmequellen gesucht. In der Zwischenzeit war sie Verwalterin, Autorin, Museumsdirektorin und Eventmanagerin in Personalunion. Nicht zu vergessen die Arbeit für das Gemeindeamt und ihre Strickmodelle. Seine Schöne hatte einfach zu viele Talente.
Neben dem Laptop stand eine leere Espressotasse. Offenbar hatte Gloria versucht, die Müdigkeit wegzutrinken. Schien nicht gelungen zu sein.
Er rüttelte sie sanft. „Hallo, schönes Schlossgespenst, gleich Mitternacht. Deine Geisterrunde steht an.“
Sie hob den Kopf, sah ihn einen Moment verwirrt an, ehe sie murmelte: „Du bist schon da?“
„Schon ist gut. Wie gesagt, es ist kurz vor Mitternacht.“
„War der Elternsprechtag so anstrengend?“
„Ach, der war wie immer – sinnlos. Die Eltern der unproblematischen Schüler kennt man ohnehin, die andern kommen erst gar nicht. Wir waren nachher noch in der Pizzeria und haben unseren Frust mit Pizza und Bier hinuntergespült. Ich habe dir doch eine WhatsApp geschickt.“
Sie warf einen Blick auf ihr Smartphone. Seine Nachricht war offenbar nicht die einzige gewesen, die sie verschlafen hatte.
Er reichte ihr die Hand. „Komm, lass uns ins Bett gehen.“
„Geh schon einmal vor, ich muss erst noch den Brief für Ludwig fertig machen. Er braucht ihn morgen Früh. Ich komm gleich nach.“
„Hast du ihm denn immer noch nicht gesagt, dass du keine Zeit mehr für die Arbeit im Gemeindeamt hast?“
Sie schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Weißt du, ich dachte mir, wenn ab Allerheiligen unser Dorfmuseum wieder geschlossen ist, habe ich ohnehin mehr Zeit – und weniger Einnahmen. Außerdem kann ich ihn nicht von heute auf morgen im Stich lassen. Das würde er auch nicht tun.“
„Heißt das, du machst weiter wie bisher?“
„Nein, nein. Ich werde ihm morgen sagen, dass ich noch bis Ostern zur Verfügung stehe. Bis das Dorfmuseum im nächsten Frühjahr wieder aufsperrt, wird er sicher geeigneten Ersatz gefunden haben.“
„Hoffentlich“, murmelte Daniel auf dem Weg ins Bad.
Seit sie im Schloss lebten, war ihm Gloria stets wie ein Wirbelwind erschienen. Doch neuerdings wirkte sie immer öfter müde und abgehetzt.
Das kommt davon, wenn man auf jedem Kirtag tanzen will und zu allem Überfluss auch noch mit seiner Busenfreundin eine Eventagentur gründet, überlegte er, während er seine Zähne putzte.
***
„Gut geschlafen?“, fragte Daniel am nächsten Morgen, als Punkt sechs Uhr der Wecker läutete.
„Gut schon, aber zu kurz“, kam es schlaftrunken von Gloria.
„Du kannst ja noch liegen bleiben“, schlug er vor.
„Besser nicht, ich habe heute jede Menge zu tun. Vormittags kommt eine Schülergruppe ins Museum, mittags habe ich eine Telefonkonferenz mit Ariane, meiner ungeduldigen Verlegerin, und nachmittags bin ich bei Ludwig im Gemeindeamt. Die Pullis für Claudia muss ich auch noch fertig machen, dann kann sie ihre Modelle am Wochenende gleich mitnehmen und ich spare die Versandkosten.“
„Samstag?“
„Hochzeit!“
„Ach ja, die Hochzeit der Bad Brunner. Habt ihr diesmal wenigstens Hilfen für Küche und Service gefunden?“
„Zum Glück ja“, antwortete Gloria und schwang sich aus dem Bett. „Zwei Frauen, die mit ihren Kindern vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind. Steffis Mutter beaufsichtigt deren Kinder gemeinsam mit ihren Enkeln, so können uns die beiden bei den Vorbereitungen und im Service helfen.“
„Glück im Unglück“, murmelte Daniel mit mäßiger Begeisterung. Wenn sie keine weiteren Aushilfen hatten, hieß das, dass er wieder zum Kistenschleppen und ähnlichen Hilfsarbeiten herangezogen werden würde. Wirklich schade, dass Leo, der ihnen eine Zeit lang im Schlossbistro ausgeholfen hatte, so überraschend gegangen ist, wie er gekommen war.
Aber Kistenschleppen war nicht Daniels größtes Problem und sparte immerhin das Fitness-Center, das es in näherer Umgebung ohnehin nicht gab. Vielmehr störte ihn, dass ihr Leben ein ständiges Rennen gegen die Uhr war. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Natürlich hatte er immer gewusst, dass Gloria keine Frau war, die sich auf Kinder und Küche reduzieren ließ. Sie brauchte auch einen Beruf, der ihr Spaß machte. Betonung auf einen. Was die Kinder betraf, so waren ihre diesbezüglichen Bemühungen bisher leider nicht von Erfolg gekrönt.
„Machst du mir auch einen Kaffee?“, rief Gloria soeben aus dem Bad.
„Steht bereits auf dem Tisch, Mylady.“
***
Nachdem Daniel gegangen und der Frühstückstisch abgeräumt war, überlegte Gloria, was sie heute Abend kochen könnte. Sie entschied sich für Gemüseauflauf und schrieb einen Einkaufszettel, ehe sie sich wieder an ihren Laptop setzte. Bis zum Eintreffen der Schulklasse, die sie durchs Dorfmuseum führen würde, blieben ihr noch zwei Stunden für ihr Manuskript. Dann konnte sie ihrer Verlegerin Ariane zu Mittag vielleicht guten Gewissens erzählen, dass die ersten drei Kapitel von Band drei bereits fertig waren.
Wer hätte auch gedacht, dass ihre Idee, einen Roman über ihre Ahnen auf Schloss Waldstetten zu schreiben, dermaßen einschlug.
Dabei war Band eins anfangs nicht berauschend gestartet, doch da Gloria damals schon an Band zwei gearbeitet hatte, ließ Ariane sich überreden, es mit einem zweiten Band zu versuchen. Bingo. Nun konnte es dem Verlag mit Band drei gar nicht rasch genug gehen. Am liebsten hätte Ariane ihn schon für das diesjährige Weihnachtsgeschäft gehabt. Dass das nicht möglich war, war allen klar, aber für den Frühjahrskatalog wollte sie das Buch unbedingt haben. Sie meinte, der Abstand zwischen den einzelnen Bänden dürfe nicht allzu groß sein, weil die Leser sonst das Interesse verlieren würden.
Das konnte Gloria verstehen – nur zaubern konnte sie halt nicht und unter Druck schreiben war auch nicht das Gelbe vom Ei.
Als Gloria sich für die Schlossführung fertig machte, rief ihre Freundin Julia an.
„Hallo, meine Liebe. Schön, dass du anrufst, nur habe ich jetzt leider überhaupt keine Zeit für dich. Eine Schulklasse wartet darauf, durch unser Museum geführt zu werden.“
„Gut, dann rufe ich dich zu Mittag wieder an“, seufzte Julia.
„Auch schlecht. Mittags habe ich eine Zoomkonferenz mit Ariane und nachmittags muss ich zu Ludwig ins Gemeindeamt. Wie wär’s nach dem Abendessen?“
„Da geht es bei mir leider nicht. Morgen Vormittag?“
Gloria warf einen Blick auf ihren Kalender. „Doch, das geht.“
„Okay, ich schicke dir sicherheitshalber eine Terminnotiz für 9 Uhr aufs Handy.“
„Du traust mir wohl nicht?“
„Nicht, wenn es um Termine geht. Also dann, bis morgen!“
***
Die Telefonkonferenz mit Ariane hatte später begonnen als geplant, dafür umso länger gedauert. Als Gloria mit etwas Verspätung endlich ins Gemeindeamt stürmte, war Ludwigs Büro leer.
„Wo ist unser Bürgermeisterlein?“, fragte sie Tini, die Gemeindesekretärin.
„Immer noch auf einer Baustelle, deshalb bin ich da, obwohl ich schon längst bei seinen Eltern sein sollte.“ Tini klang leicht verzweifelt.
Gloria wusste, dass Tini nur noch vormittags im Gemeindeamt arbeitete und sich nachmittags um Ludwigs Eltern kümmerte, da seine Mutter langsam dement wurde, dies aber keinesfalls einsehen wollte.
„Von mir aus können Sie gerne gehen. Ich habe bestimmt zwei Stunden zu tun und kann das Telefon übernehmen. Bis dahin wird Ludwig dann wohl da sein.“
„Hoffentlich“, erwiderte Tini und war schon draußen.
Als Ludwig eine Stunde später endlich zu seiner Sprechstunde erschien, warteten bereits mehrere Gemeindemitglieder auf ihn, und als Gloria mit ihrer Arbeit fertig war, stritt er sich am Telefon mit Erich Wallner, seinem Lieblingsfeind.
Gloria beschloss, dass heute einfach nicht der richtige Tag war, um ihm auch noch mitzuteilen, dass sie ihre Arbeit fürs Gemeindeamt spätestens im Frühjahr einstellen würde. Einstellen musste.
***
Obwohl Gloria nur ein kaltes Abendessen auftischte, war es schon fast acht, als sie sich endlich an die Strickmaschine setzte.
Sie bräuchte schon längst eine Hilfe. Solange sie nur ab und zu ein Modell für sich oder eine Freundin entworfen und angefertigt hatte, hatte ihr diese Arbeit großen Spaß gemacht. Sie war auch froh gewesen, als die Zusammenarbeit mit Claudia entstanden war, das spülte regelmäßig ein wenig Geld in die Kassen.
Dass aber ihre Modelle in Bad Brunn so einschlagen würden, damit hatte weder Claudia noch Gloria gerechnet. Sogar aus der Kurstadt Baden kämen Kundinnen nach Bad Brunn, um Strickkreationen zu ordern, hatte Claudia begeistert erzählt.
Das war an sich erfreulich, und Gloria hätte längst jemanden eingestellt, hätte sich nur jemand gefunden. Sie war schon heilfroh, dass Frau Hossein, ihre Putzhilfe und gelernte Schneiderin, ihr beim Zusammennähen der Modelle zur Hand ging.
Schuld an ihrem Dilemma war – einmal mehr – die Modellregion für das Bedingungslose Grundeinkommen.
Sowohl Ludwig als auch Onkel Konrad hatten mit ihren Prophezeiungen leider recht behalten. Es gab Arbeiten, für die sich einfach niemand mehr fand.
Zugegeben, diese Modellregion war mit ein Grund, dass sie ein Leben im Schloss damals überhaupt in Betracht gezogen hatten, und ja, es hatte ihnen anfangs geholfen, über die Runden zu kommen. Doch niemals wäre sie auf die Idee gekommen, deshalb keiner Beschäftigung nachzugehen.
Wahrscheinlich war das ursprüngliche Modell, das einen Betrag von 1.250 Euro pro Person ab Geburt vorgesehen hatte, doch zu großzügig gewesen. Deshalb war es auch modifiziert und in abgewandelter Form für zwei Jahre verlängert worden. Seit Anfang dieses Jahres erhielten Eltern für ihre Kinder nur noch einen Teilbetrag, der nach Alter der Kinder gestaffelt wurde.
Auch waren die Befürworter des Grundeinkommens ursprünglich davon ausgegangen, dass Menschen, deren Grundeinkommen gesichert war, sich stärker ehrenamtlich engagieren würden. Weit gefehlt. Es fanden sich immer weniger Waldstettener für ehrenamtliche Tätigkeiten. Die einen waren ohnehin überlastet, die anderen hatten sich offenbar ans Nichtstun gewöhnt.
Schade eigentlich, dachte Gloria an ihrer Strickmaschine.
***
„Wir sollten wirklich mehr Werbung machen. Unsere Eventagentur humpelt mehr, als dass sie läuft“, sagte Julia am nächsten Morgen. „Der Sommer war nicht allzu berauschend und im Winter ist vermutlich gar nichts los. Gibt es heuer wenigstens ein Adventskonzert?“
„Das gibt es, und kommenden Samstag haben wir noch eine Hochzeit. Meine Kundin Claudia, die in Bad Brunn meine Strickmodelle verkauft, traut sich endlich.“
„Hätte die nicht schon im Frühjahr heiraten sollen?“
„Das hätte sie, aber ihr Marko hat sich beim Schifahren das Bein gebrochen. Schien eine komplizierte Sache gewesen zu sein, und mit Krücken wollte er nicht zum Altar schreiten.“
„Na, Hauptsache, die beiden haben es sich in der Zwischenzeit nicht wieder überlegt. Aber zurück zur Werbung…“
„Julia, bitte, wir können keine Werbung machen, solange wir keinen zusätzlichen Caterer auftreiben. Steffi und Florian schaffen das nicht, und ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin.“
„Was ist mit eurem Dorfwirt?“
„Geh, bitte, der jammert schon, wenn er Kathreintanz oder Feuerwehrball ausrichten soll. Beim Kirtag musste die Dorfjugend helfen, und vorige Woche, beim Erntedankfest, gab’s nur Würstel und ein Strudelbuffet vom Weißmaier. Damit können wir unsere Gäste wohl kaum abspeisen.“
„Das ist blöd. Professor Wolf, beziehungsweise seine Frau, würden im Schloss gerne Seminare, sogenannte Privatissima, veranstalten, aber dazu müssten wir eine entsprechende Verpflegung anbieten.“
„Ich weiß“, seufzte Gloria. „Ich habe das mit Jutta mehr als einmal besprochen. Aber viel mehr als an der Verpflegung scheitert es ohnehin an den Übernachtungsmöglichkeiten.“
„Hm. Vielleicht sollten wir ein paar Gästezimmer ausbauen. Sagtest du nicht, im Nordtrakt könnte man noch ein paar unterbringen?“
„Sagte ich, aber …“ Gloria seufzte. „Weißt du was, das besprechen wir, wenn wir uns das nächste Mal sehen.“
„Also übermorgen, wir kommen aber dieses Wochenende erst am Samstag.“
„Dieses Wochenende wird es ohnehin nichts werden, da haben wir bekanntlich die Hochzeit.“
„Die ist doch am Samstag. Da könnten wir doch am Sonntag …“
„Julia, bitte! Bis am Sonntag alle wieder weg sind, bin ich fix und fertig, das schwöre ich dir.“
„Relax. Ich bin ja auch noch da, ich werde dir helfen.“
„Wobei genau?“, fragte Gloria nicht ohne Ironie. Julia hatte einige Talente, Küchendienst gehörte nicht dazu, und im Umgang mit den Gästen war sie Gloria zu wenig verbindlich.
„Das wird sich finden. Vielleicht können wir doch schon am Freitag kommen. Ich schau, was sich machen lässt. Ciao, meine Liebe.“
Ja, ciao. Vielleicht hatte Daniel recht gehabt, vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, mit einer Vollblutmanagerin wie Julia eine Eventagentur aufzuziehen. Wobei Agentur ohnehin ein großes Wort war, weil sie derzeit nur Events im Schloss anboten. Julia redete allerdings davon, in Zukunft auch andere Eventlocations im Waldviertel anzubieten. Gloria hatte zwar schon gesagt, dass sie dazu keine Zeit hatte, aber das schien Julia nicht ernst zu nehmen.
Die Sache mit der Agentur war doch nur entstanden, als Julia bei ihrer eigenen Hochzeit auf Festzelt und Videowall bestanden hatte. Da Gloria die Mittel dazu fehlten, hatte Julia das übernommen. Daraus wurde später die Idee, dieses Equipment für andere Events zu nutzen, schon war die Eventagentur geboren.
Gloria hätte nicht gedacht, dass Julia das so ernst nahm. Das war doch mehr eine Spielerei. Julia und James hatten in London gute Geschäfte gemacht und später in Wien eine Vermögensberatung mit Schwerpunkt Immobilien gegründet, die ebenfalls gut lief. Das hatte Gloria auch nicht anders erwartet. Erstaunlich fand sie hingegen, wie oft es Julia und James ins Waldviertel zog, obwohl sie doch behaupteten, ausgesprochene Stadtmenschen zu sein.
Julia hatte – zu Anlagezwecken und sicher auch als Freundschaftsdienst – eine der noch leer stehenden Schlosswohnungen gekauft. Für Gloria war das finanziell eine große Erleichterung gewesen.
Ursprünglich wollte Julia die Wohnung möbliert vermieten, doch in der Zwischenzeit war von Vermietung keine Rede mehr, dafür kamen sie immer wieder auf ein paar Tage ins Schloss.
„Hoffentlich hält das gute Wetter bis zum Wochenende. Wir haben am Samstag eine Hochzeit im Schloss“, erzählte Gloria im Plauderton.
„Könnte sich ausgehen“, antwortete Bürgermeister Ludwig Paffler, während er gleichzeitig seine Mails checkte. „Wenn die Wetterfrösche recht haben, kommt der Wetterumschwung erst am Sonntag“, setzte er noch hinzu. „Aber deswegen bist du wahrscheinlich nicht gekommen. Kann ich etwas für dich tun?“
Gloria räusperte sich. „Das Problem ist eher, dass ich hinkünftig weniger für dich tun kann.“
Nun hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Mit gerunzelten Brauen fragte er: „Heißt im Klartext?“
„Über den Winter stehe ich dir wie bisher zur Verfügung, aber wenn im nächsten Frühjahr das Dorfmuseum wieder aufsperrt, kann ich dir nur noch sporadisch aushelfen.“
Ludwig nickte. „Hab so was schon befürchtet. Unser Dorfmuseum läuft wohl besser als erwartet.“
„Du sagst es. Zumindest heuer lief es richtig gut. Das war hauptsächlich auf Daniels Idee mit den Führungen für Schulgruppen zurückzuführen. Du weißt, er hat für unterschiedliche Schulstufen verschiedene Programme ausgearbeitet. Oft kommen an den Wochenenden die Kinder mit ihren Familien nochmals.“
Ludwig nickte. „Der Dorfwirt ist darüber nicht unglücklich.“
„Für nächstes Jahr hat Daniel auch wieder Ideen. Er meint, wir könnten …“
Ludwigs Handy surrte und er sagte entschuldigend: „Anna. Da muss ich rangehen, Liesl ist auf Seminar.“
Gloria nickte und Ludwig nahm das Smartphone zur Hand. „Lieblingsstieftochter, was gibt’s? … Du willst was? … Das habe ich schon verstanden. Du weißt aber schon, was ich von diesen Leuten halte? … Und was glaubst du, wie die sich das Maul zerreißen, wenn ausgerechnet du … Hat nichts mit dir zu tun, verstehe. Was sagt denn deine Mutter dazu? … Nicht erreichbar, ja klar, die sitzt im Seminar. Warum hast du sie denn nicht schon heute Morgen gefragt? … Ah, noch nicht gewusst. Also, da muss ich drüber nachdenken … Wie lange? Bis ich es weiß. Ja, tschüss.“
Ludwig legte auf. „Scheibenkleister.“
„Was gibt’s denn?“, fragte Gloria.
„Diese Deppen da draußen im Haus vom Rohrer-Wirt veranstalten heute Abend einen Informationsabend. Und jetzt will Anna von mir die Erlaubnis, mit ihrer Freundin und dem Wallner Chris hinzugehen.“
Gloria grinste. „Du magst unsere Neu-Zuag’rasten wohl nicht. Worüber informieren sie denn?“
„Wenn ich bisher alles richtig verstanden habe, wollen sie so eine Art Wohngemeinschaft machen. Sie nennen es WG 3.0.“
„Die Idee ist zwar nicht brandneu, aber was ist so schlecht daran?“
Er sah sie ungläubig an. „Was schlecht daran ist? Da draußen sitzt ein Haufen Chaoten, das ist schlecht daran.“
Gloria konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. „Jetzt übertreibst du aber. Erstens besteht der Haufen aus gerade einmal drei Personen. Eine Soziologin, ein Biologe und … Was der Dritte macht, weiß ich nicht so genau. Die drei machen hier eine Studie über das Bedingungslose Grundeinkommen. Weiß ich alles von Steffi, weil sie bei ihr einkaufen.“
„Meine Information ist eine etwas andere. Die drei sind Mitglieder dieser Chaotentruppe, die sich Bessere Demokraten nennt.“
„Nie gehört.“
Ludwig machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn sich so eine Truppe schon von vornherein einbildet, die bessere zu sein, da hob i eh schon g’nua.“
„Bessere Demokraten? Klingt doch ganz gut“, warf Gloria ein.
„Stimmt, aber Max, unser Makler, hat mich aufgeklärt. Das sind Chaoten, das sage ich dir, und das Haus haben sie dem Rohrer billig abgeluchst.“
„Sagt das auch der Max?“
„Das sage ich.“
„Der Gasthof stand ja auch schon eine Weile leer“, warf Gloria dazwischen.
„Schon, aber … na, egal. Jedenfalls wollen sie das Objekt jetzt renovieren und suchen ein paar Blöde, die sich auch noch an der Sanierung beteiligen. Aus den ehemaligen Fremdenzimmern wollen sie so eine Art Mini-Wohnungen machen. Aus den Gasträumen sollen Gemeinschaftsräume werden. Wäre mir alles egal, aber die lassen nichts unversucht, die Leute hier aufzuwiegeln. Bei den Älteren haben sie eh keine Chance, aber die Jungen? Wer weiß, was sie denen erzählen.“
„Dann geh halt hin und hör es dir an. Schließlich handelt es sich um eine öffentliche Veranstaltung.“
„Nicht dein Ernst?“
„Doch. Macht doch für einen konservativen Bürgermeister einen schlanken Fuß, wenn er sich auch andere Standpunkte und Lebensmodelle anhört.“
„Meinst?“
„Ja, das mein ich. Aber jetzt muss ich zu Steffi, wir beginnen heute schon mit den ersten Vorbereitungen fürs Catering.“
„Macht’s ihr das immer noch allein?“
„Diesmal helfen uns wenigstens die beiden Ukrainerinnen, die ihr im alten Pfarrhaus einquartiert habt. Die eine ist gelernte Hotelfachfrau, die andere Ingenieurin. Zumindest sprechen beide Englisch, trotzdem bin ich gespannt, wie das klappen wird.“
„Da halte ich euch die Daumen, wird schon schiefgehen.“
„Die halte ich dir auch“, meinte Gloria und setzte mit einem Zwinkern hinzu: „Lieben Gruß an Anna. Immerhin könntest du sie begleiten … wenn du meinen Vorschlag in Erwägung ziehst.“
***
Nachdem Gloria gegangen war, versuchte Ludwig, seine Frau Liesl auf dem Handy zu erreichen. Mailbox. Er hatte ohnehin nichts anderes erwartet. Sie wollte sich erst nach dem Abendessen melden.
Wenn Anna beim Rohrer-Wirt aufkreuzte, würden sich die Waldstettener das Maul zerreißen, so viel war klar, schließlich war sie seine Stieftochter. Na gut, das taten sie öfters, seine Waldstettener, das konnte ihm im Grunde egal sein. Aber musste Anna sich wirklich bei diesen Chaoten herumtreiben?
Wie würde Liesl entscheiden? Anna behauptete zwar, Chris hätte sie und Mia erst heute zum Mitkommen aufgefordert, aber das glaubte er nicht. Eher vermutete er, Anna hoffe, die Erlaubnis bei ihm leichter zu erhalten als bei ihrer Mutter. Zu viel der Ehre.
Und jetzt? Vielleicht war Glorias Idee gar nicht so schlecht.
Er griff neuerlich zu seinem Handy. „Anna? Hör zu, ich habe nachgedacht und einen Lösungsvorschlag. Du kannst mit Chris und Mia hingehen, ich komme auch … Wieso ist das peinlich? Ich bin der Bürgermeister, da werde ich mir wohl eine Informationsveranstaltung anhören dürfen, die in meinem Gemeindegebiet stattfindet … Nein, du musst nicht neben mir sitzen, aber mit mir heimfahren. Alles klar?“
Begeistert war sie nicht von dieser Idee. Er auch nicht, aber als Stiefvater musste man halt Opfer bringen.
***
Der Rohrer-Wirt,vor dem neuerdings bunte Fahnen wehten, war ein ehemaliger Gasthof am Ortsausgang von Waldstetten, der schon bessere Zeiten gesehen hatte.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren waren die Fremdenzimmer im Sommer stets ausgebucht gewesen, doch dann hatte der Rohrer wohl die Überfuhr versäumt. Als er sich endlich dazu entschloss, die Zimmer mit Bad und WC auszustatten, war’s wohl zu spät gewesen. Da wollten Feriengäste noch mehr, eine Sauna oder einen Außenpool zum Beispiel. Lange Jahre dümpelte der Gasthof dann vor sich hin. Die fehlende Frequenz machte sich bald auch in der Küchenleistung bemerkbar, der Abstieg hatte längst begonnen. Nur eine Handvoll Waldstettener hielt ihm noch die Treue, ab und zu übernachtete ein Reisender.
Als vor ein paar Jahren auch noch seine Frau gestorben war, hatte der Rohrer den Betrieb geschlossen und war zu seinem Sohn nach Heidenreichstein gezogen.
Man erzählte sich, die neuen Eigentümer hätten dem alten Rohrer das Haus für einen Pappenstiel abgeluchst. Ludwig glaubte das gerne, obwohl Max gesagt hatte, viel mehr wäre die Liegenschaft nicht wert gewesen. Max sollte es zwar wissen, er war immerhin Makler, aber es ging halt nichts über ein gepflegtes Vorurteil. Und wenn die Waldstettener einmal ein Urteil gebildet hatten, konnte sie so leicht keiner davon abbringen. Diesbezüglich war er ein Waldstettener durch und durch.
Er hielt die neuen Eigentümer für zuag’raste Chaoten, aber das sagte er nicht laut. Sie selbst nannten sich BeDe – stand wohl für Bessere Demokraten. Im Dorf hatte man daraus bald die Besseren Deppen, später nur noch die Deppen, gemacht.
Dann würde er den BeDe heute einmal einen Besuch abstatten.
Freiwillig wäre er nicht hingegangen, aber Gloria hatte recht. Für ihn als Bürgermeister war es kein Fehler, zu wissen, was in seinem Gemeindegebiet so geschah.
***
Als Ludwig beim Rohrer-Wirt eintraf, war die ehemalige Gaststube zur Hälfte gefüllt, vornehmlich mit jungen Leuten. Da er nur wenige kannte, dürften wohl etliche Stettenkirchner darunter sein. Er jedenfalls schien so ziemlich der Älteste im Raum zu sein.
Offenbar hatten die Chaoten den Gasthof in Bausch und Bogen erworben, mit allem, was vom Gastbetrieb noch vorhanden war, denn auf den Tischen standen die Weinkrüge und Gläser von einst, nur waren sie diesmal mit Wasser gefüllt.
Anna, ihre Freundin Mia und Chris waren bereits da. Ludwig winkte ihnen kurz zu, machte jedoch wie versprochen einen großen Bogen um ihren Tisch – damit es für Anna nicht gar zu peinlich wurde.
Bekannte Gesichter waren spärlich, zum Glück entdeckte er Florian an einem der Tische und steuerte auf ihn zu. Florian war zwar auch ein Zuag’raster, aber einer von der brauchbaren Sorte. Er war Journalist und mit seiner Frau Steffi und den drei Söhnen vor einigen Jahren nach Waldstetten gezogen, um einen Bioladen zu betreiben und alte Gemüsesorten zu kultivieren. Aus dem Gemüse war nichts geworden. Bittergurken wollte keiner haben, seine Spezialtomaten hielten nicht einmal halb so lang wie ihre Verwandten aus dem Supermarkt und die alten Apfelsorten waren zwar geschmackvoll, aber meist wurmstichig. Doch auch ohne dieses Grünzeug lief der Laden gut, vor allem, weil er mittlerweile der einzige in Waldstetten war – vom Supermarkt einmal abgesehen. Doch der lag zwischen Waldstetten und Stettenkirchen. Folglich brauchte man entweder ein Auto oder zumindest ein Fahrrad und ausreichende Fitness.
Außerdem betrieb Florian einen Blog über Biogemüse, Ernährung und das Landleben an sich. Seine Frau Steffi machte mit Gloria das Catering für Veranstaltungen im Schloss. Anfangs gab’s dabei das eine oder andere Hoppala, doch in der Zwischenzeit hatten die beiden alles ganz gut im Griff.
„Servus Bürgermeister. Mit dir habe ich heute nicht gerechnet. Was treibt dich denn her?“, begrüßte ihn Florian.
„Ich will halt wissen, was in meiner Gemeinde so abgeht. Und du?“
„Um ehrlich zu sein, bin ich auf der Suche nach brauchbarem Stoff für meinen Blog.“
„Und du meinst, wir erfahren hier etwas Brauchbares?“
Florian zuckte mit den Schultern.
„Erfüllt euer Laden nicht ohnehin die Funktion der Dorfzeitung?“, fragte Ludwig weiter.
„Schon“, antwortete Florian, „aber man will ja auch einmal was Neues einbringen.“ Dann fügte er lächelnd hinzu: „Übrigens, Anna ist auch da.“
Ludwig nickte nur. An der Stirnseite der Gaststube, vis-à-vis des Eingangs, hatten die drei Einladenden bereits Aufstellung genommen.
Liesl sagte zwar immer, man solle vom äußeren Erscheinungsbild nicht auf die inneren Werte eines Menschen schließen – das war im Grunde auch Ludwigs Meinung, aber in diesem speziellen Fall fiel es ihm schwer. Er wurde das Gefühl nicht los, dass alles hier, auch die Kleidung, auf Provokation ausgelegt war. An zerrissene Jeans hatte man sich inzwischen auch in Waldstetten gewöhnt. Was er jedoch hier zu sehen bekam, war wohl die Weiterentwicklung.
Die Hose des rechts stehenden Mannes, der sich ihnen als Armin vorstellte, schien nur noch aus Löchern zu bestehen. Die Lady in der Mitte hieß Edith und war in ein zerknittertes, schwarzes Etwas gehüllt. War das ein Kleid? Oder waren das nur zusammengebundene Fetzen? Jedenfalls blickte sie mit ausgesprochen überheblicher Miene ins Publikum. Zumindest empfand Ludwig das so. Der Mann links von ihr hieß Benny, war Fotograf und wirkte, von einigen Piercings abgesehen, vergleichsweise adrett.
Armin und Edith wollten erst das Projekt vorstellen, daran sollte sich eine Fragerunde anschließen.
Während Edith mit ihrem Vortrag begann, dachte Ludwig: Hoffentlich dauert das Theater nicht zu lange. Er war müde, es war ein anstrengender Tag gewesen und Hunger hatte er auch. Dummerweise hatte er nicht bedacht, dass es beim Rohrer-Wirt nichts zu essen geben würde.
Während er überlegte, ob Anna schon gegessen hatte, faselte Edith etwas von politischer Sichtbarkeit junger Menschen, von Verteilungsgerechtigkeit, und dass es ums Prinzip ginge. Eine Prinzipienreiterin also? Die waren ihm die Liebsten. Sichtbarkeit junger Menschen? Drehte sich doch eh alles um die Jungen. Verteilungsgerechtigkeit? Die hatte in Waldstetten ganz gut funktioniert – zumindest bis zum Grundeinkommen. Klar, weltweit sah es anders aus. Aber dann sollte die Fiffi doch dorthin gehen, wo Verteilungsgerechtigkeit nicht funktionierte und dort ihren Beitrag leisten.
Endlich schloss die Frau ihren Vortrag mit den Worten: „Wir sind frei und versuchen, hier die Utopie zu leben!“
„Ausgerechnet in Waldstetten? Na, viel Glück!“, murmelte Florian grinsend und tippte in seinen Laptop. Ludwig nickte ihm verständnisinnig zu.
Nun kam Armin an die Reihe. Er stellte sich als Biologe vor und begann sein Referat mit den Worten: „Seit mehr als fünf Jahrzehnten ist unser Planet im freien Fall, doch die wenigsten begreifen das …“
Ludwig schloss genervt die Augen und atmete tief durch. Dazu gäbe es einiges zu sagen. Vor mehr als fünfzig Jahren waren die Menschen froh gewesen, dass sie wieder ausreichend zu essen hatten und in Frieden leben konnten. Sollte er das sagen? Nicht heute. Er hatte sich vorgenommen, ruhig zu sein, wollte zuhören und Anna anschließend heimbringen. Deshalb war er hier. Er war nicht gekommen, um mit diesen Klugscheißern zu diskutieren, das musste er sich einfach vorsagen. Je weniger der Anwesenden sich zu Wort meldeten, umso schneller war das Theater hier vorbei.
Wie gesagt, er hatte Hunger.
***
Schon auf dem Heimweg kam es zu einem Wortwechsel zwischen Ludwig und Anna, weil er lässig meinte, er hätte selten mehr unausgegorenes Blabla gehört. Alles heiße Luft, nichts dahinter.
Das ließ Anna nicht auf den Veranstaltern sitzen. Sie fand die Leute mega-cool, das Projekt mega-spannend und schloss nicht aus, selbst dort einzuziehen.
„Wenn’s das Projekt in vier Jahr noch gibt, was ich bezweifle, kannst es ja probieren“, antwortete Ludwig stoisch. Doch weil er hungrig und schlecht gelaunt war, fügte er hinzu: „Da tät ich an deiner Stelle aber schon jetzt anfangen zu sparen, weil von uns wird das keiner finanzieren.“
„Du sowieso nicht!“, zischte Anna.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter von diesem Plan sehr begeistert ist.“
Anna nickte hoheitsvoll. „Zum Glück ist Papi nicht ganz so verschroben wie ihr beide.“
Dazu hätte Ludwig einiges zu sagen gehabt, doch in der Zwischenzeit waren sie daheim und Anna, die bereits bei ihrer Oma zu Abend gegessen hatte, verzog sich beleidigt auf ihr Zimmer, während Ludwig den Kühlschrank plünderte und sich – endlich – ein Bier gönnte.
Danach ging’s ihm wieder besser. Doch als er Anna eine gute Nacht wünschen wollte, schlief sie bereits – oder sie tat zumindest so.
***
Am nächsten Abend war Liesl wieder da und fragte: „Na, wie habt ihr es ohne mich ausgehalten?“
„Och, kein Problem“, antwortete Ludwig. „Wir haben die Zeit damit vertrieben, uns von der Chaotenpartie beim Rohrer-Wirt erklären zu lassen, was wir und unsere Vorfahren alles falsch gemacht haben und wie sie den Karren jetzt aus dem Dreck ziehen werden.“
Liesl grinste: „Es erstaunt mich, dass du dir das angetan hast, und nehme an, du hattest dazu einiges zu sagen.“
„Irrtum, meine Liebe. Ich hatte Hunger und schon deshalb den Mund gehalten, sonst hätte das Theater noch viel länger gedauert. Außerdem war es deiner Tochter schon peinlich, dass ich überhaupt anwesend war, und verstanden hätt mich auch keiner, außer vielleicht der Florian.“
„Typisch Kapitalist“, schnappte Anna.
„Der Florian?“, witzelte Ludwig.
„Du.“
„Na, du kennst dich damit ja bestimmt gut aus“, antwortete Ludwig scheinbar amüsiert, doch es war seiner Stimme anzuhören, was er von ihrem Einwurf hielt.
Anna warf ihm einen giftigen Blick zu. „Genau wie Armin gesagt hat. Kapitalisten sind uneinsichtig und ständig darauf bedacht, ihre Privilegien zu behalten.“
„Privilegien? Welche Privilegien? Meinst du das Privileg, meinen Feierabend mit diesen Chaoten zu verbringen?“
„Im Moment habt ihr einmal das Privileg, mir zu helfen“, unterbrach Liesl den sich anbahnenden Disput. „Anna deckt den Tisch und du Ludwig holst bitte Getränke.“
„Mach ich. Was darf’s sein?“
„Für mich bitte einen Radler“, bestellte Liesl, Anna zuckte die Schultern.
„Keinen Wunsch?“, fragte Ludwig nach. Da er keine Antwort erhielt, murmelte er „auch recht“ und begab sich in den Keller.
***
Liesl ahnte, dass ein weiterer Wortwechsel zwischen Anna und Ludwig nicht zu verhindern sein würde. Zumindest sollte der erst nach dem Essen stattfinden. Beim Essen duldete sie nur Smalltalk, das wussten beide. Außerdem waren sie, wenn sie einmal satt waren, meist etwas friedlicher.
Während des Abendessens erzählte Liesl von ihrem Seminar. Sie wusste, dass das Interesse ihrer Zuhörer enden wollend war, doch solange sie erzählte, hatten die zwei Pause.
Kaum war der letzte Bissen gegessen, sagte Anna: „Spannend. Wusstet du, dass Edith und Armin in Waldstetten eine Wohngemeinschaft ins Leben rufen werden und eine Landesgeschäftsstelle ihrer Partei gegründet haben?“
„Wer sind Edith und Armin?“, fragte Liesl.
„Die Chefchaoten“, informierte Ludwig. „Die wollen eine Partei sein? Bisher wusste ich nur von einem Verein.“
„Sie werden bei der nächsten Wahl antreten“, ergänzte Anna.
„Woher weißt du das?“, staunte Ludwig.
„Na, das haben sie gestern doch gesagt.“
„Echt? Da muss ich wohl kurz eingenickt sein.“
„Typisch Boomer. Kein Plan von der Gegenwart, aber zu überheblich, um zuzuhören“, keifte Anna.
„Boomer? Echt jetzt? So alt bin ich auch wieder nicht!“
Liesl sah von einem zum anderen. „Sorry, könnt ihr mich aufklären?“
„Anna meint, ich gehöre zur Generation der Babyboomer, von denen sie annimmt, dass sie null Durchblick haben.“
Zu Anna gewandt fügte er hinzu: „Ich muss dich enttäuschen, meine Liebe, deine Mutter und ich gehören zur Generation X. Ich hab das neulich erst irgendwo gelesen.“
„Durchblick habt ihr trotzdem keinen.“
„Und du meinst, die Chaoten beim Rohrer-Wirt, die haben den Durchblick?“
„Denen geht es wenigstens um Inhalte und darum, der Jugend eine Stimme zu geben!“
„Euch muss man keine Stimme geben, ihr seid eh lauter, als es euch zusteht.“
„Na bitte, du sagst es selbst. Ihr wollt uns nur unterdrücken.“
„Du weißt ja gar nicht, was es heißt, unterdrückt zu sein!“, fauchte nun auch Ludwig.
„Aber es ist unsere Welt!“, entgegnete Anna trotzig.
„Na, unsere schon auch noch“, mischte sich Liesl ein. Eigentlich hätte sie das Gespräch mit diesem Einwurf beruhigen wollen, doch Anna sprang auf und rannte davon. Ein typisches Zeichen dafür, dass sie keine Antwort wusste.
Ludwig sah ihr kopfschüttelnd nach, ehe er schmunzelnd zu Liesl sagte: „Heute hast aber du sie verscheucht, das möchte ich nur fürs Protokoll festhalten.“
Liesl nickte. „Ich weiß, Anna ist im Moment schwierig. Warum seid ihr überhaupt hingegangen?“
„Deine Tochter wollte hingehen. Mit Chris und Mia. Du warst nicht erreichbar und ich wusste ehrlicherweise nicht, ob ich ihr das erlauben sollte. Gloria hat mich dann auf die Idee gebracht, dass es für den Bürgermeister nicht falsch sein kann, sich dort sehen zu lassen.“
„Verstehe. Gleichzeitig schließe ich daraus, dass du im nächsten Jahr doch noch einmal zur Bürgermeisterwahl antreten willst“, vollführte Liesl eine tollkühne Gesprächswendung. Die Streitigkeiten zwischen Anna und Ludwig gingen ihr ohnehin auf die Nerven. Natürlich waren Annas Ansichten neuerdings oft seltsam und ihr Betragen nicht ganz so, wie Liesl es sich gewünscht hätte, aber sie war vierzehn. Da durfte man nichts anderes erwarten. Gerade Ludwig sollte dafür Verständnis haben, der hatte es seinen Eltern in der Pubertät auch nicht leicht gemacht.
Ludwig schenkte sich erst Bier nach, ehe er antwortete: „Du hast schon recht, ich denke über eine weitere Kandidatur nach. Allerdings mache ich es nur, wenn du damit einverstanden bist. Schließlich braucht das Amt jede Menge Zeit und Kraft.“
„Deswegen versteh ich ja nicht, dass du dir das noch einmal antun willst. Hast du schon vergessen, wie sehr du dich im Vorjahr über den Wallner Erich geärgert hast?“
„Habe ich nicht vergessen, aber der Erich zieht eh bald nach Stettenkirchen, dann kann er den Kollegen quälen, wer immer das dann sein wird.“
„Ich vermute, ich habe dir über den negativen Einfluss von Stress und nervlicher Belastung auf die körperliche Gesundheit schon einiges erzählt.“
„Hast du, aber weißt, ich glaub halt, ich habe mehr Stress, wenn ich einem anderen zuschauen müsst.“
„Wenn du es so siehst und dein Idealismus immer noch ausreicht, musst du es tun.“
Ludwig wiegte den Kopf. „Na ja, der Realismus hat den Idealismus ein Stück weit abgelöst. Das ist auch gut so. Ich weiß jetzt, worauf ich mich einlasse.“
„Wenn dir so viel daran liegt, dann mach es“, sagte Liesl und sparte sich weiteren Protest. Er würde sowieso nichts nützen.
Der Wettergott hatte diesmal ein Einsehen, fand Gloria, denn am Samstag herrschte immer noch prächtiges Herbstwetter, sodass die Begrüßung der Hochzeitsgäste und die Agape im Freien stattfinden konnten. Dass das Festzelt nicht aufgestellt werden musste, freute vor allem Daniel und Florian, denen diese ungeliebte Arbeit sonst zufiel.
Gloria war ebenfalls bester Laune. Die Brautleute, Claudia und Marko samt Töchterchen Gina, waren gestern schon angereist. Sie schienen entspannt und guter Dinge, alles paletti also. Nun konnte Gloria die übrigen Hochzeitsgäste begrüßen, noch dazu in ihrem neuen Dirndl. Perfekt.
Einen Teil der Gäste kannte sie von diversen Vorbesprechungen.
Auch wusste Gloria, dass die Familienverhältnisse der Brautleute nicht ganz einfach waren und einige Familienmitglieder etwas kompliziert sein dürften.
Sie hatte sicherheitshalber alles notiert.
1. Sabrina ist die Trauzeugin des Bräutigams und gleichzeitig dessen Tochter
2. Gina, Claudias Tochter und schwierig, hat Rainer zum Vater, der wiederum Claudias Trauzeuge ist. Deshalb bekommt Gina zwei Plätze an der Tafel, einen beim Brautpaar, den anderen bei ihrem Vater.
3. Die Schwester der Braut ist auch schwierig, darüber hinaus Veganerin und darf keinesfalls in der Nähe des Bräutigams sitzen, weil die beiden sich nicht ausstehen können. Als Tischnachbarn kommen nur ihre Mutter, Sohn Alwin und Ex-Mann Dietmar infrage.
4. Alwin (Neffe der Braut) fungiert als Fotograf
Da die Mutter der Braut an Corona erkrankt war und daher nicht kommen konnte, hatten sie gestern Abend noch einmal an der Tischordnung gefeilt.
Diese Schwester der Braut musste ja eine sonderbare Type sein. Immerhin fuhr sie mitsamt ihren Mannen abends wieder nach Hause, sodass die drei zumindest keine Übernachtungsmöglichkeit brauchten. Diese zu finden, war nämlich gar nicht einfach gewesen.
Julia hatte absolut recht, an den fehlenden Übernachtungsmöglichkeiten war schon so manche Festivität gescheitert. Zudem waren die vorhandenen Quartiere nicht fußläufig erreichbar, zumindest nicht nächtens und schon gar nicht in Stöckelschuhen, sodass man Taxis benötigte. Auto fahren nach einer Feier war für die meisten Gäste keine Option. Leider stand nur ein einziges Taxi zur Verfügung. Das führte naturgemäß zu Wartezeiten, für die zu später Stunde nicht alle Verständnis aufbrachten.
Soeben fuhr ein Mercedes vor, den Alwin, der Neffe der Braut, lenkte. Gloria kannte ihn bereits, da er bei einem Vorgespräch dabei gewesen war. Seinem Auto entstieg ein Paar mittleren Alters, vermutlich seine Eltern. Demnach musste die Dame in dem hübschen schwarz-weißen Kostüm die komplizierte Schwester der Braut sein. Die sah doch eigentlich ganz nett, jedenfalls aber sehr elegant aus.
Den dazugehörigen Ex-Mann hatte Gloria sich allerdings ganz anders vorgestellt. Er hatte halblanges Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, trug ein dunkles Sakko, eine graue Hose und ein weißes T-Shirt. Mit viel gutem Willen konnte man ihm so etwas wie legeren Chic attestieren – aber hatte Claudia nicht erzählt, die beiden wären Apotheker? Der Mann sah eher aus wie ein Bohemien. Immerhin trug er elegante schwarze Schuhe, was ihm bei Gloria einen Pluspunkt einbrachte. Sie fand, Schuhe sagten eine Menge über den Träger aus.
Sohn Alwin hatte zwar einen dunklen Anzug an, dazu ein Hemd in hellem Pink, doch kombinierte er dazu weiße Sneakers. Was für eine eigenartige Familie.
Gloria begrüßte die Neuankömmlinge, dann wandte sie sich wieder den Brautleuten zu.
Der Bräutigam stand schon parat. Seine Tochter und Trauzeugin Sabrina zupfte noch an seinem Cut herum, zu dem er Weste und Krawatte in einem Terracotta-Ton kombinierte, der dem Haar seiner Liebsten nicht unähnlich war. Gloria wusste, dass Claudias Brautkleid ein Traum in silbergrau sein würde. Jetzt verstand sie auch, warum sie auf einem Brautstrauß in Weiß und Orangetönen bestanden hatte. Die beiden würden ein sehr schönes Paar abgeben.
Da der Bräutigam in erster Ehe nur standesamtlich geheiratet hatte, stand der kirchlichen Trauung nichts im Wege. Außer dass Pater Hugo noch fehlte, was Glorias Magennerven leicht in Unruhe versetzte. Zwar war er in den letzten Monaten abstinent gewesen, aber die Zeiten, in denen man nie wissen konnte, ob er anstelle von Amen nicht doch einmal Prost sagen würde, waren ihr noch in allzu guter Erinnerung. Wenigstens in der Schlosskapelle war alles in Ordnung, dort sah alles perfekt aus im Schmuck der Blüten, die exakt zu Claudias Brautstrauß passten.
Um sich abzulenken, aber auch um die Gäste bei Laune zu halten, eilte Gloria von einem Grüppchen zum anderen und versprach, dass die Zeremonie gleich beginnen konnte.
Pater Hugo kam zwar als Letzter fünf Minuten vor dem Termin, dafür in Begleitung von Schwester Berta.
Gloria atmete erleichtert auf. Wenn sie das früher gewusst hätte! Sobald Berta, Liesls Sprechstundenhilfe, in der Nähe war, bestand keine Gefahr, dass der Pfarrer auch nur einen Tropfen Alkohol anrührte.
***
Eines musste man Pater Hugo lassen – flott war er.
Punkt fünfzehn Uhr stand er vor der Schlosskapelle, um die Hochzeitsgesellschaft hineinzuführen. Die Trauung dauerte dann genau fünfundzwanzig Minuten, obwohl der Kirchenchor noch zwei Lieder beisteuerte. Danach verabschiedete sich der Pfarrer ziemlich schnell. Schwester Berta flüstere Gloria noch zu, dass er in Stettenkirchen ein weiteres Paar zu trauen hatte.
Gloria winkte den beiden erleichtert nach und eilte in die Schlossküche, um selbst ein Tablett mit Häppchen herumzureichen, während sie gleichzeitig darauf achtete, dass alle Gäste mit Getränken versorgt wurden, auch die Brautleute – auf die wurde ja meistens vergessen.
Kaum war die Gratulationscour beendet, ging es zum Fotoshooting, solange die Lichtverhältnisse noch passten, musste das ausgenutzt werden.
Erst wenn alle im Saal Platz genommen hatten und das Buffet eröffnet war, würde auch Gloria sich entspannen – aber noch war es nicht so weit.
Während die Gäste also beim Fotoshooting waren, wurde mit dem Aufbau des Buffets begonnen. Außerdem musste der Blumenschmuck von der Kapelle in den Saal transferiert werden. Das war nachhaltig und sparte Geld.
Noch während Steffi und Gloria das Buffet aufbauten, kamen die ersten Gäste und suchten ihre Plätze an der Tafel.
Als das Brautpaar eintraf, warf Gloria einen Blick in den Saal und sah zu ihrem Entsetzen, dass die komplizierte Schwester der Braut ausgerechnet neben dem Sessel des Bräutigams saß. Wie konnte das passieren? Gloria zog den Tischordnungsplan zu Rate. Dort war alles richtig. Neben dem Bräutigam sollte dessen Tochter Sabrina sitzen, dann seine Eltern.
Irgendjemand musste die Tischkärtchen vertauscht haben.
Gloria behielt den Plan in der Hand und eilte auf das Brautpaar zu.
„Entschuldigung, aber da muss uns ein Irrtum unterlaufen sein.“
Dann wandte sie sich an die Schwester der Braut: „Gnädige Frau, Sie sitzen auf der anderen Seite, neben Ihrem Sohn.“
Die gnädige Frau war schon aufgestanden, als sich Claudias Tochter Gina zu Wort meldete: „Ich habe die Karten vertauscht.“
Alle sahen sie an. Gina zuckte mit den Schultern. „Damit Sabrina neben Alwin sitzen kann“, fügte sie erklärend hinzu.
„Ginalein, das musst du uns doch sagen“, tadelte ihre Mutter. „Du weißt, wie viel Mühe wir uns mit der Tischordnung gegeben haben.“
„Und wir haben uns etwas dabei gedacht“, fügte Marko leicht verärgert hinzu.
„Aber so ist es viel besser“, wandte sich Gina an Marko. „So kannst du dich mit Tante Georgine unterhalten, damit ihr euch endlich besser versteht!“
Der Tante schien es ebenso die Sprache verschlagen zu haben wie Marko.
Alwin versuchte, die Situation zu retten. „Deine göttlichen Eingebungen in allen Ehren, liebstes Cousinchen, aber wann Marko und meine Mutter miteinander reden, sollten wir den beiden überlassen. Meinst du nicht?“
Gina maulte: „Wenn ich mit meinen Freundinnen streite, sagt Marko mir immer, wir müssen einfach nur miteinander reden.“
In der Zwischenzeit schien auch Marko seine Sprache wiedergefunden zu haben. Er deutete mit formvollendeter Geste auf den Stuhl neben dem seinen und sagte mit einem Hauch von Ironie: „Wenn ich das gesagt habe, wird’s wohl stimmen. An mir soll’s nicht scheitern. Bitte, liebe Schwägerin, nimm doch Platz.“
***
Gegen zehn Uhr abends kam Alwin auf Gloria zu. „Liebste Schlossherrin, hätten Sie irgendwo ein Plätzchen, auf das ich später mein müdes Haupt betten könnte? Meine Eltern wollen schon seit einer geschlagenen Stunde heimfahren, ich nicht.“
„Puh“, stöhnte Gloria.
„Ich weiß, blöd von mir, mit den Eltern zu kommen, aber ich hätte nie gedacht, dass ich mich bei der Hochzeit meiner Tante so gut unterhalten würde.“
„Haben Sie denn nicht gewusst, dass Sabrina kommt?“, neckte Gloria, der schon aufgefallen war, dass die beiden kaum einen Tanz ausließen.
„Doch, aber ich wusste nicht, dass Sabrina so amüsant sein kann und noch dazu eine gute Tänzerin ist. Ach, nennen Sie mich doch bitte Alwin.“
„Gerne, ich bin Gloria. Aber ich weiß trotzdem nicht, wo ich dich unterbringen könnte. Außer vielleicht … Warte einmal, ich komme gleich wieder.“
Gloria machte sich auf die Suche und fand Daniel bei Steffi und Florian, wo sie sich gemeinsam mit den beiden Ukrainerinnen die Reste des Buffets schmecken ließen.
„Daniel, mein Schatz …“
„Klingt schon einmal gefährlich“, warf Daniel mit vollem Mund ein.
„Gar nicht. Hättest du etwas dagegen, wenn Alwin auf unserem Sofa nächtigen würde?“
„Wer genau ist Alwin?“
„Der fotografierende Neffe der Braut. Er ist ein ebenso angenehmer wie unkomplizierter Mensch und offensichtlich verliebt in die Tochter des Bräutigams.“
„In Gina? Die ist doch …“
„Nicht Gina, Sabrina. Also, darf ich ihn einladen, bei uns zu nächtigen?“
„Von mir aus, wenn er nicht schnarcht“, meinte Daniel. Dafür bekam er einen Kuss und Gloria eilte davon.
„Du kannst bei uns schlafen, auf dem Sofa. Sehr bequem ist es vermutlich nicht, aber immerhin hast du es warm und trocken“, konnte sie Alwin berichten.
„Danke! Ich werde euch in mein Abendgebet einschließen. Besser noch, meinem Chef empfehlen. Der sucht gerade eine Location für ein Coaching-Wochenende.“
„Und wer ist dein Chef?“
„Rainer, Claudias Trauzeuge.“
„Ah, Doktor Breininger. Es wird mich freuen, von ihm zu hören“, lachte Gloria.
„Du kannst dich auf mich verlassen. Und wie komme ich später zu meiner Ruhestätte?“
„Wir sind ohnehin bis zum Schluss der Veranstaltung irgendwo unterwegs.“
„Nochmals danke!“
„Und wie kommst du morgen heim?“
„Sabrina ist mit dem Wagen da.“
„Und dein Auto?“
„Steht in Bad Brunn.“ Dann setzte er grinsend hinzu: „Du meinst doch nicht etwa, dass der Mercedes, mit dem ich gestern gekommen bin, mir gehört? Schön wär’s, aber das war der Wagen meiner Mutter.“ Dann drückte er Gloria einen Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg in den Saal.
***
Am nächsten Morgen regnete es. Besser gesagt, es schüttete wie aus Schaffeln, wie die Waldstettener es nannten.
„Da haben wir gestern richtig Glück gehabt“, meinte Gloria, als sie sich gegen neun in die Wohnküche schleppte.
Da das Brautpaar in einem ihrer Gästezimmer übernachtet hatte, Sabrina und Gina im anderen, gab es am Sonntagvormittag noch ein gemeinsames Frühstück.
„Wenn möglich nicht vor neun Uhr“, hatte Gloria gebeten, als sie sich gegen drei Uhr morgens endlich zur Ruhe begeben hatten. Offensichtlich hätte sie sich keine Sorgen machen müssen, denn die ersten Frühstücksgäste kamen kurz vor zehn. Es waren Gina und Sabrina. Gleich danach tauchte Alwin auf.
„Na, gut geschlafen?“, fragte Gloria.
„Wie ein Stein, doch mein Schädel brummt immer noch wie ein Hornissennest.“
„Dann setz dich, es hilft meist, etwas zu essen. Kaffee oder Tee?“
„Kaffee, bitte.“
Kurz darauf erschien auch das Brautpaar. Sobald alle versorgt waren, fragte Marko seine Tochter Sabrina: „Warst du an Ginas Tischkartenaktion eigentlich beteiligt?“
„So halb und halb. Gina hat mich gefragt, ob ich neben Alwin sitzen will. Das fand ich amüsanter als neben Opa. Ich wusste aber nicht, dass ihre Tante dann neben dir Platz nimmt. War’s nett?“
„Ging so“, meinte Marko, ehe er sich an Gina wandte: „Sag, ist es dir denn so wichtig, dass Georgine und ich uns mögen? Musst du dafür hinter unserem Rücken unsere wohlüberlegte Sitzordnung durcheinanderbringen?“
Gina hatte wohl in der Zwischenzeit mitbekommen, dass ihr Geniestreich auch weniger friedlich hätte ausgehen können, denn sie schien den Tränen nahe, als sie antwortete: „Ja, schon.“
„Wir hatten ohnehin Waffenstillstand geschlossen, das weißt du doch“, entgegnete Marko. Da Gina ihm nur einen weinerlichen Blick zuwarf, fügte er hinzu: „Na gut, reden wir nicht mehr darüber. Aber bei der nächsten Hochzeit fragst du, ehe du die Tischkarten umstellst. Okay?“
Da Gina nickte, verlief der Rest des Frühstücks sehr angenehm und dauerte bis in die Mittagsstunden.
***
Als Marko, Claudia und Gina am frühen Nachmittag abfuhren, hatte der Regen aufgehört.
Sabrina und Alwin waren auch schon startbereit. Bevor die beiden in den Wagen stiegen, sagte Alwin: „Bei der Herfahrt habe ich am Ortseingang Plakatständer von den Besseren Demokraten gesehen. Das ist eine ziemlich seltsame Truppe. Mich wundert, dass die bei euch so stark vertreten sind.“
„Wieso bist du beim Rohrer-Wirt vorbeigekommen? Der liegt doch auf der anderen Seite?“, fragte Daniel verblüfft.
„Ich kam aus dem Weinviertel. Mein Vater betreibt dort eine Kräuterfarm.“
„Ach so. Also die drei, die sich dort breitgemacht haben, sind nicht von hier. Ich glaube, sie kommen aus Wien und haben sich bei uns niedergelassen, um die Auswirkungen des Bedingungslosen Grundeinkommens zu studieren“, berichtete Daniel.
„Dafür hätten sie nicht hierherziehen müssen“, ergänzte Gloria. „Sie hätten mich fragen können oder andere Unternehmer aus der Region. Unser Bürgermeister betreibt eine Baufirma, der bekommt Schnappatmung, wenn einer über das Grundeinkommen redet.“
„Die kommen aus Wien?“, war Alwin erstaunt. „Ist da vielleicht auch eine Blonde dabei? Etwa mein Alter, meine Größe?“
Gloria schüttelte den Kopf. „Ich kenn nur eine mit kohlrabenschwarzem Haar, die ist meist auch schwarz gekleidet und kauft manchmal bei Steffi ein.“
„Heißt die Edith?“
Gloria dachte kurz nach. „Könnte sein, angeblich ist sie Soziologin.“
„Wenn das die ist, die ich kenn, und das schaut ganz danach aus, dann viel Spaß!“
„Was ist mit ihr?“, wollte Daniel wissen.
„Gute Frage. Sie war eine Freundin meiner Ex-Freundin Tamara.“
„Willst du sie etwa besuchen?“, fragte Sabrina. Gloria fand, die Frage hatte etwas spitz geklungen.
„Ganz sicher nicht, die ist mir damals schon auf den Keks gegangen. Jetzt fällt’s mir wieder ein. Sie hat sogar angekündigt, ins Waldviertel zu übersiedeln. Ich habe einiges über diese Gruppe recherchiert und einmal einen Artikel geschrieben. Ganz geheuer sind die nicht.“
„Was verstehst du unter nicht ganz geheuer?“, fragte Gloria.
„Allzu viel ist noch nicht bekannt. Die Gruppe existiert offiziell noch nicht sehr lange und über deren Ziele kann man unterschiedlicher Meinung sein. Doch was man so hört, sollen sie in der Umsetzung nicht zimperlich sein, und wir vermuten, dass sie hinter diesem dämlichen Mallorca-Video stecken, das vor einigen Jahren die ganze Republik durcheinandergewirbelt hat.“
„Echt? Spannend, aber hier sind sie bisher noch nicht sonderlich aufgefallen“, meinte Gloria. „Die bleiben meist unter sich.“
„Das wird aber à la longue nicht ihr Plan sein. Ich erinnere mich, dass Tamara mir einmal erzählt hat, einzelne Mitglieder wollen sich in ländlichen Gebieten ansiedeln, um auch auf dem Lande ihre kruden Ideen unter die Leute zu bringen.“
Gloria sah ihn erstaunt an. „Echt? Das klingt ja fast schon gefährlich. Die Waldstettener halten sie für gelangweilte Studenten auf der Suche nach Selbstdarstellungsmöglichkeiten. Oder um es mit den Worten von Ludwigs Vater, unserem Alt-Bürgermeister, zu sagen, ziemlich goschert, ein bisserl größenwahnsinnig, aber im Grunde harmlos.“
„Studenten sind sie schon einmal nicht. Im Übrigen hoffe ich für euch, dass euer Alt-Bürgermeister sich nicht irrt und es so bleibt. Harmlos scheinen die mir jedenfalls nicht zu sein. Aber wir sollten jetzt fahren.“ Er warf Sabrina, die schon hinter dem Steuer saß, einen verliebten Blick zu. „Wenn ihr noch etwas wissen wollt, einfach anrufen. Meine Karte habt ihr ja. Danke für alles und tschü-üss!“
Gloria und Daniel winkten den beiden nach.
„Das waren ja noch interessante Neuigkeiten. Könnte spannend werden“, meinte Gloria.
„Oder dieser Alwin wollte sich nur vor seiner Angebeteten ein wenig wichtigmachen“, mutmaßte Daniel grinsend.
Als Gloria wenige Tage später ins Gemeindeamt kam, um – wie stets – aus den Bruchstücken, die Ludwig auf ein Stück Papier kritzelte, stilvolle Briefe zu machen, erzählte sie ihm, was sie von Alwin über die BeDe erfahren hatte.
„Und wieso weiß dieser Alwin das alles?“
„Er ist Journalist und hat mir gestern einige Links zu Artikeln, die er über die BeDe verfasst hat, geschickt. Ich leite sie dir gleich weiter.“
„Ja, bitte, mach das.“
„Noch etwas. Deine Schwester Traudl ist im Anmarsch. In ihrer Funktion als Leiterin des Seniorenhauses, wie sie nicht vergessen hat zu erwähnen.“
„Was für eine Ehr! Weißt du auch, was sie will?“
„Ich vermute es, und wenn sie sich extra ins Gemeindeamt bemüht, wird’s schon was Wichtiges sein“, antwortete Gloria grinsend und ging an ihren Schreibtisch, den sie sich mit Tini, der Gemeindesekretärin, teilte.
Die Tür zu Ludwigs Zimmer ließ sie offen stehen – dann musste sie ihm anschließend nicht alles aus der Nase ziehen. Sie kannte Ludwigs Schwester, wusste, dass die nicht immer einfach war, und war gespannt.
Wenig später hörte sie Traudl sagen: „Da wir nun endlich einen Eröffnungstermin für unser Seniorenhaus haben, muss ich mich um das Personal kümmern.“
Von Ludwig hörte Gloria nur ein Brummen.
„Ich sag’s grad heraus“, fuhr Traudl fort. „Ich möchte Tini in meinem Team haben, und zwar Vollzeit.“
Ludwig seufzte. „Hast du schon mit ihr gesprochen?“
„Ja sicher, ich gackere bekanntlich nicht über ungelegte Eier.“
„Ab wann?“
„Spätestens ab Mai, besser wäre Mitte April. In einem halben Jahr wirst du wohl geeigneten Ersatz für sie finden. Das kann doch nicht so schwer sein.“
„Du musst es ja wissen, Schwesterherz.“
Gloria hatte genug gehört und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Hoffentlich fand Ludwig endlich eine tüchtige Mitarbeiterin, die sowohl Tini als auch sie selbst ersetzen konnte. Andernfalls würde Gloria es auch im kommenden Frühjahr nicht fertigbringen, ihre Arbeit im Gemeindeamt zu beenden. Sie konnte Ludwig schließlich nicht hängen lassen.
***
Einige Tage später meldete sich Rainer Breininger bei Gloria, um mit ihr über ein Coaching-Wochenende zu sprechen, das am Dreikönigstag beginnen sollte. Der Haken daran war, dass zwölf Personen an diesem Meeting teilnehmen würden, die für zwei Nächte untergebracht werden sollten. In Einzelzimmern, eh klar.
Gloria konnte gerade einmal drei Zimmer zur Verfügung stellen, im Dorfwirt standen fünf Fremdenzimmer zur Verfügung. Angesichts der Jahreszeit – im Waldviertel musste man im Jänner mit Eis und Schnee rechnen – und der Tatsache, dass aus gruppendynamischer Sicht auch das Abendprogramm von Bedeutung war, kamen weiter entfernte Quartiere nicht infrage.