Ist Philosophical Correctness eine Kommunikationswissenschaft? - Rolf Friedrich Schuett - E-Book

Ist Philosophical Correctness eine Kommunikationswissenschaft? E-Book

Rolf Friedrich Schuett

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Beschreibung

"In einer ehrwürdigen Universität müsste die bloße Erwähnung eines zeitgenössischen Problems verboten sein." (Nicolás Gómez Dávila) „Ein Lehrer, der nicht dogmatisch ist, ist einfach ein Lehrer, die nicht lehrt.“ (Gilbert K. Chesterton) Das Buch enthält nach frühromantischem Modell eine Komposition aus Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Poesie, Essay und Literatur, Religion und Ökonomie, Intellekt und Intuition. Diese degagierten Texte und reaktionären Reflexionen wenden sich an die mehr oder weniger gebildete Muße von Lesern, für die eine reine Theorie im Elfenbeinturm praktischer ist als jedes aktive Tun in der Gesellschaft. Aus dem Inhalt : Industrialismus und Freiheit Philosophie des Zen-Buddhismus Topographie des Unbewussten Maimons Weg von der Aufklärung zum Idealismus Literarischer und philosophischer Stil Friedrich Schiller : Sentenzen zwischen Kant und Goethe Prekäre Proletarität heute Kurzgeschichte der deutschsprachigen Literatur Ich denke, also bin ich ausgedacht Autorität des alten Autors Pseudoplatonischer Frühdialog Neue Geschichte alter Geschichten Von Ideen zu Idyllen Literaturverzeichnis : Aufzeichnungen – Notizen – Reflexionen "Die beste Wächterin der Natur ist die Ruhe." (Shakespeare : King Lear) "Ruhe ist das erste Bürgerrecht." (Johannes Gross)

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„Nimm einem Denker das Paradox weg, dann hast du einen Professor.“ (Sören Kierkegaard, 1849)

„Was liegt schon daran, was ich tue? Fragt mich lieber, was ich denke!“ (Jules Renard, Tagebuch 1890)

"Wer unter einem Strohdach geboren wurde, muss kein Stroh im Kopf haben." (Abraham a Santa Clara)

"Denn die freien Menschen sind ja doch wohl die von der Gesellschaft freien Menschen. – " (Max Horkheimer)

"Kein einziges Wort im Alten oder Neuen Testament, das einen Bezug hätte zur Intelligenz, zur Wissenschaft oder zu den Künsten." (Paul Valéry: „Cahier“ 2, Theta, 1942)

„Das einzig Sinnvolle ist es, Gott starrsinnig mit unseren Gebeten zu belästigen.“ – – „Der höchste Aristokrat ist nicht der Feudalherr auf seinem Schloß, sondern der kontemplative Mönch in seiner Zelle.“ „Philosophie ist die Hermeneutik der Gnade.“ (N. Gómez Dávila)

„Allem entgehen durch Ideen!“

„Denken. Das heißt den Faden verlieren.“ (Paul Valéry)

Für meine Familie

INHALT

Industrialismus und Freiheit

Philosophie des ZEN-Buddhismus

Stanislav Grof: "Topographie des Unbewussten"

Maimons Weg von der Aufklärung zum Idealismus

Literarischer und philosophischer Stil

Schiller: Sentenzen zwischen Kant und Goethe

Prekäre Proletarität

Kurzgeschichte der deutschsprachigen Literatur

Ich denke, also bin ich ausgedacht

Autorität des alten Autors

Erzählen zählt und zahlt

Unbekanntes Leben eines Bekannten

Der Androide

Findet, so werdet ihr gesucht

Schubladeninhaber

EUKALOS

Überspannt & verschroben

Neue Geschichte alter Geschichten

Aufzeichnungen - Notizen – Reflexionen

Literarische Basisbibliothek für Anfänger

60 PLUS

: Literarische Alterswerke

Von Ideen zu Idyllen

Industrialismus und Freiheit

„Der Mensch rollt seinen Wagen, wohin es ihm beliebt, aber unter den Rädern dreht sich unmerklich die Kugel, die er befährt.“ (Eduard Mörike, 1832)

Mit der Industrialisierung waren einstmals sehr große Hoffnungen und Versprechungen verbunden. Die harten Knochenarbeiten und nervtötenden Routinearbeiten sollten schrittweise von leblosen Maschinen übernommen werden, so dass der Mensch und jeder Mensch endlich freigestellt würde für immer Schöneres und Besseres. Nun sind in den Industrienationen die schlimmsten Drecks- und Muskelarbeiten tatsächlich fast verschwunden, aber die Menschen arbeiten immer noch nicht weniger, sondern eher mehr als zu Zeiten der Ochsen und der Pferde. Die Produktivität der Arbeit ist durch maschinelle Rationalisierung so gesteigert worden, dass die Erwirtschaftung des Lebensnotwendigen nun immer weniger durchschnittliche Arbeitszeit erfordert. Aber statt die durchschnittliche Arbeitszeit daraufhin schrittweise zu drosseln, um endlich mehr leben als schuften zu können, wird sie eher erhöht und mit mehr Arbeit vollgepackt, um sich im Überfluss noch mehr Überflüssiges kaufen zu können. Je mehr und bessere Maschinen entwickelt werden, umso stärker wird gleichzeitig die menschliche Arbeitskraft beansprucht, um ihre Kaufkraft zu steigern. Besser als das Leben ist nur ein besseres Leben, und als besser gilt nun ein Leben, das sich immer mehr und Besseres leisten kann, je mehr es leistet.

Als der antike Sokrates auf einen Markt ging, soll er angesichts der Warenfülle gesagt haben: „Wie vieles gibt es doch, was ich nicht brauche.“ (Und wofür er also nicht schuften musste.) Der Weise von heute sagt: „Man tut seinen Job, den man hasst, um sich Dinge kaufen zu können, die man nicht braucht.“ Oder die man nicht brauchen sollte, wenn man nur zu leben verstünde. Das alte „Savoir-vivre“ ist kaum noch eine französische Tugend, geschweige denn schon globalisierbar. Wer den lieben langen Tag, den Gott werden lässt, für Lebensmittel hart arbeitet, hat keine Zeit und Kraft mehr zum Leben selber. Die Mittel und Wege haben die Zwecke und Ziele aufgefressen. Mit weniger Geld und mehr Zeit könnte man recht gut leben, mit mehr Geld aber nur weiterwerkeln für noch mehr Geld – und das aus purer Angst vor Hungertod, Inflation und Pennerdasein.

Aber wer mit viel mehr Freizeit nicht viel mehr anzufangen wüsste, der schlägt seine Zeit doch viel lieber mit Schuften tot als mit Billig-Bier vor Online-Pornos oder mit guten E-Büchern in Lese-Ecken. Das Schuften für Reichtümer wurde inzwischen ein hochgeistiges Armutszeugnis, aber man braucht schon einen recht veritablen materialistischen Idealismus, um sich tagtäglich dem Wertgesetz des von Menschen geschaffenen Kapitalgroßautomaten zu unterwerfen, statt mit bescheideneren Mitteln sein kurzes Leben zu genießen. Wem Zeit nicht mehr ist als Geld, schlägt sie am besten lebenslänglich mit Überstunden tot. Wenn viel Freiheit mit viel, viel Freizeit beginnt, endet sie schon in Büros und Fabriken. Aber „wir verwirklichen uns selbst“ am Arbeitsplatz fern der Sonne, heißt es heute. Statt ganz neue Bedürfnisse nach immer anspruchsvollerem Leben zu entwickeln, lässt man sich zunehmend einwickeln von immer denselben Bedürfnissen nach immer alberneren Hochindustrieprodukten und kindischeren Prestigesymbolen, mit ressourcenvergeudenden Krach-Autos und überwachten PC.

Wer selbst in der Jugend kein Idealist war, sondern schon als Realist und Pragmatiker geboren wurde, wird seinen Brotberuf ja vor allem danach aussuchen, wie viel Wohlstand er verspricht und wie viel soziales Prestige er voraussichtlich abwerfen wird. Zu oft wird heute nicht Lehrer, wer eine pädagogische Ader hat, sondern wer Beamter werden will und für weniger Arbeitsstunden mehr Geld und Sozialprivilegien bekommt und inzwischen sogar noch zusätzlich ungestraft „bummelstreiken“ darf. Man wird nicht Jurist, weil man schon als Jugendlicher den Erniedrigten und Beleidigten zu ihrem guten Recht verhelfen will, sondern weil das ein gutdotierter Akademikerposten ist mit erklecklichster Platzierung im Sozial-Ranking.

Das Akademikerkind studiert selten aus unbezähmbarem Interesse an den studierten Fächern. Man wird zu oft nicht Arzt, weil man erst einmal die unwiderstehliche Neigung und Eignung zum Helfen und zum Heilen hat, sondern weil schon Eltern und Großeltern Hochschulen absolviert haben und man an deren Lebensstandard inzwischen suchtgewöhnt ist.

Man sieht einen erheblichen Fortschritt darin, seit Luther nicht mehr der Meinung zu sein, dass Arbeit schändet, sondern der Überzeugung zu sein, dass selbst Industriearbeit adelt, wenn sie die Familie mehr als nur ernährt. Die Antike hielt sich Sklaven, weil sie der begründeten Ansicht war, dass Arbeit schändet. Die Antike irrte nicht, weil Arbeit in Wirklichkeit adelt, sondern weil die Sklavenhalterei eine uralte Schande der Menschheit ist. Sobald aber menschliche Arbeitssklaven durch seelenlose Maschinen mal ersetzbar waren, sollte Arbeit wieder schänden und das sein, was sie für Menschen seit allem Anbeginn der Zeiten gewesen ist, ein Fluch, vor allem Arbeit für Dinge, die über die alltägliche Notdurft und über „Gottes Luxus“ weit hinausgehen. Für Essen und Trinken, für ein Dach über dem Kopf und für bescheidenen Komfort wie Waschmaschinen und Kühlschränke müsste niemand auf der Welt beim derzeitigen hochindustriellen Arbeitsproduktivitätsstand mehr als eine einzige Stunde täglich arbeiten müssen. Wer mehr arbeitet, tut das für seinen Luxus – oder eben für den Luxus seiner Ausbeuter. Wer sich mehr abrackern will, um sich lächerlichen Tand wie Eigenheime und Nobelrestauranttrips, hippe Smartphones und Swimmingpools, luftverpestende Mord-PKW und spritfressende Flugzeugreisen leisten zu können, sollte das tun dürfen, soweit er anderen damit nicht das Leben schwerer macht: Und das dürfte schwerfallen. Kurzum: Ist das Leben lang genug, um es mit stupidem Sex und Sport, Joggen und Yoga, Autofahren und Basteln, Reisen und Surfen zu verspielen?

Wer den Sinn seines Lebens darin findet, sich einen Posten in der arbeitsteiligen Hochleistungsgesellschaft zu suchen, hat sich kaum oft genug gefragt, ob er ein besonders sinnvolles Leben gewählt hat. Der Sinn eines Lebens als Autotechniker, Chiefconsultant, Kaufmann, Händler, Coach, Medienexperte, Werbegraphiker, Kulturbetriebsnudel etc. etc. etc. besteht darin, seine Kohle zu scheffeln, nicht in der Tätigkeit selbst, die meist völlig sinnfrei ist und deren Nutzen eher in ihrem Schaden liegt, also darin, Kapital irgendwo zu vernichten, um anderswo Kapital anzuhäufen. Wer nicht langsam aber sicher wieder ein unabweisbares Grundgefühl dafür entwickelt, dass es eine Schande sein sollte, sein Leben als „kreatives“ Funktionsrädchen in einem arbeitsteiligen Gesamtgetriebe von Betrieben zu beschließen, der weiß gar nicht mehr, was Leben ist und schon einmal war, bevor es in Erwerbsarbeit ausartete, erst ins Umwühlen des von Gott verfluchten Ackers und dann ins immer arbeitsintensivere Bedienen immer ausgefuchsterer Maschinenparks. Als der Steinzeitmensch noch gemächlich seiner Herde folgte, noch kein einziger Getreidehalm angebaut war, noch niemand ein abgestecktes Stück Land dem Weltschöpfer geklaut und kriegstreibend für sich allein beansprucht hatte, als die Gesellschaft nicht viel größer war als ein freiwillig lockerer Verband von Großfamilien und Sippen in der Steppe, als die Machthierarchien nicht viel steiler waren als die zwischen Mann und Frau und Kind(eskind)ern, als der Unterschied von Mensch und Landschaft noch kein Unterschied von Stadt und Landwirtschaft war, nannte die Bibel diesen Zustand den Garten Eden, das Paradies, aus dem der Nomade sich selber vertrieb, als er vom Baum der Erkenntnis aß, der Erkenntnis nämlich, wie Gottes Schöpfung am besten erschöpfend zu missbrauchen wäre als bloßer Rohstoff für bessere Schöpfungen der sesshaften Übermenschen.

Wer im großen Ganzen funktioniert, ist ganz dessen kleiner Funktionär. Wenn es Arbeiten geben sollte, die nicht erniedrigen, wären es Tätigkeiten, die zu nichts gut sind, die um ihrer selbst willen ausgeübt werden, nichts einbringen und ihren Sinn in sich selber haben – vor allem intellektuelle und künstlerische.

Wissenschaft

Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern

Eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.

(Friedrich Schiller)

Lateinisch „industria“ ist der deutsche „Fleiß“: Die Industrie fordert und fördert noch immer einen Fleiß, den sie gar nicht ersetzt. Statt um sichere Arbeitsplätze zu kämpfen, kämpfte es sich aber weit edler um das Recht auf sichere Muße. Doch wer im Müßiggang aller Laster Anfang oder bloß seine innere Leere fürchtet, tut lieber alles, um nicht gar nichts tun zu müssen. Wenn sich von der Industrie den Wunsch nach idiotischen Statussymbolen genügend viele Dummköpfe einimpfen lassen, so dass sich teure Maschinen für den Massenkonsum erst rentieren, könnte der Verstand doch wohl zur Abwechslung auch einmal den viel schöneren Wunsch nach unbezahlbarer gebildeter Muße sich einreden lassen. Statt nach noch mehr Arbeitszeit zu gieren, um in „sozialen Netzwerken“ weltweiten Schwachsinn auszutauschen, könnten intelligentere Sklaven nach viel mehr Freizeit rufen, um wirkliche Gedanken auszutauschen. Zeit ist nicht Geld. Wer viel Geld zu brauchen glaubt, hat keine Zeit zu genießen, was sich damit anschaffen lässt: Der Tagträumer könnte das viel besser als der Manager. Wer nun sein bisschen Verstand nur einsetzt, um seinen Wohlstand zu mehren, hat ihn schon verloren an die tolle Jagd danach. Das smarte „Kapitalverhältnis“ zwischen den Menschen beherrscht sie wie ein Naturgesetz und ist doch von ihnen selber eingesetzt wie ein Strafgesetz.

In dieser schönen Zwickmühle hat sich der irre Neuzeitmensch selber verfangen und sich weisgemacht, dass alles andere schlimmer wäre oder ein Rückfall in uralte Barbarei. Aber der Fortschritt, wie Walter Benjamin wusste, ist selber die Katastrophe, die er verhindern oder reparieren will. Und das Paradies war schon einmal da auf Erden, lang ist es her, und liegt noch in jedem Augenblick überall „gleich nebenan“.

Nicht die Industriearbeit schändet, aber der Glaube, sie biete dem kleinen Mann auf der Straße, wenn er nicht auf der Straße liegt, mehr Nutzen als Schaden. Die Nützlichkeit der allermeisten Arbeit heutzutage in den Hochindustrienationen, mehr noch als in feudalen Ackerbaukulturen, ist so völlig sinnlos wie die hergestellten Produkte selber, die man sich zwingen muss zu brauchen, um seinen werten Arbeitsplatz ja nicht zu verlieren. Jeder verbirgt vor sich und anderen, wie sehr er sich vergewaltigen muss, für Dinge zu schuften, die er doch gar nicht zu brauchen wüsste, wäre er innerlich frei, frei von der Angst, auf der Straße zu liegen, als Abfall der Gesellschaft. Aber im Müll der Konsumgesellschaft einfach ersticken lassen sollte der kleine Mann seine hohen Herrschaften – und einfach seiner Wege gehen, wie der Hirtennomade der Steinzeit mit seiner Großfamilie unter Gottes freiem Himmel, wie noch bis vor zehntausend Jahren, um nicht sesshaft „ackern“ zu müssen.

„Arbeit macht frei“ stand über dem KZ. Jeder wusste, dass es bedeutet: Arbeit vernichtet. Dieser Spruch könnte heute über jedem Firmentor stehen und in jeder Firmenbroschüre. Wenn totalitäre Regime wie die sozialistischen uns durch Arbeit vernichten, leben auch freie Arbeitnehmer heute in tendenziell totalitären Gesellschaften. Die Arbeitswelt heutzutage unterscheidet sich von der Sklavenarbeit früherer Zeiten vor allem durch den „freien Arbeitsmarkt“, also durch den blanken Hohn, zwischen Pest und Cholera ständig wählen zu müssen. Ein freier Mensch, der sich selber verkauft, arbeitet eben sehr viel besser als ein Sklave, der eingekauft wurde: Nur deshalb wurde er befreit.

Arbeitslosigkeit ist heute das Schreckbild der paradiesischen Muße, die die meisten Zeitgenossen als höllische Langeweile erleben und wohl keinen einzigen Monat lang ertragen würden, ohne mit allfälligen Depressionen zu Sozialarbeitern zu rennen. Solange Menschen mehr Angst um ihren Arbeitsplatz haben als vor ihrem Arbeitsplatz, der ihnen viel mehr Leben stiehlt als erhält, wird sich nichts Nennenswertes ändern an der „alten ökonomischen Scheiße“ (Karl Marx). Wer sich freiwillig manipulieren lässt, hält sich für frei, und wer sich heute für frei hält, ist manipuliert. Selbsterhaltung durch Arbeit ist für den Normalverbraucher Selbstvernichtung durch Arbeit – und auch umgekehrt. Die heilige Wettbewerbsfähigkeit ist nur ein billiges Erpressungsmittel für „dressierte Arbeitstiere“. Mancher glücksritterliche Arme ist nicht gescheitert im und am Konkurrenzkampf, sondern bestraft für seinen Unwillen, am Rattenrennen teilzunehmen.

Was wird aus der „Kritik der politischen Ökonomie“?

Eines schönen Tages werden es hoffentlich genügend viele Leute völlig unverständlich finden, dass es Sterbliche gegeben haben soll, die gern und freiwillig lebenslänglich zu Industrietechnikern oder Agrarökonomen sich machen ließen, um auch nur ihr täglich Brot verdient zu haben und nicht unter Brücken schlafen zu müssen. Wir arbeiten dummdreist begeistert für sinnlosen Unfug und hochgiftigen Krempel, für den auch nur den kleinen Finger zu rühren wir uns leider nicht zu schade sind und den ein freier oder stolzer Mensch nicht einmal geschenkt nehmen würde. Maschinen nehmen uns viele harte und öde Arbeit ab, aber mit der so gewonnenen Zeit wissen die allermeisten gar nichts Besseres anzufangen, als für noch Besseres noch mehr zu rackern, bis schon die Enkel es auf den Müll werfen.

Der Industrialismus weckt mehr neue teure Bedürfnisse, als dass er den alten Bedarf preiswert deckt. Eine Maschinenwelt aber, welche die durchschnittliche Höchstarbeitszeit des durchschnittlichen Arbeitnehmers nicht radikal auf eine einzige Stunde pro Tag reduziert, ist überflüssig bis volksschädlich. Der Bedarf von gestern produziert keine billige Massenware und Freizeit, sondern jede neue teure Ware produziert Konsumenten und neue Wünsche, die nur durch gleichbleibend hohe Arbeitszeit an immer raffinierteren Werkzeugen zu erfüllen sind.

Die unverkürzte Arbeitszeit wird mit jeder hochtechnischen Innovation nur immer produktiver und beansprucht die Nerven viel mehr als die Muskeln. Die Automaten schaffen leider keine ausreichend bezahlten und endlich „freigestellten“ Arbeitslosen, sondern nur höherbezahlte Arbeitstiere. Die Wissenschaft macht wenige klüger und die Mehrheit immer noch dümmer. Die demokratische Gesellschaft heute heißt: Mit höchstem Tempo wird das Tempo zügig gezügelt. Kurzum: Gesellschaft und Individuum verhüten einander auch weiterhin.

Vor sozialem Tod schützen nur noch Übersättigung und Überarbeitung. Wir wollen mehr leisten, um uns mehr leisten zu können, statt weniger zu kaufen, um weniger schuften zu müssen – und uns gratis auf kultivierteren Jagden zu vergnügen statt auf teuren Yachten zu langweilen. Maschinen, die uns nicht für schwere nutzlose Geistesarbeit freistellen, sind nutzlos.

Freiheit ist nur noch Wahlfreiheit zwischen Konsumgütern, doch die Mehrheit will mehr Zeit für ihre Familien und nicht für „ihre“ Firmen. Der allgemeingültige kategorische Sozialimperativ laute: Sei so frei und gönne dir nicht mehr, als jedermann auf Erden füglich beanspruchen dürfte! (Kein PKW für jeden Haushalt der Welt z.B.!) Und entwickle endlich Bedürfnisse, die nicht mehr zu befriedigen sind durch Roboten für einen „ökologischen Umbau“ der Industriegesellschaft, denn „Nachhaltigkeit“ hieße nur Elektronik der nächsten Generation, wieder nur ein profitables Projekt neuer Technologien. Das wäre lediglich dasselbe in Grün, ein endloses Malochen für den schadstoffärmeren Technologieschub der Zukunft – ad infinitum. Paul Watzlawick hat den modernen Fortschritt gut beschrieben: Immermehr vom Immergleichen.

Der Zeitgenosse ist ja nicht zu gierig, seine Gier ist eher zu anspruchslos und zu bescheiden. Er gibt sich klaglos zufrieden mit mehr umweltfreundlichem Geld aus erneuerbaren Energien, mit einem nachhaltigen Arbeitsplatz an der Sonne. Wenn der Ruf nach gleichem Lohn für alle eine närrische Utopie sein soll, wie wäre es dann mit dem revolutionären Ruf nach einer menschenwürdig dotierten Fünfstundenarbeitswoche für alle?

Muss man erst ganze Weltkriege verlieren, um Lastenausgleichsgesetze zu erlassen? Wer mehr arbeiten will, als er für das Leben braucht, sollte sich lieber ganze Kulturen als größere Reichtümer erarbeiten. Wie einst der Adel von den Bauern lebte, könnte einst jeder kleine Scheißer von den Maschinen leben, wenn die großbürgerliche leisure class nicht vom Hof- und Schwertadel zum quirligen Stumpfsinn von Managern degeneriert wäre, statt sich zum Geistesadel eines Larochefoucauld etwa zu verfeinern.

Die Firmenkultur einer so modernen Sklavenhalterklasse lädt ja nicht zur proletarischen Demokratisierung ein, nicht einmal zur „Enteignung“, denn wer wollte sich mit diesem gefährlichen Ballast von Konzernen belasten? Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch Betriebsangehörige wäre heute nicht viel mehr als eine Selbstverwaltung von Zuchthausinsassen.

Technik heißt: Der Arbeitslohn steigt schneller, als die Arbeitszeit fällt. Man bekommt schneller mehr Gehalt als mehr Freizeit – bestenfalls. Bei halbem Arbeitstag pro Woche bliebe natürlich kaum ein abschöpfbarer und abjagbarer Mehrwert übrig für die Enteigner, Unterdrücker und Ausbeuter, aber die Investitionen in teure Automaten für billige Massenartikel blieben immer noch rentabel genug. Dem Adel das Beste, dem Pöbel die Reste?

Niemand sollte über Kapitalismus reden dürfen, der nicht über Industrialismus reden will.

Wer am Konkurrenzkampf um Reichtümer nicht teilnehmen mag, sollte keinen Existenzkampf gegens Verhungern führen müssen. Die Industrialisierung ist die Opfer nicht wert, die sie kostete, kostet und noch kosten wird, aber wenn sie schon nicht mehr rückgängig zu machen ist, sollte sie nicht Übersättigung durch Überarbeitung bedeuten, sondern gleichbezahlte Arbeitslosigkeit aller. Bis heute muss man zu viel Geld verdienen, um nicht zu wenig zu verdienen.

Man will heute in Bildung viel mehr investieren, aber nur in Bildung, die nach mehr Profit ruft und nicht nach mehr Muße für jeden. Die Höheren Bildungsanstalten des Landes sind überfüllt mit proletarisierungsbedrohten Mittelstandskindern, die begabtere Arbeiterkinder verdrängt halten. Eine Demokratie aber, die „bildungsferne Bevölkerungsteile“ unterfördert, ist eine von Expertokraten wissenschaftlich abgesegnete Elitendiktatur. Der Klassenkampf ist hier keiner „Sozialpartnerschaft“ gewichen, er wird nur noch rücksichtslos von oben geführt, in Verteilungskämpfen um Zugangschancen zu nationalen Fleischtöpfen. Bert Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ wären Fragen des animal rationale, des denkenden Arbeitstiers, nach Bildung, die nicht nur Ausbildung am Fließband für das Fließband wäre, sondern für erfülltere Emanzipation von jeder Fabrik. „Volksschulen“ mutierten zu Volksverdummungsanstalten durch Popkultur von oben, und die Kirchen sind längst keine Volkshochschulen mehr.

Der Ausweg aus der Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft schafft wieder bloße Diener, die Maschinen und deren Besitzer bedienen und eben nicht bedient sind.

Höhere „Lebensqualität“? Viel höhere Freizeitquantität.

„Die industrielle Tendenz hat uns aus dem Feudalismus befreit, und die ideelle Tendenz wird sich aus der industriellen allmählich entfalten.“

(Mediziner Ernst von Feuchtersleben, Wien um 1850)

Es wäre machbar, wenn nur eine demokratische Mehrheit mehr Freizeit im Überfluß als mehr Kaufkraft für Überflüssiges wünschen würde. Der Sachverstand hat längst Computermodelle durchgerechnet, wie eine allgemeine Freizeitmaximierung sich auf die übrigen Wirtschaftsparameter auswirken würde beim derzeitigen Arbeitsproduktivitätsstand. Dieser Ansatz, der der Arbeitszeitminimierung für alle die Priorität einräumt, hätte den Vorzug, weder für privatwirtschaftliche Preisgestaltung noch für sozialistische Verstaatlichung einseitig plädieren zu müssen.

(Ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ auch für alle arbeitsfähigen Rechtssubjekte käme viel zu teuer und zu ungerecht gegenüber den Werktätigen, weil es nur einer Frühverrentung von Parasiten gleichkäme.) Also Beschränkung der Arbeitszeit und der Kaufkraft auf vernünftige Bedürfnisse oder Reduktion der Freizeit auf manipulierte Bedürfnisse nach Arbeitskraftreproduktion?

Man könnte erwidern, daß auch Gewerkschaften kürzere Wochenarbeitszeiten fordern – aber nur zu Zeiten geringer Arbeitskraftnachfrage. Sobald das Arbeitskraftangebot fällt, werden Gewerkschaften wieder flexibel weich und willfahren den Marktchancen. Sie sind unsichere Verbündete selbst kleiner Schritte zu allen radikalen Lösungen mit ausreichendem Erlös. Sie wollen im Zweifelsfall lieber weniger Arbeitslosigkeit als mehr Freizeit für jeden. Die gewerkschaftlich angepeilte moderate „Dreißigstundenwoche“ will nur verknappte Arbeitsplätze auf mehr Arbeitslose verteilen; sobald wieder mehr Arbeitsplätze entstehen als Arbeitskräfte verfügbar sind, wird die Arbeitszeit – ob mit oder ohne Lohnausgleich – dann kampflos wieder erhöht. Auch Halbtagsjobs für alle wären da nur eine halbe Sache. Solange Gewerkschaften den Unternehmern freiwillige Lohnverzichte und un(ter)bezahlte Überstunden anbieten, um Arbeitsplätze zu retten, haben sie schon abgedankt. Maschinen, die uns die Sklavenarbeit nicht endlich abnehmen, sondern mit Luxusschrott und „Abwrackprämien“ nur vergüten, können uns gestohlen bleiben. „Geplanter Verschleiß“ der Waren tut sein Übriges.

Intellektuelle Arbeit kann nur ein Umdenken über die industrielle Arbeit anregen. Die Mehrheitsbeschaffer für solche Ideen sind nicht mehr die Intellektuellen, die Initialzünder und Spurenelemente sozialer Stoffwechselprozesse, sondern die Medien, der „Wesenskern der Gesellschaft“ (Adorno). Der Rest ist eine bloße Organisationstechnik von Experten, wenn die Zielvorgaben und Rahmenbedingungen erst demokratisch legitimiert wären.

„Heute ist der gesellschaftliche Reichtum so groß, dass bei einer vernünftigen und wirklich auf die Interessen aller gerichteten Organisation der Produktionskräfte die Überwindung der Armut in der Welt in wenigen Jahren möglich wäre… Niemand leugnet, selbst die konservativen bürgerlichen Ökonomen nicht, dass in den entwickelten Industrieländern heute die Arbeitszeit entscheidend reduziert werden könnte, ohne dass das kulturelle und materielle Lebensniveau sich verschlechtern müßte.“

(„Gespräche mit Herbert Marcuse“, Frankfurt/M. 1996, S. 98)

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Philosophie des ZEN-Buddhismus

Was ist ZEN? Schon die Frage zu stellen oder zu beantworten, gehe an ZEN vorbei, heißt es. Chinesisch Ch'an, sanskritisch Dhyana, japanisch Zen ist eine meditative Klosterkultur im Übergang vom indochinesischen Buddhisten zum japanischen Samurai-Krieger. Treibt hier nur ein Meister seinen Novizen mit Stockhieben das folgerichtige Denken und den gesunden Menschenverstand aus? Bodhidharma kam um 500 nach Chr. als erster Patriarch des Zen-Buddhismus von Indien nach China. Zwischen dem 6. und dem 9. nachchristlichen Jahrhundert erlebte die ZEN-Kultur unter der T'ang-Dynastie eine Hochblüte. Der Soto-Zen der ganz unpolitischen Dogen-Schule bevorzugte "Sazen", stummes Lotus-Sitzen, die Rinzai-Schule übte dann auch dialektische Dialoge zwischen Meister und Schüler, Koans, öffentliche Fälle. Kulturgeschichten wissen, daß die paramilitärische Samurai-Mentalität der Japaner ein ziemlich guter Nährboden für ZEN-Disziplin war. Der hochgeborene Gautama Buddha war ein Ketzer des traditionellen indischen Brahmanismus und Hinduismus gewesen. Ist ZEN eine buddhistische Häresie?

Was ist ZEN im Westen? Ein moderner Buddhist wie Dr. Suzuki hat mit Erfolg versucht, ZEN als eine anspruchsvolle Alternative zum europäischen Unbehagen an der europäischen Kultur populär zu machen. Ist diese strikte cartesianische Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt nicht auch in gewissen mikrophysikalischen Befunden der neuzeitlichen Naturwissenschaft aufgehoben? Paul Watzlawick hat eine kommunikationstheoretische Ehrenrettung des ZEN versucht. Wenn ich von Mama dafür, daß ich sie liebe, nicht weniger bestraft werde wie dafür, daß ich sie nicht liebe, bin ich als Kind in einer Beziehungsfalle gefangen, die mich verrückt machen kann, wenn ich den Dritten Weg nicht finde, den Japan ZEN nennt und den China TAO zwischen weiblichem Yin und männlichem Yang nennt. Entsteht auf einer bestimmten Kommunikationsebene ein unauflösbarer Widerspruch, wird er aufgehoben, indem er nur verschoben wird auf den Widerspruch zwischen den verschiedenen Meta-Ebenen der Kommunikation. Ich löse ein aporetisches Problem, indem ich mich von der Problemstellung erlöse. Ein unlösbares Problem wird durch eine schöpferische Interpretationsleistung so umformuliert, daß es verschwindet, ohne aber verdrängt zu sein. Wenn sowohl eine Methode als auch die gegenteilige Methode zu keinem Ziel führen, sei es nicht ratsam, das Falsche quantitativ fortzusetzen, sondern qualitativ etwas „ganz anderes“ zu versuchen. Watzlawick spricht von einer fälligen "Lösung zweiter Ordnung", wenn "immer mehr vom Gleichen " alles nur verschlimmere. Er sieht im ZEN eine historisch frühe geistige Technik zur Einübung in existenzielle Double-Bind-Lösungen zweiter Ordnung. Ändere ich die Welt, indem ich sie einfach anders sehe, indem ich etwas sage und es dann ganz anders verstehe?

Aber die spezifische ZEN-Erfahrung lässt sich in Ausdrücken europäischer Logik vielleicht auch ein bisschen anders formulieren. Wählen wir ein Beispiel für ein einfaches negatives Urteil: "Die Rose ist nicht rot." Und hier ein Beispiel für ein sogenanntes negativ-unendliches Urteil: " Der Tisch ist nicht tugendhaft ". Beide Urteile sind wahr, aber jeder sieht den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Verneinungen. In diesem besonderen Fall wird der Rose die Röte, aber nicht jede Farbe abgesprochen. Wenn sie nicht rot ist, mag sie zufällig gelb sein. Es gibt gelbe Rosen und auch rote Dinge, die keine Rosen sind. Tugend aber gehört nicht zu den möglichen Attributen eines Tisches. Tisch und Tugend zusammenzubringen, ist subjektiv und willkürlich, es kann keinen objektiven Grund in der Sache haben. "Der Verstand ist nicht dreieckig". Das Urteil ist nicht falsch, aber gar kein Urteil. Es ist ebenso wahr wie widersinnig. Hegel nannte solche Urteile "abgeschmackt". Ein Tisch ist so wenig tugendhaft, daß er nicht einmal nicht tugendhaft ist, könnte man sagen. Diese doppelte Verneinung der Tugend ist, wo es sich um so etwas wie einen Tisch handelt, auch keine einfache oder doppelte Bejahung der Tugend. Die Negation der Negation ist hier keine Synthese, um mit Hegels Dialektik zu sprechen. Wenn der Tisch weder tugendhaft noch lasterhaft ist, läßt sich ebenso gut sagen, er sei sowohl gut als auch böse. Meine Hypothese lautet, daß ZEN nichts weiter übt, als in jedem einfachen Urteil einfach ein unendliches Urteil zu sehen – und umgekehrt.

Unendliche Urteile sind Urteile, die keine sind. Ein Tisch ist ein Tisch, eine Tugend ist eine Tugend, aber ein Tisch ist keine Tugend und eine Tugend kein Tisch, basta. Das unendliche Urteil sagt einfach die Wahrheit über bejahende und verneinende Urteile. Rose ist Rose, rot ist rot, aber Rose ist keine Röte und die Röte etwas anderes als eine Rose, das ist alles. Der Unterschied zwischen Tisch und Tugend ist gleichsam so groß, daß nicht einmal die schlichte Negation ausreicht, ihre Beziehung zu bestimmen, und daß dieser übergroße Unterschied die Form des Urteils sprengt und aufhebt. Daß der Tisch nicht tugendhaft sei, ist ein wahres Urteil, das sich als Urteil selbst vernichtet. Das Ergebnis dieser Vernichtung nennt der genuine Buddhist NIRVANA und der ZEN-Buddhist "MU". Das 21. Koan der Sammlung des ZEN-Meisters Mumon aus dem 13. Jhdt. lautet zum Beispiel: Ein Mönch fragte Unmon: "Was ist Buddha?" Unmon antwortete: "Ein Scheißstock!" Andere Koans antworten: "Eine Eiche im Vorgarten" oder "Drei Pfund Flachs" oder etwas in der zufälligen Situation beliebig anderes. Natürlich ist der Buddha, ist TAO, ist ZEN weder ein Scheißstock noch kein Scheißstock, oder, was dasselbe ist, es ist ein Scheißstock, als wäre es keiner.

Ist ZEN ein reines Sein, kein Mein und Dein?

Meine These lautet, daß ZEN eine geistige Übung ist, die jedes Urteil in ein unendliches Urteil verwandelt und jedes unendliche Urteil auffaßt, als wäre es ein endliches Urteil – um mit der europäischen Logik zu sprechen. So wird jedes vermeintlich objektiv begründete Urteil zu einer subjektiv willkürlichen Aussage gemacht, in der Subjekt und Prädikat keine innere Beziehung zueinander haben, sondern völlig unabhängig voneinander bleiben. Nun sagt im Gegenteil der ZEN-Buddhist aber, er hebe das dualistisch "unterscheidende Bewußtsein" gerade auf, um die Einheit des Großen Ganzen zu erreichen. Sehen wir genauer hin, hebt sich dieser vermeintliche Widerspruch rasch auf, der auf einem Mißverständnis beruht. Der Unterschied zwischen Tisch und Tugend, um bei unserem Beispiel zu bleiben, ist gleichsam so unendlich groß, daß der Unterschied zwischen Tugend und Laster davor unendlich klein wird und gegen Null konvergiert, um mit den Infinitesimalmathematikern zu sprechen. Daß es für ZEN nur unendliche Urteile gibt, ist eine besondere Form dafür, daß es im ZEN überhaupt keine Urteile gibt und daß ein ZEN-Buddhist überhaupt nicht urteilt. Wenn er begreift, dann nur, um die Form jedes Begriffs ad absurdum zu führen. Jedes ZEN-Urteil ist also metatheoretisch ein Urteil darüber, daß es unmöglich ist und sich selbst durchstreicht in dem Augenblick, in dem es nur formuliert wird. ZEN ist ein freier Entschluß, jeden logischen Schluß zu einem bloßen Entschluß zu machen und alle Entschlüsse zu logischen Schlüssen. Tisch und Tugend, Buddha und Scheißstock, sind so vollendet unabhängig voneinander, daß das Prädikat Scheißstock dem Subjekt Buddha nicht einfach nur abgesprochen werden kann, sondern überhaupt keine mögliche Bestimmung dieses Subjekts darstellt. Das ist die skeptische 'Epoche', die sich jedes Urteils enthält, weil kein Urteil metatheoretisch das Urteil enthalte, es sei wahr oder falsch. Wenn ein Tisch weder ein Tisch noch kein Tisch ist, ist er sowohl ein Tisch als auch kein Tisch. ZEN ist die blitzhafte Intuition genau dieses Sowohl-als-auch-weder-noch. SATORI ist ein Evidenzerlebnis, aber nicht das natürliche „Licht der Vernunft“. Die völlige gegenseitige Unangemessenheit von Tisch und Tugend ist eine andere Ausdrucksweise dafür, daß es im ZEN nur Substanzen und keine Akzidenzen gibt, nur Subjekte und keine Prädikate. Tisch und Tugend sind beides Substanzen, keins von beiden ist mögliches Prädikat des anderen. Wenn jedes Wort ein Name für eine eigene Substanz ist, dann sind alle Wesen der Welt radikal unabhängig voneinander, dann ist kein Wesen mit einem anderen vermittelt. ZEN segnet die Freiheit eines jeden Wesens von jedem anderen Wesen durchaus konsequenzlogisch ab. Wenn alles sich in Beziehung zu allem setzen läßt, steht nichts in wirklicher Beziehung zu etwas anderem. ZEN macht keine kleinen Unterschiede, weil es den übergroßen Unterschied zwischen allen Dingen macht. „SATORI“ ist die absolute Negation jeder bestimmten Negation zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Substanz und Akzidenz, zwischen Subjekt und Prädikat. Zen begreift, daß es nichts begreift, und begreift nicht, daß es alles begreift. Ist es ein Wahn, der sich als Wahrheit aufspielt und die Wahrheit nur Wahnsinn nennt?

Wenn ich sage, die Rose sei nicht rot, will ich nicht sagen, sie habe überhaupt keine Farbe. Wenn ich aber sage, ein Mensch sei tot, will ich nicht sagen, sein Herz sei gebrochen, sondern keine einzige seiner Leibesfunktionen sei mehr intakt. Hegel nennt Tod und Verbrechen objektive Beispiele für negativ unendliche Urteile. Der Kapitalverbrecher negiere keinen einzelnen Paragraphen des Gesetzbuches, sondern das Recht als Recht, die ganze Sphäre der Rechtsordnung selbst, wie die Krankheit ein einzelnes Organ negiere, der Tod aber die Totalität aller Organe eines Leibes. Ein unendliches Urteil ist in gewissem Sinne das Gegenteil eines 'formellen Urteils', wie der Aufklärer Salomon Maimon sie verstand. "Jede Wirkung hat eine Ursache". Das ist ein bloß formelles Urteil, weil es keine Ursache ohne Wirkung und keine Wirkung ohne Ursache gibt. Die gegenseitige Abhängigkeit von Ursache und Wirkung ist ebenso groß wie die wechselseitige Unabhängigkeit von Tisch und Tugend. Anders gesagt, hebt ZEN nicht die Kausalität auf, sondern deren Widerspruch zur Akausalität.

In Hegels "Logik" ist das unendliche Urteil ein 'qualitatives' Urteil, das sich weigert, in „Reflexionsurteile“ überzugehen, also in Urteile, die ein Subjekt über das Prädikat zu anderen Subjekten in Beziehung setzen, etwa durch Nutzen oder Einfluß etc. Logisch betrachtet, scheint ZEN die Kunst oder Technik zu sein, die Form eines Schlusses zu benutzen, um zu sagen, daß gar kein Schließen möglich sei. Fürchtet ZEN in jeder Be-urteilung eines Gegenstandes die implizite Ver-urteilung?

Die Meta-Ebene, auf die der ZEN-Buddhist springt, um der in jeder Bindung ans Leben liegenden Gefahr eines Double-Bind zu entgehen, ist die Ebene der unendlichen Urteile, die weder wahr noch falsch und beides zugleich sind, also die Urteilsenthaltung durch Urteile. Der Widerspruch zwischen Tugend und Untugend verschwindet vor dem Widerspruch zwischen Tisch und Tugend. ZEN 'er-findet' gleichsam zu jedem antithetischen Gegensatzpaar einen Gegenstand, auf den beide gegensätzlichen Bestimmungen nicht zutreffen können. Es zwingt Dinge zusammen, die gemeinhin nichts miteinander zu tun haben, indem es Dinge unendlich voneinander entfernt, die gewöhnlich als zusammengehörig behandelt werden. Was tut ZEN anderes als die Poesie des Herzens, die sich als Prosa der Welt ausgibt – oder umgekehrt?

Wenn zwei Dinge so wenig miteinander gemeinsam haben, daß sie nicht einmal im Widerspruch zueinander stehen können, geschweige denn bloße Differenzen miteinander austragen, dann ist ein Koan ein Satz von der Art eines Sprunges aus allen Sätzen und Gegensätzen heraus – aber wohin? Die „Beziehung völliger Beziehungslosigkeit" (Hegel) zwischen objektivem Subjekt und subjektivem Prädikat ist ein Zerfall der Welt in so viele Metastufen, wie es Dinge und Menschen auf der Welt gibt. Ist das der Sinn der Meta-Aussage, der Sinn eines ZEN-Koans sei das Schweigen und keine Aussage? A koan is a word to end all words, eine Rede zur Erzeugung von Schweigen, eine randvoll gefüllte Leere und eine bis auf den Grund entleerte Überfülle (Japanisch Michi). Der logische Satz vom Widerspruch ist hier durch Suspension in Kraft gesetzt und umgekehrt, denn ZEN ist keine Theorie und keine Abhandlung, sondern eine Handlung und eine Behandlung. Ein überraschendes Ergebnis: ZEN spaltet die Welt viel tiefer auf, als der heute so verhaßte Rationalist Descartes das je vermocht hätte.

ZEN ist eine künstlich induzierte Schizophrenie, um einer drohenden Schizophrenie vorzubeugen, eine "paradoxe Symptomverschreibung", wie die Watzlawicks sagen würden, also ein Teufel, um Beelzebub auszutreiben. Im ZEN haben alle Wesen das Eine miteinander gemeinsam, daß sie rein gar nichts miteinander gemeinsam haben. Jedes Ding ist ein Autist und TAO die Symbiose der Autismen. Die Dinge dieser Welt haben so wenig miteinander zu schaffen, daß das eine nicht einmal die Negation des anderen ist, wie wir gesehen haben. "Die Rose ist nicht rot". ZEN behandelt jeden solcher Sätze wie den Satz: "Der Geist ist kein Elephant". Wenn es wahr ist, daß ZEN jedes endliche Urteil als ein unendliches Urteil fällt, um es nicht fällen zu müssen, dann ist es umgekehrt ebenso wahr, daß jeder unendliche Begriff wie ein endlicher Begriff ausgesprochen wird. Jedes Ding steht damit außerhalb der Klasse aller übrigen Dinge, durch den Abgrund einer Metastufe von ihnen getrennt. Alles verläuft so, als würde jedes Wesen alle übrigen Wesen ständig zu einer einzigen Klasse von Wesen zusammenschweißen, die zutiefst von der gemeinsamen Eigenschaft affiziert sind, nicht dieses eine Wesen zu sein. Natürlich kann ein Akt aufmerksamer Unaufmerksamkeit ("Samadhi") jedes Ding dazu privilegieren, exterritorial zum Rest des Weltalls zu stehen. Hier wird eine Totalität und ihr singuläres Jenseits erfahren. Ein Großes Ganzes aber, das auch nur ein einziges Atom als sein Jenseits hat, ist kein Ganzes mehr. Wenn kein Wesen von einem anderen abhängig ist, kann kein Wesen auf ein anderes einwirken und von ihm etwas erleiden, wie in der Monadologie des Leibniz. Ist das der logische Sinn dieser ebenso simplen wie extravaganten Exerzitien? Die Freiheit eines ZEN-Buddhisten ist nicht mehr wert als die logische Unabhängigkeit eines Tisches von Tugend und Untugend. Er sucht nicht die tiefe Verbrüderung aller Wesen, sondern daß Einheit und Verschiedenheit aller Dinge im Grunde ein und dasselbe sind. Die Kegon-Philosophie lehrte wie der Grieche Heraklit: Alles ist eins, eins ist alles. ZEN dagegen zeigt, es sei eins, daß alles eins und daß nichts eins sei. ZEN zeigt, was nicht zu lehren ist, Philosophie lehrt, was nicht zu zeigen ist. In einem "reellen Urteil" (Maimon) ist das Subjekt vom Prädikat, nicht aber das Prädikat vom Subjekt unabhängig. Zu sagen, ZEN erkenne nur unendliche Urteile an, heißt behaupten, es kenne keine reellen und keine formellen Urteile. Wenn kein Urteil möglich ist, dann ist jedes Urteil möglich und umgekehrt. Wenn nichts und niemand identifizierbar ist, entgeht es jedem Urteil. Eine lautlose und unsichtbare schizoide Spaltung in unendlich viele verschiedene Dinge hat sich hier der ganzen Welt bemächtigt. Einiges spricht dafür, daß ZEN radikaler ist, als die Watzlawicks glauben (machen). Es geht im „SATORI“ nicht nur um einen befreienden Sprung auf die nächsthöhere Meta-Ebene des Diskurses, wenn auf einer Ebene des Lebens ein unlösbarer Widerspruch auftaucht, es geht um mehr als den Umschlag quantitativer Monotonie in neue Qualitäten. Die Risse gehen nicht mehr zwischen Subjekt und Objekt, sondern verlaufen quer durch beide, die in unendlich viele Teile zerspringen. Es läßt sich innerhalb der europäischen Logik durchaus formulieren, wodurch und wozu sie zen-buddhistisch suspendiert wird – ob der Mönch nun arbeitet oder bettelt.