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„Haupthaarstudie“ - So hieß tatsächlich ein Projekt in einem Institut der Medizinischen Akademie Erfurt, und die Vor-Wende-Zeit, in welcher die hier vorgelegten „Arztgeschichten“ handeln, wird frech und frei nach einem bis heute namhaften bayrischen Politiker benannt. Vor allem aber geht es in dieser Texte-Sammlung um einen „Ausflug zum Rio Cuanza“, also nach Angola, Mitte der 80er Jahre - ein Studienaufenthalt, der Einblicke in den wohl nach wie vor „dunklen“ Kontinent gewährt. In Rückblenden schildert der Autor außerdem seine Arbeit als Arzt in den befreiten Gebieten von Guinea-Bissau. Im Dschungel, immer auf der Hut vor portugiesischen Bombenangriffen, mit wenig Medikamenten, primitiv ausgerüstet, gibt er den Menschen Hoffnung. Die rechtzeitige Impfung gegen die aus biologischem Kampfstoff eingeschmuggelte Cholera unter diesen schwierigen Bedingungen verhindert eine Epidemie.
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Seitenzahl: 172
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Impressum
Teil I: CHOLERA
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Teil II: AUSFLUG ZUM RIO CUANZA oder BERUFSANAMNESE
Bericht und Bilanz
UNTERM EMBONDEIRO
N’FALO SÓ POUCO CRIOULO
IN KILOMBO UND KAMUNDAY
MÄRCHENERZÄHLER
LEPRASTATION CAXISSA
ZWECKS IDENTIFIZIERUNG
BEFRAGUNG ZUR MITTAGSZEIT
LEKTION AM STRAND
WISSENSCHAFTLER, AUTOR, OFFIZIER
AUSFLUG IN DIE VERGANGENHEIT
ENERGIE
HAUPTHAARSTUDIE
ABSCHIEDSVISITE
NOTIZEN ZUM TOD
Dietmar Beetz
E-Books von Dietmar Beetz
Dietmar Beetz
HAUPTHAARSTUDIE
und andere Arztgeschichten aus der Vor-Seehofer-Zeit
ISBN 978-3-95655-914-3 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1993 im kd Selbstverlag nichtprofessioneller Autoren GmbH, Berlin.
2018 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: [email protected]
http://www.edition-digital.de
für Josefina L.C.
Dr. Karlheinz B., Facharzt für Allgemeinmedizin in einer Südthüringer Kreisstadt, stockt einen Moment, als er die Patientin eintreten sieht. Final geht es ihm durch den Kopf, obwohl ihm bewusst ist, dass er irrt. Dieses Mädchen kann nie im Leben identisch sein mit der Josefina, die er gekannt hat.
Er gibt ihr die Hand, weist zum Stuhl neben dem Schreibtisch, fragt nach dem Anliegen.
Die Patientin ist in Begleitung einer Dolmetscherin zur Sprechstunde gekommen, und während nun die Sprachmittlerin eine erste Auskunft gibt, zieht es den Blick des Arztes wieder und wieder zu der jungen, dunkelhäutigen Afrikanerin.
Wie Fina - damals ...
Der Arzt reißt sich los von der Erinnerung, konzentriert sich auf die Beschwerden, von denen die Rede ist - Symptome eines Erkältungsinfektes, das Übliche zu dieser Jahreszeit -, bittet, den Oberkörper freizumachen, tritt ans Fenster und schaut hinaus.
Winter in der Stadt, wo er mit seiner Familie lebt. Hier hat er schon vor jenem Einsatz in Westafrika gearbeitet, und hierher ist er zurückgekehrt, danach.
Fina, die Krankenschwester, hörte das Flugzeug zuerst. Sie blieb auf dem Pfad, der durch den nächtlichen Busch führte, stehen und hob die Hand.
„Jacto!“
So wurden die Düsenbomber der Portugiesen genannt, die Fiat G 91, die seit Anfang des Monats forciert die befreiten Gebiete von Guinea-Bissau, speziell hier an der Route zur Südfront, unsicher machten, doch solche Maschinen flogen nur tagsüber, und außerdem unterschied sich ihr anschwellendes Heulen deutlich von dem Gebrumm, das jetzt durch die Wipfel des Regenwaldes herandrang.
„Irgendeine Mühle mit Propellern“, sagte Karlheinz, der mit Partisanennamen Carlos hieß, und einer der beiden Soldaten der Befreiungsbewegung, die ihn und die Schwester bei den Krankenbesuchen begleiteten, tippte auf eine Dakota.
Blieb die Frage, was so ein Oldtimer zu dieser Stunde dort oben wollte.
„Vielleicht spioniert er?“, vermutete der Begleiter.
„Oder“, argwöhnte sein Kamerad, „sie schmeißen ihre Dinger nun auch, wenn's dunkel ist.“
Fina bedeutete den beiden zu schweigen. Sie stand neben Carlos, den Kopf lauschend zur Seite geneigt, die Lippen geöffnet. Carlos atmete kaum.
Das Flugzeug ließ sich nach wie vor schwer orten. Es flog offenbar in großer Höhe. Womöglich befand es sich gerade über ihnen.
Was, wenn es tatsächlich die Nachschubwege bombardieren würde? Wenn eben ein Teil seiner Last ausgeklinkt worden war? Wenn eine der Bomben hier krepierte?
Im Hospital gab es wenigstens Splittergräben, und selbst bei den meisten der verstreut gelegenen Hütten im Busch fand sich solch ein abrigo, aber unterwegs, auf den kilometerlangen Pfaden durch Dickicht, Wald oder Elefantengras ...
Der Bauer, der vorhin gekommen war, den Arzt und die Schwester zu einer seiner Frauen zu holen, hatte sich vorsichtshalber auf den Boden gehockt. Die anderen standen unschlüssig da, doch als es plötzlich in der Nähe raschelte und knackte, duckten auch sie sich, wobei Fina nach dem Arm von Carlos griff.
Sekunden angespannten Lauerns ...
Da - wieder Rascheln in einer der Kronen!
Ein Vogel, der sich niedergelassen hat?
Eine Detonation blieb aus, und eine Weile war das Flugzeug kaum mehr zu hören. Es hatte wohl abgedreht und flog nun zurück, nordwestwärts, dorthin, wo Bissau, die Hauptstadt des Landes, lag.
Die Männer und die Frau hier auf dem Pfad nahe der Grenze zur Republik Guinea richteten sich auf. Sie mussten sich beeilen, denn außer der Frau jenes Bauern, der jetzt wieder voranging, warteten noch andere Patienten auf den Arzt und die Schwester.
Alltag in diesem Krieg: Arbeit zur Nachtzeit, weil sich tagsüber tunlichst niemand allzu weit von einem der Splittergräben entfernte.
Und nun vielleicht nicht mal mehr nachts Ruhe.
Verdammt, dachte Carlos, möchte bloß wissen, was diese Mühle gewollt hat.
Zweieinhalb Tage später, am frühen Morgen, nach den ersten Detonationen an diesem Tag, machten Carlos und Fina im Hospital, was sie ‚Visite‘ nannten: Sie sahen nach den Patienten, die trotz der angespannten Lage und der Gefährdung hier stationär behandelt wurden.
Da bemerkte Carlos einen Mann, der ihm bekannt vorkam.
Für einen Moment schweiften seine Gedanken ab. - War das nicht der Alte, der sie letzte Nacht zu seinem kranken Kind gerufen hatte? Dessen Frau ebenfalls an Brechdurchfall litt?
Der Mann, der vermutlich kaum älter als vierzig war, aber wie ein Greis aussah, wirkte erschöpft. Er hatte sich vor dem ‚Krankensaal’, einem Schutzdach auf Pfählen, unübersehbar postiert und starrte - wie es schien: beschwörend - her.
Den Arzt beschlich ein ungutes Gefühl.
Die Frau, der er sich wieder zuwandte, klagte in ihrer Stammessprache über Schmerzen im Kopf, Schmerzen in den Gliedern, über Schmerzen im ganzen Körper. Während Fina die Beschwerden noch übersetzte, begann die Patientin auf dem Lager gegenüber dumpf und röchelnd zu husten, und ein Säugling, den seine Mutter zu stillen versuchte, fing quälend zu wimmern an.
Carlos - daheim Karlheinz - war Allgemeinmediziner. Er hatte in Leipzig studiert und an einem Thüringer Kreiskrankenhaus seine Ausbildung zum Facharzt absolviert, eine Ausbildung für Erfordernisse daheim. Hier nun musste er auch zerfetzte Gliedmaßen amputieren, Patienten mit schweren Ernährungsstörungen, offener Lungentuberkulose, akuter oder chronischer Malaria behandeln, und das ohne Labor, ohne Mikroskop, ohne Röntgengerät, angewiesen ausschließlich auf seine Sinnesorgane.
Fina, die in Quedlinburg zur Krankenschwester ausgebildet worden war, half ihm dabei, sie nicht allein, aber sie auf besonders einfühlsame Weise. So strich sie der schmerzgeplagten, malariakranken Frau über das Haar und gab ihr aus dem knappen Vorrat an Medikamenten zwei Dragèes Chlorochin.
„Nimm, Mutter! Honiggelbe Perlen, die deinen Körper kräftigen und die Geister des Sumpffiebers besänftigen werden. Aber nicht ausspucken! Runterschlucken, jetzt gleich!“
Sie hielt ihr eine Kalebasse an den Mund, ließ sie reichlich Wasser nachtrinken.
Jener Mann sah noch immer her, bittend, drängend. Als er dem Blick des Arztes begegnete, tat er unwillkürlich einen Schritt, doch besann er sich wohl, stockte und trat wieder zurück.
Carlos musste sich zwingen, die Unruhe, die ihn erfasst hatte, zu beherrschen, ja zu verbergen. Er wusste, dass die Patienten in seinem Gesicht forschten, dass sie jede seiner Regungen verfolgten, dass ein Stirnrunzeln oder ein Lächeln von ihm mit darüber entscheiden konnte, wie sie die nächsten vierundzwanzig Stunden verbringen würden: voller Angst oder mit einem Hoffnungsschimmer.
Endlich war die Visite geschafft.
„Wie geht's?“, fragte Carlos den Mann in crioulo, einem Gemisch aus Stammessprachen und Portugiesisch, von dem ihm Fina während der Wochen, in denen er nun schon hier war, die Anfangsgründe beigebracht hatte.
„Es geht“, erwiderte der Mann. „E bo esta bom?“ - „Und wie geht's dir?“
„Danke, gut - Wie geht's der Frau? Wie dem Kind?“
„Es geht ...“
Begrüßung auf afrikanisch, die nichts vom tatsächlichen Befinden verriet, zumindest nicht in Worten, aber da waren die Furchen in diesem dunklen Gesicht, die Angst in den Augen ...
Carlos und Fina hatten den Alten in die Mitte genommen und waren mit ihm zu einer der Nachbarhütten gegangen. Auch sie besaß keine festen Wände, doch statt dessen Vorhänge aus olivgrünem Uniformstoff, die während der Regenzeit von Lateritschlamm blutrot bespritzt worden waren. Hier wurden Sprechstunden abgehalten und Notfalloperationen durchgeführt.
Heute hielt sich unter dem Schutzdach Humberto, der Arzthelfer, in Bereitschaft. Den Vorhang an der linken Seite hatte er hochgeschlagen, um rechtzeitig den Splittergraben erreichen zu können. Die aus Stangen gezimmerte Wartebank für Patienten war leer.
„Nimm Platz, Vater“, bat Fina den Alten, „ruhe dich aus von deinem gefahrvollen Weg!“
Und dann zögernd, tastend: „Erzähl uns ...!“
Die Furchen um den Mund vertieften sich. „Das Kind“, sagte der Alte, „ist tot.“
Die Schwester legte ihm betroffen die Hand auf den Arm, und nach einer Weile fragte der Arzt nach dem Befinden der Mutter, der Frau.
Da fing das Gesicht zu zucken an. „Die Geister derselben Krankheit wüten in ihr, und wenn auch sie zu den Ahnen geht ...“ Er brach ab, starrte vor sich hin, stieß hervor: „Woher soll ich, arm wie ich bin, eine nehmen, die jung genug ist, mir Kinder zu schenken?“
Fina zog ihre Hand zurück, holte tief Luft. „Deine Frau hat ein starkes Herz und einen kräftigen Körper, sie wird den Kampf mit der Krankheit bestehen.“
„Und wenn nicht?“
„Vater, wie kannst du so reden?“
Inzwischen war Humberto hinzugekommen und hatte sich gedämpft erkundigt: „Die Ruhr oder ...?“
Auch Carlos sprach die Befürchtung nicht aus, nickte nur und sagte: „Wir müssen noch mal nach ihr sehn.“
„Jetzt, bei Tag?“
Er zuckte die Schultern.
„Na, dann“, erwiderte Humberto, „Hals- und Beinbruch! Und vergesst nicht, Armindo Bescheid zu sagen!“
Armindo Vaz war der Responsáble der Grenzregion, der Verantwortliche für Sicherheit, Versorgung, Gesundheit, das Mädchen für alles am Nabelstrang zwischen Guinea und Guinea-Bissau. Er kampierte auf halbem Weg zum Fluss - hier im Süden de facto die Trennlinie zwischen befreiten Gebieten der portugiesischen Kolonie und dem unabhängigen, ehemals französisch verwalteten Nachbarland.
Im Befreiungskrieg, der nun schon ins vierzehnte Jahr ging, hatte die Republik Guinea die Unabhängigkeitsbewegung für Guinea-Bissau und die Kapverdischen Inseln von Anfang an unterstützt. In Conakry befand sich das Hauptquartier der Unabhängigkeitspartei, in Boké, rund siebzig Kilometer hinter dem Fluss, das Zentralhospital ihrer Partisanenverbände, und streng genommen lag auch die Grenzregion diesseits des Flusses bis zu einer Tiefe von zehn, zwölf Kilometern auf dem Territorium der Republik Guinea.
Seit Anfang des Monats residierte in Bissau ein neuer Gouverneur, ein ‚Eskalationsstratege’. Hatte sein Vorgänger mehr auf psychologische Kriegsführung gesetzt, forcierte er den Bombenterror, und das besonders im Süden, wo die Befreiungsbewegung strategisch wichtige Gebiete kontrollierte, und speziell hier an der Grenze.
Am 2. September gegen Mittag wurde die Fähre getroffen, Stunden später das Treibstofflager unweit vom Fluss.
Sofort erlahmte der ohnedies spärliche, mühsame Nachschub, und als bald darauf ein Bauer und eine seiner Frauen bei der Arbeit auf einem ihrer Erdnussfelder zerfetzt worden waren, befahl Armindo allen ihm Unterstellten, sich tagsüber in der Nähe eines der Splittergräben aufzuhalten.
Das galt zweifellos auch für den Arzt und die Schwester, doch als die beiden und ihre Begleiter jetzt die Hütte von Armindo erreichten, um ihn befehlsgemäß zu informieren und eine Sondererlaubnis von ihm zu erbitten, war der Responsáble nicht da.
„Weg“, sagte der Posten, der den Amtssitz bewachte, „auf Kontrollfahrt.“
Armindo verfügte über eines der wenigen Fahrräder, die diesseits des Flusses vorhanden und noch verwendungsfähig waren. Vor Wochen, während der ersten Zeit seines Einsatzes, hatte Carlos ab und an auch zwei Lastkraftwagen, einen Jeep und einen Krankenwagen, ein Solidaritätsgeschenk des Norwegischen Roten Kreuzes, zu sehen bekommen - Fahrzeuge, die spätestens seit Anfang September aus seinem Gesichtskreis verschwunden waren.
„Gehn wir!“, sagte Fina, und den Wachposten, der Einspruch erheben wollte, bat sie, Armindo zu benachrichtigen.
„Wir sind in der Hütte bei dem Pao de Palon, zu einem Krankenbesuch.“
Carlos erinnerte sich nur dunkel an den Baumwollbaum neben der Behausung des Alten, doch als er ihn dann von einem schütter bewachsenen Hügel aus erblickte, meinte er ihn wiederzuerkennen: Der Urwaldriese überragte, weithin sichtbar, den Busch.
Dicht dahinter wand sich der Fluss wie in einer Schlucht durch das Grün. Darüber der flimmernde, wolkenlose, von Dunst leicht verschleierte Himmel ...
Verdammt gutes Flugwetter, dachte Carlos.
Er marschierte in der Mitte der Kolonne. Vor ihm - Fina, an der Spitze der Alte, der erstaunlich rasch ausschritt, und am Schluss ein Geleitposten, diesmal nur einer, der außer der Waffe vier in Zellstoff verpackte Flaschen physiologische Kochsalzlösung in einem Bündel trug.
Carlos hatte sich die Notfalltasche an einem Riemen über die Schulter gehängt, Fina an einer Schlaufe aus elastischen Binden einen Plastekanister mit abgekochtem Wasser - das übliche Gepäck bei Hausbesuchen, heute etwas anders verteilt als sonst und durch jene Flaschen für die zu erwartende Behandlung erweitert.
Alle schwiegen. Ringsum - das Zirpen einzelner Grillen. Dazu die Schritte auf dem staubigen, streckenweise steinigen Boden ...
Plötzlich mischte sich in diese Geräusche ein ferner, kaum wahrnehmbarer Ton. Am Himmel, dem Schall weit voraus - zwei Kondensstreifen hinter dunklen Punkten, und nun schoss über den Kronen, niedrig, ziemlich nah und scheinbar lautlos eine braungrün gefleckte Maschine hervor.
Der Alte lief bereits auf das nächste Dickicht zu, auch Fina, die sich umwandte und etwas rief, das unterging in Gepolter, in Heulen und Pfeifen, in irgendwelchem Geklirr.
Lärm, der noch zunahm ... Das Knattern der Flak von einem Nachbarhügel ... Qualm, der dort aufquoll, schwarz, mit gelblichem Flackern ...
Die vier hatten den Rand des Gestrüpps erreicht. Ihr Atem ging schwer. Carlos spürte sein Herz hämmern.
Obwohl die Lärmwellen erst jetzt verebbten, waren die Maschinen, sowohl die eine im Tiefflug wie die beiden anderen, bereits verschwunden; die Kondensstreifen reichten weit nach Südosten.
„Nun bombardieren sie auch drüben“, sagte der Posten mit belegter Stimme.
Carlos nickte nachdenklich. Dabei fiel sein Blick auf das Bündel, das der Posten getragen hatte, den Lauf der Maschinenpistole unter die Knoten gesteckt und wie an einem Stock über die Schulter gehängt.
Der olivgrüne Stoff hatte an der Seite einen dunklen Fleck.
Das Klirren vorhin, die Flaschen, die Infusionslösung ...
Der Arzt nahm das Bündel an sich, betastete es, dachte: Verdammt, oh verdammt!
Fina räusperte sich, schwieg aber.
Eine der Flaschen, sah Carlos, nachdem er die Knoten geöffnet hatte, war zerbrochen. Er klaubte die Scherben aus dem nassen Zellstoff, schmiss sie weg.
Es fiel kein Wort.
Den Rest verknotete er wieder, im Kopf nur einen Gedanken: Unsere Reserve, und wenn es tatsächlich - Cholera ist ...
Während des Studiums in Leipzig und bei der Arbeit in jenem Thüringer Kreiskrankenhaus war die Cholera für Carlos so fremd und so exotisch gewesen wie zum Beispiel die Pest, die Lepra oder die Pocken. Als er sich in den Wochen vor dem Abflug auch gegen Cholera impfen ließ, wurden ihm Gedanken an diese Erkrankung ein wenig vertrauter, doch damit erschöpften sich bereits seine einschlägigen Erfahrungen.
Freilich wusste er über die Cholera, was ein Medizinstudent beim Staatsexamen wissen musste: dass diese akute Infektionskrankheit mit heftigem Durchfall einhergeht, so zu hochgradigem Wasserverlust und in mehr als der Hälfte der Fälle zu tödlichem Kollaps führt, dass die Inkubationszeit, die Spanne zwischen Ansteckung und Ausbruch, ein bis vier Tage, mitunter auch nur wenige Stunden beträgt, dass neben der Behandlung mit Sulfonamiden oder Antibiotika die Bekämpfung der Folgen des Wasser- und Kochsalzverlustes im Vordergrund der therapeutischen Bemühungen steht ... Die beiden Seiten im zweibändigen „Lehrbuch der Inneren Medizin“ - Umfang: reichlich zweitausend Seiten - hatte er nach jener Impfung noch einmal überflogen.
Also, wenn's ganz blöd kommt, auch Cholera.
Schon letzte Nacht, bei ihrem ersten Krankenbesuch in der Hütte am Pao de Palon, war die Erinnerung daran Carlos durch den Kopf gegangen.
Das Kind und seine Mutter - sollten die Cholera haben?
Die Diagnose ließ sich, seit Robert Koch 1883 den Erreger entdeckt hatte, relativ leicht bestätigen. Man brauchte im Allgemeinen nur etwas Stuhl des Patienten auf einen Objektträger zu bringen und mit verdünnter Carbolfuchsinlösung zu färben. Unter dem Mikroskop zeigten sich dann Choleravibrionen, kommaförmige Stäbchen, die eine endständige Geisel trugen und oft ‚fischzugähnlich’ angeordnet waren.
Vorausgesetzt, man verfugte über ein Mikroskop, über Objektträger sowie über ein Fläschchen verdünnte Carbolfuchsinlösung.
Carlos schob solche Gedanken beiseite. - Darmerkrankungen waren hier in Westafrika beinahe so häufig wie Malaria. Weshalb sollte es gleich Cholera sein?
Dennoch verfolgte ihn die Befürchtung. Während der restlichen Nacht, bei anderen Hausbesuchen, gelang es ihm, sie halbwegs fernzuhalten, doch spätestens seit der Wiederbegegnung mit dem Alten, dem Vater und Ehemann, ließ sie ihn nicht mehr los.
Und nun betrat er die Behausung neben dem Baumwollbaum, wobei er sich in der Türöffnung bücken musste. - Ein einziger Raum, in den durch Lücken im Dach, im Flechtwerk der Wände und durch jene Öffnung, durch die Fina gefolgt war, Licht hereindrang. Wie immer brauchte Carlos eine Weile, seine Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen.
Die Patientin auf dem Lager, das ein gut Teil der Hütte einnahm, erkannte er trotzdem gleich. Sie lag, bis zu den Schultern zugedeckt, unter einem Tuch und schien zu schlafen.
Oder war sie schon tot?
Jetzt hoben sich ihre Lider, und ihr Blick glitt über ihren Mann, über den Arzt, über die Schwester.
Nahm sie überhaupt noch etwas wahr?
Ihr Mann sagte ein paar Worte, die Carlos nicht verstand, die Fina auch nicht übersetzte, und trat beiseite. Der Arzt stellte die Notfalltasche ab und beugte sich über das Krankenlager.
Ein flacher, kaum tastbarer Puls, tiefliegende Augäpfel, Haut, die sich in Falten abheben ließ, in Falten, die nicht verstrichen ...
„Wir müssen infundieren“, sagte Carlos zu Fina.
Sie hatten sich bei ihrem ersten Besuch hier kurz verständigt. Nun nickte die Schwester nur und begann, das Bündel aufzuknoten. Während sie eine der Flaschen mit physiologischer Kochsalzlösung herrichtete, legte Carlos die Blutdruckmanschette an, um die Vene in der Ellenbeuge optimal zu stauen, lagerte den Arm auf der gepolsterten Schiene, die er gleichfalls aus der Notfalltasche geholt hatte, und desinfizierte die Haut
Er wollte gerade die Flügelkanüle einstechen, da verringerte sich das ohnehin schon dürftige Licht
In der Türöffnung stand Armindo, der Responsáble, sah her und sagte dann: „Beeilt euch! Ich warte draußen.“
Die Patientin hatte bisher kaum reagiert, doch beim Einstechen der Kanüle stöhnte sie leise und bewegte die ausgetrockneten, rissigen Lippen.
„Sana, Dondo na ...“
„Sie meint das Kind“, flüsterte Fina und wies zu einer Ecke, wo sich ein Gestell mit etwas Hausrat befand.
Davor auf einer Matte am Boden - der Leichnam des Kindes.
Carlos regulierte die Tropfenfolge, befestigte die Kanüle und den Schlauch mit Heftpflaster am Arm der Patientin, bat Fina, die Infusion zu überwachen, und trat, bevor er die Hütte verließ, an jene Matte.
Das Kind, ein etwa dreijähriges Mädchen, war in hellen, blassgelben Stoff gehüllt.
Dünn wie Seide, ging es Carlos durch den Kopf, und wieder einmal dachte er an seine eigene, gleichaltrige Tochter.
Ein nacktes Püppchen auf einem Gestell aus Stangen und Lianen, drei Aluminiumteller und drei Becher, eine grellgelbe Plasteflasche mit einer Hand und einem Glas Orangenjuice auf dem knallbunten Etikett ...
Draußen standen die anderen und warteten, der Mann der Patientin wie auf dem Sprung. Armindo, der sich gedämpft mit dem Geleitposten unterhielt, brach ab, als Carlos hinaustrat.
„Na, Doktor?“
Der Arzt nahm ihn beiseite, lauschte in die Ferne, wo es still blieb, und vermied es, dem Blick des Alten, der unruhig hersah, zu begegnen.
„Wir müssen seine Frau nach Boké bringen, sofort.“
„Was sagst du da?“
Carlos wiederholte es so fest und so beherrscht wie möglich. „Sie hat Cholera“, fügte er hinzu und begann, die Schwere dieser Krankheit zu erklären.
„Bist du dir sicher, dass es Cholera ist?“, unterbrach ihn der Responsáble.
„So sicher man sein kann unter unseren Bedingungen“, gab der Arzt zur Antwort.
„Du weißt auch, was das für uns bedeutet?“
„Und ob ich das weiß!“ Er holte tief Luft, fing an aufzuzählen: „Isolierung der Kranken und Beschaffung von Medikamenten, Impfung aller Gefährdeten, Suche nach der Seuchenquelle und ihre Sanierung ...“
Armindo rührte sich nicht. Er schien überhaupt nicht zuzuhören, doch als Carlos verstummte, sagte er: „Und das alles vor dem Kongress.“
„Was für ein ‚Kongress’?“ Der Arzt senkte die Stimme. „Etwa die Proklamationsversammlung?“
Der Responsáble sah ihn forschend an, bevor er nickte, und Carlos dachte: Auch das noch, das jetzt!
Er hatte schon des Öfteren munkeln gehört, dass die Unabhängigkeitspartei einen Staat proklamieren wollte, und er wusste, was die Ausrufung der Republik international bedeuten würde: Die befreiten Gebiete wären dann Territorium eines unabhängigen Staates, die Partisanenverbände reguläre Truppen, die Regierung potenzieller Partner für zwischenstaatliche Verträge aller Art, selbst für einen militärischen Beistandspakt, der es ermöglichen würde, beispielsweise Abfangjäger gegen die portugiesischen Bomber in Boké oder in Conakry zu starten oder zu landen.
Armindo hatte zu reden begonnen, mürrisch, vertraulich, sich der Zwangslage, in die er geraten war, offenbar voll bewusst „Es ist noch nicht raus, wo die Versammlung sein soll, im Süden oder im Osten, aber wo auch immer - ein Großteil der Delegierten muss hier durch, hier übernachten, hier essen und trinken.“
Als ob ich das nicht wüsste, dachte Carlos, von Unruhe gepackt und berührt von einem vagen, noch gestaltlosen Verdacht. Cholera - gerade jetzt und ausgerechnet hier?
Er riss sich los von diesem Gedanken, fragte: „Und wann ist mit der Durchreise der Delegierten zu rechnen?“
„Soviel ich weiß“, verriet Armindo besorgt, „sind sie schon unterwegs.“
Sekunden später waren wieder drei Düsenmaschinen am Himmel - ihr dritter Einsatz heute, und das kurz vor halb elf am Vormittag.
„Sie bombardieren den Weg nach Boké“, sagte Armindo, im Blick die Kondensstreifen, die sich südostwärts verlängerten.
„Wir müssen trotzdem hin“, erwiderte der Arzt in den abebbenden Lärm.
„Könnt ihr nicht wenigstens bis zum Abend warten?“
Diesmal fiel es Carlos schwer, sich zu beherrschen. - Warten bis zum Abend, bis auch die Frau gestorben ist, bis vier, acht, sechzehn andere erkrankt sind!
Statt aber loszupoltern, schwang er sich aus dem schmalen, verkrauteten Graben, in den sie gesprungen waren, und lief zu der Hütte, die Fina trotz Düsengeheul und Alarmgeschrei nicht verlassen hatte.
Weshalb reagierte sie nicht? Ging es der Patientin schlecht? Kam Fina überhaupt mit ihr klar?
Sie hatte die Infusionsflasche, die zur Hälfte leer war, an einen Stützpfosten gehängt und stand, den Rücken zur Türöffnung, über das Lager gebeugt, das sie fast gänzlich verdeckte. Dennoch erfasste Carlos, womit sie beschäftigt war. Dazu der Geruch ...
„Wart, ich helf dir.“
„Lass! Das ist keine Arbeit für einen Mann.“
„Aber Fina, als Arzt ...“
„Trotzdem, ich mach das besser allein. - Na, geh schon, geh!“
Er trat wieder an das Gestell in der Ecke, vermied es, die starre, in Seide gehüllte Gestalt anzusehen, blickte zu der Plasteflasche mit dem Etikett, das ihm in dieser Umgebung wie blanker Hohn vorkam.