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Als der Ex-Chef der Warholz AG, Joachim Warholz, unerwartet ums Leben kommt, ahnt sein Neffe Rainer Breininger bereits, dass das Testament seines Onkels einiges an Überraschungen bereithalten wird. Tatsächlich könnten die Erben unterschiedlicher nicht sein. Auch finden sich im Nachlass seltsame Dinge, ein Paar Stilettos und ein Jungendstilsekretär geben besondere Rätsel auf. Für die Apothekerin Georgine hat das Testament tiefgreifende Folgen, muss sie doch erfahren, dass der Apotheker, ihr großes Vorbild, gar nicht ihr Vater ist. Das scheint die sonst so tatkräftige Frau aus der Bahn zu werfen. Ihr Sohn Alwin hofft, dass sein Vater, der Weltenbummler Didi, seiner Mutter helfen kann. Schließlich hat er von seinen Reisen nicht nur ayurvedische Kräuter, sondern auch indische Gelassenheit mitgebracht. Doch Georgine will von ihrem Ex-Mann absolut nichts mehr wissen.
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Brigitte Teufl-Heimhilcher
Onkel Joachims Erben und andere Überraschungen
Familien 2.0
Band 05
Roman
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Die Autorin
Was bisher geschah
1. Eisregen – Winter 2018
2. Joachim Warholz, 1936 – 2018
3. Geheimnisvolle Mütter – März 2018
4. Die Apothekerin
5. Georgines Versprechen
6. Alwin
7. Dietmar
8. Die Sponsion – Mai 2018
9. Sommer 2018
10. Fannys neuer Job
11. Tamaras neue Kleider
12. Veränderungen
13. Vorweihnachtliches Geplänkel
14. Was für ein Jahr! Silvester 2018
15. Der Jugendstilsekretär – Jänner 2019
16. Grippewelle 2019
17. Februartage 2019
18. Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen
19. Osterpause 2019
20. Wo ist Krautmann – Mai 2019
21. Enttäuschungen – 2019
22. Vatertag 2019
23. Alwin und die Frauen
24. Gemischte Gefühle – Sommer 2019
25. Friede, Freude, Eierkuchen – November 2019
26. Die Ruhe vor dem Sturm – Dezember 2019
27. Neues Jahr, alte Probleme – Jänner 2020
28. Corona ist mehr als ein Bier – März 2020
29. Alwin und die Detektive – April 2020
30. Willkommen zurück im Leben – Juni 2020
31. Das Ende des Sommers
32. Save the Date
33. Ein klärendes Gespräch
34. Die Sache mit der Doppelhochzeit
Danke
Reihe Familie 2.0 im Überblick
Reihe Familie 2.0 im Überblick
Reihe Stadt, Land, Zank im Überblick
Reihe Stadt, Land, Zank im Überblick
Meine Bücher - als E-Book und Taschenbuch
Onkel Joachims Erben und andere Überraschungen
Deutsche Erstausgabe 2022
Copyright: ©2022 Brigitte Teufl-Heimhilcher,
1220 Wien
https://www.teufl-heimhilcher.at
Buchsatz und Konvertierung: Autorenservice-Farohi
www.farohi.com
Covergestaltung: Xenia Gesthüsen
Lektorat: Eva Farohi, www.farohi.com
Als der Ex-Chef der Warholz AG, Joachim Warholz, ganz plötzlich ums Leben kommt, ahnt sein Neffe Rainer Breininger bereits, dass das Testament des Onkels so einiges an Überraschungen bereithalten wird.
Tatsächlich könnten die Erben unterschiedlicher nicht sein. Auch finden sich im Nachlass seltsame Dinge, ein Paar Stilettos und ein Jungendstilsekretär geben besondere Rätsel auf.
Für die Apothekerin Georgine hat das Testament tiefgreifende Folgen, muss sie doch erfahren, dass der Apotheker gar nicht ihr Vater ist. Das scheint die sonst so tatkräftige Frau aus der Bahn zu werfen. Ihr Sohn Alwin hofft, dass sein Vater, der Weltenbummler Didi, seiner Mutter helfen kann. Schließlich hat er von seinen Reisen nicht nur ayurvedische Kräuter, sondern auch indische Gelassenheit mitgebracht. Doch Georgine will von ihrem Ex-Mann absolut nichts mehr wissen.
Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur. In ihren „Heiteren Gesellschaftsromanen“ setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben – wie es ist, und wie es sein könnte.
Zur Erinnerung bzw. zum besseren Verständnis ein kleiner Überblick über die wichtigsten Personen der Bände 1 – 4, soweit diese Personen in Band 5 von Bedeutung sind.
Band 1 – Mütter, Töchter und andere Krisen (2013 – 2015)
Geschäftsfrau Annette lebt seit ihrer Scheidung von Ernst allein in der Villa Waldesruh, bis ihre Tochter
Monika sich eine Beziehungspause gönnt und mit Tochter
Sarah bei ihr einzieht. Sarah ist davon ebenso wenig begeistert wie ihr Vater Udo.
Da Annette ihren Schwiegersohn
Udo schätzt, macht sie ihn zum Geschäftsführer ihrer Textilkette.
Während eines Urlaubes lernt Monika den Zoologen
Lorenz kennen, der ebenfalls in Scheidung lebt, dessen Tochter Petra ist bei ihm geblieben.
Auch Udo lernt eine neue Frau kennen, die Steuerberaterin Barbara, die für ihren 4-jährigen Sohn
Alex keinen Kindergartenplatz finden kann.
Ernst ist inzwischen mit der um vieles jüngeren Ärztin
Franziska verheiratet, die beiden haben einen Sohn,
Florian. Als diese Beziehung scheitert, finden Annette und Ernst wieder zusammen.
Band 2 – Schwiegermütter, Töchter und andere D(r)amen
Architekt Gernot Beranek ist nach Bad Brunn gezogen, um besser für seine Stieftochter Lea sorgen zu können. Bis sein Dachbodenausbau fertig ist, zieht er in die Villa seiner Schwiegermutter
Dorothea. Leider machen es ihm die Bad Brunner nicht ganz einfach, doch zum Glück hält seine langjährige Mitarbeiterin
Christine ebenso zu ihm wie sein ehemaliger Schulkollege Wilhelm, der nun Bürgermeister von Bad Brunn ist.
Ohne die Bad Brunner Damenrunde, bestehend aus Monika,
der Gemeindeärztin Betsi,
der Apothekerin Georgine,
der Boutique-Besitzerin Claudia und
der Gärtnerin Poldi läuft in Bad Brunn gar nichts – vor allem keine Gerüchte.
In Band 3 – Väter, Söhne und andere Sturköpfe – lernen Sie noch
Rainer Breininger kennen. Der künftige Chef der Warholz AG, kommt aus den Staaten zurück und lässt sich von Architekt Beranek ein Haus bauen.
In Band 4 – Töchter, Väter und andere Freuden –
machen wir nähere Bekanntschaft mit Rainers Onkel
Joachim Warholz, in Bad Brunn auch der alte Warholz genannt sowie
Gisela Nowak, dessen langjähriger Sekretärin.
Dann treffen wir noch auf Claudia, ihre Tochter Gina – die auch Rainers Tochter ist – und Claudias Freund
Marko, den Immobilienmakler, der um seine Liebe zu kämpfen hat, weil Claudias Schwester Georgine, die Apothekerin, alles versucht, um ihn zu vergraulen.
2018 – 2021
„Du solltest jetzt wirklich nicht mehr mit dem Auto fahren“, meinte Gisela Nowak.
„Wegen der zwei Gläser Wein? Lächerlich.“
„Nicht zu vergessen das Bier, das du zum Essen getrunken hast. Du kannst gerne im Gästezimmer übernachten.“
„Das hättest du wohl gerne“, grinste Joachim Warholz.
„Meinst du, ich schlafe besser, wenn ich dich schnarchen höre? Mein Sohn Moriz fährt nie mit dem Auto, wenn er mehr als ein Glas getrunken hat. Dein Neffe Rainer, unser werter Herr Direktor, übrigens auch nicht.“
„Ich hoffe, du willst mich nicht mit diesen Simandln vergleichen. Männer wollen das sein? Dass ich nicht lache. Memmen, alle miteinander. Benehmen sich doch wie alte Jungfern“, donnerte Joachim Warholz. „Seit Rainer mit dieser Ärztin zusammen ist, ist’s ganz aus mit ihm. Neuerdings isst er mittags Salat und trinkt erst ab 18 Uhr Alkohol. Ein ausgewachsenes Mannsbild. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.“
Gisela war Joachim Warholz seit 30 Jahren sowohl privat als auch beruflich treu ergeben und schon deshalb keine Freundin seines Neffen Rainer Breininger, doch in diesem Punkt musste sie Breininger recht geben. Das würde sie allerdings nicht sagen, dann machte Joachim doch erst recht das Gegenteil. Sie kannte ihn wie ihre Westentasche. Allein der Hinweis auf ihren Sohn und seinen Neffen war falsch gewesen – sie hätte es wissen müssen.
Um den Schaden zu begrenzen, sagte sie: „Es geht ja auch gar nicht so sehr um den Alkohol. Die Straßen sind von diesem Eisregen bestimmt spiegelglatt. Ich würde jedenfalls nicht mehr fahren.“
In der Zwischenzeit hatte Joachim Warholz sich aus dem Fauteuil gehievt und murmelte: „Das ist auch besser so“, während er ins Vorzimmer humpelte.
„Hast du schon wieder Schmerzen?“
Joachim winkte ab. „Nicht der Rede wert.“
„Rufst du mich an, wenn du angekommen bist?“
Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. „Bist du neuerdings meine Gouvernante?“
„Mach doch, was du willst, alter Sturschädel, aber fahr vorsichtig!“
„Ja, ja, wir sehen uns dann morgen, wie immer um acht. Dann zeigen wir dem jungen Gemüse noch einmal, wo der Bartl den Most holt. Also, tschüss.“
***
Etwa zur gleichen Zeit sah Franziska Wiedermann vom Fenster aus zu, wie ihr Sohn Florian vom Nachbarhaus zur Villa schlitterte.
„Boah, ist das eisig“, war auch das Erste, was er sagte, als er zur Tür hereinkam.
„Siehst du“, wandte sich Franziska an Rainer Breininger. „Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn du heute hierbleibst.“
„Also Zufußgehen kannst du vergessen und mit dem Auto ist es sicher auch blöd“, setzte Florian hinzu.
„Tja, dann muss ich euren Vorschlag leider annehmen“, meinte Rainer mit einem zufriedenen Lächeln.
„Arm“, antwortete Florian grinsend.
„Die Lernstunde mit Sarah hat ja ewig gedauert“, lenkte Franziska das Gespräch in eine andere Richtung.
Florian nickte. „War echt Schwerarbeit. Sarah wird diese Winkelfunktionen nie verstehen.“
„Das kann ich nachvollziehen, die habe ich auch nie verstanden“, bekannte seine Mutter. „Außer den Begriffen Sinus und Kosinus habe ich mir nichts davon gemerkt.“
„Was fällt dir zu Winkelfunktionen ein?“, fragte Florian mit Blick auf Rainer.
„Ich glaube, es gab auch noch Tangens und Kotangens.“
„Richtig. Und sonst?“
Rainer schüttelte den Kopf. „Sonst nichts mehr.“
„Na bravo“, spottete Florian, der als Mathegenie der Familie galt. „Und mir erzählt ihr dann wieder, dass man in der Schule fürs Leben lernt. Ich geh jetzt unter die Dusche und hau mich in die Federn. Sarah hat mich echt fertiggemacht mit ihren blöden Fragen. Wünsche den Turteltauben noch einen schönen Abend.“
„Frechdachs“, rief Franziska ihm lächelnd nach. Dann wandte sie sich an Rainer: „Nachdem nun geklärt ist, dass du bleibst, stünde einem Schlummertrunk nichts im Wege.“
„Gute Idee. Ich nehme einen Schluck von diesem köstlichen Rotwein.“
Während Franziska Rotwein für Rainer und Prosecco für sich einschenkte, fragte sie: „Du sprachst vorhin davon, dass du morgen einen harten Tag vor dir hast. Was steht an?“
„Ein weiteres Gespräch mit der Belegschaftsvertretung, bei dem nicht nur Altmann und ich, sondern auch unser allseits verehrter Aufsichtsratschef zugegen sein wird. Wie ich Onkel Joachim kenne, dürfte er einmal mehr versuchen, Feuer mit Öl zu löschen.“
„Dein Onkel macht dir das Leben ganz schön schwer.“
Rainer nickte. „O ja. Persönlich halte ich das ja aus, wenn es auch mühsam ist. Schlimmer ist, dass er damit alle Veränderungs- und Verbesserungsmaßnahmen verzögert, weil Altmann als Prokurist und Betriebsleiter der Druckereien alles, was Joachim sagt, widerspruchslos übernimmt.“
„Damit stellt Altmann sich gegen die aktuelle Geschäftsleitung. Das ist doch verrückt.“
„Das ist es allerdings. Ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich das hinkünftig nicht mehr tolerieren werde. Morgen kommt vermutlich die Stunde der Wahrheit. Wenn er die Veränderungen wieder nicht mittragen will, muss er sich um einen neuen Job umsehen.“
„Und warum tut er das? Altmann ist ja nicht dumm. Die Konsequenzen müssen ihm doch klar sein.“
Rainer seufzte. „Ich kann es zwar nicht beweisen, vermute aber, dass Joachim ihn dafür bezahlt – oder auch Altmanns Partei sponsert, was weiß ich. Altmann will bekanntlich seit Längerem Bürgermeister werden. Ich denke, mein Onkel hat versprochen, seinen Wahlkampf zu finanzieren.“
„Aus seinem Privatvermögen?“
„Ja, klar. Von der Warholz AG bekommt keine Partei auch nur einen Cent. Unser Land war schon lange nicht mehr so gespalten wie zurzeit, da halte ich es für keine schlaue Idee, ausgerechnet als Zeitschriftenverlag eine Partei zu sponsern.“
„Aber wenn deine Vermutung stimmt, ist das doch nichts anderes als Bestechung.“
Rainer nickte. „Damit hatte Onkel Joachim noch nie ein Problem.“
„Schon möglich, aber was bezweckt er mit diesem Sponsoring?“
„Sponsoring klingt gut“, lächelte Rainer. „Er will sämtliche Änderungen verhindern, die seiner Meinung nach Geld kosten. Du weißt, ich möchte neue Geschäftsfelder erschließen. Das kostet anfangs natürlich Geld, ist aber langfristig überlebensnotwendig. Die Welt steht bekanntlich nicht still und die der Printmedien verändert sich aktuell besonders schnell. Ohne Werbung und Marketing läuft heute gar nichts. Aber das will Joachim nicht einsehen. Mag ja sein, dass für die Gesellschafter kurze Zeit weniger Dividende übrig bleibt, dafür sichern wir langfristig das Überleben des Verlags. Doch mein lieber Onkel stellt sich gegen jegliche Investition und sitzt auf seinem Geld wie weiland Dagobert Duck.“
***
Als Rainer am nächsten Tag ins Büro kam, herrschte helle Aufregung.
„Was ist los?“, fragte er seine Assistentin Helene.
„Die Nowak dreht am Rad, weil ihr Boss noch nicht da ist.“
Rainer stutzte. „Schon halb neun und Onkel Joachim ist noch nicht da? Das ist in der Tat ungewöhnlich. Hat schon jemand in seinem Haus …“
In dem Moment stürzte Gisela Nowak in Rainers Büro. Sie war kreidebleich und stieß hervor: „Ich hab’s gewusst. Ich hab ihm doch gesagt …“ Der Rest ging in Schluchzen unter.
Rainer schob ihr vorsichtshalber einen Sessel hin und fragte ganz ruhig: „Frau Nowak, was ist passiert?“
„Joachim … Ihr Onkel“, schluchzte sie. „Er ist tot. Einfach tot.“
Kurze Zeit später wussten sie, was vorgefallen war. Joachim hatte auf dem Heimweg die Kontrolle über seinen Wagen verloren und war gegen einen Baum geprallt. Vermutlich infolge des schlechten Wetters war erst Stunden später ein Wagen der Autobahnmeisterei auf den Unfall aufmerksam geworden. Da war Joachim bereits tot gewesen.
***
„So tragisch das ist“, sagte Rainer am Abend zu Franziska, „aber meine Mutter hat leider recht. Er ist an seiner eigenen Sturheit zugrunde gegangen. Die Nowak hat erzählt, er wäre gegen zehn Uhr abends bei ihr losgefahren. Das war exakt die Zeit, als Florian von den Eschners gekommen ist und gesagt hat, es sei spiegelglatt. Worauf wir beschlossen haben, dass ich bei euch bleibe. Ein solches Angebot hat Frau Nowak Joachim auch gemacht, aber er wollte nicht. Kommt dazu, dass er müde war, und getrunken hatte er auch.“
„Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, hörte Franziska den Priester sagen und warf einen Blick über die Trauergemeinde. Es waren viele Menschen zu Joachims Begräbnis gekommen, doch echte Trauer war bei der Mehrzahl der Trauergäste nicht zu bemerken.
Einzig Fanny, die Haushälterin, und Gisela Nowak, seine Sekretärin, waren in Tränen aufgelöst.
Auf dem Weg vom Friedhof zum Gasthof, in dem das Totenmahl stattfinden sollte, sagte Rainer zu Franziska: „Obwohl meine Tante schon vor Jahren verstorben ist, scheint mein Onkel nun zwei Witwen zu hinterlassen.“
Franziska nickte lächelnd. „Sieht aus, als wäre Frau Nowak etwas mehr als nur seine Sekretärin gewesen.“
„Daran habe ich in diesen Tagen auch schon gedacht“, erwiderte er schmunzelnd. „Bisher habe ich vermutet, Fanny sei die Auserwählte gewesen. Immerhin lebte er seit Jahren mit ihr unter einem Dach. Wer hätte geglaubt, dass ausgerechnet Onkel Joachim bei Frauen solchen Erfolg hatte.“
„Vielleicht war er ihnen gegenüber charmanter?“
Rainer schnaubte. „Ich habe gehört, wie er mit ihnen geredet hat, das kann es nicht gewesen sein.“
Einen Moment hing jeder seinen Gedanken nach. Dann gesellte sich Wilhelm, der Bürgermeister von Bad Brunn, zu ihnen.
„Ich wundere mich, dass nicht nur unsere Apothekerin, sondern sogar deren Mutter unter den Trauergästen ist. Die habe ich ja schon ewig nicht in Bad Brunn gesehen.“
„Ihre Adresse stand ebenso in Joachims altem Telefonverzeichnis wie die von Kirsten Werfer. Das hat mich neugierig gemacht, also habe ich beiden Damen – gegen Frau Nowaks ausdrücklichen Wunsch – eine Parte schicken lassen und sie zum Totenmahl eingeladen.“
„Kirsten Werfer? Die Schauspielerin?“
„Genau die, sie scheint allerdings nicht gekommen zu sein. Zumindest habe ich sie bisher nicht gesehen.“
„Na, hoffentlich erlebt ihr da bei der Testamentseröffnung nicht noch die eine oder andere Überraschung“, meinte der Bürgermeister mit einem Zwinkern.
In der Zwischenzeit waren sie beim Gasthof angekommen. Bevor Rainer die Tür öffnete, sagte er: „Glaub mir, Wilhelm, die einzige Überraschung wäre, wenn es keine gäbe.“
***
In den folgenden Tagen gab Gisela Nowak die trauernde Witwe.
Stets kam sie schwarz gekleidet ins Büro, was ihr nicht stand, huschte in Joachims ehemaligem Büro herum und murmelte vor sich hin, als würde sie dem Verstorbenen etwas erzählen.
Rainer fand sie in dieser Rolle eine Spur zu melodramatisch und wenig überzeugend. Da glaubte er Fanny, der Haushälterin, ihre Trauer schon eher, schließlich hatte sie seit Jahren mit Joachim unter einem Dach gelebt, da stellte sich doch automatisch ein Vertrauensverhältnis ein. Seine Mutter hatte immer schon vermutet, Fanny würde sich nur dann in die Küche und ihre Einliegerwohnung zurückziehen, wenn Gäste angesagt waren. Rainer hielt das zwar für möglich, fand aber, es ginge ihn nichts an. Die beiden waren erwachsen und konnten tun und lassen, was sie wollten.
Wenige Tage nach der Beerdigung kam Gisela Nowak in Rainers Büro, um zu fragen, wann die Testamentseröffnung stattfand.
Rainer lehnte sich in seinem Chefsessel zurück und sagte mit leicht ironischem Unterton: „Sie haben wohl zu viele Filme gesehen? Ich muss Sie leider enttäuschen. Die sogenannte Testamentseröffnung ist eine Erfindung einfallsreicher Autoren und hat mit der Realität wenig zu tun. In Wahrheit eröffnet der Gerichtskommissär das Testament im stillen Kämmerlein und erstellt darüber ein Protokoll. Die Betroffenen erhalten davon eine Abschrift. Das ist alles.“
„Wenn Sie sich da mal nicht irren“, zischte die Nowak und rauschte davon.
„Das würde mich wundern“, murmelte Rainer und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu.
Doch als er einige Tage später ein Schreiben des zuständigen Notars erhielt, war er es, der sich wunderte.
Der Notar lud ihn dem letzten Willen des Verstorbenen folgend zu einer Versammlung aller im Testament bedachten Personen ein. So etwas war zwar absolut unüblich, aber auch nicht verboten.
„Sieht aus, als hätte dein Onkel Joachim auch zu viel ferngesehen“, meinte Franziska spöttisch, als Rainer am Abend noch einen Sprung bei ihr vorbeischaute.
„Sieht zwar so aus, kann ich aber nicht ganz glauben. Mein Onkel war alles Mögliche, nur kein Romantiker. Außerdem hat der Notar ihn sicher über die Usancen aufgeklärt. Wenn Joachim trotzdem auf einer solchen Veranstaltung bestanden hat, führt er etwas im Schilde, sozusagen posthum.“
***
Zwei Tage vor dem Notartermin rief Fanny bei Rainer an.
„Herr Direktor, ich muss Ihnen etwas zeigen.“
„Aber Fanny, warum so förmlich?“
„Sie sind jetzt der Chef.“
Rainer lächelte. „Das war ich doch in den letzten Monaten auch schon.“ Bisher hatte sie ihn immer nur Herr Rainer genannt.
„Nicht wirklich“, entgegnete Fanny ungerührt. „Könnten Sie bitte bei mir vorbeikommen?“
Rainer sah in seinen Terminkalender. „Vielleicht übermorgen, vor dem Notartermin, dann könnte ich Sie gleich mitnehmen.“
Sie einigten sich darauf, dass er sie eine Stunde vor dem Termin abholen würde.
Als er nun im Haus seines Onkels stand, überreichte ihm Fanny, die heute ebenfalls ganz in Schwarz gekleidet war, eine Reihe von Kuverts, alle fein säuberlich beschriftet.
Jedes enthielt Geld. Mal waren es ein paar Hundert Euro, manchmal ein paar Tausend.
„Woher stammt es und was soll ich damit?“
„Joachim hatte in letzter Zeit Angst vor Einbrechern. Sobald er Bargeld im Hause hatte, wurde es versteckt. Manchmal hat er offenbar darauf vergessen.“
Rainer nickte. „Danke, aber eines verstehe ich nicht. Wenn er so viel Angst vor Einbrechern hatte, warum hatte er dann so viel Geld im Hause?“
„Das habe ich ihn auch gefragt. Er hat gemeint, nur Bares sei Wahres.“
Rainer beschlich der leise Verdacht, dass sein Onkel in letzter Zeit nicht mehr ganz so tough war, wie er gerne vorgab. Das ließ im Hinblick auf das Testament nichts Gutes ahnen. Zu Fanny sagte er: „Wir werden es dem Notar übergeben. Er wird sicher dafür Verwendung haben. Wollen wir uns auf den Weg machen?“
Fanny nickte zwar, blieb aber stehen. „Eine Frage hätte ich noch. Wie geht es mit mir weiter?“
„Ich nehme doch an, Sie waren hier ordnungsgemäß angemeldet und werden eine Pension beziehen.“
Fanny nickte. „Schon, aber ich habe nach dem Tod Ihrer Tante meine Wohnung aufgegeben und bin hier in die Einliegerwohnung gezogen. Wann muss ich denn nun ausziehen?“
„Da fragen Sie leider den Falschen. Wir wissen ja noch gar nicht, wer das Haus erben wird. Warten wir ab, was wir beim Notar erfahren.“
„Ich nehme doch an, dass Sie der Erbe sind.“
„Die heutige Veranstaltung spricht eher nicht dafür“, meinte Rainer, öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt.
***
Im Besprechungsraum des Notariats warteten bereits Gisela Nowak, Prokurist Altmann, Tamara Taufer, die bis vor Kurzem bei Warholz gearbeitet hatte, sowie die Apothekerin und deren Mutter.
Fanny warf Rainer einen nahezu entsetzten Blick zu, und als er ihr aus dem Mantel half, raunte sie ihm zu: „Was machen denn die alle hier?“
„Abwarten, bald wissen wir’s“, antwortete er ebenso leise.
Bei Tamara hatte Rainer einen gewissen Verdacht, die Anwesenheit der Apothekerin hätte ihn mehr erstaunt, hätte er die Adresse ihrer Mutter nicht in Joachims Telefonbuch gefunden.
Wenig später betrat ein älterer Herr den Raum, der sich als Wolfgang Suttner Senior vorstellte. Rainer hatte bisher nur mit seinem Sohn zu tun gehabt, Wolfgang Suttner Junior. Doch erinnerte er sich, dessen Vater, der etwa im Alter seines Onkels war, früher schon mal gesehen zu haben.
„Meine sehr geehrten Damen und Herren. Auf ausdrücklichen Wunsch des Verstorbenen, mit dem ich über viele Jahre freundschaftlich verbunden war, habe ich Sie hierhergebeten, um Ihnen dessen Letzten Willen vorzutragen.“
Er räusperte sich, nahm einen Schluck Wasser und begann zu lesen.
„Bad Brunn, am 15. November 2017.
Dies ist mein Letzter Wille, ob er euch gefällt oder nicht, macht keinen Unterschied.
Machen wir es kurz: Ich habe zwei Töchter. Georgine Falkner und Tamara Taufer. Sie sollen zu gleichen Teilen meine Firmenanteile erben.
Meine Haushälterin Fanny erhält ein lebenslanges Wohnrecht in der Villa sowie eine monatliche Rente von tausend Euro.
Meine Assistentin, Gisela Nowak, bekommt für treue Dienste eine Eigentumswohnung im neuen Wohnpark sowie ebenfalls eine monatliche Rente von tausend Euro. In beiden Fällen wurden entsprechende Rentenversicherungen abgeschlossen.
Sollte ich vor der nächsten Wahl versterben, was ich nicht annehme, erhält unser langjähriger Prokurist, Bernhard Altmann, das Sparbuch mit der Nummer 3847380 bei der Bad Brunner Sparkasse zur Finanzierung seines Wahlkampfes.
Mein Neffe, Rainer Breininger, erbt alles Übrige, insbesondere das Haus samt Inhalt, allerdings belastet mit dem erwähnten Wohnrecht.“
Im Raum war es mucksmäuschenstill. Der Notar griff zum Wasserglas, trank einen Schluck und las weiter.
„Jetzt sitzt ihr sicher alle da und staunt. Ein paar Erklärungen will ich euch noch geben.
Beginnen wir mit meiner Tochter Georgine.
Als Sonja, ihre Mutter, schwanger wurde, war das ein ziemlicher Schock für uns beide. Ich wollte das meiner Hildegard nicht antun und hatte auch keine Lust auf kleine Kinder. Zum Glück war der Apotheker schon länger hinter Sonja her. Sie hat ihm alles erzählt und er hat eingewilligt, sich als Vater eintragen zu lassen. Ich meine, meine liebe Georgine, du hast es ganz gut getroffen. Sicher war er weit nachsichtiger mit dir, als ich es je gewesen wäre.
Anders war die Sache bei Tamara. Ich gestehe es ungern, aber ich wusste bis vor Kurzem nichts von ihrer Existenz. Sie hat mich gefunden und sie hat mich gezwungen, nach ihren Regeln zu spielen.
Fakt ist: Ihre Mutter ist eine ziemlich berühmte Schauspielerin. Kirsten Werfer. Ich habe diesen Umstand weder damals noch später mitbekommen. Ihr wisst ja, ich war kein großer Theatergänger – außerdem hat sie sich mir unter ihrem bürgerlichen Namen, nämlich Taufer, vorgestellt.
Ich erinnere mich noch genau. Hildegard war zur Kur und ich langweilte mich zu Tode, da kam Kirsten gerade recht. Vermutlich hat es ihr Spaß gemacht, mich an der Nase herumzuführen, denn auf mein Geld war sie nicht angewiesen. Nun, mir hat es damals auch Spaß gemacht. Somit sind wir quitt.
Ja, es braucht Mut, über sich selbst und sein Leben nachzudenken. Ich habe es dennoch getan.
Glaubt aber ja nicht, dass ich jetzt anfange, mich bei irgendjemand zu entschuldigen. Ich sage auch nicht, dass mir irgendetwas leidtut. Mit überkorrekten Moralisten hatte ich sowieso nie etwas am Hut und auf noble Zurückhaltung habe ich mein Leben lang gepfiffen, also werde ich jetzt nicht mehr damit anfangen.
Das Einzige, das ich bedaure, ist, dass ich jetzt eure Gesichter nicht sehen kann.
Na dann – macht das Beste aus dem Ererbten – Euer Joachim
„Deswegen hat er mich immer geduzt“, entfuhr es Georgine, der Apothekerin. „Ich hielt das für eine überhebliche Marotte.“ Dann wandte sie sich an ihre Mutter. „Und du hast mich mein Leben lang belogen!“
Der Mutter war das sichtlich unangenehm, doch sie nickte. „Das war der Deal, mein Kind. Joachim hat darauf bestanden. Außerdem war es irgendwann nicht mehr wichtig, wer dich gezeugt hat. Dein Vater war dein Vater. Daran bestand doch kein Zweifel.“
„Trotzdem hättest du es mir sagen müssen“, empörte sich Georgine.
„Könnten wir das vielleicht zu Hause besprechen? Ich glaube nicht, dass sich hier jemand dafür interessiert.“
Ach, das würde hier sehr wohl einige interessieren, dachte Rainer amüsiert.
Das Testament traf ihn nicht ganz unerwartet. Er hatte schon vermutet, dass es Überraschungen geben würde. Dennoch wollte er niemandem das Gefühl geben, er ginge als Verlierer vom Platz. Also erhob er sich und sagte: „Ich meine, wir haben uns jetzt alle einen Schluck verdient. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich Sie gerne auf einen Drink ins Landhaus einladen, das ist ja hier gleich um die Ecke.“
„Sind Sie denn nicht wütend?“, fragte Tamara wie stets geradeheraus.
„Warum sollte ich?“
„Sie haben doch sicher damit gerechnet, die Firmenanteile zu erben. Schließlich hat er Sie zum Geschäftsführer bestellt.“
„Nicht ganz freiwillig, wie Sie wissen dürften. Aber besprechen wir das doch im Landhaus. Außerdem sollten wir zum Du übergehen. Offenbar sind wir doch irgendwie verwandt.“
Darauf schien Tamara noch gar nicht gekommen zu sein, denn erst sah sie ihn erstaunt an, dann sagte sie resolut: „Stimmt, du bist jetzt mein Cousin – oder so.“
Er nickte. „Na dann komm, Cousinchen.“
Zu Rainers Erstaunen waren alle seiner Einladung gefolgt.
Der Erste, der im Landhaus auf ihn zukam, war Altmann.
„Ich fürchte, Sie werden nicht besonders gut auf mich zu sprechen sein“, sagte er freiheraus.
„Wie kommen Sie nur darauf?“ Rainers Stimme triefte vor Ironie. Er konnte nicht anders.
„Nun, wie Sie wissen, verlangte Ihr Onkel absolute Loyalität und konnte mit Widerspruch immer weniger umgehen. Ich hatte also die Wahl zwischen alter und neuer Geschäftsführung.“
„Sie werden Ihre Gründe gehabt haben, sich für die alte zu entscheiden“, entgegnete Rainer kühl und wandte sich Tamara zu.
„Ich gehe davon aus, du weißt schon länger, dass wir verwandt sind. Hast du mein Angebot, dein befristetes Dienstverhältnis in ein unbefristetes umzuwandeln, deswegen abgelehnt?“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Mein Arbeitsverhältnis war von Anfang an nur für ein Jahr geplant. Jetzt werde ich meinen Master machen. Ich wusste allerdings nicht, dass ich noch eine Halbschwester habe.“
„Wie hast du überhaupt herausgefunden, dass Joachim dein Vater ist?“
„Durch Zufall. Meine Mutter hat mir stets erzählt, sie wisse nicht, wer mein Vater sei. Ich hielt mich daher für das Kind zweier Schauspieler und wunderte mich, dass ich selbst so gar kein schauspielerisches Talent besitze. Lange Zeit war mir das egal. Als wieder einmal ein neuer Lover bei uns einzog, beschloss ich, auszuziehen. Mutter war das vermutlich ganz recht, jedenfalls hat sie sich bereit erklärt, meine neue Wohnung zu finanzieren. Während sie auf Tournee war, habe ich meine Sachen zusammengepackt und bin – auf der Suche nach alten Schulbüchern – auf alte Briefe gestoßen. Liebesbriefe. Der Rest war relativ einfach.“
In der Zwischenzeit hatte der Kellner die Getränke gebracht. „Ich würde trotzdem gerne erfahren, wie es weiterging. Doch erst sollten wir anstoßen.“ Rainer warf einen Blick in die Runde, erhob sein Glas und sagte: „Lassen Sie uns auf Onkel Joachim trinken und hoffen, dass er sich gerade ausnehmend gut amüsiert.“
„Du scheinst den Verlust der Firmenanteile ja locker wegzustecken“, meinte Georgine, ehe sie an ihrem Orangensaft nippte.
„Ich habe diese Anteile auch bisher nicht besessen und sehe daher keinen Verlust.“
„Aber du hast doch sicher damit gerechnet, sie eines Tages zu erben“, beharrte Georgine.
„Nun, ich habe das nicht ausgeschlossen, dachte aber auch, dass dieser Tag noch in weiter Ferne liegt. Wenn mein Onkel sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, bei Eisregen mit dem Auto zu fahren, wäre das vermutlich auch so gewesen.“
Dann wandte Rainer sich neuerlich Tamara zu. „Wie kam es dann zur Anstellung bei Warholz und warum habt ihr euer verwandtschaftliches Verhältnis geheim gehalten?“
„Ich wollte meine Mutter aus der Reserve locken. Also habe ich die Briefe gelesen, fein säuberlich wieder zusammengebunden und zurückgelegt. Als sie wiederkam, habe ich ihr erzählt, dass ich mich um einen Job bei Warholz beworben habe.“
„War sie wenigstens schockiert?“, wollte Georgine wissen.
„Kein bisschen. Vergessen Sie nicht …“
„Wir sind Halbschwestern, du kannst mich duzen“, unterbrach Georgine.
„Okay. Vergiss also nicht, meine Mutter ist Schauspielerin. Sie hat mir ihre Lieblingsrolle vorgespielt. Die der besorgten Mutter. Ich hätte es doch nicht nötig, neben dem Studium zu arbeiten, solle lieber das Masterstudium gleich anschließen, bla, bla, bla. Erst da habe ich beschlossen, mich tatsächlich zu bewerben.“
„Hast du wenigstens unserem Vater gleich reinen Wein eingeschenkt?“, fragte Georgine und betonte das Wort Vater, als ob es pures Gift wäre.
Tamara schüttelte den Kopf. „Ich habe ihm zwar erzählt, wer meine Mutter ist. Aber das schien ihm überhaupt nichts zu sagen. Dann habe ich ihren bürgerlichen Namen erwähnt. Bei Christa Taufer wurde er hellhörig. Wenige Tage später bekam ich den Job und er lud mich zum Essen ein, um mich auszufragen. Eine Weile ließ ich ihn zappeln, dann habe ich ihn aufgeklärt, aber das Versprechen abgenommen, den Mund zu halten. Andernfalls würde ich den Job nicht annehmen.“
„Hast du deiner Mutter davon erzählt?“, wollte Georgine wissen.
„Natürlich nicht!“
„Wann hat sie dir die Wahrheit gesagt?“, fragte Rainer. „Nach seinem Unfall?“
„Noch später. Erst nachdem ich ihr von dem heutigen Termin erzählt habe. Offenbar wollte sie dann doch nicht riskieren, dass mich heute Nachmittag der Schlag trifft.“ Dann wandte sie sich an Georgine: „Falls dich das tröstet, deine Mutter ist zumindest kein Einzelfall.“
***
Schon am nächsten Tag erschien Fanny in Rainers Büro. „Sie sind doch Jurist. Sagen Sie, kann ich mein Erbe auch nur teilweise annehmen?“
„Welcher Teil bereitet Ihnen denn Kopfzerbrechen? Doch nicht die Rente.“
„Die Rente nehme ich gerne, die hat Joachim mir auch versprochen. Nur von diesem Wohnrecht wusste ich nichts. Ich will es in dieser Form auch nicht haben.“
„Welche andere Form würde Ihnen denn vorschweben?“
„Ich bewohne doch diese kleine Einliegerwohnung. Also gar so klein ist die nicht. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Genau das, was ich brauche. Wenn Sie in die Villa ziehen, würde ich dort gerne bleiben und solange ich gesund bin, auch noch für Sie arbeiten. Allein würde ich mich in dem großen Haus zu Tode fürchten.“
Rainer schluckte. „Fanny, da muss ich Sie leider enttäuschen. Ich werde in dieses Haus nicht einziehen. Ich habe mir eines bauen lassen, in das ich erst vor Kurzem übersiedelt bin.“
Fanny nickte, schien jedoch betrübt. „Davon habe ich gehört, aber ich dachte, jetzt, wo Sie hier der Chef sind …“
Sie ließ den Satz unvollendet und sah Rainer erwartungsvoll an.
Der schüttelte nur bedauernd den Kopf. „Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“
„Im Sommer werde ich 65.“
„Dann können Sie doch in Pension gehen.“
„Könnte ich, aber was soll ich dann machen?“
Rainer dachte kurz nach. „Ich denke, wir warten erst einmal, bis das Erbschaftsverfahren rechtskräftig wird, dann sehen wir weiter.“
Fanny stand auf. „Könnte ich mir Urlaub nehmen? Ich bin nur ungern allein im Haus und möchte meine Mutter im Waldviertel besuchen.“
„Aber gern. Ich wusste gar nicht, dass Ihre Mutter noch lebt.“
Nun lächelte Fanny. „Und wie die lebt. Sie war eine sehr junge Mutter, wurde vor Kurzem 84 und ist noch recht fit. Sie wollte sogar zur Beerdigung kommen, aber dann kam ihr eine Erkältung dazwischen.“
„Ihre Mutter kannte Joachim?“
„Aber sicher. Seit dem Tod Ihrer Tante haben wir Weihnachten und Ostern immer bei ihr verbracht. Es hat ja sonst niemand auf uns gewartet.“
Rainer nickte. Er hatte nie gefragt, wo und mit wem Onkel Joachim Weihnachten feierte. Ob seine Mutter das gewusst hatte? Eher nicht, die Geschwister hatten sich nie besonders gut verstanden und daher auch keinen engeren Kontakt gepflogen.
„Eine Frage noch“, unterbrach Fanny seine Gedanken. „Kann ich Ihnen das Auto abkaufen?“
Nachdem er sie nur fragend ansah, setzte sie hinzu: „Den grünen Polo, den ich immer gefahren habe. Er gehörte Joachim, also gehört er jetzt Ihnen. Er ist zwar schon einige Jahre alt, hat aber kaum 30.000 km. Ich würde den Wagen gerne kaufen.“
Rainer stand auf. „Na, dann kommen Sie mit.“
Er ging ihr voran ins Sekretariat. „Helene, kannst du bitte veranlassen, dass der Polo, den Fanny schon bisher gefahren hat, auf sie umgemeldet wird.“
„Sehr gerne. Brauchen wir dazu nicht einen Kaufvertrag?“
„Möglich. Falls ja, setz bitte einen Kaufpreis von hundert Euro an. Meine Damen, ich darf mich verabschieden.“
„Moment!“, rief Fanny ihm nach. „Das Auto ist doch viel mehr wert.“
Rainer nickte. „Ich weiß, aber ich habe soeben gelernt, dass wir Ihnen etliche friedvolle Feiertage verdanken. Ich denke, das ist ein gerechter Ausgleich.“
***
Für die Mitarbeiter gab es tagelang keinen anderen Gesprächsstoff als Joachims Testament, doch dank Gisela Nowak waren in der Zwischenzeit die meisten gut informiert.
Während die einen sich über die neuen Großaktionäre schockiert zeigten, lachten sich andere ins Fäustchen.
Gisela Nowak gehörte eindeutig zur zweiten Gruppe, die jedoch schrumpfte, seit bekannt wurde, dass Altmann nun Änderungen, die er früher verhindern wollte, bereitwillig unterstützte.
„Der hat wirklich das Zeug zum Politiker“, sollte die Nowak wutschnaubend gesagt haben.
Rainer fand, dass sie mit dieser Einschätzung nicht ganz unrecht hatte. Dennoch war er recht zufrieden.
Erst hatte er Altmann ein paar Tage die kalte Schulter gezeigt, doch dann zu einem Gespräch gebeten. Sie würden zwar keine allzu dicken Freunde mehr werden, doch Altmann würde über kurz oder lang ohnehin gehen, entweder als Bürgermeister ins Gemeindeamt oder etwas später in Pension. Bis dahin konnte er dem Betrieb von Nutzen sein, denn er kannte hier alles seit nahezu dreißig Jahren.
Nächster Punkt. Er musste seine Mutter zurückrufen.
Erst war sie von Joachims Unfalltod ehrlich betroffen gewesen, doch seit sie wusste, dass Rainer dessen Firmenanteile nicht erbte, schien sie ihrem Bruder noch weniger zugetan als zu Lebzeiten.
Seine Mutter erzählte Rainer zunächst von Leuten, die er angeblich kannte, bevor sie schließlich fragte: „Wer wird jetzt Aufsichtsratsvorsitzender?“
„Sobald das Erbe rechtskräftig aufgeteilt ist, werde ich eine außerordentliche Hauptversammlung einberufen, und wir werden einen neuen Aufsichtsrat und einen neuen Vorsitzenden wählen.“
„Hast du schon eine Idee?“
„Die hätte ich, aber wir werden uns diesbezüglich mit den neuen Aktionären besprechen.“
„Wir können sie doch überstimmen – oder etwa nicht?“
„Könnten wir, wollen wir aber nicht. Oder willst du gleich zu Beginn ein schlechtes Klima?“
Sie überlegte, murmelte dann: „Da hat uns Joachim ja ein Ei gelegt. Ob er sich das wirklich überlegt hat?“
„Aber ja, und ich vermute, es hat ihm eine diabolische Lust bereitet.“
„Das kann auch sein“, gab sie zu.
Georgine tigerte ruhelos durch die Wohnung. Seit ihre Schwester Claudia samt Gina ausgezogen war, waren Georgine die Sonntage ein Gräuel. Nicht, weil sie diese allzu oft gemeinsam verbracht hätten. Dazu waren ihr die beiden viel zu anstrengend. Aber es war ein Unterschied, ob man nach dem gemeinsamen Frühstück froh war, dass die Nervensägen endlich verschwanden, oder man die Stille von Anfang an hatte.
Mit Claudias Besuch, oder wenigstens einem Anruf, war zudem nicht zu rechnen, da sie sich auch noch gestritten hatten. Wegen Marko. Wie konnte ihre Schwester nur auf so einen dämlichen Typen hereinfallen? Immobilienmakler. Also ehrlich. Vermutlich hatte er ihr mit ein paar Klunkern den Kopf verdreht, überlegte Georgine. Es sähe Claudia ähnlich, sich von solchen Dingen beeindrucken zu lassen. Vater hatte schon recht gehabt, wenn er sagte, sie läge allzu großen Wert auf Äußerlichkeiten.
Einzig ihre Nichte Gina besuchte die Tante noch dann und wann. Die Kleine hatte sich anfangs recht erfolgreich gegen Marko zur Wehr gesetzt. Natürlich hatte Georgine sie darin unterstützt. In letzter Zeit benahm sich Gina weniger kooperativ. Vermutlich hatte sie sich ebenfalls kaufen lassen.
Als Rainer Breiniger aus den Staaten zurückgekommen war, hatte Georgine kurze Zeit gehofft, dass er Marko aus dem Feld schlagen würde. Aber nein, der Idiot verbrüderte sich auch noch mit ihm.
Wenn wenigstens ihr Sohn Alwin sie gelegentlich besuchen würde! Doch auch der musste sich auf Claudias Seite schlagen. Marko sei ein lässiger Typ. Nur weil er Tennis spielen konnte?
Mit ihrer Mutter hatte Georgine ebenfalls Streit gehabt. Seit der Testamentseröffnung herrschte Schweigen zwischen ihnen. Georgine wäre bereit gewesen, wieder mit ihr zu reden – vorausgesetzt, die Mutter machte den ersten Schritt und entschuldigte sich. Schließlich hatte sie Georgine ein Leben lang belogen.
Blieb noch ihre Damenrunde. Eine Zeit lang waren einige von ihnen Singles gewesen. Da hatten sie am Sonntag gerne gemeinsam etwas unternommen. Doch neuerdings waren alle wieder vergeben.
Sogar Poldi, die resche Gärtnerin, hatte sich von diesem Bertram einkochen lassen. Die beiden lebten zwar getrennt, verbrachten aber jede Menge Freizeit miteinander. Poldi und ein Lehrer? Wer hätte das gedacht. Obwohl, die beiden hatten wenigstens sonst keine Familie zu betüdeln. Sie könnte sie zur Jause einladen, überlegte Georgine weiter. So ein veganer Kuchen war schnell zusammengerührt. Zwar würde Poldi auf Kaffee bestehen – der CO2-Fußabdruck schien ihr dabei vollkommen egal zu sein. Aber bitte, würde sie eben Kaffee kochen. Scheinbar ging ohne Kompromisse gar nichts in dieser traurigen Welt.
***
„Na, wie fühlst du dich so als Erbin?“, fragte Poldi, kaum dass sie Platz genommen hatte.
„Ach, hör mir bloß auf mit dieser Erbschaft! Nichts als zusätzliche Verpflichtungen. Als ob ich nicht ohnehin schon genug zu tun hätte.“
„Aber es bringt doch auch Cash“, konterte Poldi mit einer entsprechenden Handbewegung. „Der alte Warholz hat ja nicht schlecht gelebt von dem Verlag. Wie man so hört, hat er nebenbei noch Altmann ganz ordentlich gesponsert.“
„Schon, aber was Rainer Breininger aus dem Unternehmen machen wird, bleibt abzuwarten. Wie ich so gehört habe, soll Joachim ja nicht viel von ihm gehalten haben.“
„Sagt wer?“, fragte Poldi und nahm sich ein Stück Kuchen.
„Sagt seine ehemalige Sekretärin, Frau Nowak.“
„Kann die das denn beurteilen?“, mischte sich Bertram ins Gespräch. „Immerhin hat Herr Warholz ihn selbst als Geschäftsführer eingesetzt.“
Georgine machte eine wegwerfende Handbewegung. „Von Rainer haben wir uns wohl alle mehr erwartet.“
„Also Fanny, die Haushälterin vom alten Warholz, hält große Stücke auf Breininger“, wusste Poldi zu berichten. „Angeblich hat er ihr sogar das Auto geschenkt, mit dem sie schon bisher immer gefahren ist.“
„Na bitte, da hast du’s. Verschenkt einfach Firmenvermögen, ohne uns zu fragen.“
„Wer hat eigentlich den Rest geerbt?“, fragte Bertram dazwischen. „Also das Haus, das Barvermögen und so weiter.“
„Der Breininger“, antwortete Georgine und schenkte ihren Gästen Kaffee ein.
Der riecht wirklich gut, dachte sie dabei. Ob sie sich ausnahmsweise auch ein Tässchen genehmigen sollte?
„Vielleicht gehörte das Auto gar nicht der Firma“, gab Poldi zu bedenken.
Tja, so ganz genau konnte Georgine das auch nicht sagen.
„Und wie geht’s dir sonst so?“, fragte Poldi weiter. „Hast du dich an die Idee, den alten Warholz zum Vater zu haben, schon gewöhnt?“
„Nur weil er ein wenig Samen gespendet hat, ist er noch lange nicht mein Vater“, antwortete Georgine erhobenen Hauptes. „Von meinem Vater habe ich die Apotheke geerbt.“
„Na bitte, zwei Väter, zweimal erben“, meinte Poldi. „Ist doch nicht schlecht.“
Gemütsmensch, dachte Georgine – dann hatte sie eine Idee.
***
Diese Idee setzte sich im Laufe des Nachmittags immer mehr in Georgine fest. Die Apotheke war ihr ein Anliegen, sie war ihr Leben. Die Warholz-Anteile brachten vermutlich etwas Geld ein, doch mit diesem Unternehmen verband sie nichts.
Vielleicht sollte sie ihre Warholz-Anteile Alwin überschreiben? Einerseits, weil sie sich mit diesen Dingen nicht belasten wollte, sie hatte mit ihrer Apotheke wahrlich genug zu tun, aber auch, weil sie Alwin auf diese Weise wieder näherkommen könnte. Ihr Verhältnis war schon lange Zeit etwas unterkühlt. Ob sein Vater daran ebenso schuld war wie Claudia und Marko? Jedenfalls könnte sie gewisse Bedingungen an dieses Erbe knüpfen. Diese Idee war doch großartig!
Alwin sollte in den nächsten Wochen seinen Master in Publizistik machen. Hatte er nicht ohnehin davon gesprochen, sich bei Warholz bewerben zu wollen?
Na bitte, sie konnte ihm die Möglichkeit bieten, gleich in die Chefetage einzusteigen. Dafür musste ein Sohn seiner Mutter dankbar sein, wenn er schon sonst gerne vergaß, wem er sein bequemes Leben verdankte. Seinem Vater jedenfalls nicht. Der zog lieber wie ein alternder Hippie durch die Welt, statt sich um seine Familie zu kümmern. Zum Glück war sie nicht auf ihn angewiesen.
Georgine warf einen Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Da würde der Herr Sohn möglicherweise daheim sein. Sicherheitshalber wählte sie seine Festnetznummer, so konnte er vermutlich nicht sehen, wer dran war. Trotzdem begrüßte er sie mit den Worten: „Guten Abend, meine streitbare Mutter. Was kann ich für dich tun?“
„Woher weißt du, dass ich dran bin?“
„Erstens hast du deine Nummer nicht unterdrückt und zweitens ruft niemand außer dir und Oma auf dem Festnetz an. Mit Oma habe ich heute schon gesprochen. Also, was gibt’s?“
„Es gibt etwas zu erben.“
„Ist schon wieder jemand gestorben?“
„Das nicht, aber ich überlege, dir mein Erbteil an Warholz zu überschreiben.“
„Unter welchen Bedingungen?“, fragte Alwin wie aus der Pistole geschossen.
„Bedingungen? Wieso Bedingungen?“, stotterte Georgine überrumpelt. Doch sie fasste sich rasch. „Also gut. Erste Bedingung. Du kommst am kommenden Sonntag zum Essen, um die weitere Vorgangsweise zu besprechen. Sonntag, 13 Uhr. Man sieht sich.“
Dann legte sie auf, ohne ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen.
***
Kaum hatte Georgine aufgelegt, klingelte ihr Handy. Marko. Was wollte denn der von ihr? Sie überlegte schon, das Gespräch nicht anzunehmen, dann siegte ihre Neugierde.
„Hallo?“
„Schönen guten Abend. Ich muss dir leider sagen, dass Claudia im Spital liegt. Sie hat sich bei einer Wanderung heute Nachmittag den Knöchel gebrochen.“
„Das tut mir leid“, sagte Georgine ohne echtes Bedauern. Was lief Claudia auch mit diesem Blödmann im Wald herum?
„In dem Zusammenhang hätte ich eine Bitte. Kann Gina morgen nach der Schule zu dir in die Apotheke kommen?“
„Natürlich. Wo ist sie jetzt?“
„In ihrem Bett, sie schläft. Sie kommt also morgen, so gegen 16 Uhr. Ich hole sie dann gegen 18 Uhr von dir ab.“
„Wie auch immer“, erwiderte Georgine und beendete das Gespräch.
Als Gina am nächsten Tag in die Apotheke kam, ging Georgine mit ihr ins Büro und fragte: „Wie geht es deiner Mama?“
„Weiß ich noch nicht. Ich darf sie doch nicht anrufen.“
„Sagt wer?“
„Sagt Marko.“
„Warum sollst du denn deine Mutter nicht anrufen dürfen?“
Gina überlegte. „Marko hat gesagt, Mami meldet sich, sobald sie wieder fit genug ist, um zu telefonieren.“
Georgine schloss daraus, dass ihre Schwester operiert wurde. So etwas konnte bei einem komplizierten Bruch schon notwendig werden. Dann wäre es natürlich sinnvoll, Claudia nicht zu stören. Trotzdem sagte sie: „Marko hat dir gar nichts zu sagen.“
„Aber Mami hat gesagt, ich muss auf Marko hören, wenn sie nicht da ist.“
„Auf Marko hören? So weit kommt’s noch! Du brauchst nicht auf ihn zu hören, Marko ist ohnehin ein Dummkopf.“
Gina sah sie überrascht an. „Wieso ist Marko ein Dummkopf?“
Plötzlich hörte Georgine die ihr so verhasste Männerstimme sagen: „Das würde mich auch interessieren.“
Marko hatte sich nicht gerne an Georgine gewandt, wusste er doch, dass Claudias Schwester schon bisher nichts unversucht gelassen hatte, ihn aus Claudias Leben zu drängen. Dazu hatte sie sich – mehr als einmal – sogar ihrer Nichte bedient. Dass es ihr trotzdem nicht gelungen war, schien ihren Hass auf ihn nur noch vergrößert zu haben.
Doch da Claudia darauf bestand, dass Gina auch nicht eine Stunde allein in der Wohnung bleiben durfte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich an Georgine zu wenden. Normalerweise hätte Gina nach der Schule zu ihm ins Büro kommen können, doch ausgerechnet in dieser Woche war seine Innendienstmitarbeiterin auf Urlaub und an Montagen war für den Außendienst meist viel zu tun.
Georgine musterte ihn mit einer Mischung aus Ärger und Verlegenheit. „Was machst du denn schon hier? Du wolltest doch erst gegen 18 Uhr kommen.“
Marko schluckte. Er hätte dieser dummen Gans gerne den Hals umgedreht, doch um Ginas willen beherrschte er sich und antwortete scheinbar gelassen: „Mir ist ein Termin ausgefallen. Da dachte ich, ich hole Gina früher ab und wir fahren zu Claudia ins Spital.“
„Ist sie denn schon wieder ansprechbar?“
„Sie hat mir vor einer Stunde gemailt, dass sie wach ist und es ihr gut geht.“
Dann wandte er sich an Gina. „Kommst du mit?“
Die Kleine sah zweifelnd zwischen ihrer Tante und ihm hin und her. Klar, dass das Kind nicht mehr wusste, was es tun sollte. Ginas Blick verdüsterte sich zusehends, vermutlich würde sie gleich wieder Theater machen. Doch dann sah er Tränen in ihren Augen glänzen. Es lag nicht in seiner Absicht, Ginas Zerrissenheit zu vergrößern, doch er wollte auch nicht als Verlierer vom Platz gehen. In letzter Zeit kamen Gina und er doch gut miteinander aus. Also zwang er sich zur Ruhe: „Gina, wenn du lieber bei Georgine bleiben willst, ist das für mich okay. Ich glaube nur, Claudia würde sich sehr freuen, wenn du mitkommst.“
Gina sah noch einmal von ihm zu Georgine, ehe sie nach ihrer Schultasche griff. „Na gut, dann komme ich mit.“
Er nickte ihr zu und öffnete ihr die Tür. Dann drehte er sich noch einmal zu Georgine. „Die Sache mit dem Dummkopf klären wir noch.“
***
Georgine sah den beiden nach, wie sie in Markos roten Angeberschlitten stiegen und davonfuhren. Da nur zwei Kunden im Verkaufsraum waren, überließ sie deren Bedienung den Angestellten und ging zurück in ihr Büro. So kam dieser Marko ihr nicht davon! Zitternd vor Wut griff sie zum Smartphone und rief Rainer an.
„Hallo, hier spricht Georgine. Weißt du eigentlich, dass Claudia sich den Knöchel gebrochen hat und deine Tochter mit Marko allein ist?“
„Weiß ich.“
„Und? Was gedenkst du zu tun?“
„Erst mal abwarten, wie viele Tage Claudia im Spital bleiben muss. Das sollte doch nicht allzu lange dauern.“
„Und bis dahin willst du ein Mädchen von neun Jahren mit diesem Mann allein lassen?“
„Was spricht dagegen?“
„Wie naiv kann man denn sein? Hast du denn gar kein Verantwortungsgefühl?“
Es entstand eine kurze Pause, Georgine hoffte schon, er würde einlenken, stattdessen hörte sie Rainer sagen: „Sag mal, hast du zu viele Krimis gelesen? Was unterstellst du Marko eigentlich?“
„Habe ich ihm etwas unterstellt?“
„Es klang für mich so.“
„Ich habe doch gar nichts gesagt.“
„Das ist auch besser so. Sonst noch was?“
„Wenn dir das Wohl und Wehe deiner Tochter egal ist, dann war das alles. Mir ist es nicht egal. Ich werde Gina zu mir holen.“
„Das wirst du nicht! Wenn Claudia wollte, dass Gina bei dir bleiben soll, hätte sie es so eingerichtet.“
„Wir sprechen derzeit nicht miteinander.“
„Auch das ist mir bekannt. Du hast mit deinen Vorurteilen gegen Marko schon genug Unheil angerichtet. Lass gefälligst Gina aus dem Spiel und finde dich damit ab, dass Claudia ausgezogen ist.“
„Das eine hat mit dem anderen nicht das Geringste zu tun.“
„Mach dir nichts vor, nur darum geht es. Außerdem wird Marko ohnehin bald Ginas Stiefvater sein.“
Georgine ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. „Claudia will heiraten?“
„Ach, wusstest du das nicht?“ Rainers Stimme klang sarkastisch und Georgine glaubte beinahe, sein Grinsen durchs Telefon sehen zu können. Wutschnaubend und ohne ein weiteres Wort beendete sie das Telefonat.
Claudia wollte Marko, diesen Idioten, auch noch heiraten? Und sie, die immer für ihre kleine Schwester da war und stets Verantwortung für sie übernommen hatte, musste das von Dritten erfahren? Ausgerechnet Claudia stellte sich gegen sie? War die schon ganz verrückt? Wer war sie denn, ohne den Schutz und das Geld der Familie, das erst der Vater und nun Georgine verdiente? Mit ihrer dummen Boutique erwirtschaftete Claudia kaum mehr als den Deckungsbeitrag. Ohne ihre, Georgines Hilfe, hätte sie nicht einmal die Matura geschafft, die dumme Nuss.
Georgine hatte ihrem Vater – oder zumindest dem Mann, den sie bis vor Kurzem für ihren Vater gehalten hatte – auf dem Sterbebett versprochen, sich um Mutter und Claudia zu kümmern. Davon würde ein dahergelaufener Immobilienmakler sie nicht abhalten.
„Wir haben im Leben alle unsere Rolle zu spielen. Deine ist es, stark und vernünftig zu sein. Ich verlasse mich auf dich.“ Das waren Vaters letzte Worte an sie gewesen.
Stark und vernünftig – das war sie doch! Aber so nahmen die anderen sie offenbar nicht wahr. Claudia hatte sie stur und verbohrt genannt.
***
Rainer war bereits auf dem Heimweg, genauer gesagt auf dem Weg zu Franziska, als sein Handy läutete.
„Hallo, Gina. Was kann ich für dich tun?“
„Hey Papi, stell dir vor, Marko sagt, in einen Wurstsalat gehören Gurkerln. Mami gibt aber nie Gurkerln in den Wurstsalat.“
„Ich glaube nicht, dass es dafür ein Gesetz gibt“, antwortete Rainer amüsiert. „Das kann jeder machen, wie er mag. Magst du keine Gurkerln?“
„Doch, schon, aber wir haben keine zu Hause.“
Rainer fühlte sich verwirrt. „Dann könnt ihr vermutlich auch keine hineintun. Wie geht es Claudia?“
„Mami geht’s gut.“ Plötzlich flüsterte Gina: „Papi, bist du auch der Meinung, dass Marko ein Dummkopf ist?“
„Gina! Wie kommst du denn darauf? Oder hat Tante Georgine …“
„Präzise“, antwortete Gina mit ihrem neuen Lieblingswort und nun wieder in Normallautstärke. Dann hörte er sie rufen: „Papi sagt auch, man muss keine Gurkerln in den Wurstsalat geben.“
Rainer, der in der Zwischenzeit bei Franziska angekommen war, schloss daraus, dass Marko ins Zimmer gekommen war.
„Gina, gibst du mir bitte Marko.“
„Okay. Tschü-üss!“
„Hallo, Sportsfreund“, meldete sich Marko, der gelegentlich mit Rainer Tennis spielte.
„Hallo. Wie lange muss Claudia denn im Spital bleiben?“
„Vermutlich bis Donnerstag.“
„Verstehe. Sag, wollt ihr morgen Abend zu uns zum Essen kommen?“
„Da sagen wir nicht Nein. Dann müssen wir uns wenigstens nicht ums Rezept streiten.“
„Perfekt. 19 Uhr?“
„Na ja, Gina sollte um 20 Uhr zu Bett gehen. Claudia ist da sehr heikel.“
„Früher schaffe ich es aber nicht. Weißt du was, wir sagen es Claudia einfach nicht.“
„Wenn du meinst. Du bist der Vater, dein Wille geschehe. Wohin sollen wir kommen?“
„Ach so, zu Franziska natürlich.“
***
In den nächsten Tagen hörte Georgine weder von Claudia noch von Gina. Da sie keine Möglichkeit sah, irgendetwas gegen Marko zu unternehmen, und sich ohnehin keine ernsthaften Sorgen um ihre Nichte machte – Marko war ohne Zweifel ein Idiot, aber harmlos –, wandte sie sich anderen Dingen zu.
Am Sonntag kam Alwin. Georgine war überzeugte Veganerin, wusste aber, dass Alwin von ihren veganen Gerichten nicht allzu viel hielt. Dennoch sollte das Essen ein Erfolg werden. Also überlegte sie angestrengt, was sie kochen sollte.
Sie wusste nicht genau, was Alwin in letzter Zeit so aß, war aber sicher, dass der Bub sich völlig falsch ernährte. Immerhin wusste sie, dass er, seit er mit seinem Vater vor einigen Jahren auf Sri Lanka gewesen war, Currys mochte. Also würde sie ein Gemüsecurry zubereiten. Zwar nicht so scharf, wie er es liebte, das konnte ja kein normaler Mensch essen. Dafür könnte sie es mit ein paar veganen Garnelen ein wenig aufpeppen.
Alwin sah dem sonntäglichen Mittagessen mit einer gewissen Skepsis entgegen. Er kannte seine Mutter und hatte die rosarote Brille, mit der Söhne ihre Mütter mitunter sahen, schon vor längerer Zeit abgelegt.
Zugegeben, Eigentümer von 23 % der Warholz-Aktien zu sein, klang schon sehr beeindruckend, doch wie er seine Mutter kannte, würde sie Bedingungen daran knüpfen.