Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Meinecke, Studienrat i. R., Witwer und passionierter Wandersmann aus Fulda, macht eines Mittwochmorgens unweit der Hochrhönstraße im Naturschutzgebiet an der Abzweigung nach Hausen eine schockierende Entdeckung. Tags darauf steht Konrad Mai, Journalist und Buchautor aus Erfurt, am selben Fundort, der nunmehr einem Aushilfsparkplatz gleicht - zerfurcht von Fahrzeugen der Kripo, die möglicherweise Mai schon auf den Fersen ist. So beginnt eine zuletzt fluchtartige „Ermittlungsfahrt“. Die Stationen u. a.: Fulda, Frankenheim, Dermbach und eine verschwiegene Bergpension nahe Bischofsheim, bis schließlich in Bad Neustadt an der fränkischen Saale die überraschende Lösung harrt. Dietmar Beetz versteht es, Spannung mit Zeitkolorit zu verbinden, und das in einer Sprache und mit einer Lokalkenntnis, die das Lesen zum Genuss macht und auch die LiebhaberInnen der Rhön auf ihre Kosten kommen lässt. INHALT: Am Schwarzen Moor, frühmorgens Erfurt-Südost, spät am Abend Rhönwärts, wieder und wieder Am Schwarzen Moor, vergnatzt und arglos Irgendwohin, sich zu verkriechen Irgendwo, geschockt In Fulda zur Mittagszeit Fulda im Rückblick Halt am Ellenbogen Dermbacher Überraschungen, Teil 1 Dermbacher Überraschungen, Teil 2 Werstatt-Nacht Einbrüche Neuer Anlauf Per Glück und Zufall Einsam und eisbärfellfarben Beim Stall der Bullen Teil zwei der Telefon-Recherchen Zum Haus, wo sie gewohnt hat Vor Ort - auf der Hut Weg! Aber wohin? Zielstrebig ins Ungewisse Die Wirtin der ‘Bergpension’ Ein Schlüssel - wofür? Nach rechts oder nach links? Stopp in Bischofsheim Zur fränkischen Saale Nachhilfeunterricht
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 171
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dietmar Beetz
Rhön-Flirt
Kriminalroman
ISBN 978-3-95655-187-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1998 im Rhön-Verlag, Hünfeld.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Das ist ein Roman, das heißt: Personen und Handlung sind erfunden, Vorbilder und Ereignisse aber so nachgebildet, dass Ähnlichkeiten mit der realität durchaus möglich sein müssten und keinesfalls unbeabsichtigt wären.
Er parkt seinen Wagen, einen Toyota älteren Typs, neben einem einsamen, eisbärfellfarbenen Fiesta, steigt aus und reckt sich. Dann entnimmt er dem Kofferraum Rucksack und Wanderstock sowie einen hellgrauen sogenannten Campinghut. Den Hut stülpt er sich auf den ergrauten, widerspenstigen Schopf, den Rucksack huckt er auf, und nachdem er den Wagen verriegelt hat, verstaut er den Schlüssel in der Brusttasche der lichtgrauen, mit ausknöpfbaren Ärmeln versehenen Wetterjacke, die er über einem rot karierten Hemd zu dunklen Kniebundhosen und derben Wanderschuhen trägt.
Hier oben ist es jetzt, Anfang Mai, noch kühl, ja beinah kalt - trotz heftiger Regenfälle in jüngster Zeit bestes Wanderwetter also. Dazu die Stille frühmorgens und an einem Tag wie diesem Mittwoch! Kein Schülergeschrei, kein Beirats-Blabla, kein Kollegiumsgewäsch. Meinecke, Studienrat im Ruhestand, Witwer, Frühaufsteher und Einzelgänger, atmet tief durch und zieht los, fort vom Parkplatz beim Schwarzen Moor.
Zurück bleibt der 'Kiosk am Dreiländereck', der wohl erst später öffnen wird - bei Schulexkursionen oft erstes und einzig selbstständig erwähltes Ziel hoffnungsträchtiger Horden. Die Kreuzungsspinne, die noch dem Pensionär bei der Erinnerung an Lotsen- und Hirtenpflichten Albtraumschweiß auf die Stirn treibt, und ein Stück der Hochrhönstraße Richtung Bischofsheim, dem Meinecke, Geografie und Mathematik, beim Schreiten das körpereigene, geeichte Schrittmaß anlegt.
Fünfzig Meter - exakt.
Er konstatiert es dort, wo links der Wanderweg von der Straße abzweigt, konstatiert es nicht ohne Befriedigung, wenn auch mit einem Anhauch von Wehmut.
Mögen die Rabauken gewesen sein, wie sie wollen, bei jeder Rasselbande fanden sich wenigstens zwei/drei, die's trotz allem wert waren. Außerdem: Wem jetzt erzählen oder abfragen, wie ein Hochmoor entsteht, sich uhrglasförmig aufwölbt hier oben, wo Regen und Schnee Wasser hinterlassen, mehr als verdunsten kann? Oder wen hinweisen mit einem Wort, einem Wink auf die funkelnden Regentropfen dort an den Zweigen, auf die sakrale Stille unter diesem Domdach aus lichtem Grün?
Der Pfad ist gleich nach seinem Anfang rechts abgebogen, und seitdem läuft er in einigem Abstand parallel zur Chaussee. Selten ein Wagen, der draußen hinter verkrüppelten Fichtenstämmen vorbeirauscht; ab und an auf der Strecke dorthin, halb verborgen im Unterholz, ein Morastloch.
Meinecke hat sich die Route über Roth, Thüringer Hütte, Steinernes Haus vorgenommen - ein Weg, den er wie seine Logarithmentafel kennt und in einen Rundgang umzuwandeln gedenkt. Er weiß, was ihn erwartet, und er freut sich darauf, freut sich, zumal er sich noch frisch fühlt, in verhaltener, argwöhnischer Altmännermanier fast unterschiedslos auf alles Mögliche: auf Wind- und Schneebruchwunden des Waldes, wobei er hofft, dass sie mittlerweile vernarbt sind, auf Holzabfuhrwege, die Schneisen zum Himmel gleichen, auf den ersten, sichtabhängigen Nah- oder Fernblick zur Rother Kuppe oder weit hinüber zum Thüringer Wald.
Die Schönheit mitteilend teilen, geht es ihm durch den Kopf, und wieder verspürt er den heftigen Wunsch, anderen kundzutun, was er sieht und empfindet, was ihn entzückt oder bloß aufmerken lässt wie jetzt ein Aufblitzen am Pfad vor ihm im Frühsonnenschein.
Er hat an der Straße nach Hausen eine Waldwiese erreicht. Das Licht kommt von links oben, aber das hier rechts unten am Weg, zwischen sprießendem Gras auf grauem verfilztem Rasen - Kinder, was ist das?
Eine Scherbe?
Der Studienrat schüttelt den Kopf.
Ein Brillenglas?
Er wiegt ihn, beugt sich plötzlich weiter vor, sodass der Hut vom Schopf zu rutschen droht, legt den Wanderstock weg, streckt sogar die Hand aus, erstarrt.
Stimmt, das könnte es sein; aber hier am Wanderpfad, dicht an der Straße, eine Fotolinse?
Und dann ist Hans-Joachim Meinecke, Studienrat i. R., wieder ein wenig der Jonny, der er vor rund einem halben Jahrhundert war. Er hat den Campinghut vom Kopf genommen, die Linse, ohne sie zu befingern, darin verstaut, und nun späht er wie weiland Old Shatterhand respektive Freund Winnetou am Wiesen- und Waldessaum auf und ab.
Sind dort nicht Spuren im feuchten Erdreich, Fußtapfen, verwaschen und kaum mehr wahrnehmbar, hin zum Vorjahresfilz und, wie es scheint, zum Maschendrahtzaun, der das Waldstück dahinter schützt? Hier - ein Ast, dürr und frisch geknickt, da ein Tritt im Gestrüpp, leicht verrutscht und tief wie von erheblicher Last; aber weshalb, Kinder, überhaupt die Spur weg vom Pfad, durch Domendickicht, an diesem Zaun lang?
Und dann steht Meinecke, zerkratzt und kurzatmig, vor einem bemoosten Steinbrocken, der das untere Zaunende festhält, am Erdboden fixiert. Als er den Wanderstock ansetzt und den Brocken weghebelt, schnippt das Zaunende hoch und gibt einen knapp kniehohen Spalt frei.
Eine Pforte - wofür?
Der Studienrat blickt sich um und lauscht.
Die Straße - verlassen, die ganze Zeit schon, auch vom Pfad her kein Laut; und selbst wenn da oder dort jemand gefahren oder gewandert käme, er hier hinter dem Gestrüpp wäre nicht zu sehen.
Bedächtig weitet Meinecke den Spalt, spannt das Geflecht, das oben von einem intakten, unten von einem durchtrennten Draht durchzogen wird, mit dem Stock, windet sich hindurch in das geschützte, urwaldähnliche Dickicht.
Vorsicht, Kinder! Und auf die Spuren geachtet! Auf die eigenen Füße und auf die Fährte da vor uns, die ohnehin ...
Er bricht ab, starrt auf ein Gewirr aus kahlem und frisch begrüntem Gestrüpp, reißt den Blick los.
Fern, wohl von der Straße weiter vorn, sanfte Motorengeräusche; dann wieder Stille mit Vogelgezwitscher.
Meinecke hört es - und hört es nicht. Er starrt zu lockerem Laub in einer Mulde unter jenem Gestrüpp.
Der Fuß dort, ein Fuß in einem Laufschuh und ein Stück Perlonstrumpf - Kinder, seht ihr das auch, oder spinn ich?
Als Konrad Mai, Journalist und Buch-Autor, an diesem Abend seine Wohnung betritt, sieht er sozusagen seinen 'Sekretär' in Bereitschaft stehen. Unter dem grünen Sehschlitz leuchtet das rote Auge - ein Anblick, der den Zeitungsmann einen Moment allen Frust vergessen lässt.
Linda! denkt Mai. Merkwürdig aber, dass er dabei nicht die brandaktuelle Liebste vor sich sieht, sondern Thea, die Frau, mit der er noch verheiratet ist.
Er hat die Hand ausgestreckt nach dem Apparat, dessen Einbauteil üblicher- und unzutreffenderweise 'Anrufbeantworter' genannt wird. Als ob das Tonband in einem Telefon je einen Anruf beantwortet hätte!
Mai hebt nicht ab, schiebt das auf. Wer weiß, was das Gerät übermitteln soll, und was auch immer die Botschaft sein mag, Liebkosung oder Peitschenhieb, besser vielleicht, man spart es auf oder erspart es sich noch eine Weile.
Nunmehr in der Küchennische, ertappt sich Mai vor dem Kühlschrank, in der Hand eine unlängst geköpfte, auf Anhieb zur Hälfte geleerte Null-Komma-Siebener-Pulle 'Nordhäuser Korn'. Während das Knie die Tür zukickt, dreht die Rechte - gelernt ist gelernt - bereits den Verschluss auf; doch dann hindert irgendetwas die Linke, das Behältnis zu heben und anzusetzen.
Etwa Linda und ihr läuternder Einfluss? - Wohl kaum so kurzfristig. Und die chronischen Vorhaltungen von Thea, nachträglich noch, schon gar nicht. Was aber sonst?
Mai holt tief Luft, schraubt die Flasche - und dies keinesfalls lustvoll - zu, stellt sie zurück in das Türfach.
Der Rest des Faches - leer, abgesehen von einem unangebrochenen Magenelixier namens 'Rhöntropfen' in Originalabfüllung. Auf bzw. in den übrigen Rosten, Schüben, Fächern: ein per 'Knick-Ab' geöffneter Karton fettarmer Milch, ein deckelloser Becher mit einem Klecks Born-Senf, mittelscharf, oder mit einer ähnlich gefärbten Masse, eine angebissene Bockwurst und reichlich einhundert Liter gut gekühlter Luft.
Mai verzehrt die Bockwurst samt Senf, der tatsächlich nach solchem schmeckt, kostet von der Milch, die eher an Yoghurt aus einem Hünengrab der Altsteinzeit erinnert.
'So verdirbst du dir den Magen', hört er Thea sagen - und sich erwidern: 'Klar, das hält mich schlank.'
Der Anrufübermittler - auch kein eleganter Name - leuchtet noch immer unabgehört, und plötzlich fühlt sich Mai tangiert von der Hoffnung, weder Linda noch Thea habe versucht, ihm einen Kick bzw. einen Hieb zu verpassen, sondern einer der Verlage, die er anfallsartig mit Typoscripten belästigt, endlich den Poeten K.M. wiederentdeckt.
Es ist, wenngleich stocknüchtern geboren, nur eine Schnapsidee, doch was hofft ein Schreiber nicht alles, wenn mal eine Sternschnuppe aufzuckt?
Außerdem: Die Anfrage neulich aus Fulda, das Projekt, dem Mai die Bekanntschaft mit Linda verdankt, war das vielleicht möglicherweise eventuell nicht doch so etwas wie der Auftakt zu einem Neubeginn?
Von solchen Erwägungen bewegt, drückt Mai die Abhörtaste.
"Hoffmann. Die Nummern kennen Sie. Rufen Sie bitte baldmöglichst zurück!"
Danach der Schluss-end-Finalton, lieblich wie das superhohe Cis beim Abbremsen eines Intercity-Zuges auf Bahnsteig 5 des Hauptbahnhofes.
Mai schüttelt den Kopf und schluckt, als habe er Probleme mit den Ohren. Dann hört er sich die Nachricht noch einmal an, schließlich ein drittes Mal, sprungbereit, darauf aus, irgendeinen tieferen Sinn zu ertappen.
Vergebens. Der Sekretär aus Draht und Kunststoff bleibt eindimensional. Bitte anrufen, sofort! Mehr hat er nicht auszurichten. Und das, wundert sich Mai, von einem Palaverbeutel wie Hoffmann! Dr. Siegbert Hoffmann, Leitender Mitarbeiter des Buchonia-Verlages, Fulda. So nicht nur auf der Visitenkarte, so, leicht modifiziert, auch, bevor verbunden wird. Zumindest den Doktor vor dem Hoffmann trägt er vermutlich noch im Nachthemd, und nun dieser telegrafisch knappe Befehl: Anrufen! Hoffmann.
Mai ist die anderthalb Schritte, die der Korridor Platz lässt, zurückgewichen. Den Rücken an der Wand, fixiert er den Telefonapparat, der noch immer in den Eckfarben einer Verkehrsampel leuchtet.
'Die Nummern kennen Sie'. Nummern, Plural. Also darf oder soll ich ihn daheim anrufen, 'baldmöglichst', wahrscheinlich selbst jetzt, um diese Zeit, noch.
Es ist fünf vor elf, als Mai die Vorwahl- und die Privatnummer von Dr. Hoffmann eintippt.
Der Ruf geht nur einmal raus; schon vor dem zweiten Zeichen wird abgehoben.
"Ja?!"
"Hier ist ..."
"Schön, dass Sie sich melden; ich muss Sie sprechen. Legen Sie auf. Ich bin gleich wieder dran."
Rums, dann das Freizeichen.
Hehe! denkt Mai. Spielt man jetzt so Wildwest?
Er hat kaum aufgelegt, da schlägt die Klingel an. Wieder die Stimme von Dr. Hoffmann, kein Zweifel, diesmal allerdings, wie 's scheint, inmitten konkurrierender Teufelsgeigen.
"Hallo, derselbe, nunmehr per Handy, weiterhin in gebotener Kürze. Verstehen Sie mich?"
Mai krächzt eine Bestätigung.
"Gut. Wir müssen uns treffen, gleich morgen früh. Bitte jetzt keine Fragen und keinen Protest! Es ist wichtig für Sie, für mich, für unser Projekt, lebenswichtig; alles andere muss vorübergehend zurückstehn. Trotzdem keine Panik! Am besten, Sie legen sich einfach schlafen, und sei's nur für zwei, drei Stunden, und fahren so los, dass Sie gegen acht vor Ort sind. Der Ausflugs-Hit, das muss für unser Buch - erinnern Sie sich?"
Mai schnappt nach Luft, nickt, besinnt sich und krächzt. "Gut. Dort morgen früh Punkt acht! Und nun merken oder notieren Sie sich noch die Nummer von diesem Gerät hier, damit Sie mich, wenn's sein muss, erreichen können!"
Er nennt eine meterlange Zahlenkolonne, die Mai eilig auf ein bereitliegendes Blatt schreibt.
"Künftig nur diese Verbindung! Klar?"
"Wie Sie wünschen. Könnten sie nicht wenigstens andeutungsweise ..."
"Nein, leider. Also bis morgen! Und nichtsdestotrotz: gute Nacht und gute Fahrt!"
Kurz nach vier, also noch in der Nacht, verlässt Mai seine Wohnung, schließt ab, steigt die Treppen hinunter. Vor der Briefkastenbatterie im Flur zögert er einen Moment, bevor er die Reisetasche abstellt und aus einem Notizbuch einen Zettel reißt, 'Bin in der Rhön. Gruß - Mai' draufschreibt und das Blatt in den Kasten mit dem Schildchen 'Sachse' wirft.
Katharina Sachse, die einundachtzigjährige Nachbarin, der Mai den Zimmergarten gießt, wenn sie bei einer ihrer erbwilligen Nichten weilt, und die im Gegenzug, sobald er länger als vierundzwanzig Stunden unterwegs ist, seine zweieinhalb Blumentöpfe in Pflege nimmt.
Die Haustür - wie immer unverschlossen; und dann manövriert Mai den Skoda, von dem zu trennen er sich stoisch weigert, aus der Parklücke, in die er gestern Abend ihn vorsichtig eingefügt hat. Millimeterarbeit - auch das Verlassen der Straße, die einst nach einem römisch nummerierten Parteiereignis hieß und nun natunah nach einem Strauch heißt. Vorbei an Bürgersteigen, sogenannten, die derart zugeparkt sind, dass kein Bürger durch- oder drüberweg zu steigen vermag, kurvt Mai heraus aus dem Viertel, das seit reichlich drei Jahren seine engere und beengte Heimat ist.
Vorher hat er im Zentrum gewohnt, gleichfalls in einem Neubau, einem Hochhaus. Bis zur Stunde denkt er an diese Zeit - fast ein Vierteljahrhundert - und an die Gegend beim ehemaligen Platz der Pariser Kommune mit einiger Traurigkeit und wohl auch mit zunehmender Verklärung zurück. Damals waren noch - Schein oder nicht - die Kinder nah, die Ehe halbwegs intakt, die Zukunft offen.
In die Rhön gereist ist Mai bereits zu Hochhauszeiten auf einer Route, die er seinen 'Schleichweg' nennt. Ob vom Zentrum aus und über den Gothaer Platz oder ab Wiesenhügel/Südost und über Seebach- alias Panzerstraße, Tannenwäldchen, B 4 und ein Stück Autobahn, spätestens hinter der Abfahrt bei Gotha beginnt für ihn eine Tour, die zu fahren er selbst, wenn die Augen ihm zuzufallen drohen, nicht müde wird; ja, als Lyriker, der er war und ist, geniert er sich nicht, die Strecke über Georgenthal, Tambach-Dietharz, Nesselhof, Floh, Schmalkalden, diesen Weg in die Gefilde jenseits der Werra, als seine 'Lebensader' zu bedichten.
Klar, dass Mai die Fauna und Flora, die Geologie, die Siedlungsgeschichte, die jüngere und die ältere Historie der von ihm wieder und wieder durchrollen, streckenweise auch durchstreiften Region leidlich kennt. Darüber hat er sich belesen - früher, vor der großen Zäsur, sporadisch und orientierend, später, als ein mittlerweile liquidierter, einst renommiert gewesener Verlag ihm den Text für einen heimatkundlichen Wanderführer in Auftrag gegeben hatte, monatelang systematisch und gezielt.
Eine Fehlinvestition, eine neben mehreren, was die Veröffentlichung und das Honorar, das ausgebliebene, betrifft, nicht aber in den Augen, mit denen seine Arbeit und sein Leben zu betrachten Mai sich angewöhnt hat.
Wissen, wie dieser Landstrich vor fünfzig, vor fünfhundert Jahren aussah; sich vorstellen, wer damals seinen Fuß hier gesetzt hat, was der Regen nässte, die Sonne beschien. Spüren, wie die Zeit verrinnt; begreifen, wo man herkommt, wohin man geht; als Trost empfinden, dass man Teil ist, Nachbar all der Tiere, Pflanzen, Gesteine.
Und dann die Erinnerungen, die ganz privaten, die diese Route in die Rhön, speziell nach Dermbach, säumen, Gedanken an ungezählte, nicht wiederholbare, letztlich also einmalige Reisen: Fahrten zu Thea, Brautfahrten auf einer alten MZ; Reisen zu ihren Eltern, den Großeltern von Christine und Thomas, Ferientransporte im Trabi, später in diesem Skoda ...
Wie Tine, die Große, damals noch im Kindergartenalter, hinter Georgenthal laut zu zählen anfing! Kurz vor Tambach-Dietharz war sie in höchster Konzentration bis zur Neunundneunzig gelangt, und den Schritt zur Hundert, den mit Beifall belohnten, bewältigte sie schließlich während der viertelstündigen, kilometerlangen Durchfahrt durch die Doppelortschaft.
Oder Tom, der drei Jahre jüngere Bruder, der eine Zeit lang nicht wusste, ob er Lokführer/Busfahrer/Kosmonaut oder lieber ein berühmter Rüpel werden sollte und in dieser Phase der Labilität unter väterlichem Einfluss während einer dreitägigen Exkursion mit Übernachtung im Zwei-Mann-Zelt an der Werra bei Wernshausen bzw. kurz vor dem Sperrgebiet bei Vacha seine dauerhafte, vermutlich brotlose Liebe zur Geologie entdeckte.
"Ihr mit eurer Romantik!" - So Mutter Thea bei der Rückkehr; sie später: "Du mit deinem verdammten Naturtick!"
Thea, die sich in sechsundzwanzigeinhalbjähriger Ehegemeinschaft ein einziges Mal rumkriegen ließ, unter freiem Himmel mitzumachen, und das merkwürdiger- und vertrackterweise auf den Azoren, während des letzten gemeinsamen Urlaubs und in einer Vulkanschmirgelmulde.
Heimgekehrt in die Hauptstadt des Freistaates Thüringen, trennten Thea und Konrad Mai bald u. a. die bis dahin gemeinsam genutzten Möbelstücke Tisch und Bett, d. h.: Den Tisch und die restliche Hälfte der Wohnungseinrichtung nahm Thea Mai, geb. Wucke, mit nach Erfurt-Nordwest in eine neue, renovierungsbedürftige Eineinhalbzimmer-Heimstatt, das Bett samt verbliebener anderer Resthälfte Konrad Mai mit nach Erfurt-Südost in sein neues, renovierungsbedürftiges Eineinhalbzimmer-Quartier. Die Kinder hatten schon vorher das Hochhaus-Appartement verlassen, beide in altersbedingter Staffelung von drei Jahren und beide, um jeweils in einer anderen Stadt einen Studienplatz zu belegen - ein Lebensabschnitt, aus dem Tine mittlerweile, in der Tasche ein Diplom der Soziologie, 'cum laude', also 'mit Lob', in den Stand der Sozialhilfe übergetreten ist und aus dem Tom voraussichtlich übers Jahr, in der Hand ein Geologie-Diplom, vermutlich 'summa cum laude', also 'mit höchstem Lob‘, höchstwahrscheinlich in den Stand der Sozialhilfe überwechseln wird.
Ob Thea Neues von ihnen weiß? fragt Mai sich jetzt, auf dieser Nachtfahrt in die Rhön.
Selber hat er zuletzt Tine vor fast einem Monat, Tom vor knapp einer Woche gesprochen, beide am Telefon, wobei sich beide derart zuversichtlich gaben, dass dem hellhörig-argwöhnischen Vater ziemlich mulmig wurde. Tine erzählte merkwürdig euphorisch von ihren Fortschritten beim Selbststudium westafrikanischer Sprachen, speziell des Balanta, Tom seltsam verklärt vom Muschelkalk unterm Ibengarten zwischen Dermbach und Empfertshausen.
Im übrigen erwähnten beide sowohl Oma Anna und Opa Oskar wie Mutter Thea, und das so auffällig beiläufig, dass Vater Konrad seitdem nicht umhinkommt, gelegentlich an Thea und/oder an die beiden Dermbacher Alten zu denken.
Was mit Wahrscheinlichkeit auch ohne Nachhilfe geschehen wäre bzw. würde, spätestens auf dieser Fahrt.
Mai hat gerade Niederschmalkalden erreicht. Als er die zu dieser Stunde erst mäßig befahrene B 19, Abkömmling einer einst legendären Nord-Süd-Verbindung via Meiningen und Eisenach, überquert, verabschiedet er sich in Gedanken auch von den 'närrischen Kriegern', die, von Gotha kommend, im Winter 1747, etwas mühsamer als er eben, nach ihrer Fahrt durchs Gebirge hier lang gekommen und nun links abgebogen sind, um weiterzuziehen nach Wasungen, der Kamevalshochburg, und von dort aus per Waffengewalt zu entscheiden, wem Vorrang gebührte am Meininger Hofe, der Frau von Pfaffenrath oder der Frau von Gleichen, die es nicht unterlassen gekonnt, ihre Nebenbuhlerin zu kränken und zu verleumden, weshalb der Herzog sie eingesperrt und woraufhin ihre Familie den Fall vor das Reichskammergericht gebracht, welches die Freilassung angeordnet und, da der Herzog zu Meiningen dem nicht entsprochen, den Herzog von Gotha beauftragt, den Meininger militärisch zu überzeugen, was dem Gothaer zupasskam, hoffte er doch, bei der Gelegenheit gleich ein paar strittige Gebietsansprüche in für Gotha günstiger Weise klären zu können, und sei's, wie's im Jahr darauf ja auch geschehen sollte, durch einen Vergleich.
Zwischen B 19 und Wernshausen rollt Mai westwärts über die Werra - für ihn seit je eine Art Grenzstrich. Nicht nur, dass er nunmehr vordringt ins Randgebiet der thüringischen Rhön, ins ehemalige, zwischen Werra und Fulda an Rosa, Katze und Schwarzbach gelegene 'Amt Sand'; an der Brücke über die Werra ließ Mai früher meist, was ihn bedrückte, zurück.
Heute früh verhält sich das anders, geradezu gegenläufig. Da erheben sich, kaum dass Mai die Brücke und Wernshausen hinter sich hat, vor und neben ihm die Fragen, die er bislang ignorieren konnte, erheben sich gleichsam im aufkommenden Tageslicht aus dem grauen Dunst der Waldes- und Wiesengründe rechts und links der Chaussee.
'Punkt acht vor Ort, am Ausflugs-Hit, dem Muss für unser Buch!' - Kein Problem, was die Zeit betrifft, falls nichts dazwischenfunkt, und doch: diese Art!
Mai holt tief Luft. Albern wie in einem Krimi, denkt er, ohne zu ahnen, dass er mittendrin in einem solchen steckt.
Bis Dermbach ist Mai leidlich gelassen gefahren; dann aber, auf der Strecke über Kaltennordheim, Reichenhausen, Frankenheim, hat sich Verdruss in ihm geregt, ist etwas, das neuerdings 'Frust' heißt, sozusagen hochgekocht.
Eigentlich eine Zumutung, ihn zum Schwarzen Moor zu bestellen, 'vor Ort'. Nicht nur das doofe Krimi-Geheimdienst-Gebaren, auch die Order an sich, der Gestellungsbefehl.
Als hätte ich nichts anderes zu tun! denkt Mai, wobei er sich eingestehen muss, von den zweieinhalb Wurstblättern, für die er jobt unter dem Pseudonym 'K.M. Lenz', mit Aufträgen keineswegs verwöhnt, allenfalls am Hungerhaken gehalten zu werden.
Nicht auch noch den Scheiß! gebietet er sich, und eine Weile gelingt es ihm, Gedanken an seine erbärmliche Freiberuflerexistenz zu verdrängen und den Kopf freizubekommen für das, was er wahrnimmt.
Er rollt gerade über den Höhensattel von Frankenheim - höchstes und vormals ärmstes Dorf der Rhön, 750 m über dem Meeresspiegel und, was kein Wanderführer zu vermelden weiß, derzeit Wohnort von Helmut Bock, einst Mitglied des Schriftstellerverbandes und Offizier der Grenztruppen der DDR.
Mai ist Bock unlängst in Fulda begegnet, bei einer Frittenbude, die der ehemalige Major und Schriftstellerkollege turnusgemäß mit Kartoffelschnitzen belieferte. Es war ein überraschendes und gewissermaßen 'durchwachsenes' Wiedersehen; und während Mai jetzt eine scharfe Rechtskurve nimmt und, vorbei an Schulkindern, die zu einem Bus trotten, ein Stück bergan fährt, wird ihm bewusst, dass er froh ist, Bock, den Schnitzenlieferanten, weder im kalten Frühlicht noch im Schatten der niedrigen Häuser oder der schmalfenstrigen Kirche erspäht zu haben.
Hinter Frankenheim, nahe Birx - die Grenze, die ehemalige, kaum noch kenntliche. 'Dreiländereck', wo thüringische, hessische und bayrische Rhön zusammentreffen, und einer der Punkte, einer der markantesten, wo die beiden Welthälften, waffenstarrend, einander gegenüberstanden.
Die Euphorie kurz nach Öffnung der Grenze hat Mai weiter östlich erlebt, bei Eisfeld und Sonneberg, doch weiß er vom Hörensagen, wie es hier in der Hochrhön damals zuging, und noch jetzt, siebeneinhalb Jahre nach jenen Novembertagen, hat er, während sein Skoda talwärts rollt, ein Gefühl, das er, ähnlich wie die Empfindungen beim Wiedersehen mit Helmut Bock, auf den Punkt bringen möchte.
Später, denkt er, nicht jetzt. Auch deshalb ja das Projekt. Falls sich nicht schon wieder mal alles zerschlagen hat.
Mai, mittlerweile in Bayern, befindet sich in einem Straßengeschling, wie es vermutlich nur in einem Zonenrandgebiet und zudem an einer solchen Länderkompetenzenschnittstelle entstehen konnte. Er hat noch gut dreißig Minuten Zeit bis zum Treffen 'vor Ort', also am Schwarzen Moor, wohl auf dem Parkplatz, und er lässt sich Zeit, auch um den Frust, der wieder mal Blasen zu werfen droht, unter Kontrolle zu halten.
Dann hat er sich hochgewunden zur Kreuzungsspinne, an der die Hochrhönstraße mitspinnt, ist links eingebogen auf den Parkplatz, auf die erste, auch Bussen offenstehende Abstellfläche, und zwischen vier, fünf geparkten Wagen hindurchgerollt, hat im Vorbeifahren die anderen, durch Baumstreifen abgegrenzten, noch leeren Abstellflächen inspiziert, ist zurückgerollt zur ersten Fläche.
Die Wagen hier kommen, den Kennzeichen nach, aus Meiningen, dem Rhön-Grabfeld-Kreis und gleich dreimal aus Fulda; das Buchhaltergesicht von Dr. Hoffmann findet sich hinter keiner der Windschutzscheiben.
Mai parkt den Skoda so, dass er Ein- und Ausfahrt im Blick hat, parkt vielleicht nicht ganz zufällig dort, wo Tage zuvor Linda ihren Fiesta abgestellt hatte. Er schaltet den Motor aus, atmet tief durch, streckt den Rücken.
Stille nach dem Verstummen der Autogeräusche; Fauchen, das von böigem Wind, der über die Höhen hinwegstreicht, zu stammen scheint.
Zwanzig vor acht.