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Doktor Konrad Grimm, Historiker und Ethnologe, tritt seine Reise nach Namibia mit gemischten Gefühlen an. Natürlich freut er sich auf das Wiedersehn mit Land und Leuten, und wenn es sich bewahrheitet, dass es in den Felsmassiven des Kaoko-Velds Zeugnisse moderner Buschmannskunst gibt, wird diese Exkursion auch ein wissenschaftlicher Erfolg. Andererseits ist Grimm ausgerüstet wie ein Geheimagent. Seine Geldgeber verlangen nämlich, dass er Proben eines bestimmtes Minerals außer Landes schmuggelt. Das bedrückt und verunsichert ihn, und es macht ihn misstrauisch. Gibt die attraktive Lu seinem Werben nach, weil sie ihn mag, oder will sie ihm nachspionieren? Und van Draken, der angebliche Reporter! Warum hängt er sich an Grimm? Auch der Herero Jesaya und der Buschmann Kungóro, Fahrer und Führer Grimms, benehmen sich eigenartig. Es wird eine Fahrt voller Gefahren, weil jeder sein besonderes Ziel verfolgt und weil sie in einen Krieg führt.
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Seitenzahl: 355
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Dietmar Beetz
Labyrinth im Kaoko-Veld
ISBN 978-3-86394-131-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1984 im Verlag Neues Leben Berlin in der Reihe „Spannend erzählt“.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2011 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.com
Als der Jet auf dem Airport bei Windhoek landete, warf Grimm einen Blick über die Schulter. Die Passagiere der Linienmaschine saßen wie in einem Kinosaal. Wer einen Platz am Fenster erwischt hatte, schaute hinaus. Lu Overbeck sah her und hob die Brauen. Grimm spürte das Rütteln, das durch den Rumpf ging, und nickte Lu zu.
Die Boeing bremste und rollte dann sanft. Aus dem Bordlautsprecher kam die routinierte Stimme einer Stewardess. Alles programmgemäß - bisher.
Es wird schon schiefgehn, sagte sich Grimm. Zur Not war's eben bloß ein Ferientrip.
Jetzt schwenkte der Jet, und im Fenster erschien am Horizont ein rotbraunes Felsmassiv, das Auas-Gebirge. Näher die schütteren Kronen einzelner Kameldornakazien, breite Schirme in der flimmernden, lichtgesättigten Luft. Das Gras neben der Piste war gelb, von der Sonne versengt.
Südwest, dachte Grimm. Namibia. Und wieder im August, wenn hier Winter ist. Meine Reisezeit.
Die Triebwerke heulten ein letztes Mal auf und verstummten. Aus dem Lautsprecher drangen die üblichen Anweisungen zum Verlassen der Maschine. Sie gingen unter in Stimmengewirr. Schwäbisch, Bayrisch, die behäbige Mundart der Kölner...
Auch Grimm war aufgestanden, hatte nach dem Handgepäck gelangt. Als er sich dem Ausstieg zuschob, wurde ihm bewusst, dass er die Reisetasche umklammerte. Immer schön locker, befahl er sich. Was können sie schon wissen?
Vor ihm ging Lu Overbeck die Gangway hinab, leichtfüßig, gefolgt von zwei stämmigen Bayern. Die beiden hatten bereits in Frankfurt um Lu gebalzt und waren von ihr in Mombasa abgehängt worden.
Mombasa in Kenia, die einzige Zwischenstation der Boeing 727 bei diesem Flug. Dort war Lu, flankiert von ihren Verehrern, auf dem Weg zum Transitraum wie jetzt vor Grimm her gegangen. Dieser Hüftschwung! Wie auf dem Laufsteg. Passte das zu dem Bild, das sie von sich entworfen hatte? Was wusste Grimm überhaupt von ihr?
Sie war ihm schon auf dem Rhein-Main-Flughafen aufgefallen. Sie ihm und er ihr.
Als sie quer durch die Halle herkam, durch das summende Gewimmel, stand er bei einem der Safarihaufen, die sich vor der Abfertigung stauten. Er hatte es nicht eilig und hatte nur leichtes Gepäck. Den Koffer schob er mit dem Fuß am Boden weiter; die Tasche mit dem Fotokram und den "Kostbarkeiten" trug er an einem Riemen über der Schulter.
Sie dirigierte einen Gepäckträger durch das Gewühl an die Barriere. Dann schritt sie - sie ging nicht, sie schritt - die Trauben vor den Schaltern ab.
"Frau Overbeck?", fragte der Angestellte vom Touristenbüro.
"Lu Overbeck", sagte sie mit norddeutschem Akzent.
Der Angestellte neigte den Scheitel und machte auf seiner Liste ein Kreuz.
Also mit der Safarisippschaft, dachte Grimm. Overbeck. Klingt nach Lübeck oder Hamburg. Küstenfeuer, nördliche Glut, in bayrischem Bierdunst.
Es waren Klischees, und Grimm wusste das. Er kannte keinen der Herren und keine der Damen, die gleich ihm in knapp einer Stunde einen Jet der South African Airways besteigen würden. Die meisten wurden von einem namhaften Touristikunternehmen betreut - eine buntgewürfelte, vielköpfige Reisegesellschaft, dabei wohl mancher, der diesen Trip ins ehemalige Deutsch-Südwestafrika als Wallfahrt ansah. Einige hatten "dort unten" Verwandte oder Bekannte, die sie wiedersehen wollten, Angehörige, deren Vorfahren schon zu Kaisers Zeiten in die Kolonie gezogen, die als Farmer, Händler, Bergwerksaktionäre reich geworden waren, oder Kumpane, die erst seit kurzem zwischen Oranje und Kunene das große Geld machten. Schließlich gehörten noch zu den Anwärtern auf einen Platz in der Linienmaschine Leute, die in eigenen Geschäften reisten, Leute, die wie Grimm ein wenig verächtlich auf die Ausflügler blickten.
Nicht dass sich von denen alle auffällig gebärdeten. Im Gegenteil, die Mehrzahl hob ohne Gehabe ihr Gepäck auf die Waage, ging ohne Krakeel zur Kontrolle. Was der Gruppe trotzdem das Gepräge gab, war das Vereinsgebaren einzelner Vertreter, deren forcierte Heiterkeit.
Lu Overbeck - der Name störte Grimm - fiel ohne solche Aufdringlichkeit auf. Zwei lautstarke Bayern verstummten, als sie an ihnen vorbeikam, und stießen einander an.
Ob sie wen suchte? War sie etwa verabredet? Oder äugte sie nur, inspizierte die Herde, mit der sie die nächsten zwei Wochen äsen und jagen sollte?
Lu - ihre Figur hatte es Grimm auf den ersten Blick angetan. Das Gesicht betrachtete er erst, als sie es beim Vorbeigehn ihm zuwandte.
Braun - die Haut, wie gegerbt. Hellwache Augen mit graugrünem Schimmer. In den Winkeln, wie eingraviert, Fältchen, die Vorläufer von Krähenfüßen.
Mädchen, wir sind nicht mehr ganz taufrisch, dachte Grimm, aber das macht nichts.
Sie tat, als bemerke sie ihn erst jetzt. Oder hatte das Aufleuchten einen anderen Grund? Der Blick, der zugriff, erfasste, festhielt.
Schon war sie weitergeschritten, weitergeschwebt. Dann stand sie wieder bei dem Angestellten vom Touristenbüro. Klar, dass es um Grimm ging; wahr, dass dem diese Rumhorcherei nicht gefiel.
Ach was! wies er sich zurecht. Wenn sie im Auftrag hinter dir her wär, würde sie's nicht so offen betreiben.
Oder war das ihr Trick, ihre Masche, ihre Maske?
Auf dem Weg zum Jetliner, der schimmernd am Rande der dröhnenden, matt beleuchteten, selbst zu dieser Nachtzeit ständig frequentierten Start- und Landebahnen stand, ließ sich Lu Overbeck von den zwei Bayern begleiten. Die beiden nahmen sie auch in der Maschine in die Mitte, pflanzten sich neben sie wie neben eine Trophäe.
Weidmanns Heil! dachte Grimm, und als die Triebwerke losfauchten, überlegte er, wie es wäre, wenn jetzt an seiner Seite eine gewisse Heli säße. Heli - die Frau mit dem Mädchengesicht, dem rundlichen Kinn, der Stupsnase. Heli - Studentin der Geschichte und Soziologie, viertes Semester, einundzwanzig, elf Jahre jünger als der Historiker und Ethnologe Dr. Grimm. Heli - Tochter eines Steuerberaters, die vorgab, Geld zu verachten, jenes Geld, das man beispielsweise für eine gemeinsame Reise brauchte.
Grimm lehnte sich zurück und schloss die Augen. Jetzt nicht an Geld denken, an Geldquellen, an Geldgeber! Spüren, wie der Boden unter den Füßen vibrierte, wissen, dass man unterwegs war, unterwegs zu einer Buschmanngrotte in Südwest! Egal, wer diese Reise finanzierte, wie sie zu bezahlen war.
- Das kann nicht dein Ernst sein, meinte Grimm zu hören, und er sah vor sich Heli. Du willst doch nicht wirklich...?
- Wieso nicht? Pecunia non olet - Geld stinkt nicht.
- Das von dir, Conny? Achtundsechzig, glaub ich, hättest du darüber anders gedacht.
- Achtundsechzig, Heli, gab's auch noch eine echte außerparlamentarische Opposition. Und im Übrigen war ich damals ein grüner Junge, grün wie gewisse jugendliche Aufbegehrer, die heute neunzehn sind. Oder einundzwanzig.
- Kokettier nicht mit deinem Alter! Auch in deinem Jahrgang gibt es manchen, der zu seinen einstigen Idealen steht.
- Tu ich das nicht? Anders vielleicht, konzentrierter. Auf das Ziel kommt es an, auf die Wirkung, nicht auf Mittel und Wege.
- Das Ziel! Die Wirkung! Sich unbedingt habilitieren!
- Unsinn! Das bisschen Habilitationsschrift bring ich auch so zustande. Sich aber vorzustellen, dass dieser Zeitungsmann nicht geblufft hat, dass seine Aufnahmen echt sind! Die Visagen all der Ignoranten, Eurozentristen, Rassisten...
"Kognak oder Wodka?", fragt eine reale Stimme.
Grimm blinzelte die Stewardess an, grinste. "Oder? Und, wenn ich bitten darf. Erst Kognak, dann Wodka, bitte!"
Zwischendurch verspeiste er, was die Stewardess ihm servierte, verputzte auch noch die Portion, die Lu Overbeck herüberschickte. "Vorrat, der bald gebraucht wird", erklärte er und trank Lu und den beiden säuerlich lächelnden Bayern zu.
"Und jetzt kommt wohl der Schlaf auf Vorrat?", fragte Lu, als sich Grimm wieder zurücklehnte.
"Erfasst, gnä' Frau. Auch da werden wir eine Reserve brauchen."
Er schlief bis kurz vor Mombasa. Als er erwachte, war es draußen schon hell. Die Triebwerke schienen lauter zu dröhnen; der Jet senkte sich rasch auf endlos weite, blendend weiße Hügel, die Wolkendecke, die über Ostafrika lag.
Grimm fand vor der Zwischenlandung gerade noch Zeit, sich zu waschen und zu rasieren. Den Bart beschloss er ab morgen wachsen zu lassen; nach den Einreiseformalitäten, sobald diese Hürde genommen war.
Schon kam Mombasa in Sicht: Hütten und niedrige Häuser an flachen Hügeln, Grün und das Rotbraun der afrikanischen Erde fern eine bleigraue Ahnung von endlosem Wasser unter bauchigen, tiefhängenden Wolken...
Die Stadt am Indischen Ozean schien sich zu ducken, als wolle sie verheimlichen, dass sie den Maschinen der South African Airways Landeerlaubnis gab. Soviel Grimm wusste, durchbrach auf diese Art außer Kenia nur noch die Elfenbeinküste die Boykottbeschlüsse der Organisation für Afrikanische Einheit - Lücken in der Front gegen das Rassistenregime am Kap, das wegen seiner Politik der "Apartheid" am Pranger stand und das allen Resolutionen der UNO zum Trotz Namibia, das ehemalige Südwestafrika, wie eine Kolonie besetzt hielt.
Vor sechs Jahren Abidjan, heute Mombasa, dachte Grimm, und damals wie diesmal der Flug über Nordafrika quasi bei Nacht und Nebel. Na, vielleicht ist, wenn ich wieder nach Windhoek fliege, schon die SWAPO am Ruder, und es wird einem dann so ein Zickzack erspart: von Europa nach Ostafrika, von dort nach Südwest.
Auf Mombasa war offenbar gerade ein Guss niedergegangen, eine der üblichen Sturzfluten zur Regenzeit. Nun dampfte der mäßig belebte Flugplatz, und es war schwül wie in einem Treibhaus. Grimm öffnete einen weiteren Hemdknopf, bevor er den Transitraum betrat.
"Gut geruht, Doktor?"
Lu, eben noch wie ein Häftling zwischen zwei Bullen, war ihren bayrischen Beschützern entwischt. Das kräftige Gebiss entblößend, genoss sie Grimms Überraschung. Ihr Mund zuckte belustigt.
"Dank für die Nachfrage, Frau Overbeck. Welchen Namen der andere führt, haben wir ja schon ausbaldowert."
"Was kein Kunststück war, Doktor Konrad Grimm; so stand's auf dem Schildchen an einem gewissen mit Füßen misshandelten Koffer. Mich nennt man übrigens Lu."
"Mich Conny. Sagen auch zwei stämmige Herren in ihrem wohlklingenden Bayrisch 'Lu'?"
"Das würde ich mir verbitten. Seit ich mir's leisten kann, bin ich wählerisch."
"Und wie erlangt man solche Freiheit?"
"Man heiratet einen gutbetuchten älteren Herrn, beispielsweise den Chef einer Ladenkette, und kümmert sich rechtzeitig ums Testament."
"War's fett, das Testament?"
"Hinlänglich. Achtstellig."
Grimm pfiff überrascht. "Da kann man sich freilich was leisten. Reisen und so..."
"Ein Zeitvertreib", sagte Lu Overbeck. "Und mit dieser Hammelherde wahrscheinlich flau wie sonst was. Was haben Sie vor?"
"Einen Studientrip. Sterbenslangweilig."
"Das käm darauf an..."
Er schwieg, und ihr Blick taxierte ihn. "Mediziner? Geologe?"
Weiß sie's nicht, oder tut sie nur so? fragte sich Grimm. Er schaute sich um, raunte ihr zu: "Völkerkundler. Weltfremder Gelehrter. Aber nicht weitersagen! Auf keinen Fall den beiden Kavalieren, die dort nahen!"
"Diese Schöpse!" Lu lachte. "Schön, Conny, wir sehen uns wohl noch."
Eine Stimme, die von links oben kam, ließ ihn den Kopf heben. Hinter einer Balustrade, Schulter an Schulter, stand die Reihe derer, die gekommen waren, jemand abzuholen. Eine alte Weißhaarige winkte und rief: "Emmi, Emmi!"
"Ännchen, Ännchen!" Eine weißhaarige Alte aus der Schar der Passagiere blieb stehen und winkte zurück.
Und plötzlich bemerkte Grimm oben an der Brüstung einen Kerl, der ihn musterte. Hellblonder Schopf, türkisfarbenes T-Shirt, eckige Kinnlade...
Im nächsten Moment schaute der Blonde interessiert zu anderen Einreisenden.
Grimm fuhr sich über die Augen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie heiß es war und dass er schwitzte. Die Luft über dem Rollfeld schien zu kochen, das Auas-Massiv in der Mittagshitze zu glühen.
Der Kerl oben an der Brüstung schaute noch immer.
Rein ins Vergnügen! sagte sich Grimm, während er die Tür zum Empfangsgebäude aufstieß.
Bei der Passkontrolle stellte man die erste Weiche: die Einzelreisenden nach links, die Masse der Passagiere, jene Safarigesellschaft, nach rechts.
Apartheid mal anders, dachte Grimm, der in der kurzen Reihe vor dem linken Durchlass stand. Oder auch Apartheid in alter Form: hier die schwarzen, dort die weißen Schafe.
Grimm sah Lu in der Schlange weiterrücken. Die beiden Bayern kümmerten sich um ihre Koffer. Grimm sah es nicht ohne Neid.
Dann verschwand Lu in einer der Schleusen von Zoll- und Einreisebehörde, und schließlich war auch Grimm an der Reihe. Er nahm den Koffer, packte die Tasche... Locker, locker! Selbst wenn sie dich ausziehen bis auf die Haut und in Einzelteile zerlegen - was Verdächtiges finden sie nicht.
Den Burschen vor Grimm, einen Bärtigen mit schulterlangen, gekräuselten Zotteln, hatte man offenbar einer Leibesvisitation unterzogen; wahrscheinlich dauerte die Prozedur in einer der Kabinen, an denen Grimm vorbeikam, sogar noch an. Umso besser vielleicht, als nächster vor den Herren der Behörde zu erscheinen.
Grimm kannte die Methoden der hiesigen Beamten; er hatte sie an Ort und Stelle studiert: Vor sechs Jahren, bei seiner ersten Einreise, war er, damals noch langhaarig und aus Prinzip stets ungekämmt, hinter einen der Vorhänge gebeten worden.
Heute stach er keinem der Wächter auf den ersten Blick ins Auge, und er hatte vorgesorgt, dass auch die gewissenhafteste Kontrolle nichts Verborgenes zutage förderte. Sie vermochte nichts ans Licht zu bringen, weil nichts versteckt worden war und alles, was unbemerkt bleiben musste, frei zugänglich mitgeführt wurde. Dieser Trick konnte natürlich nur gelingen, wenn man die Sachen für das nahm, was sie dem Anschein nach waren. Falls sich unter den Beamten einer befand, der einen Tipp erhalten hatte oder bloß über ungewöhnliches Wissen verfügte...
Ach was! sagte sich Grimm. Die ahnen nichts; die haben keinen Schimmer.
Es waren zwei Uniformierte, zwei glattrasierte Weiße, die ihn in einem taghell erleuchteten Raum, einer Art Durchgangshalle, erwarteten. Der eine bat, den Koffer zu öffnen; der andere ließ sich Zoll- und Einreiseerklärung geben. Grimm drückte die Schlösser auf, klappte den Deckel hoch, trat zurück.
Die Tasche hatte er abgestellt.
Die Griffe und Blicke der Beamten waren bedächtig. Während der eine Wäsche, Bücher, Geländemontur inspizierte, Kofferwände und Boden betastete, studierte der andere die Angaben auf dem einen Schein und nahm sich Grimms zweite Erklärung vor.
Sein Kollege schlug den Deckel zu, versah ihn mit einem Kreideschnörkel und deutete auf die Tasche. "Please! - Bitte!"
Als Grimm sie auf das hüfthohe Podest stellte, ging schräg hinter ihm eine Tür; als er den Verschluss geöffnet hatte und sich umsah, war der andere Beamte verschwunden.
"Bitte auspacken!"
Grimm kam gelassen der Aufforderung nach. Dabei jagten sich - Trick hin, Trick her - in seinem Hirn die Fragen. Wie pedantisch wollte der Kerl denn kontrollieren? Verbarg sich hinter der korrekten Visage bereits ein Verdacht? Was würde stutzig machen, und worauf war der andere gestoßen?
Auf dem Podium erschienen der Fotoapparat und die Schachtel mit den Filmen, die Objektive, das Reisenecessaire, der Brustbeutel mit den Travellerschecks und dem Ausweis... Auch die Blechbüchse mit den Medikamenten, die Schraubbehälter mit dem Injektionsbesteck und dem Hohlraum unter dem Einsatz, die Mappe mit den Farbfotos und der präparierten Skizze, in kunstvoller Unordnung zwischen belanglosen Papieren und Bildern, kamen zum Vorschein. Zum Schluss rollten drei Äpfel heraus; einer war angebissen.
"Doktor Grimm?"
Neben dem Beamten stand ein dritter Uniformierter, offenbar dessen Vorgesetzter. Er stellte sich als "Commissioner" vor, nannte einen kapholländischen Namen, gab Grimm die Hand und bat ihn jovial in sein Büro.
"Stimmt was nicht?", erkundigte sich Grimm.
"Eine Formalität", sagte der Commissioner.
Bevor er zur Tür ging, überflog er die Sachen auf dem Podest und nickte. Der Beamte hatte die Medikamente, die Mappe und das Filmmaterial beiseite gelegt.
"Was geschieht damit?", fragte Grimm.
"Wir nehmen es ein wenig unter die Lupe." Der Commissioner lächelte. "Wenn es okay ist, erhalten Sie es zurück."
"Ich bin in Eile."
"Sorry, Doktor." Er hielt die Tür auf. "Ein Weilchen müssen Sie sich leider gedulden."
Der Raum, den sie betraten, war kühl. Unter einem der vergitterten Fenster summte eine Klimaanlage. Draußen, wo hell die Sonne schien, fuhren gerade Busse vor, und jemand forderte mit Lautsprecherstimme die Reisenden nach Windhoek zum Einsteigen auf.
Mist! dachte Grimm, während er sich setzte. Ihm gegenüber nahm ächzend der Commissioner Platz. Zwischen ihnen lag auf dem Schreibtisch die Einreiseerklärung.
"Sie geben hier", begann der Commissioner, "als Reiseziel das Kaoko-VeId an. Würden Sie das bitte ein wenig präzisieren. Immerhin nimmt das Kaoko-Veld den ganzen Nordwesten unseres Territoriums ein."
"Mich interessiert das Steilrandgebirge, die Region nordwestlich von Ohopoho", sagte Grimm, und er verschwieg, dass sein Interesse dort eigentlich erst begann.
Der Commissioner nickte nachdenklich. "Auch noch ein ziemlich großes Areal. Und unsicheres Terrain. Wussten Sie das?"
Grimm zuckte die Schultern. "Was ist schon sicher?"
"Sie sind lese ich, Ethnologe?"
"Oberassistent an der Freien Universität, Berlin. Meine Spezialstrecke ist die Kunst der Buschmänner und der südlichen Bantuvölker."
"Kunst dieser Wilden?", der Commissioner schien belustigt. "Gibt es das überhaupt?"
Grimm tat erstaunt. "Aber gewiss", sagte er in der Art, die er für solche Gelegenheiten parat hatte. "Allein über die Felsmalerei der Buschmänner wurden bisher einhundertundvier Bücher und größere wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht."
"Und Sie wollen demnach die einhundertundfünfte verfassen?"
"Für Völkerkundler wie mich", erwiderte Grimm unbeirrt, "ist dieses Thema unerschöpflich. Es gibt immer wieder neue Gesichtspunkte: denen man an Ort und Stelle nachgehen muss. Hochinteressante Aspekte! Bisher hat man vorrangig die Felsgravierungen im Namaland und in der Kalahari untersucht, hat sie zu den Höhlenzeichnungen in Südfrankreich und Spanien in Beziehung gesetzt, hat gewagte, teilweise abenteuerliche Hypothesen entwickelt. Das Bergland im nördlichen Kaoko-Veld wurde dabei meist ausgeklammert. Es ist ethnologisch so gut wie unerforscht, doch gerade dort könnte sich der Schlüssel zu manchem Geheimnis finden. Wenn es mir gelänge, etwas davon zu erforschen, hätte ich genug Material für eine Habilitationsschrift, und als habilitierter Doktor wurde Ich wahrscheinlich zum Dozenten berufen, später vielleicht sogar zum Professor..."
Der Commissioner unterdrückte ein Gähnen, und Grimm dachte: Geschafft! - Da begann's erst.
"Bringt das alles eigentlich viel ein?", erkundigte sich der Beamte, als interessiere er sich rein privat.
"Viel einbringen?" Grimm gab sich begriffsstutzig.
"Na, wie finanzieren Sie Ihre Forschungen? Mit Ihrem Gehalt? Immerhin waren Sie bereits vor sechs Jahren in Windhoek und im Groß-Namaland. Auch schon zu Studienzwecken. Drei Monate lang." Er tippte dabei auf die Einreiseerklärung, und Grimm dachte an die dort nicht erwähnten Aufenthalte in Botswana, Lesotho, Angola, ordentlich vorbereitete, nicht überstürzt gestartete Trips. "So was kostet doch Geld!"
"Damals hatte ich ein Stipendium", sagte Grimm.
"Und diesmal?"
"Hab ich eine Tante beerbt." Die Antwort kam so prompt und so fest wie die Frage.
"Schwein muss man haben." Der Commissioner seufzte, holte ein Blatt aus seinem Schreibtisch, drückte auf einen Knopf und erhob sich.
Grimm stand ebenfalls auf. Er atmete durch.
"Schön, Doktor. Hier ist ein Antrag auf Reiseerlaubnis. Sie werden doch in Begleitung fahren?"
Grimm nickte und erkundigte sich, wann er mit der Erlaubnis rechnen könne.
"Das liegt am 'Safariservice'. Fragen Sie im Windhoeker Büro!" Und zu dem Untergebenen, der eingetreten war: "Wie steht's?"
"Wir sind fertig, Baas. Hier das Protokoll."
Der Commissioner überflog das Blatt; las genauer. Es war ein längerer Text, mit Maschine geschrieben; mehr auszumachen gelang Grimm nicht.
"Gut. Die Sachen rausgeben und den Antrag mir vorlegen!"
"Okay, Baas."
"Wo werden Sie absteigen, Doktor?"
"Wahrscheinlich im 'Schwäbischen Hof'", sagte Grimm, in Gedanken bei anderen Fragen.
"Na, dann schöne Tage in Windhoek und viel Erfolg!"
Als Grimm die Hand drückte, versuchte er, die Miene des Commissioners zu ergründen. Vergebens. Auch vom Gesicht des Beamten, der neben ihm herging, vermochte er nicht abzulesen, ob man in seinem Gepäck etwas Suspektes entdeckt hatte.
Sie durchquerten die Halle, wo man inzwischen weitere Passagiere zurückgehalten hatte. Unter den verdächtigen Subjekten, mit denen sich der Commissioner beschäftigen würde, befand sich auch ein Mann aus der Safarigruppe, ein aufgeschwemmter, schwitzender Berliner. Er jammerte, die Busse seien weg, und er komme vor Durst noch um.
"Na, na", sagte Grimm. "So schlimm wird's nicht werden."
Sein Koffer und die Tasche standen unverschlossen in einer der Kabinen auf einem Tisch. Dahinter befand sich eine Waschgelegenheit: über einem Becken mit Seifenschale und Handtuchhalter ein fest in die Wand eingelassener Spiegel.
"Überprüfen Sie bitte die Vollständigkeit und unterschreiben Sie!" Der Beamte legte eine Quittung neben die Tasche.
"Es wird schon nichts fehlen", erwiderte Grimm. "Darf ich hier drin den Antrag ausfüllen?"
"Bitte sehr. Dafür ist die Kabine da."
Auch als er allein war hinter dem Vorhang, vor sich das merkwürdige Spiegelglas, unterdrückte er den Wunsch, die Mappe herauszunehmen und nachzusehen. Er schloss bedächtig Koffer und Tasche, stellte sie auf den Boden, setzte sich und begann das Formular auszufüllen.
Der Bogen bedeckte sich rasch mit eckigen, energischen Schriftzügen. Nur einmal stockte die Hand.
"Arrest from... to... because... - Haft von... bis... wegen..."
Verdammt, was ging das die an? Verfolgte ihn diese Geschichte denn bis hierher? Untersuchungshaft und Ermittlungsverfahren zählte so was überhaupt als "arrest"?
"Grimm da sind wir ja noch mal mit einem blauen Auge davongekommen! Ach was - bedanken! Ich werd doch meinen begabtesten Schüler nicht im Stich lassen!"
Der Professor, der auf seinen Oberassistenten zueilte, schien ihn umarmen zu wollen. Kurz vor ihm blieb er stehen, und sein welkes, gelbliches Gesicht verzog sich.
"Wir sehen nicht gut aus, Grimm. Er ließ die Arme sinken und wies zu den abgewetzten Sesseln, die in einer Ecke seines Allerheiligsten einen Platz behaupteten. "Setzen wir uns! Erzählen Sie. Einen Schluck Sprudel?"
Er holte aus dem Kasten neben dem Schreibtisch eine Flasche Mineralwasser aus einem der vollgestopften Regale, die bis zur Decke reichten, zwei fleckige Gläser und goss ein. "Schießen Sie los! Auch drei Wochen können ihre Spuren hinterlassen. Knast - diese Erfahrungen haben Sie mir voraus."
"Es war nur Untersuchungshaft, Herr Professor. Eigentlich eine Banalität. Ich bin durch puren Zufall reingeschlittert."
"Zufall - na, na... Einen Bullen schlägt man nicht zufällig nieder. Es sei denn, man weiß vor Kraft und Übermut nicht, wohin."
Guterjahn nippte an seinem Mineralwasser -. neben grünem Tee das einzige Getränk, das er sich genehmigte, seit die Ärzte ihm eröffnet hatten, dass von seiner Leber nur noch etwa ein Drittel funktioniere. - "Der Preis der Tropen, Professor. Man verbringt nicht ungestraft ein halbes Jahrzehnt im schwärzesten Afrika. Wenn Sie die Sechzig erleben und Ihr Handbuch beenden wollen, heißt's ab sofort, Asket sein!"
Damals, im März neunzehnhundertachtzig, nach Grimms Untersuchungshaft, war Professor Guterjahn gerade sechsundfünfzig geworden, und Grimm wusste, wie es um den "Alten" stand. Ihm war auch bekannt, welche Hoffnungen der ·Professor auf ihn setzte.
- Grimm, dieses Kabuff hier räume ich nur für Sie. Ich habe weder Kind noch Kegel. Mein ganzer Reichtum - eine Geste umfasste die Kostbarkeiten in den Regalen und die Landkarten allenthalben - gehört, sobald ich bei den Ahnen bin, Ihnen.
Das hatte der Professor seinem Oberassistenten wiederholt in Aussicht gestellt, und stets war unüberhörbar noch etwas anderes angeklungen.
- Machen Sie hin, Grimm, mit der Habilitation! Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wenn wir einem der protegierten Schaumschläger zuvorkommen wollen, müssen wir uns beeilen.
Damals, vor knapp anderthalb Jahren, schien das Gespenst im Nacken eine Weile vergessen. Mochte die Leber kaputt sein, der Kopf war noch klar. Er, Guterjahn, der sieche, als weltfremd belächelte Professor, hatte "seinen Grimm" den Klauen staatlich beamteter Ignoranten entrissen; er stauchte das Glas mit den Daumenabdrücken wie einen Humpen auf den bücherbeladenen Tisch.
"Es war sicher nicht einfach, mich da rauszuboxen." Grimm tat, als betrachte er interessiert das Wasser, dessen Perlen an der Oberfläche zerplatzten.
"Einfach..." Der Professor schaute auf seine geäderten, vorzeitig altersgefleckten Hände. "Als Spezialist für Schwarzafrika hat man ein paar Beziehungen. Industrie, ein, zwei Ministerien... Da ist so was kein Kunststück."
Grimm sah auf, und auch Professor Guterjahn hob den Blick. "Aber jetzt erzählen Sie endlich! Was hat Sie denn nun tatsächlich hingerissen? Ein kühler, nüchterner Kopf wie Sie..."
Grimm nahm einen Schluck von dem mineralhaltigen Zeug. "Es war wirklich Zufall", sagte er. "Ich kam vom Institut, war in Gedanken wie meist auf dem Heimweg; eigentlich bin ich bloß stehengeblieben, weil ein Auflauf den Gehsteig blockierte. Gaffer und Polizei, die sich einen Haufen Hausbesetzer vornahm. Ich wäre weitergegangen, hätte ich nicht gesehen, wie so ein Knüppelheld auf ein Mädchen einschlug."
"War sie wenigstens hübsch, die junge Dame?", erkundigte sich Guterjahn.
Grimm zuckte die Schultern. "Das auch, aber in dem Moment war es nebensächlich, Ehrenwort. Da sah ich rot, und irgendwas hakte aus."
"Das kann ich verstehen." Guterjahn lächelte. "Mir ist so was mal bei den Bakongo passiert. In Ihrem Alter. Sie führte den schönen Namen Katuma, und die Staatsgewalt verkörperte ein Dorfpotentat, aber sonst war alles genauso. Quasi reflektorisch. Und natürlich alles Zufall, na ja!"
Mit einem Schwung, der die Schwäche seines Körpers verhehlte, kam er auf die Beine, und Grimm sprang ebenfalls auf. "Hoffen wir", fuhr der Professor fort, "dass sich solche Zufälle nicht wiederholen! Und dass Ihr K.-o.-Schlag ohne weitere Folgen bleibt; Politik ist nichts für unser Metier..."
Jetzt knapp eineinhalb Jahre später, Mitte August neunzehnhunderterteinundachtzig, erhielten diese Worte plötzlich prophetischen Sinn. Hatte Guterjahn schon damals geahnt, wie eins ins andere greifen würde, um Grimm vor eine spiegelnde Scheibe in einer Kabine auf dem Airport "j. G. Strijdom" in Ondekaremba bei Windhoek zu bringen? Und was, wenn jene Haft auf diesem Reiseantrag unterschlagen wurde?
Wir werden ja sehn, sagte sich Grimm, während er hinter "arrest" drei Striche machte.
Dann war das Blatt unterschrieben und abgegeben. Beladen mit Koffer und Tasche, passierte Grimm den Durchlass. Endlich!
Von einer der Polsterbänke am Ausgang der lärmerfüllten Halle erhob sich eine Dame - Lu Overbeck. Grimm, umringt von Burschen und Männern, die nach seinem Gepäck griffen, stockte, überließ einem der Träger den Koffer, packte die Tasche fester und ging auf Lu zu.
"Sie - hier?"
"Die Touristenbusse sind weg. Da habe ich mir erlaubt, für uns ein Taxi zu chartern. Recht so?"
"Ausgezeichnet", sagte Grimm.
"Gehn wir?", fragte sie.
"Gehn wir!", sagte er.
Der Lärm blieb zurück. Gefolgt von Gepäckträgern, traten Lu und Grimm aus der schattigen Halle in grelles, gleißendes Licht. Auf dem Platz vor dem Flughafengebäude stand die Hitze wie eine Wand.
Ein Taxi rollte heran, ein Mercedes. Die Koffer wurden verstaut, die Träger entlohnt. Dann saß Grimm neben Lu im Fond der klimatisierten Limousine, die fast lautlos anfuhr.
Als sie leicht federnd auf die Straße nach Windhoek einbog, glitt hinter ihr ein sandgelber Chrysler vom Parkplatz - am Lenkrad ein Mann in türkisfarbenem T-Shirt.
Die Straße Gobabis - Windhoek schnitt bleigrau durch die sanft gewellte braungelbe Ebene. Rechts und links der Fahrbahn schien das Grasland mit den Inseln aus Dornengestrüpp und Akazien unter der Hitze zu stöhnen. Im Fond des Mercedes spürte man nichts von der nachmittäglichen Glut.
Grimm hatte sich bequem in die Polster gelehnt. Er schaute hinüber zum Auas-Gebirge, suchte die Stelle, die Aredareigas hieß, warf einen Blick durch die Heckscheibe, dorthin, wo der Tower des Airports wie ein grauer Pfahl aus dem Geflimmer der Steppe ragte...
Den Wagen, der ihnen folgte, beachtete er nicht.
Asphaltexotik, ging es Grimm durch den Kopf. Da ist man nun endlich wieder in Südwest, aber in Afrika ist man nicht. Das Land der Nama und der Herero, das umstrittene Grenzland, die Urheimat meiner Buschmänner - hinter Glas. Im Achtzigmeilentempo durch eine Gegend, wo einst Gnus ästen, Pfeile schwirrten, Rinder brüllten, lange bevor der erste Ochsenkarren eine flüchtige Spur hinterließ.
"Ärger gehabt?" Die. Stimme von Lu Overbeck riss Grimm aus seinen Gedanken.
"Ärger? Wieso?"
"Na,weil wir so schweigsam sind. Und weil's bei Zoll und Co. eine Weile gedauert hat."
Grimm holte tief Luft. "Die Filzer haben ihre Pflicht getan, und das gewissenhaft."
"Stimmt, so sagt man." Lu zeigte ihr makelloses Gebiss. "Aber weshalb dann die Schweigsamkeit?"
"Tja, weshalb?", sagte Grimm. "Muss man denn unbedingt reden?"
"Nicht unbedingt, und 'muss' ist ein schreckliches Wort. Trotzdem gäb ich was drum, zu erfahren, woran Sie eben gedacht haben. Wirklich nicht an gewisse Beamte?"
"Bestimmt nicht, ich schwör's." Grimm hob die Hand.
"Na, und worum sind vorhin Ihre Gedanken gekreist?"
Grimm schlug ein Bein übers andere, schickte einen Blick in die Runde und wies zum Auas-Massiv. "Sehn Sie da drüben, dicht am Osthang, das Plateau?"
"Ja, und?"
"Diese Stelle heißt Aredareigas. Dort befand sie noch vor achtzig Jahren ein so genannter Sterbeplatz. Pferdesterbe - eine verheerende Seuche, der alljährlich zwischen Januar und Mai mehr als die Hälfte der Koppeln zum Opfer fiel, falls man die Tiere nicht rechtzeitig aus den Niederungen auf solche hochgelegenen Plätze brachte."
"Interessant." Die Lippen von Lu verzogen sich, und die Hand deutete auf die Hütten und Häuser, die rechts vorn in Sicht kamen. "Und das dort, Herr Doktor?"
"Das ist Kapps" antwortete Grimm nach kurzem Besinnen. "Achtzehnhundertsechsundneunzig hat ein cleverer Preuße mit Namen Friedrich Wilhelm Kapp auf diesen Hügeln für zehn Kisten Whisky eintausendfünfhundert Hektar Farmland erworben. Seitdem heißt der Platz nach dem besagten Herrn Kapp, und dass er jahrhundertelang zum Beispiel bei den Kchobesin, einem Stamm der so genannten Hottentotten, Goas und bei Ovaherero Otjiaru hieß, wissen außer ein paar uralten Eingeborenen wahrscheinlich nur noch ein, zwei historisch interessierte Ethnologen."
"Bestanden", sagte Lu, doch dann änderte sich ihr Tonfall, wurde ernst, beinah traurig. "Es muss schön sein, so an seinem Job zu hängen, so Bescheid zu wissen..."
"Ach was!", fiel ihr Grimm ins Wort. "Ich habe eben auf den Putz gehauen. Und war vorhin tatsächlich mit solchen Gedanken beschäftigt. Man nennt so was Fachidiotie. Zufrieden?"
Im selben Moment bremste der Schofför, und kurz darauf verließ der Wagen die Straße, folgte einer Umleitung - ein Weg, holprig wie verbeultes Wellblech.
"What's the matter? - Was ist los?", fragte Grimm.
"The bridge", sagte der Schofför. "Bursten." Es waren die ersten Worte, die man seit der Abfahrt von ihm zu hören bekam.
"Eine Brücke - gesprengt?" Lu guckte ungläubig.
Der Schofför wies mit dem Kopf zu einer Stahlkonstruktion, die links vorn eine Rinne, offenbar das Bett eines der ausgetrockneten, periodisch fließenden Bäche, überspannte. Das Mittelteil war eingeknickt; ein paar Streben ragten bizarr in die Luft. Auf der anderen Seite parkten ein Jeep und zwei Lastkraftwagen. Mehrere Männer in Overalls, auf den Köpfen signalrote Schutzhelme, machten sich unter Aufsicht bewaffneter Militärposten an der lädierten Stahlkonstruktion zu schaffen.
Grimm tippte dem Schofför auf die Schulter. "Stopp, please! - Bitte anhalten!"
Der Fahrer wich erst einem entgegenkommenden Bus aus, eh er erwiderte, das sei verboten.
"Ach was!" Lu Overbeck griff in die Brusttasche ihrer Bluse, zog einen Schein hervor, eine Zwanzigrandnote, die sie mit Daumen und Zeigefinger dem Schofför vor die Nase hielt.
War es ein Reflex, war es Berechnung? Der arme Kerl am Lenkrad, vor Augen den Köder und durch ihn in der Sicht beeinträchtigt, kurvte nach links, riss das Steuer rechtsrum ... Die Karosserie stauchte auf eine steinharte Bodenwelle, der Motor jaulte auf und wurde abgewürgt, der Wagen stand.
"Na also!" Daumen und Zeigefinger ließen den Geldschein los.
Grimm schüttelte den Kopf und räusperte sich.
"Was ist?", fragte Lu. "Wollten wir nun anhalten, oder?"
Der Schofför war schon ausgestiegen. Er riss für Lu die Tür auf, klappte unverzüglich die Motorhaube hoch und beugte sich über die Eingeweide seines misshandelten Fahrzeugs.
"Can I help you? - Kann ich Ihnen helfen?"
Neben dem Mercedes stand mit leise schnurrendem Motor ein sandgelber Chrysler. Ein hellblonder Mann in türkisfarbenem T-Shirt hatte sich herübergebeugt; aus dem herabgekurbelten Fenster blitzten blendend weiße Schauspielerzähne.
"Thank you, Sir! - Danke, Herr!" Der Schofför beeilte sich zu versichern, er komme schon allein klar.
Es wurde überhört. Der Chrysler, ein Leihwagen, wie Grimm vermutete, fuhr ein Stück, um den Gegenverkehr vorbeizulassen, setzte federnd zurück und parkte. Schnurrend wie eine Raubkatze stand er vor dem Mercedes; theatralisch wie ein Dompteur stieg der Blonde aus. An seinem Handgelenk baumelte eine Kamera, einer jener Apparate, mit denen man wie ein Zirkusartist, der aus der Hüfte schießt, im Vorbeigehen knipsen kann.
Und genau das tat jetzt der Blonde: Er kam um den Chrysler herum, trat in die Lücke zwischen dessen Heck und der hochgeklappten Motorhaube des Mercedes, die Kamera in Hüfthöhe, einen Finger am Auslöser, vor der Linse die gesprengte Brücke samt Jeep und Militär...
"Ist der verrückt?", fragte Grimm.
Er hatte alles schweigend verfolgt. Er war überzeugt, den Blonden schon einmal gesehen zu haben, und während er noch überlegte, wann es gewesen war, bemerkte er, dass man drüben auf die parkenden Wagen aufmerksam wurde. Einer der Posten erhob sich und ging, über der Schulter die Maschinenpistole, auf die beschädigte Brücke - gerahmt von zwei verbogenen Streben der Stahlkonstruktion einen Augenblick lang ein prächtiges Motiv.
In eben diesem Augenblick klickte der Apparat, und fast gleichzeitig klickte es bei Grimm: Der Blonde hinter der Brüstung vorhin auf dem Airport, der Kerl, der mich von der Balustrade herab gemustert hat... Nicht unsympathisch, und doch... Taucht hier auf, knipst ein brandheißes Objekt und lockt das Militär her, uns auf den Hals!
"Ist der verrückt?"
"Aber Doktor!" Lu packte Grimm am Arm.
"Ah, germans! - Deutsche!" Der Blonde versenkte seine Kamera mit dem Gehabe eines Taschenspielers hinter dem herabgekurbelten Fenster und zauberte ein Abschleppseil hervor. "Ich spreche ein wenig Deutsch", erklärte er akzentuiert, während er dem Schofför das Seil zuwarf. "Van Draken - mein Name."
Sicher ein Burenspross, ging es Grimm durch den Kopf. Entweder ein Provokateur oder ein Herrensöhnchen vom Kap.
"Bure?", fragte er.
"Danebengetippt." Van Draken lachte strahlend und knuffte Grimm vor die Brust. "Aber so ist das immer: Ich stelle mich vor, und jedermann - heißt es so? -, jedermann denkt, ich bin aus Südafrika. Dabei, ich stamme aus Rotterdam und bin zum ersten Mal in Namibia. Und ihr?"
"Ich auch", sagte Lu.
Grimm überhörte die Frage. Der Posten, sah er, kam ohne Eile, doch unaufhaltsam näher.
"Ein kleiner Kläffer", sagte der Holländer. PLAN, die Volksbefreiungsarmee Namibias, der bewaffnete Arm der SWAPO, der Südwestafrikanischen Volksorganisation, habe den Hunden vom Kap einen Streich gespielt. "Und jetzt spielen auch wir ihnen einen Streich."
Er zwinkerte Lu zu, und Lu zwinkerte wieder. Oder hatte sie zuerst mit den graugrünen Augen gefunkt?
Ihr habt gut flirten, dachte Grimm; bei euch geht's nicht um eine Reiseerlaubnis. Wenn der Posten uns festnagelt; wenn er bloß die Personalien verlangt...
Endlich hatte der Schofför das Seil befestigt. Er stürzte ans Steuer des Mercedes, startete mit zitternden Händen. "Please, Sir, Mylady, please! - Bitte, Herr, Herrin, bitte!"
Der Posten war keine zehn Schritt mehr entfernt, doch Lu und van Draken ließen sich Zeit, und plötzlich kam Grimm der Verdacht, die beiden spielten ein abgekartetes Spiel. Aber weshalb das, in wessen Auftrag? Und überhaupt: Wozu soviel Aufwand?
Dreh nicht durch! wies sich Grimm zurecht, und als der Posten heran war und van Draken startete, stemmte er sich gegen den Mercedes, schob. Eine Hand legte sich auf seine Schulter; da hatte sich das Seil gespannt, und der Wagen kam frei. Grimm rannte hinterher, sprang neben Lu, die schon im Fond saß, und schmiss die Tür zu.
Durch die Heckscheibe sah er, dass der Posten, eingehüllt in eine Staubwolke, etwas notierte.
"Schöner Mist!", stieß Grimm hervor.
"Etwa Schiss?", fragte Lu.
"Wenn kein Wunder geschieht", erwiderte er, "hat unser Schofför am längsten eine Lizenz gehabt."
"Wir können ja bei der Behörde ein Wort für ihn einlegen", schlug sie vor.
Ein Hupton enthob Grimm einer Antwort. Der Chrysler blinkte und fuhr rechts ran. Auch der Mercedes hielt wieder an.
Während der Schofför das Seil loszuknüpfen und zusammenzulegen begann, dankte Lu dem Holländer.
"Dank? Wofür? Es war doch meine Sache!"
Lu hob die Brauen. "Wieso?"
Van Draken warf einen Blick zu dem Schofför, schaute sich um.
Die Wagen standen am Rand der Rinne, die hier sehr flach war, eine von Steinbrocken gesäuberte, an der Sohle planierte Delle im Gelände. Den Hang gegenüber tastete sich ein Taxi hinab; an ihnen schob sich ein Lastzug vorüber. Der Posten war hinter einer Bodenwelle verschwunden, von der gesprengten Brücke nur noch ein Teil der Stahlkonstruktion zu sehen.
Ich interessiere mich für die SWAPO", sagte van Draken, und Grimm fiel auf, dass der Holländer Deutsch besser als nur "ein wenig" sprach. "Das dort" - van Draken wies zu dem Brückenteil - war keine Meisterleistung, aber sonst macht die SWAPO Südafrika ganz schön zu schaffen, und diesen Kampf möchte ich unterstützen. Mit einem Buch, einem Text-Bild-Band."
"Bist du Fotoreporter?" erkundigte sich - schon recht vertraulich - Lu.
"Nur Schreiber, Journalist." Van Draken gelang ein Ausdruck von Bescheidenheit. "Der Fotomann - übrigens ein Deutscher - wollte nachkommen mit eurer Maschine. Eigentlich schon mit der Maschine davor. Nun muss ich fürchten, er lässt mich sitzen. Die jüngsten Nachrichten von hier..." Wieder eine Bewegung zu der Brücke.
"Na", sagte Lu, "vielleicht findet sich ein anderer Partner."
"Vielleicht..."
Grimm kam sich wie auf einer Schmierenbühne vor, wie bei einem extra für ihn inszenierten Schauspiel. Lu und van Draken schwiegen, als warteten sie auf etwas, und auch der Schofför, der sich wieder über den Motor gebeugt hatte, schien zu lauern.
Soll ich etwa mitspielen? fragte sich Grimm. Hab ich den Einsatz verpasst; ist eben mein Stichwort gefallen?
"Fahren wir!", sagte van Draken. "Ihr wollt doch auch nach Windhoek, oder?"
"Ich nur für zwei Tage", antwortete Lu.
"Habt ihr schon ein Quartier?"
Sie nickte und sah fragend zu Grimm.
Der zuckte die Schultern.
"Na, wunderbar!" Van Draken knuffte ihn vor die Brust. "Unterkunft ist knapp in Windhoek, aber ich habe ein zweites Hotelzimmer gemietet. Für meinen Partner, den Fotomann. Im ,Schwäbischen Hof', dem Lieblingslokal der Deutschen. Fassade aus der Kaiserzeit, sonst aber alles - first dass!"
Luxus, auf antik getrimmt, dachte Grimm bei einem Blick durch das Zimmer. Er drückte dem Boy, der das Gepäck transportiert hatte, fünfzig Cent in die Hand und griff nach der Tasche.
"Und hier, Sir..." Der Boy in der Livree des Hotels "Schwäbischer Hof" zu Windhoek bestand mit undurchdringlicher Miene darauf, dem neuen Gast von Zimmer 203 das Bad und die Toilette, das Telefon und die Klimaanlage, den Radioapparat und den Fernsehempfänger - holzverkleidet, Jugendstilimitation - vorzuführen. Er sprach ein akzentfreies Deutsch, wie Grimm es bisher nur von wenigen farbigen Namibiern gehört hatte, und flocht an wohlberechneten Stellen immer wieder ein "Sir" ein.
Schlau gedrillt, dachte Grimm. Welchem Edelgermanen gehn nicht Herz und Brieftasche auf, wenn er fern der Heimat in seiner Muttersprache umbuhlt und zum Sir befördert wird? Möchte wissen, was der Boy dabei denkt - dem Aussehen nach ein Herero. Oder?
Endlich war die Vorführung beendet, und ein zweites Halbrandstück verschwand in der Hand des Livrierten.
"Vielen Dank, Sir. Wenn Sie einen Wunsch haben..."
"Meld ich mich", sagte Grimm. "Okuhepa uandje. - Ich hab zu danken."
Der Boy, schon an der Tür, erstarrte, drehte sich um.
Also doch ein Herero, ging es Grimm durch den Kopf, als er in den plötzlich offenen Zügen die Verblüffung, die Freude sah.
"Muhona, ami... - Ich, Herr ... " Der Boy suchte nach Worten.
"Schon gut", sagte Grimm. "Vielleicht plauschen wir mal ein bisschen. In Otjiherero, damit ich wieder in Übung komme."
Der Boy nickte kurz. Auf seinem Gesicht stritten jetzt Freude und Misstrauen. Wortlos drückte er sich hinaus.
Blödes Land, dachte Grimm, wo jede menschliche Geste beargwöhnt wird. Wahrscheinlich hast du recht, Herero in Livree, und es erginge dir schlecht, wenn man dich bei einem Plausch mit einem Weißen beobachten würde.
Grimm riss das Fenster auf. Gleich drangen Lärm und Hitze herein. Die Luft erschien ihm trotzdem frischer.
Und dann stand Grimm vor der Gepäckbank. Er hatte sich geduscht und flüchtig abfrottiert. Unter seinen Sohlen bildeten sich auf dem moosgrünen Fußbodenbelag feuchte Tapfen.
Die Tasche mit der Mappe und dem Necessaire... Vor Groll über die verdammte Rassenpolitik, die Apartheid, hatte er ganz die Schnüffler von Zoll & Co. vergessen. Ob ihnen an seinem Gepäck irgendwas verdächtig vorgekommen war?
Bevor Grimm nachsah, schloss er das Fenster und kontrollierte die Tür. Nackt, über der Schulter das Badetuch, nahm er die Mappe aus der Tasche, trug sie zum Bett, öffnete sie vorsichtig.
Auf den ersten Blick unterschied sich das Chaos kaum von der Unordnung, die vorher zwischen den Deckeln geherrscht hatte .Fotokopien aus Fachbüchern, handschriftliche Auszüge, Privatbriefe jüngeren Datums staken zusammen mit leeren Blättern, Notizzetteln und Agfacolor-Abzügen in Fächern und unter elastischen Bändern. Handmaterial eines Wissenschaftlers, Visitenkarte eines Junggesellen.
Klar, dass die Spezialisten des Commissioners die Sachen unter der Lupe gehabt hatten; damit war zu rechnen gewesen und schon im Kabuff des Professors gerechnet worden. Was Grimm seit der Kontrolle auf dem Airport beschäftigte, war ein anderes Problem, die Ungewissheit: Hatte man in dem Wust ein bestimmtes Blatt entdeckt, war dieses Stück Papier überhaupt noch da? In welchem der Fächer befand es sich jetzt?
Während er suchte, beherrscht, bedächtig, stieß er auf ein Farbfoto, das gemeinsam mit vier anderen Colorabzügen, drei Notizzetteln, einem Pornoheft und allerlei Sonderdrucken ethnologischer Fachzeitschriften verstaut gewesen war. Auch diese Gruppe hatte in scheinbarer Unordnung ihre feste Ordnung gehabt. Die war nun durcheinander geraten, was Grimm nicht sonderlich wunderte. Beunruhigend, dass ausgerechnet jenes Farbfoto zuoberst lag.
Es glich in Format und Ausführung, ja selbst im Motiv den anderen Abzügen. Sie alle stellten farbige Felszeichnungen dar: springende Antilopen, Gnus, Elefanten, Nashörner, von Speeren getroffen, Jäger mit Pfeil und Bogen beim Schuss... Das Bild obenauf hatte als einzige Besonderheit einen ungewöhnlichen Farbton, ein Blaugrün, das an sich nicht weiter auffiel; man musste schon Bescheid wissen und genau hinschauen, um die merkwürdige Farbtönung überhaupt wahrzunehmen.
Grimm schenkte dem jetzt keine Beachtung. Angespannt betrachtete er die Hochglanzschicht. Papillarlinien, tatsächlich!
Auch auf drei der vier anderen Abzüge fanden sich Fingerabdrücke. Ein Schnüffler mit schweißigen Händen? Warum nicht? Weshalb aber hatte der Kerl dieses Foto herausgegriffen und so auffällig zurückgetan? Ein Zufall? Eine Warnung?
Unsinn! sagte sich Grimm. Da müsste einer ja ein Superhirn, ein Hellseher sein, um sich aus dem Ding hier was zurechtzukombinieren!
Und wenn nun die Spezialisten von Zoll & Co. besser sind als du? Was verstehst du schon von Geologie und dergleichen? Wüsste man bloß genau, was es mit dem verdammten Grün auf sich hat!
"Keine Ahnung, Grimm." Professor Guterjahn nahm einen Schluck Mineralwasser aus seinem fleckigen Glas und fragte: "Ist das überhaupt für uns von Bedeutung?"
Grimm sah ihn an, wortlos und wohl so großäugig, wie er selber manchmal von Heli angeschaut wurde.
Guterjahn wich dem Blick aus. "Was wird's schon auf sich haben? Wahrscheinlich was Geologisches. Vielleicht stecken Diamanten dahinter. Blaugrund... Soviel ich weiß, spielt so ein Begriff in dieser Branche eine Rolle. Oder es geht um Uranpechblende oder dergleichen. Ich hab mal nachgeschlagen. Erstaunlich, wie viele Uranerze es gibt, und die meisten haben laut Lexikon einen blauen oder grünlichen Schimmer. Und erst die seltenen Erden..."
Der Professor verstummte, um den Mund einen fast kindlichen Zug. Grimm kannte diese Verblüffung angesichts der Vielfalt der Natur, ein Gefühl, das auch ihn immer wieder packte. Und oft erging es ihm dann wie Guterjahn jetzt: Das andächtige Staunen wich der Erkenntnis, dem Kummer, dass man in seinem kurzen Leben bestenfalls einen Bruchteil all der Wunder zu begreifen, geschweige selber zu erforschen vermochte.
"Grimm, was wissen wir schon?" In den Kummer mischte sich Bitterkeit. "Wenn's hoch kommt, beherrschen wir ein Feld, groß wie ein Gemüsebeet. Bei mir sind es ein knappes Dutzend Bantusprachen mit ihrem Drum und Dran: Gepflogenheiten, Sitten und halbverschüttete Bräuche - mein Spezialkohl. Was sich hinter dem Gartenzaun tut, schon was auf dem Nachbarbeet wächst..."
Er winkte ab, und Grimm gab ihm recht und wehrte sich zugleich gegen die Resignation, die sich breitmachen wollte. Die Bitterkeit des Professors erinnerte ihn an die Geringschätzung, die sein Vater, Grimm senior, geäußert hatte, damals, als ihm Grimm junior mit seinem Studienwunsch gekommen war.
- Ethnologie und Geschichte, südliche Bantusprachen? Da wirst du ein Schmalspurexperte, der keinen Hund hinterm Ofen vorlocken kann.
- Als wär deine Thoraxchirurgie auf ihre Art nicht auch ein Schmalspurgewerbe!
- Aber ich werde gebraucht, mein Lieber; man zahlt mir dafür, bezahlt mich nicht schlecht!
- Ihr und euer verdammtes Geld! Als gäb's auf der Welt nicht noch andere Werte!
- Du wirst ja sehn, wie weit du mit deinen "anderen Werten" kommst.
Grimm schob die Erinnerung an das Gespräch beiseite. Professor Guterjahn war nicht Grimm senior, war, wenn schon, all die Jahre eher ein Vater gewesen als jener Erzeuger und Erfolgsanbeter. Ihn hatte man nie von der Notwendigkeit schlechtbezahlter Spezialkenntnisse überzeugen müssen; er liebte dieselbe uneinträgliche Wissenschaft mit gleicher Leidenschaft, und wenn ihm Zweifel an der Unbegrenztheit menschlichen Strebens kamen, waren es Zweifel, die ihn einschlossen, ihn persönlich zuerst betrafen.
Guterjahn war der eigentliche, der geistige Vater von Grimm, in vieler Hinsicht dessen ältere, von Krankheiten beschädigte Erstausgabe. Krankheit und Alter - zumindest darin unterschieden sich beide; und jetzt, an einem Abend im August neunzehnhunderteinundachtzig, trat dieser Unterschied deutlicher denn je hervor.
"Schön", sagte Grimm, "wir sind Fachidioten. Als solche haben wir das Recht und die Pflicht, uns außerhalb unserer Spezialstrecke ein Licht aufstecken zu lassen. Oder müssen wir lostappen, wenn man's wünscht, und dürfen nicht mal fragen, wo's hingeht?"
"Und ob ich gefragt hab!" Der Professor biss sich auf die welken Lippen.
"Ja, und?"
"Besser, wir wüssten nicht zuviel."
"Ach! Und das haben Sie geschluckt? Ich hätt diesen Industriemenschen..."
"Gar nichts hätten Sie!" Guterjahn griff nach dem Glas, ließ es unberührt. "Was heißt überhaupt 'geschluckt'? Der Mann hat recht, wenn man's genau bedenkt; es ist tatsächlich von Vorteil, nur so viel zu wissen, wie gerade gebraucht wird."
"Schöne Philosophie! Das ist Vogel-Strauß-Politik."
"Eben nicht, Grimm. Seien wir doch ehrlich! Posaunen Sie etwa aus, dass Sie drauf und dran sind, den Coup Ihres Lebens zu starten, Buschmannkunst der Gegenwart zu erforschen, Felsgemälde, die noch nicht ganz trocken sind?"
Diese Worte, obwohl unter vier Augen gesprochen, seine Absicht, so offen beim Namen genannt - schon das allein ließ Grimm den Atem stocken. Er schwieg. Zudem war das alles zu neu und zu fantastisch: das Foto, das vor ihm lag, die Story dazu, das Angebot, mit der nächsten Maschine der South African Airways nach Windhoek zu fliegen... Der Gedanke, es könnte ihm jemand zuvorkommen, oder - noch schlimmer - in die Quere, könnte eine sensationelle, ja revolutionierende Entdeckung verhindern...
"Sehn Sie", fuhr Guterjahn fort, "und bei diesen Leuten aus der Industrie ist es ähnlich: Sie haben dort unten was im Auge, was ihnen niemand wegschnappen soll, etwas, das für ihre Firma einigen Wert besitzt..."
"Wobei es", wandte Grimm ein, "allerdings einen Unterschied gibt: Uns geht es um eine Erkenntnis, die den Eingeborenen zugute käme, nicht um Profit auf Kosten des Landes."
"Das stimmt", erwiderte Guterjahn, "obwohl natürlich auch wir nicht ganz uneigennützig sind und die Industrie nicht nur zum Nachteil Namibias wirtschaften würde. Überhaupt, Grimm, Mann, wir sitzen hier wie Verschwörer; dabei dreht's sich im Grunde um etwas völlig Legitimes: um ein Geschäft in beiderseitigem Interesse unter Ausschaltung Dritter. Man gibt uns Geld und verlangt eine Gegenleistung, finanziert uns ein fantastisches Projekt und erwartet dafür nicht viel mehr als eine Gefälligkeit. Sie, Grimm, holen sich aus einer Buschmanngrotte das letzte Material für Ihre Habilitation und bringen bei der Gelegenheit von derselben Felswand eine Farbprobe mit. Na?"
War es die Wortwahl, die störte, die Erinnerung an Prinzipien, die Grimm senior verfocht, die Gleichsetzung mit Vertretern einer Ordnung, gegen die Grimm junior als junger Student opponiert hatte? Oder wehrte er sich, weil er nicht klein beigeben wollte, weil es Professor Guterjahn war, der wie Grimm senior sprach, weil er, Grimm junior, wie ihm jetzt bewusst wurde: sich seit Jahren auf einem Rückzug befand?