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Es sollte ein Abenteuer-Urlaub werden, ein „Abenteuer-Ferien-Trip“, und tatsächlich war schon die Reise nach La Roca aufregend und abenteuerlich. Dann aber, angelangt auf dieser entlegenen Insel, befindet sich Falko, der 12-jährige Held, eines Nachmittags mit einer Blende vor den Augen, geknebelt und gefesselt, offenbar in einem Höhlenlabyrinth und fragt sich unter jähem Entsetzen: Was, wenn das kein Spaß ist, kein von Paps arrangiertes Abenteuer live? Beetz erzählt eine Geschichte, die hierzulande beginnt und in fremdländische Urlaubsgefilde führt. Dort schlägt die Exotik bald in einen Albtraum um, wird zu einem Abenteuer auf Leben und Tod.
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Seitenzahl: 148
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Impressum
IM DUNKELN
VON ANFANG AN
„NIX START“
ÜBER DEN WOLKEN
FLUGHAFEN GRAN BOSQUEA
TAXI-TRICKS
AM KAI VON SAN ANTÓNIO
AN BORD DER „EL PIRATA“
NOCH IMMER IM DUNKELN
„BALD NU IS WEIHNACHTSZEIT“
„MEINETWEGEN KATERWÄSCHE“
PUERTO ROCO BERÜSSELN
STRANDGEDANKEN
IM DUNKELN DÄMMERT'S
GIMNASIA Y CARNAVAL
PLATZ AN DER SONNE
UNGEWISSER SCHIMMER
„MIR WER'N JA SEHN ...“
AUF EXKURSION
VERDÄCHTIGUNGEN
DISCO-LICHTER
ZUM „OBER-MAFIOSO”
ÜBERRASCHUNGEN
VERDÄMMERN
AUFKLÄRUNG (Anhang)
Dietmar Beetz
E-Books von Dietmar Beetz
Dietmar Beetz
Insel der Piraten
Ein Ferienkrimi
ISBN 978-3-95655-918-1 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Sabine Beck
Das Buch erschien erstmals 2001 im Verlag Edition D. B., Erfurt.
2018 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
http://www.edition-digital.de
Für Carla, Valentin, Gregor und Anton
Nach wie vor weiß Falko nicht genau, ob er nur träumt oder das alles tatsächlich erlebt. Kneifen kann er sich nicht, wenigstens nicht richtig, schreien erst recht nicht; denn die Hände sind ihm gefesselt, und seinen Mund hat man kreuz und quer verklebt.
Auch mit der Sicht ist es so eine Sache. Einer der Piraten hat dem Jungen ein Tuch vor die Augen gebunden, wahrscheinlich einen mehrfach zusammengefalteten Fetzen, in der Eile jedoch - oder vor Aufregung - die Enden nicht allzu straff verknotet. Jedenfalls konnte Falko nach dem Überfall, als er wieder auf den Beinen stand und der erste Schreck sich gegeben hatte, wenn er nach unten sah, einen hellen Streifen und ein Stück von seinem karierten Wollhemd sehn.
Das ist jetzt kaum mehr möglich. Die Blende vor den Augen lässt nur noch einen Schimmer erkennen, einen unruhigen, hin- und herspringenden Schein, der vermutlich von einer Taschenlampe stammt.
Nacht kann es nicht sein, auch nicht Abend. Als sie aufgebrochen sind, Falko und sein Vater, war es kurz nach neun, als sie überrumpelt wurden, noch immer Vormittag, und ohnmächtig geworden ist Falko, obwohl er mit dem Kopf aufschlug, keinen Moment. Also muss der Weg, der am helllichten Tag eine Taschenlampe erforderlich macht, weg vom Tageslicht führen, vermutlich in eine der Höhlen, von denen es auf dieser verkarsteten Insel, wie Falko weiß, jede Menge gibt.
Anfangs ging es über einen Bergpfad, wie der Junge sie von Ausflügen mit seinem Vater her kennt, dann über schräge, leicht abschüssige Steinplatten, dabei aus Mittagssonnenschein hinein in die Dunkelheit. Nun, ein Stück weiter, wird's plötzlich unwegsam.
Bisher wurde Falko mit einem Strick an den gefesselten Händen geführt, außerdem durch kurze Zurufe dirigiert. Da hieß es befehlend mal „Fuß!“, mal „Achtung!“, mal „rechts!“ oder „links!“ - das alles in ein und demselben rauen, leicht heiseren, spanisch akzentuierten Deutsch und, wenn nötig, mit einem entsprechenden Ruck.
Jetzt hört der Junge unvermittelt eine andere Stimme in der Landessprache.
„Alto!“
Er ahnt, dass es gleichfalls ein Kommando ist, wohl „Stopp!“ bedeutet, reagiert aber zu spät und stößt an seinen Vordermann, den Führer.
Die Folge - ein unwilliges, nachträgliches „Halt!“
Dann redet der andere Pirat, vermutlich der Chef der beiden, der eine helle, überraschend melodische Stimme hat. Der zweite, der, dem Falko bislang arglos und - nach dem ersten Schrecken - sogar ein wenig abenteuerdurstig gefolgt ist, er erwidert etwas, das sich nicht gerade begeistert anhört, und plötzlich fühlt sich der Junge gepackt, hochgehoben und wie ein Sack über die Schulter geworfen.
Hehe! versucht er zu schreien. Vergebens. Die Lippen sind ja verklebt.
Sie brennen unter dem Streifen, an dem sie gezerrt haben. Dabei geht es Falko durch den Kopf: Lustig ist das nicht gerade.
Und dann erst, während er davongeschleppt wird, tiefer hinein in die Finsternis, fragt er sich unter jähem Erschrecken: Was, wenn das alles kein Spaß ist, kein von Paps arrangiertes Abenteuer live?
Es sollte ein Abenteuerurlaub werden, ein „Abenteuer-Ferien-Trip“, und tatsächlich war schon der Start, der Aufbruch zu dieser Insel, etwas Besonderes, Aufregendes, eben ein Abenteuer.
So sieht es Falko selbst jetzt noch, obwohl er allen Grund hat, skeptisch zu sein; und so sah er es schon damals, an jenem Morgen vor gut einer Woche, als Mutter, Vater und er das Haus verließen und, beladen mit drei Koffern, zwei Rucksäcken und einer Reisetasche, durch den weißlich schimmernden, frisch gefallenen Schnee stapften.
Das Haus war verschlossen, jedes Fenster, jede Außentür sorgfältig verriegelt, die Alarmanlage eingeschaltet und die Heizung „auf Frostschutz runtergefahren“. Die Reise konnte beginnen - nein, sie hatte bereits begonnen. Für Falko war ihr erster, nicht unwesentlicher Teil der gemeinsame Gang durch den verschneiten Vorgarten, vorbei an der geschwungenen, unberührten Kellergarageneinfahrt zu einem Taxi, das mit Standlicht und laufendem Motor vor dem Gartentor wartete.
Taxifahren, zum Bahnhof, und von dort in einem dieser Wagen, die was vom Passagierraum eines tieffliegenden Jets an sich haben, Richtung Flughafen!
Draußen war Winter, Vorweihnachtszeit, der Mittwoch vor dem offiziellen Ferienbeginn. Für Falko aber, der hier im Warmen saß, in der Frühe eines frostigen, fern heraufdämmernden Dezembertages, für ihn hatten die Ferien bereits begonnen. Die letzten drei Unterrichtstage des alten Jahres waren ihm, dem Gymnasialschüler der 6 a, antragsgemäß erlassen worden, weil, wie es hieß, seine schulischen und außerschulischen Leistungen das ausnahmsweise erlaubten.
So in der Mitteilung des Direktors höchstpersönlich, die von Herrn Schmidt, dem Klassenlehrer, verlesen worden war und die übrigens ein paar gehässige Äußerungen nach sich gezogen hatte.
Bereits während der Verkündung der Worte des Direktors - an den Tischen hinter Falko spöttisches Schnaufen, da und dort auch Getuschel. In der Pause dann die Bemerkung von Petrak, Falkos altem Widersacher: „Der Köppke, das Ausnahmegenie!“
„Was du nur willst?“, erwiderte llka erregt. „Er ist doch tatsächlich gut, besonders in Sport und so!“
„Gut ...“ Petrak schnaufte höhnisch. „Als käm ’s darauf an! Wenn du nicht die richtigen Alten hast ...“
Daran war etwas, leider, und Falko wusste das. Gewiss, seine Leistungen konnten sich sehen lassen, und das sowohl im Mehrkampf bei Schul- oder Kreismeisterschaften wie im Unterricht, Singen und Zeichnen leider ausgenommen. Trotzdem vermutete er selber, dass er die drei Tage Zusatzferien hauptsächlich seinen Eltern zu verdanken hatte, dem Ansehen, das sie genossen - die Mutter als Kinderärztin und vor allem der Vater als Fernsehreporter, der zudem erst neulich wieder in einer spektakulären Talkshow zu bewundern gewesen war.
Hätte Falko Petrak entgegenhalten sollen, dass seine Eltern, seine „Alten“, sich seit vier Jahren keinen Tag gemeinsam hatten „freimachen“ können? Keinen einzigen Tag seit vier Jahren! Dass dieser Urlaub auch gedacht ist als Versuch, Familienbande, die erschreckend locker geworden sind, wieder festzuzurren.
Doch das zu einem wie Petrak, bei dem es, wie gemunkelt wird, daheim ebenfalls knirscht und dessen Vater, ein ehemaliger, zum Wirtschaftskaufmann umgeschulter Diplomingenieur, seit langem arbeitslos ist?
Falko hat nicht mit Petrak gestritten, sich aber geschworen: Wart nur, dir werd ich zeigen, dass ich selber wer bin und was kann!
Hinzu kommt, dass llka ihm auf dem Heimweg ein Versprechen abgenommen hat. llka, die immer so aufgeregt wirkt, wenn es um ihn, Falko, geht oder wenn sie mit ihm spricht.
„Wirst du Dias machen?“, erkundigte sie sich, ohne ihn anzusehen.
„Dias?“, fragte er, in Gedanken noch bei der Attacke von Petrak.
„Na, auf der Insel, wo ihr hinfliegt!“
„Klar“, erwiderte er, obwohl ihm der Sinn ihrer Frage eher unklar gewesen war, und in einer heftigen, ihm nicht ganz verständlichen Wallung fügte er hinzu: „Fotos macht vielleicht mein Alter, Dias und all den Kram, am Ende sogar einen Film. Soll er. Ich knipse hiermit.“ Er wies zu seinen Augen.
Ilka hatte ihn überrascht, ja beinah erschrocken von der Seite her angeblickt. Nun schaute sie wieder vor sich hin. Und erklärte plötzlich: „Prima. Tu das! Und wenn du zurück bist, erzählst du uns, wie's war!“
Dazu ein Blick - diesmal so, dass Falko weggucken musste.
„Mal sehn ...“, sagte er mit unsicherer Stimme.
Mehr versprochen hat er nicht, sich insgeheim aber gelobt, Ilka - sie vor allen anderen - mit einem sensationellen Erlebnisbericht zu überraschen.
Ein wenig hängt er jetzt, im Zug, diesem Gedanken nach. Schaut dabei hinaus in die verschwimmende, noch immer nächtliche Landschaft, zu Schemen aus Schnee und Gesträuch und Gemäuer, zum Bahnhof einer Kleinstadt, die vorbeihuscht, zu Lichtern, umgeben von einer Aureole.
Sensationelles?
Paps und Mom, die beiden schlafen, dösen zumindest in ihren bequem eingestellten Bahn-Jet-Sesseln, sie mit dem Kopf an seiner Schulter.
Kein schlechtes Bild, geht es Falko durch den Kopf. Auch die Schwaden draußen, die Fahrt überhaupt und schon der Aufbruch, der Gang durch den verschneiten Vorgarten ... Ob das aber irgendwen interessiert, Ilka vielleicht ausgenommen?
Und dann wird's „stressig“. So jedenfalls nennt es Mutter, und Vater nickt nachdenklich.
Falko findet die Situation eher abenteuerlich. Sensationell ist sie nicht; das räumt er in Gedanken ein. Schließlich muss man ja auf Flughäfen rund um den Kalender mit Start- und Landeverzögerungen rechnen, nicht nur im Dezember, und bei Nebel, Schneeregen und Überfrierungen wie heute früh, sagt er sich, sind Wartezeiten eigentlich normal.
Um so unverständlicher für Falko - das Benehmen einiger Fluggäste, durchweg Erwachsener, die sich an einem der extra eingerichteten Infoschalter versammelt haben.
Ein Stück weiter, an einem anderen Schalter, das gleiche Bild; dazu aller paar Minuten eine Durchsage in mehreren Sprachen, die jedem und jeder in der bahnhofgroßen Abfertigungshalle mitteilt, dass es wegen der Wetterlage leider zu Verspätungen kommt, und die um Verständnis bittet.
Und die Gäste? - Die meisten übrigens Mittelalter, Leute, die Petrak, zur Unterscheidung von den „Gruftis“, „Gruftanwärter“ nennt und unter denen in der Traube hier vor dem Schalter, wie Falko längst festgestellt hat, er bis jetzt als einziger die Kids vertritt.
Würden diese kinderfreien Gruftanwärter wenigstens nur murren wie Mutter! Aber die Frau am Schalter, eine hübsche Dunkelhaarige, wieder und wieder zu fragen, zu bestürmen, ja sogar anzupflaumen! Als könnte die prinzipiell was anderes mitteilen als die Lautsprecherstimme für alle in der Halle!
Trotzdem gibt sie Auskunft um Auskunft - wie Falko findet: erstaunlich geduldig.
Was sie sagt in klarem Nachrichtendeutsch, hört sich übrigens merkwürdig rau an. Auch wirkt sie bei genauem Hinsehen ein wenig müde, und plötzlich muss Falko an llka denken, obwohl die doch ganz anders spricht und eher blond ist, dabei aber ähnlich schönes Haar hat.
Ob llka in zehn, zwölf Jahren genau so hübsch sein wird?
Während der Junge noch grübelt, berührt ihn Vater am Arm. „Wir gehen dorthin.“
Er weist zu einer Bank, die Mutter gerade in Beschlag nimmt, wobei sie durch heftiges Winken ihr zu folgen gebietet.
„Geh nur!“, sagt Falko. „Ich bleib noch ein bisschen hier.“
Vater akzeptiert das.
Und dann bemerkt der Junge, wie die hübsche Dunkelhaarige plötzlich unruhig wird.
Durch eine Sperre hinter ihr ist ein Mann gekommen - vielleicht ihr Freund, vielleicht ein Flugkapitän - und hat sich neben sie gestellt. Er trägt eine andere Uniform als sie, eine mit einem für Falko exotischen Logo, gehört also zu einer ausländischen Fluggesellschaft und wirkt im Gegensatz zu der Hübschen mürrisch, ja aggressiv.
Eben hat sich ein Fluggast, ein Dicker, der verspätet herbeigekeucht ist, nach dem Abflug erkundigt, das kurzatmig in einem breiten, schwer verständlichen Deutsch; „Abflug“ hörte sich wie „Oohfluch“ an.
„Bittäh?!“, stößt der uniformierte Flugkapitän, eh die Dunkelhaarige zu Wort kommt, hervor.
„Nu, wänn 's loesgett, wänn d'r Start is!“
„Nix Start“, versetzt der Uniformierte. „Wetter ... Wetter ...“ Er sucht nach Vokabeln, die er offenbar vergessen hat, und beendet die Erklärung mit einem Fluch in seiner Muttersprache.
Im nächsten Moment ist es der Dunkelhaarigen gelungen, die Auskunftsgewalt zurückzuerobern. Die Augen geweitet, versucht sie, wieder gutzumachen, was er angerichtet hat: entschuldigt ihn, sagt, dass auch die Besatzungen, dass die Angehörigen aller Fluggesellschaften unter der Verzögerung leiden, und bittet ein weiteres Mal um Verständnis, um Einsicht.
Vergebens. Der Dicke schnauft und poltert, schimpft, nennt den Flugkapitän einen „Kanaker“, schreit: „Muss mer sich das lass gefall? Von so änn ... so änn ...“
Auch ihm gehen die Worte aus. Zudem ist der Stein des Anstoßes, jener Uniformierte, wieder verschwunden, wütend, hastig, wie auf der Flucht, und die Gäste, die gleich Falko ausgeharrt haben, wenden sich ebenfalls ab - alle bis auf einen älteren, unscheinbaren Mann, der dem Jungen aufgefallen ist, weil er das Treiben hier am Schalter reglosen Gesichts und ohne irgendeinen Kommentar verfolgt hat.
Hinter Falko steht, wie der erst jetzt bemerkt, sein Vater, kopfschüttelnd, betrübt. Er weist zu dem Dicken, der noch immer schnauft und schimpft, zum Schalter, wo sich die Dunkelhaarige verzweifelt um Verständnis bemüht, zu den übrigen Fluggästen, die sich schweigend zerstreuen.
„Schlimm, und es wird beinah von Tag zu Tag schlimmer.“
Falko wiegt den Kopf. „Aber“, erwidert er, während sie zu der Bank schlendern, wo Mutter bei den Gepäckstücken sitzt und liest, „das alles ist doch auch komisch, lustig; man kann darüber lachen.“
Vater streift ihn mit einem Blick, nickt dann und sagt: „Stimmt. Natürlich kann man über alles - oder fast alles - auch lachen. Es kommt halt darauf an, wie man's sieht, von wo aus man's betrachtet.“
Sie sind bei der Bank angelangt. Neben Mutter - ein Heft, eine Fachzeitschrift mit Artikeln über Ernährungsstörungen im Kindesalter, zugeklappt. In der Hand hält die Frau Doktor einen Kriminalroman.
„Pst!“ Vater legt den Zeigefinger an die Lippen. „Nicht stören! Die Chefin ist erst wieder zu sprechen, wenn der Superdetektiv den Ganoven geschnappt hat.“
Mutter runzelt die Stirn, doch an ihrem Mundwinkel zuckt es. Ohne etwas zu entgegnen, blättert sie um.
„Wenn er ihn geschnappt hat“, fährt Vater fort, wobei er die Zeitschrift wegräumt und sich neben Mutter setzt, „dann wird die Chefin auch wieder Augen für ihren Säugling und für ihr Kleinkind haben. - Das Kleinkind, übrigens, Falko, bist du, und der Säugling bin ich.“
Mutter lacht. „Wenn du's nur weißt!“ Sie lässt das Buch sinken, reckt sich, gähnt und erklärt: „Mir gefällt ’s hier. Sicher wär's auf La Roca wärmer und schöner; so aber genieße ich erst mal eine Weile die Faulenzerei.“ Sie vertieft sich wieder in ihren Krimi.
„Und wir“, raunt Vater Falko zu, „wir könnten ja schon mal ein bisschen vorausfliegen.“
„Wie das?“, fragt der Junge, obwohl ihm schwant, was Vater meint.
„Ganz einfach“, sagt der. „In Gedanken. - Also, nimm bitte Platz!“
Falko hockt sich auf einen der Koffer, und Vater räuspert sich, überlegt kurz und hebt zu erzählen an.
„Vor einiger, gar nicht mal allzu langer Zeit sah das nördlichste der Sieben Meere ziemlich belämmert aus. Nebel waberte über dem Wasser wie Schwaden aus einer Hexenküche; wenn man die Augen aufriss, alle beide, so man noch im Besitz zweier Augen war, konnte man mit Mühe und Not knapp von hier bis dorthin gucken.“
Keine drei Schritt, schätzt Falko beeindruckt.
Die Stimme des Erzählers holt ihn auf das nördlichste der Sieben Meere zurück.
„Da aber schälte sich, als es zudem auch noch zu dunkeln anfing, etwas aus dem zähen, dichten grauen Dunst, nahm gespenstisch langsam Kontur an, schwebte, geisterhaft still, heran, näher und näher. - Was nur, was?“
„Ein Schiff!“, entfährt es dem Jungen. Er schluckt. „Ein Piratenschiff.“
„Wieso?“
„Nun“, führt er aus, „am Bug, am Heck, backbord und steuerbord, überall kauern Gestalten, spähen und lauern, und am Großmast, über Segeln, die gerefft sind, hängt schlaff, im schwindenden Licht kaum erkennbar, ein schwarzes Tuch, ein Wimpel; darauf in schmutzigem Weiß - ein Totenkopf über zwei gekreuzten Knochen.“
„Ah, ja, ein Piratenschiff, wirklich und wahrhaftig!“, bestätigt der ältere Erzähler. „Aber die Gestalten!“, erinnert er. „Übrigens, ist da auch ein Kerl mit einer Augenklappe an Bord?“
„Einer?“ Der jüngere Erzähler tut verwundert und erklärt: „Gleich drei! Zwei mit einer Klappe beziehungsweise mit einem Verband auf dem rechten Auge, einer mit einem Fetzen vor dem linken.“
„Hm ... Das wohl, damit sich die drei unterscheiden lassen?“
„Genau.“
„Schön. Und sonst?“, fragt der Alte. „Die Gestalten, wonach spähen die eigentlich, ein- oder beidäugig, aus, worauf lauern sie?“
„Tja, worauf bloß, worauf?“ Der Junge überlegt. „Vielleicht auf ein Kauffahrtei-Schiff, auf einen Schoner oder auf eine stolze, aufgetakelte, reich beladene Bark oder Brigg? Oder sie halten bloß Ausschau nach Land, nach einem Leuchtturm, nach irgendeiner Untiefe in der tückischen, nebelverhangenen und nun auch noch dämmrigen See.“
Der Alte nickt nachdenklich. Und streckt plötzlich den Arm aus. „Dort, Chief! Siehst du den Schein da vorn, den leuchtenden Schimmer?“
„Klar, Sir, klar“, gibt der Junge zur Antwort. „Ein Riesenlichtfleck, eine Aureole. Und das Ding kommt, scheint's, direkt auf uns zu!“
„Stimmt, Chief. Aber - verdammt! - was für ein Ding ist das?“
„Ja, verdammt noch mal, was - was für ein Ding?“
Gegen Mittag hat sich der Nebel so weit gelichtet, dass Maschinen wieder starten und landen können, und knapp vier Stunden später, kurz nach 16 Uhr Ortszeit, geht der Düsenklipper, der Falko und seine Eltern transportiert, auf dem Airport von Gran Bosquea nieder.
Gran Bosquea - Hauptinsel der Bosquearen, einer Inselgruppe im Atlantik, die zu Spanien gehört, aus zwei größeren und drei kleineren Eilanden besteht, rund 300 km vor der nordwestafrikanischen Küste liegt, früher dicht bewaldet war, später oft Seeräubern Unterschlupf bot und neuerdings dem Tourismus erschlossen wird.
So in einem Lexikonband, wo Falko nachgelesen hat; so sinngemäß auch in den Prospekten, die Vater präsentierte, als die Rede zum ersten Mal auf diese Reise, diesen Abenteuer-Ferien-Trip kam.
Und das da unten, sagt sich der Junge jetzt, das also ist Gran Bosquea.
Was er sieht von seinem Fensterplatz aus, beim Blick schräg an der linken Tragfläche vorbei, wirkt, gemessen an seinen Erwartungen, ein wenig enttäuschend: eine Landschaft in Gelb und Rostbraun, gefleckt da und dort von staubigem Grün und durchschnitten von einer grauen, von Spielzeugautos belebten, mehrspurigen Fahrschneise. Ja, und dann noch drüben am Horizont, über einer gezackten, brandschwarzen Silhouette, dunstiges Blau mit weißgelben Wolkenballen.
Immerhin ist dieser Ausblick imposanter als irgendein anderer Ausblick während der letzten drei, vier Stunden.
Vor dem Abflug, als die Triebwerke warmliefen, war durch das Bullauge links von Falko nicht viel mehr als frisches Weiß zwischen geräumten, besprühten, eisfreien Start- und Landebahnen zu sehen - und danach stundenlang nichts außer einer weißen, fast lückenlosen Wolkendecke, die wie eine hügelige, kahle, völlig gleichförmige Winterlandschaft aussah.
Trotzdem wurde die Zeit Falko nicht lang. Zwar spannen Vater und er die Seeräubergeschichte, die sie beim Warten angefangen hatten, vorerst nicht weiter, doch auch so gab es im tunnelartig gewölbten Passagierraum genug zu sehen, zu beobachten, zu bedenken.
Das fing an mit der Stewardess, einer hübschen, freundlichen Frau, die bald nach dem Start ein Menü servierte, und ging weiter mit jenem Dicken aus der Abfertigungshalle, der zwischen seiner gleichfalls beleibten Frau und einem nicht minder massigen, schnauzbärtigen Mann, vermutlich einem Spanier, ausgerechnet vor Falko und dessen Eltern zu sitzen kam.
Dagegen war nichts einzuwenden, gewiss; der Dicke und sein Weib hatten sich schließlich ihre Plätze, schnaufend und anrempelnd, rechtschaffen erdrängelt. Leidig aber, dass die beiden nun, festgepfropft in ihrer Reihe, keine Ruhe gaben, dass insbesondere ER offenbar der Meinung war, alle vor, hinter, neben ihm, ja möglichst die gesamte Fluggastgesellschaft samt Stewardessen informieren und erbauen zu müssen. So brachte er noch vor dem Festschnallen, sich auf seinem Platz wie ein Korken in einem Flaschenhals drehend, zur allgemeinen Kenntnis, wie eng es in diesem spanischen Flieger sei, und erklärte lauthals, von seiner Frau unterstützt, sie beide ließen sich trotzdem ihren sauer verdienten Urlaub „nit versäu“.