Schwiegermütter, Töchter und andere D(r)amen - Brigitte Teufl-Heimhilcher - E-Book

Schwiegermütter, Töchter und andere D(r)amen E-Book

Brigitte Teufl-Heimhilcher

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Beschreibung

Das hatte Gernot Beranek sich anders vorgestellt. Der erfolgreiche Architekt, seit Kurzem Witwer, war nach Bad Brunn gezogen, um sich besser um seine Stieftochter Lea und deren Großmutter kümmern zu können. Doch der Neustart ist alles andere als einfach. Lea steht am Beginn der Pubertät und die Bad Brunner verhalten sich erstaunlich abweisend. Zum Glück ist Gernots langjährige Assistentin Christine ebenso an seiner Seite, wie seine ehemalige Partnerin Katrin. Mit Hilfe der so unterschiedlichen Damen findet Gernot langsam wieder Freude am Leben. Schade nur, dass die beiden einander so gar nicht mögen.

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Brigitte Teufl-Heimhilcher

 

 

 

 

 

 

 

Schwiegermütter, Töchter und andere D(r)amen

 

 

 

 

 

Familien 2.0

Band 02

 

 

Roman

 

Impressum

Das Buch

Die Autorin

1. Die Übersiedlung

2. Ein neuer Tag

3. Ab nun wird alles besser

4. Der Bürgermeister

5. Vorbereitungen

6. Überraschungen

7. Partytime

8. Die Seifenfabrik

9. Die Wallners

10. Ponys und andere Sturköpfe

11. Katrin kommt

12. Das Interview

13. Die Sondersitzung

14. Urlaubspläne

15. Sommerhitze

16. Der Seitensprung

17. Reiter unter sich

18. Wieder daheim

19. Tage der Erkenntnis

20. Zahnspangen und andere Krisen

21. Strategien

22. Poldis Liste

23. Facebook und andere Scherze

24. Klatsch und Tratsch

25. Pläne

26. Lea

27. Birgits Geheimnis

28. Die Bürgermeisters

29. Angebote

30. Ein unanständiges Angebot?

31. Entscheidungen

32. Die Wahl

33. Ehekrise

34. Denkwürdige Tage

35. Unerwartete Nachrichten

36. Nächtliche Erinnerungen

37. Klärende Gespräche

38. Goldener Herbst

39. Manches wird klarer

40. Brunner Geschichten

41. Späte Folgen

42. Joy to the World

43. Große Feste werfen ihre Schatten voraus

Danke

Mütter, Töchter und andere Krisen

Vater, Söhne und andere Sturköpfe

Von der Autorin bisher als E-Book und Taschenbuch erschienen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schwiegermütter, Töchter und andere D(r)amen

© 2022 Brigitte Teufl-Heimhilcher,

1220 Wien

https://www.teufl-heimhilcher.at

Originalausgabe erschienen unter dem Titel „Ein Gerücht kommt selten allein“ 2015 bei Tinte und Feder, Amazon Media EU Sárl, erschienen Copyright © der Originalausgabe 2015 bei Brigitte Teufl-Heimhilcher

Buchsatz und Konvertierung: Autorenservice-Farohi

www.farohi.com

Covergestaltung: Xenia Gesthüsen

Lektorat: Eva Farohi, www.farohi.com

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

Das Buch

 

 

Das hatte Gernot Beranek sich anders vorgestellt. Der erfolgreiche Architekt, seit Kurzem Witwer, war nach Bad Brunn gezogen, um sich besser um seine Stieftochter Lea und deren Großmutter kümmern zu können. Doch der Neustart ist alles andere als einfach. Lea steht am Beginn der Pubertät und die Bad Brunner verhalten sich erstaunlich abweisend.

Zum Glück ist Gernots langjährige Assistentin Christine ebenso an seiner Seite wie seine ehemalige Partnerin Katrin. Mithilfe der so unterschiedlichen Damen findet Gernot langsam wieder Freude am Leben. Schade nur, dass die beiden einander so gar nicht mögen.

 

 

 

 

 

 

Die Autorin

 

Brigitte Teufl-Heimhilcher lebt in Wien, ist verheiratet und bezeichnet sich selbst als realistische Frohnatur. In ihren „Heiteren Gesellschaftsromanen“ setzt sie sich mit gesellschaftspolitisch relevanten Fragen auseinander. Sie verwebt dabei Fiktion und Wirklichkeit zu amüsanten Geschichten über das Leben – wie es ist, und wie es sein könnte.

 

1. Die Übersiedlung

 

„Erstaunlich, wie viel Papier selbst in einem papierlosen Büro noch zusammenkommt“, murmelte Gernot Beranek und schob den gerade fertig gepackten Karton zu den anderen.

Seine Assistentin Christine, die eben dabei war, den Inhalt ihres Schreibtisches in ihre riesige Umhängetasche zu stopfen, warf einen Blick auf die aufgestapelten Kartons und meinte nur: „Mein Gott, die paar Schachteln. Als wir vor acht Jahren hierher übersiedelt sind, hatten wir 153 von der Art.“

„Was du dir alles merkst“, staunte Daniel. Der junge Techniker war erst seit Kurzem bei ihnen und bisher nicht gerade durch außerordentliche Gedächtnisleistungen aufgefallen.

„Typisch Frau!“, lachte Gernot. „Vermutlich weiß Christine auch noch, welche Schuhe sie damals getragen hat.“

Christine dachte nur kurz nach, ehe sie zurückgab: „Sicher. Ich hatte dunkelblaue Mokassins aus Wildleder, mit einer goldenen Spange. Todschick, kann ich euch sagen.“

Daniel schüttelte verblüfft den Kopf und verabschiedete sich eilends.

„Vergiss nicht, morgen nach Bad Brunn zu fahren!“, rief Christine ihm nach.

„Du traust ihm auch alles zu“, grinste Gernot.

„Schon.“

Lächelnd trat er ans Fenster: „Das war’s dann mit unserem Großstadtbüro, ab morgen genießen wir den unwiderstehlichen Charme von Bad Brunn. Ich bin übrigens sehr froh, dass du mitkommst, obwohl du in Zukunft einen deutlich längeren Arbeitsweg haben wirst.“

„Was sollte ich sonst tun?“, gab Christine flapsig zurück. „Zumindest kann ich ab morgen ohne schlechtes Gewissen mit dem Auto ins Büro fahren – nach Bad Brunn fährt zum Glück keine U-Bahn.“

„Seit wann macht Autofahren dir ein schlechtes Gewissen? Ich dachte immer, es macht dir Spaß.“

„Eben – und weil nach Bad Brunn keine U-Bahn fährt, kann meine Tochter mir nicht mehr vorhalten, wie gedankenlos ich mit der Umwelt ihrer Kinder umgehe.“

„Hat sie denn schon welche?“

„Gott behüte! Dieser Umweltfuzzi, mit dem sie zurzeit Tisch und Bett teilt, wäre auch ein denkbar ungeeigneter Erzeuger.“

„Umweltfuzzis können doch auch recht wertvoll sein.“

„Nicht, wenn sie soziale Gerechtigkeit predigen und dabei ganz ungeniert von der Kohle ihrer Eltern leben“, antwortete Christine und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Sie checkte die eingegangenen Mails und entschied: „Kann alles bis morgen warten. Wenn sonst nichts mehr ansteht, pack ich’s dann auch.“

„Mach das. Ich komme morgen etwas später. Um acht übergebe ich die Wohnung, um neun treffe ich mich hier mit Doktor Neubauer.“

„Ich weiß. Vergiss bitte nicht auf den Safeschlüssel, er hat mich deswegen extra noch einmal angerufen.“

„Sicher war er untröstlich zu hören, dass er mit mir vorliebnehmen muss“, scherzte Gernot. Es war ihm nicht entgangen, dass der Verwalter schon seit einiger Zeit ein Auge auf Christine geworfen hatte. Offenbar ohne besonderen Erfolg, denn Christine schnitt eine Grimasse und ging. Komisch eigentlich, dachte Gernot, während er seine Schreibtischutensilien zusammenpackte. Der Verwalter müsste doch genau ihr Typ sein. Er sah gut aus, fuhr ein schnittiges Auto – und Humor musste er bei seinem Beruf wohl auch haben.

Dann trat Gernot auf den winzigen Balkon und genoss noch einmal den Blick auf den Donaukanal und das bunte Treiben in der Fußgängerzone. Es war einer der ersten lauen Abende dieses Frühlings, der sich bisher eher kalt und regnerisch gezeigt hatte. Auch jetzt waren die kleinen Schanigärten vor den Lokalen noch voll besetzt.

Er gab dieses Büro höchst ungern auf, denn der Standort passte ebenso perfekt wie das Ambiente. Ein Dachgeschossatelier in der Innenstadt war immer sein Traum gewesen, und dieses hier war noch dazu erschwinglich gewesen.

Ausgeträumt.

Ausgeträumt, wie alles andere auch.

Nun also Bad Brunn. In einer Kleinstadt zu leben, war nicht gerade sein sehnlichster Wunsch, aber wie sonst sollte er seine Arbeit und die Sorge um Lea unter einen Hut bringen – und dass er sich um Birgits Tochter kümmern würde, stand außer Zweifel.

Wie immer, wenn er an Birgit dachte, schnürte ihm der Schmerz die Kehle zu. Er ging zurück in sein Büro und betrachtete ihr Bild, das immer noch mit einem Trauerflor auf seinem Tisch stand.

Warum nur? Warum musste ausgerechnet sie diesem Besoffenen in die Quere kommen? Ausgerechnet Birgit, die als Notärztin mehr als nur ein Menschenleben gerettet hatte. Es war so ungerecht! Mit einer liebevollen Geste fuhr er über ihr lächelndes Gesicht. Dann wischte er sich die Tränen aus den Augen, steckte das Foto in seine Aktentasche, schloss die Balkontür und machte sich auf den Weg in die nur wenige Gehminuten entfernte Wohnung.

Ihr gemeinsames Nest. Er hatte es gemeinsam mit Birgit bezogen. Morgen würde er es ebenfalls verlassen. Wenn schon, denn schon. Es sollte ein ordentlicher Schnitt sein und ein Schritt in ein neues Leben. Ein Leben, das er nun ohne Birgit führen musste. Dafür mit einer pubertierenden Stieftochter und einer gebrochenen Schwiegermutter. Aber was sollte er machen, die beiden hatten doch nur noch ihn.

 

***

 

Wenige Minuten später war er zu Hause. Obwohl, ohne Birgit war es kein Zuhause mehr. Achtlos warf er seine Aktentasche auf die Anrichte im Flur und ging in die Küche, um sich aus den vorhandenen Resten eine Omelette zu machen. Um die Küche tat es ihm leid, er hatte sie mit so großer Sorgfalt eingerichtet, aber seine neue Wohnung würde frühestens in einem Jahr fertig werden. Zum Glück hatte er einen Nachmieter gefunden, der bereit war, die Küche und einen Großteil der Möbel zu übernehmen.

Was hatten sie sich über ihre erste gemeinsame Wohnung gefreut. Voller Eifer hatten sie alles geplant, waren Hand in Hand durch die Möbelhäuser gepilgert und hatten jedes Stück sorgfältig ausgesucht. Die Wohnung war eine gelungene Mischung aus Style und Gemütlichkeit geworden – aber ohne Birgit bedeutete ihm das alles nichts mehr.

Jetzt, ohne all die persönlichen Gegenstände, wirkte sie allerdings ziemlich kühl. Hier allein zu essen, versetzte ihn in ziemlich düstere Stimmung, obwohl die Omelette ganz ordentlich schmeckte. Wie immer in den letzten Monaten versucht er, sich auf das Naheliegende zu konzentrieren, und überlegte, ob er noch einmal sein Notebook starten oder sich ausnahmsweise einen Fernsehabend gönnen sollte.

Seine Arbeit hatte ihm über manches hinweggeholfen; sie war mehr gewesen als nur eine Beschäftigung, die ihn ganz gut ernährte. Ohne Arbeit, ohne Lea und ohne Dorothea, Birgits Mutter, hätte er die letzten Monate nicht überstanden. Sie hatten miteinander geweint und einander Trost gegeben.

Schwer zu sagen, wen es am härtesten getroffen hatte. Das Kind, die Mutter oder ihn?

Für Lea war es natürlich eine Katastrophe, die Mutter zu verlieren, aber sie war jung und voller Pläne.

Ganz anders Dorothea, die erst wenige Monate zuvor ihren Mann hatte begraben müssen. Sie hatte weder Hoffnung noch Pläne, aber um Leas willen stand sie Tag für Tag auf und versuchte, ein einigermaßen normales Leben zu führen.

Für ihn selbst war es der härteste Schlag seines Lebens gewesen – zwei Wochen später hätten sie geheiratet. Juristisch betrachtet war er nicht einmal Leas Stiefvater, doch das machte keinen Unterschied. Nicht für ihn und nicht für seine Prinzessin. Er kannte sie seit dem Tag, an dem er Birgit kennengelernt hatte, und er war von Anfang an ihr Daddy gewesen – einen anderen kannte sie nicht.

Gernot öffnete das Fenster, zündete sich ausnahmsweise eine Zigarre an und lehnte sich entspannt zurück. Er erinnerte sich an das erste Zusammentreffen mit den beiden, als ob es gestern gewesen wäre.

Sein Neffe Thimo hatte Erstkommunion gefeiert. Bei der anschließenden Agape, zu der alle Verwandten und Freunde in den Pfarrsaal gebeten worden waren, war er mit Birgit ins Gespräch gekommen, weil Lea und Thimo, die damals ziemlich unzertrennliche Freunde gewesen waren, unbedingt gemeinsam zum Mittagessen gehen wollten.

Die Erinnerung zauberte noch heute ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hatte die Situation gerettet, indem er vorgeschlagen hatte, man könnte sich doch nach dem Essen wieder treffen – vielleicht zu einem Spaziergang und einer Tasse Kaffee. Was für ein grandioser Gedanke! Sein Schwager, dieser Wichtigtuer, hatte ja gemeint, die beiden würden es wohl überleben, einander erst am nächsten Tag wieder zu treffen, aber er war dabei geblieben, denn Birgit hatte ihm auf Anhieb gefallen. Bei Lea hatte ihm dieser Geistesblitz gleich zu Beginn einen Pluspunkt eingebracht. Ein gelungener Start.

Es folgten drei wunderschöne Jahre, die schönsten Jahre seines Lebens, bis der Unfall ihrem Glück ein jähes Ende bereitet hatte.

Sechs Monate war das nun her.

Nach dem Begräbnis war Lea zu ihrer Großmutter nach Bad Brunn gezogen. Er war diesem Umzug skeptisch gegenübergestanden, aber im Grunde gab es keine andere Lösung. Die Großmutter wollte um keinen Preis nach Wien übersiedeln, und er hatte einfach zu wenig Zeit, um sich allein um ein knapp zwölfjähriges Mädchen zu kümmern. Abgesehen davon war nicht ganz sicher, was das Jugendamt dazu gesagt hätte. Und für Dorothea war es auch die beste Lösung gewesen.

Erstaunlicherweise schien Lea die neue Umgebung gutzutun. Dennoch hatte sie ihn ständig bestürmt, doch zu ihnen zu kommen, da es allein mit Oma einfach doof sei. Doof, sagte sie, und meinte doch traurig.

Er war gerne zu ihnen gefahren – gemeinsam mit Lea und Dorothea fühlte er sich Birgit irgendwie näher. Eines Abends hatte er auch dort übernachtet, das Haus, eine stattliche Villa am Rande von Bad Brunn, war schließlich groß genug. Dorothea hatte ihm bald danach angeboten, zu ihnen in die Villa zu ziehen, aber das war – bei aller Liebe – für ihn nicht in Frage gekommen.

Dann erzählte Dorothea ihm von einem Haus am Stadtplatz, mit ausbaufähigem Dachboden und leerstehendem Büro, das zum Verkauf stünde. Er könnte es sich doch einmal ansehen.

Der Erhaltungszustand war gut und das Büro hatte genau die passende Größe. Am besten aber gefiel ihm der darüberliegende Dachboden. Dachbodenausbau war sein Steckenpferd, und die Blicksituation schien ihm ausnehmend gut. Er setzte sich also mit dem Eigentümer in Verbindung und erkundigte sich nach dem Preis. Auch der schien akzeptabel.

Das traf sich gut, denn seine Eltern waren ohnehin auf der Suche nach einem sicheren Investment. Sie hatten ihr Haus verkauft und waren in eine Seniorenresidenz gezogen. Welches Investment war sicherer als ein anderes Haus – noch dazu eines, das er zum Teil selbst nutzen würde? In seiner Wohnung, in der ihn jeder Zentimeter an Birgit erinnerte, war ihm ohnehin die Decke auf den Kopf gefallen.

Nie und nimmer wäre er auf Dauer bei seiner Schwiegermutter eingezogen – mochte sie noch so entgegenkommend und die Villa noch so groß sein. Als Übergangslösung und auf die Bauzeit beschränkt, schien es ihm hingegen eine gute Lösung, und der Gedanke, in Bad Brunn gänzlich neu anzufangen, hatte letztlich den Ausschlag gegeben.

Ob das klug gewesen war? Müßig, jetzt darüber nachzudenken. Er stand auf, räumte das Geschirr in den Geschirrspüler und schaltete den Fernsehapparat ein. Die Würfel waren gefallen, jetzt würde er das Beste daraus machen.

 

2. Ein neuer Tag

 

Christine war kein begnadeter Morgenmensch, aber diesmal war sie früher als notwendig wach geworden. Im Geist ging sie die To-do-Liste des Tages durch und beschloss, besser gleich aufzustehen.

Sie machte sich eine Tasse Tee, trottete seufzend unter die Dusche, kam putzmunter wieder heraus, wählte wegen der bevorstehenden Plackerei Jeans und Pullover, verbrachte dennoch ein paar nachdenkliche Minuten vor dem Schuhkasten und entschied sich dann für knallrote Ballerinas. Dann trank sie ihren Tee, aß ein paar Haferkekse und machte sich auf den Weg.

Laut Navi hätte sie für die Strecke nach Bad Brunn 30 Minuten brauchen sollen, tatsächlich wurde es dann eine knappe Stunde. Dennoch blieb ihr noch Zeit, um in diesem tollen Feinkostladen einzukaufen, der ihr schon aufgefallen war, als sie das Büro zum ersten Mal besichtigt hatten. Sie parkte ihren Wagen auf einem der mitgemieteten Parkplätze im Hof und machte sich auf den Weg. Es waren ohnehin nur ein paar Schritte, einmal schräg über den Stadtplatz, der nicht nur wegen des Brunnens in zahlreichen Reiseführern erwähnt wurde. Auch die Häuser, teils mit Erkern, Balkonen und geschwungenen Giebeln, waren ebenso alt wie gut erhalten, mit gegliederten, in unterschiedlichen Farben gestrichenen Fassaden. Das Haus, in dem ihr neues Büro untergebracht war, dominierte eine der Breitseiten des Platzes; links und rechts schmiegte sich je ein kleineres Haus daran.

Als Christine den Laden betrat, waren eine resolute Mittvierzigerin und ein etwas hilflos wirkender Jüngling eben dabei, eine Horde von Schülern abzufertigen. Christine nutzte die Zeit, um sich umzusehen und zu überlegen, womit sie dem ersten Tag im neuen Büro gerecht werden konnte. Sie entschied sich für handgeschnittenen Beinschinken, Eiaufstrich, Radieschen und frische Brezen, weil Gernot die ebenso gerne mochte wie sie selbst. Nach fünfzehn Jahren gemeinsamer Arbeit wusste man eben Bescheid.

Die Schüler waren versorgt, der junge Mann war ins Kühlhaus geschickt worden, um Trüffelsalami zu holen – endlich kam sie an die Reihe. Während die Verkäuferin sich routiniert dem Schneiden des Beinschinkens widmete, betrat eine Dame in Jeans und Trachtenjacke das Geschäft.

„Ah, die Frau Doktor“, tat die Mittvierzigerin erfreut. „Ein Schinkensemmerl, Frau Doktor?“

Frau Doktor nickte.

„Haben Sie’s wieder eilig, gell? Warten S’, des hamma gleich“, meinte die resolute Dame, nahm kurzerhand den soeben für Christine vorbereiteten Schinken, schob ihn in eine flugs durchgeschnittene Semmel, fügte ein Gurkerl und eine Scheibe Käse hinzu und überreichte der Frau Doktor das Ganze schön eingepackt und mit einem freundlichen Lächeln. Frau Doktor zahlte, dankte und ging, während Christine mit offenem Mund dastand und vergeblich nach Worten suchte – was eher selten vorkam.

Ohne ein Wort der Entschuldigung wandte die Verkäuferin sich wieder dem Schinken zu. So lief das also in Bad Brunn.

 

***

 

Mittag war längst vorbei, als Christine und Gernot sich endlich eine Pause gönnten. Daniel hatten sie mit seinem Laptop nach Hause geschickt, nachdem er sich erst beim Öffnen eines Kartons geschnitten und anschließend beim Aufstellen seines Schreibtischs einen Finger eingeklemmt hatte.

„So etwas Ungeschicktes!“, ärgerte sich Christine.

„Er ist eben ein echter Nerd“, meinte Gernot gelassen.

Christine nickte. „Das kannst du laut sagen. Als Bautechniker ist er auch keine Leuchte. Wenn er auf dem Computer nicht gar so gut wäre, hätte ich ihn längst erwürgt.“

Da sie die sogenannte Teeküche, die in Größe und Ausstattung einer Wohnküche um nichts nachstand, fertig eingerichtet übernommen hatten, fanden sie dort ein Plätzchen, um sich zum Essen niederzusetzen, und konnten sich sogar eine Tasse von Gernots erlesenem Tee kochen.

„Handgeschnittener Beinschinken und Butterbrezen!“, freute sich Gernot beim Anblick von Christines Einkäufen.

„Die Ware ist tadellos, aber die Bedienung etwas gewöhnungsbedürftig“, entgegnete sie und gab ihm eine detailreiche Schilderung ihres morgendlichen Einkaufs.

„Dann scheint mein alter Schulfreund Wilhelm – der ehrenwerte Bürgermeister von Bad Brunn – doch nicht übertrieben zu haben. Er hat mich schon bei unserem ersten Zusammentreffen darauf aufmerksam gemacht, dass die Sitten und Gebräuche hier möglicherweise ein wenig anders sein könnten, als wir das gewöhnt sind.“

Christine nickte kauend. „Da ist was dran!“

Gernot biss in ein knackig-frisches Radieschen, ließ Beinschinken und Brezel folgen und sinnierte: „Schon witzig, dass ich ihn hier, nach all den Jahren, wiedergetroffen habe. Apropos, machst du mir bitte für nächste Woche einen Termin mit ihm wegen des Planwechsels für den Neubau Waldweg 27A und der Baubewilligung für mein Dachgeschoss.“

Christine, die wie immer einen Block bei sich hatte, machte sich eine entsprechende Notiz. „Hast du denn die Pläne fürs Dachgeschoss schon fertig?“

„Noch nicht ganz, aber ich habe ja noch das Wochenende. Wir könnten auch gleich die Hausbewohner wegen des Begehungstermins für die Beweissicherung anschreiben. Wilhelm hat mir versprochen, die Sachen zügig zu erledigen, und ich möchte so bald wie möglich mit den Ausbauarbeiten loslegen.“

„Du kannst es wohl nicht erwarten, hier einzuziehen. Dabei dachte ich, Lea und deine Schwiegermutter sind froh, dass du vorerst bei ihnen wohnen wirst.“

„Vorerst sind sie ja auch froh – aber warte nur, wie froh sie erst sein werden, wenn ich wieder ausziehe!“, meinte er zwinkernd.

Das konnte sie sich zwar nicht vorstellen, aber im Moment war es wohl besser, den Mund zu halten. Die Hauptsache war, dass Gernot wieder Pläne machte, und solange er sich um den Ausbau kümmerte, hatte er keine Zeit, um Trübsal zu blasen und in Melancholie zu versinken.

„Hast du schon ein Einstandsgeschenk für deine zukünftigen Mitbewohnerinnen?“

Er sah sie fragend an.

„Also nicht. Dann würde ich doch dringend empfehlen, auf dem Heimweg noch in der Blumenhandlung vorbeizuschauen.“

 

 

3. Ab nun wird alles besser

 

Was für ein aufmerksamer Mann, dachte Dorothea, als Gernot am Abend mit zwei Blumensträußen den Salon betrat. Ein fröhliches Biedermeiersträußchen für Lea und ein Strauß in den Farben Rosa bis Violett für sie selbst. Lea begrüßte Gernot stürmisch und eilte davon, um Vasen zu holen.

„Willkommen im neuen Heim“, sagte Dorothea, „wenn es auch nur auf kurze Zeit ist.“

„Ein Jahr werdet ihr mich schon ertragen müssen.“

„Solange du möchtest, das weißt du, aber ich wiederhole mich. Dabei stünde es mir besser an, in der Küche nach dem Rechten zu sehen.“

„Ich hoffe, du hast dir keine Umstände gemacht!“

„Keine Bange, ich kenne meine Talente. Kochen gehört leider nicht dazu. Ich habe uns ein paar Brote gerichtet, ich hoffe, das ist dir recht.“ Dann stemmte sie sich aus dem Sessel und setzte hinzu: „Wenn nicht, kann ich es übrigens auch nicht ändern.“

Gernot öffnete ihr lächelnd die Tür zur Küche. „Selbstverständlich ist es mir recht. Kann ich noch etwas tun?“

„Oh ja, du könntest uns ein Bier aus dem Keller holen. Für Lea steht ein alkoholfreier Radler im Eis, ihr neues Lieblingsgetränk. Schmeckt angeblich cool.“

Während des Abendessens erzählte Lea von der Schule und Gernot von den ersten Erlebnissen in Bad Brunn. Eigentlich ganz gemütlich, fand Dorothea, vorausgesetzt, man konnte vergessen, warum sie nur zu dritt hier saßen. Wie immer, wenn sie sich in Leas und Gernots Gegenwart wohl- und entspannt fühlte, beschlich sie ein irrwitziges Gefühl von Schuld. Schuld, dass sie hier mit den Menschen Zeit verbrachte, die ihrer Tochter das Liebste gewesen waren. Zeit, die Birgit nicht gegönnt worden war. Wer sollte so etwas verstehen können?

Dass ihr Mann ihr vorausgegangen war, hatte Dorothea unendlich traurig gemacht, aber sie war darauf vorbereitet gewesen und hatte es verstanden – immerhin war er fast neunzig geworden. So war das Leben. Geburt und Tod gehörten zusammen wie Tag und Nacht. Aber welcher Sinn mochte dahinterstecken, wenn ein lebensfroher Mensch wie Birgit mit 38 Jahren aus dem Leben scheiden musste? Ausgerechnet wegen eines Besoffenen – und zu einer Zeit, zu der sie rundum glücklich gewesen war. Das wollte und konnte sie nicht verstehen. Wie schon öfter in letzter Zeit erfassten sie eine unendliche Müdigkeit und ein leichter Schwindel. Sie wünschte sich nur noch in die Stille ihres Schlafzimmers und hörte kaum, was am Tisch gesprochen wurde. Wie gut, dass sie jetzt nicht mit Lea allein war. Der Gedanke gab ihr Kraft, der Schwindel ebbte ab.

„… hallo, Oma!“, hörte sie Lea rufen.

„Entschuldigt, ich war in Gedanken.“

„Wir haben gerade darüber gesprochen, dass ich im Büro eine Eröffnungsparty machen möchte. Einerseits, um unseren Kunden zu zeigen, wie und wo wir ab nun für sie arbeiten. Andererseits möchte ich auch ein paar Bad Brunner einladen, aber außer dem Bürgermeister und dem Notar kenne ich noch kaum jemanden.“

„Wenn du sie nicht kennst, musst du sie auch nicht einladen“, entgegnete Dorothea und hievte sich aus dem Fauteuil.

„Außerdem wirst du sie früh genug kennenlernen, glaub mir. Was mich betrifft, so gehe ich jetzt zu Bett. Gute Nacht, ihr beiden.“

Während sie langsam die Treppe in ihr Schlafzimmer hinaufstieg, ging ihr durch den Kopf, dass so eine Eröffnungsparty doch eine ganz nette Abwechslung sein konnte. Und hatte Gernot nicht vorhin gesagt, er würde am Wochenende für sie kochen? Na bitte, wenigstens etwas Erfreuliches!

 

***

 

Obwohl Dorothea vorhin unendlich müde gewesen war, konnte sie nun nicht einschlafen, doch auch das war nichts Neues. Während sie versuchte, eine Stellung zu finden, in der ihre Rückenschmerzen etwas nachließen, überlegte sie, ob es egoistisch gewesen war, Gernot zur Übersiedlung nach Bad Brunn zu überreden. Das Leben in einer Kleinstadt mochte seine Vorteile haben, aber es hatte auch Nachteile – und ob es gerade für einen Stadtmenschen wie ihn das Richtige war?

Sie erinnerte sich an ihre erste Zeit in Bad Brunn vor mehr als dreißig Jahren. Ihr Mann Alexander war gerade sechzig geworden und hatte beschlossen, zwar noch nicht in Pension zu gehen, aber doch etwas kürzer zu treten. Sie selbst wäre ja gerne mehr gereist, aber Alexander war kein Freund von Hotelbetten. Also hatten sie ein Haus im Umland von Wien gesucht, um die Wochenenden und ab und zu ein paar freie Tage dort zu verbringen. In Bad Brunn waren sie dann fündig geworden. Die alte Villa hatte zwar komplett saniert werden müssen, aber als Hausverwalter hatte Alexander gute Kontakte zu Handwerkern gehabt, außerdem konnten sie das Haus ganz nach ihren Wünschen und Vorstellungen herrichten. Birgit hatte ja immer gefunden, es wäre ein wenig plüschig geraten, aber ihnen hatte es gefallen.

Erst als sich Alexander nach einem Herzanfall endgültig aus dem Geschäft zurückgezogen hatte – er war schon fast achtzig gewesen, dennoch war es ihnen beiden ausgesprochen schwergefallen –, waren sie ganz hierhergezogen und hatten das Obergeschoss neu adaptiert, für Birgit und Lea. Die beiden hatten viele Wochenenden hier verbracht, und Lea war in den Ferien fast immer bei ihnen gewesen. Anders als sie selbst, hatte die Kleine sofort Anschluss gefunden. Zum Glück – so hatte sich im vergangenen Herbst zumindest der Wechsel nach Bad Brunn für sie nicht allzu schwierig gestaltet.

Leas Erzeuger hatten sie nie zu Gesicht bekommen. Birgit hatte ihn auf einer Kongressreise in den Staaten kennengelernt. Auf dieser Reise war auch Lea entstanden. Leider war der Herr Professor schon verheiratet und gar nicht begeistert gewesen, als Birgit ihm von den Folgen der Reise berichtet hatte. Immerhin hatte er monatliche Zahlungen angeboten. Alexander aber hatte nur gesagt: „Das fehlte gerade noch. Vergiss ihn!“

Das hatte Birgit dann wohl auch getan. Ob es ihr schwergefallen war? Komisch, sie hatten nie darüber gesprochen.

Langsam spürte Dorothea, wie ihre Augenlider schwerer und schwerer wurden. Nächstens musste sie den beiden noch erzählen, wie das damals so gewesen war, als sie nach Bad Brunn gekommen waren. Damals, als man ihnen …

 

***

 

Beim ersten gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen fragte Gernot: „Ich bin gestern an einem Zucht- und Reitstall Müllner vorbeigekommen. Hat der etwas mit meinem alten Schulfreund Wilhelm zu tun?“

„Er gehört ihm, besser gesagt seiner Frau. Genau genommen hat er eingeheiratet“, antwortete Dorothea und schenkte sich Kaffee nach.

„Sieht nach einem ziemlich großen Betrieb aus.“

„Das ist er auch, und tadellos geführt, sagt man. Ich verstehe ja nichts davon, aber die Enkelin von Frau Stetten, unserer Nachbarin, hat ihr Pferd dort eingestellt, und Frau Stetten ist voll des Lobes.“

„Warum darf ich dann keine Reitstunden nehmen?“, mischte sich Lea ins Gespräch. „Sarah reitet auch.“

„Darfst …“, Gernot brach ab. Darfst du doch, hatte er sagen wollen, aber dann hatte er gerade noch rechtzeitig Dorotheas drohenden Blick aufgefangen. Nun sagte er stattdessen: „Darf ich noch etwas Kaffee haben?“

Er selbst war zwar schon lange nicht mehr geritten, aber er konnte Leas Wunsch gut verstehen. Er fand es im Übrigen auch eine gute Idee, doch musste er sich in diesen Dingen erst mit Dorothea abstimmen. Das würde sich alles finden.

„Bist du eigentlich auch der Meinung, dass Reiten gefährlich ist?“, fragte Lea. Kleine Schlange, sie wusste doch, dass er reiten konnte. Da war nun Diplomatie gefragt.

Er sah auf die Uhr. „Ich bin vor allem der Meinung, dass wir das ein anderes Mal besprechen sollten. Ich muss jetzt los und wenn du mitfahren willst …“

„Bin schon fertig“, rief Lea, biss noch einmal von ihrer Semmel ab und drückte Dorothea einen Kuss auf die Wange.

 

 

4. Der Bürgermeister

 

Die Finger von Wilhelm Müllners linker Hand trommelten nervös auf die Schreibtischplatte, während er mit der rechten den Telefonhörer hielt. In fünf Minuten begann die Gemeinderatssitzung und seine Frau Xenia erzählte ihm nun seit geschlagenen zehn Minuten, dass ihr Sohn auch zu Pfingsten nicht nach Hause kommen wollte.

„… und alles nur wegen dieser Carla!“, hörte er sie eben sagen.

„Na, dann soll er Pfingsten halt mit dieser Carla verbringen. Davon geht die Welt doch auch nicht unter.“

„Das kannst du nur sagen, weil dir die Familie vollkommen egal ist. Mir ist sie aber nicht egal. Entweder …“

Er wusste genau, was jetzt kommen würde: Entweder Jürgen kam Pfingsten nach Hause, oder sie würde ihm die monatlichen Zuwendungen kürzen. Und das nannte sie dann Verantwortungsbewusstsein und Familiensinn – alles Dinge, die ihm angeblich fehlten. Er nannte das Erpressung.

„Weißt du was, mein Schatz, mach doch einfach, wie du glaubst. Ich muss jetzt in die nächste Sitzung. Servus.“

Zack, aufgelegt. Jetzt war sie sicher wieder beleidigt, aber das konnte er im Moment auch nicht ändern. Und um Jürgen musste er sich nun wirklich keine Sorgen machen – dem wurde ja immer viel rascher verziehen, der würde seine Mutter schon um den Finger wickeln. Er schnappte seine Unterlagen und machte sich auf den Weg in den Sitzungssaal.

 

***

 

Während die Damen und Herren des Gemeinderats darüber stritten, ob die beiden Wahllokale bei der kommenden Gemeinderatswahl wie bisher um 12 oder doch erst um 14 Uhr schließen sollten, was Wilhelm herzlich egal war, freute er sich, dass alle Fraktionen der von ihm vorgeschlagenen Begrenzung der Wahlkampfkosten zugestimmt hatten, was – die Inflation miteingerechnet – einer Kostensenkung von etwa zehn Prozent gleichkam. Das ließ sich politisch sicher gut verkaufen. Außerdem war ihm der Chef des Bad Brunner Blattes noch einen Gefallen schuldig. Das sollte sich günstig auf die Insertionskosten seiner Partei auswirken, sodass die Beschränkung für sie kaum spürbar werden würde.

Bundespolitisch lief es im Moment auch ganz passabel, aber das konnte sich bekanntlich schnell ändern. Der Landeshauptmann hatte ihm ebenfalls seine Unterstützung zugesagt. Alles in allem standen Wilhelms Chancen nicht schlecht, wiedergewählt zu werden. Beim letzten Mal hatten sie eine satte Mehrheit eingefahren, sodass die absolute Mehrheit selbst bei geringen Verlusten möglich schien.

Endlich hatten sie sich darauf geeinigt, die Wahllokale um 13 Uhr zu schließen. Na bravo, das nannte man vermutlich einen gelungenen politischen Kompromiss. Erbsenzähler.

„Kommen wir also zum Punkt Allfälliges“, fuhr Wilhelm fort. „Aus meiner Sicht wäre da zu berichten, dass es beim Schulhaus wiederholt zu Putzabblätterungen gekommen ist. Eine neue Fassade scheint unausweichlich. Ich habe bereits das Architekturbüro Beranek mit der Erstellung der Ausschreibungsunterlagen beauftragt. Wenn die flott sind, was Gernot Beranek mir versprochen hat, können wir so rechtzeitig ausschreiben, dass die Arbeiten noch vor dem Winter erledigt werden können.“

„Wer, bitte sehr, ist das Architekturbüro Beranek?“, wollte Gustav der Klugscheißer, wie Wilhelm den Mann der Gemeindeärztin insgeheim nannte, wissen.

„Das ist das neue Architekturbüro am Stadtplatz“, entgegnete er knapp.

„Wäre es nicht besser gewesen, eine ortsansässige Firma mit der Ausschreibung zu beauftragen?“

„Sagte ich nicht eben, dass sie ihren Firmensitz am Stadtplatz haben?“

„Ich präzisiere meine Frage: Ich meinte selbstverständlich, eine seit Längerem ortsansässige Firma.“

„Heiliger Himmel, Gustav, sie bauen nicht die Schule neu auf, sie machen nicht einmal die Fassadensanierung, nur die Ausschreibung für die Fassadensanierung!“, donnerte Wilhelm.

Wie ihm dieser Wichtigmacher auf den Geist ging. Scheinbar hatte er vergessen, dass sie in der gleichen Partei saßen. Diesmal würde er jedenfalls dafür sorgen, dass Gustav einen der hinteren Listenplätze bekam, am besten einen, mit dem er im nächsten Gemeinderat nicht mehr vertreten sein würde.

Eine halbe Stunde später war die Sitzung beendet. Üblicherweise gingen sie nachher immer noch in die Alte Post, eine Gepflogenheit, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte. Das gemeinsame Bier danach ist ebenso wichtig wie die Sitzung selbst, hatte der stets gesagt. Recht hatte er. Über alle Sachkonflikte hinweg mussten sie letztendlich in dieser Stadt zusammenleben – und da die Stadt nicht allzu groß war, war es angenehm, nicht an jeder Ecke einen Feind zu treffen. Dennoch fragte er sich, ob es heute nicht klüger wäre, gleich nach Hause zu fahren. Während er noch überlegte und dabei gewohnheitsmäßig auf sein Handy sah, fand er Xenias SMS:

Heute kein Abendessen, Gymnastikkurs. X

Na prima! Dann konnte er wenigstens noch gemütlich auf ein Bier gehen und dabei etwas Vernünftiges essen. Seit Xenia mit Georgine, der Apothekerin, so dick befreundet war, häuften sich daheim ohnehin die Gemüseaufläufe. Rasch tippte er:

No problem, W

und machte sich auf den Weg ins Gasthaus.

 

***

 

Wilhelm hatte sich ein Ratsherrnpfandl schmecken lassen und ein Weizenbier dazu getrunken. Ein kleines würde er sich noch genehmigen, dann war’s gut für heute. Während er seine Bestellung aufgab, fragte Gustav: „Was weiß man eigentlich von diesem neuen Architekten? Gibt es da Referenzen?“

„Du, so neu ist der gar nicht. Gernot Beranek ist mein Jahrgang, der hat schon eine ganze Menge gebaut.“

„Und dabei offenbar eine ganze Menge Geld verdient“, fuhr Poldi, die Abgeordnete der Grünen und Inhaberin des Vitalladens, dazwischen. Es klang irgendwie nicht nach Anerkennung.

„Ist das schlecht?“, fragte Wilhelm. „Du tauschst deine Kohlköpfe ja auch gegen Geld.“

„Ich kann mir davon allerdings keine Häuser kaufen“, keifte Poldi.

„Bei deinen Preisen wundert mich das allerdings“, versetzte Gustav. „Das Basilikum, das ich neulich bei dir gekauft habe, war um fünfzig Cent teurer als im Supermarkt.“

„Dafür ist es frisch und schmeckt nach Basilikum. Geht die Praxis von der Betsi so schlecht, dass du dir mein Basilikum nicht mehr leisten kannst?“

„Mach dir nur keine Sorgen um unsere Praxis, die geht hervorragend, und seit ich den kaufmännischen Teil übernommen habe, kommen sogar die längst fälligen Honorare herein. Aber deswegen muss ich mein Geld ja nicht beim Fenster hinauswerfen“, antwortete Gustav würdevoll.

Angeber, dachte Wilhelm. Was hieß schon sein Geld? Betsi verdiente doch die Kohle. Sie war eine hervorragende Ärztin – ohne sie konnte er einpacken, der Herr Wichtigmacher.

„Um auf den Architekten zurückzukommen … du hast meine Frage nicht beantwortet. Was hat der Mann vor? Man hört ja alles Mögliche“, beharrte Gustav.

„G’redt wird viel. Frag ihn. Er hat doch alle Honoratioren der Stadt zur Büroeröffnung eingeladen. Euch etwa nicht?“

„Doch, hat er. Ich glaube allerdings kaum, dass wir hingehen. Wir kennen ihn ja nicht.“

„Geh halt hin und lern ihn kennen. Wie ich Beranek kenne, ersparst dir das Mittagessen“, entgegnete Wilhelm. Dann zahlte er seine Rechnung und fuhr nach Hause. Für heute hatte er genug.

 

***

 

„Also, ich finde das unerhört!“, ereiferte sich Xenia am nächsten Morgen.

„Was genau?“, fragte Wilhelm mit mäßigem Interesse, schenkte sich Kaffee nach und blätterte seine Zeitung um.

„Dieser neue Architekt, dein Schulfreund, will alle aus dem Haus haben.“

Wilhelm legte die Zeitung zur Seite. „Das schaut dem Gernot gar nicht ähnlich. Wie kommst du darauf?“

„Georgine hat es mir gestern Abend erzählt. Ihre Schwester, die Claudia, hat doch ihre Boutique in seinem Haus, und die hat bereits ein Schreiben bekommen wegen einer Begehung.“

„Und daraus schließt sie jetzt, dass sie gekündigt werden soll? Das nenn ich kühn.“

„Wozu sonst sollte so eine Begehung gut sein? Sicher will er sie mit einem lächerlichen Betrag abspeisen, man kennt das ja. Aber ich habe ihr gleich gesagt, sie soll auf keinen Fall etwas unterschreiben. Ich meine, die Lage ist für ihre Boutique doch phantastisch, wenn sie auch eine aberwitzig hohe Miete dafür zahlt.“

„Wenn sie eine aberwitzig hohe Miete zahlt, wäre er ja schön blöd, wollte er sie kündigen“, meinte Wilhelm und nahm seine Zeitung wieder auf.

„Du könntest dich ruhig etwas mehr um deine Wähler kümmern“, schnappte Xenia, während sie bereits begann, den Tisch abzuräumen.

Wilhelm nickte. „Mach ich. Sag ihr, wenn sie den Delogierungsbescheid in Händen hält, kann sie sich gerne an mich wenden. Außerdem hätte ich gerne noch einen Schluck Kaffee.“

Er hörte Xenia verächtlich schnaufen. Scheibenkleister. Eigentlich wollte er sie doch friedlich stimmen. Das musste jetzt wohl bis zum Abend warten.

 

 

 

5. Vorbereitungen

 

Als Gernot, gefolgt von einigen Handwerkern, die Boutique Claudias Chic betrat, war das Geschäft leer. Kein Wunder. Er hatte im Vorbeigehen schon mehrfach die ausgefallenen Modelle betrachtet und festgestellt, dass sie nicht ganz billig waren. Die Dame in der orangen Hose und dem braunen Pullover musste Claudia Hofer sein, die Besitzerin. Sie hatte mahagonirot gefärbtes Haar, das zum Mittelscheitel hin orange wurde. Christine hatte sie ziemlich treffend beschrieben: „Sie sieht aus, als wäre ihr ein Farbbeutel auf den Kopf gefallen“. Stimmte. Immerhin passten die hautenge Hose und der braune Pulli, der ständig über die rechte Schulter rutschte, farblich genau zum Haar. Nur die Schuhe störten Gernots Sinn für ein harmonisches Farbenspiel. Sie waren grün. Grasgrün.

„Sie wünschen?

---ENDE DER LESEPROBE---