It starts with us – Nur noch einmal und für immer - Colleen Hoover - E-Book

It starts with us – Nur noch einmal und für immer E-Book

Colleen Hoover

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Beschreibung

Jedes Ende verspricht auch einen neuen Anfang …  Bevor Lily Ryle traf, gab es in ihrem Leben eine erste Liebe: Atlas. Jetzt erzählt Bestsellerautorin Colleen Hoover seine Seite der Geschichte – und wie es weitergeht mit Lily, Ryle und Atlas … Die berührende Fortsetzung des Nr. 1-Spiegel-Bestsellers ›Nur noch ein einziges Mal – It ends with us‹, der vier Jahre nach seinem Erscheinen erneut die Bestsellerseiten stürmt!  Die authentische, nuancierte Schilderung eines ernsten, hoch sensiblen Themas, das die Autorin in ihrer Kindheit selbst erlebt hat, und die emotionale Dreiecksgeschichte machten ›Nur noch ein einziges Mal‹ zu einem der weltweit erfolgreichsten Frauenromane. »Eine Dreiecksbeziehung, die voller Emotionen steckt und bei der garantiert kein Auge trocken bleibt.« Grazia

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Seitenzahl: 502

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Beliebtheit




Über das Buch

»Ich habe Angst, dass du mein Leben noch komplizierter machen würdest«, sage ich.

Atlas zieht eine Augenbraue hoch: »Würde ich dein Leben komplizierter machen oder das von Ryle?«

»Wenn es für ihn kompliziert ist, wird es zwangsläufig auch für mich kompliziert. Er ist nun mal der Vater meiner Tochter.«

»Ganz genau«, sagt er. »Er ist ihr Vater. Aber er ist nicht mehr dein Mann. Es gibt also keinen Grund, warum du aus Rücksicht auf seine Gefühle auf das Zweitbeste verzichten solltest, was dir in deinem Leben passiert ist.«

»Was ist denn das Beste, was mir passiert ist?«

Er sieht mich liebevoll an. »Natürlich deine Tochter.«

 

 

Von Colleen Hoover ist bei dtv außerdem lieferbar:

Weil ich Layken liebe | Weil ich Will liebe | Weil wir uns lieben

Hope Forever | Looking for Hope | Finding Cinderella

Finding Perfect

Love and Confess

Maybe Someday | Maybe Not | Maybe Now

Zurück ins Leben geliebt – Ugly Love

Nächstes Jahr am selben Tag – November 9

Never Never (zusammen mit Tarryn Fisher)

Die tausend Teile meines Herzens

Was perfekt war

Verity

All das Ungesagte zwischen uns

Layla

Für immer ein Teil von dir

Summer of Hearts and Souls

Nur noch ein einziges Mal – It ends with us

Too Late – Wenn Nein sagen zur tödlichen Gefahr wird

Colleen Hoover

It starts with us – Nur noch einmal und für immer

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Katarina Ganslandt und Anja Galić

Dieses Buch widme ich Maria Blalock, die so großen Mut bewiesen hat

Liebe Leserinnen und Leser,

 

»It starts with us – Nur noch einmal und für immer« ist die Fortsetzung von »Nur noch ein einziges Mal – It ends with us« und beginnt genau an der Stelle, wo der Vorgängerband aufhört. Ich empfehle also, auf jeden Fall vorher den ersten Band zu lesen.

Nachdem ich »Nur noch ein einziges Mal – It ends with us« geschrieben hatte, war ich davon ausgegangen, dass es ein Einzeltitel bleiben würde. Ich hätte aber auch niemals zu träumen gewagt, dass das Buch von so vielen Menschen gelesen und geliebt werden würde. Es macht mich dankbar und glücklich, dass Lilys Geschichte für viele von euch genauso inspirierend ist, wie es die Geschichte meiner Mutter für mich war.

Als »Nur noch ein einziges Mal – It ends with us« dann ein paar Jahre nach seinem Erscheinen durch TikTok erneut in die Bestsellerlisten katapultiert wurde, kamen von allen Seiten Bitten, ob ich die Geschichte von Lily und Atlas nicht weitererzählen könnte. Es war mir ein großes Bedürfnis, meinen Leserinnen und Lesern, denen ich es zu verdanken habe, dass mein Leben eine so fantastische Wendung genommen hat, diesen Wunsch zu erfüllen. Mit »It starts with us – Nur noch einmal und für immer« möchte ich mich für eure Treue und riesige Unterstützung bedanken. Dieses Buch ist weniger düster – ich finde, dass Lily und Atlas Leichtigkeit verdient haben.

Ich hoffe, ihr begleitet die beiden auch dieses Mal wieder gern.

 

Mit Liebe Colleen Hoover

1.Atlas

Ich muss an meine Mutter denken, als ich das falsch geschriebene ASS WHOLE sehe, das in Rot quer über die Hintertür des Bib’s gesprayt wurde.

Sie hat immer eine kurze Pause zwischen den beiden Silben gemacht – Arsch … loch –, sodass es sich anhörte, als wären es zwei Wörter. Als Kind fand ich das eigentlich total lustig, aber mir ist das Lachen jedes Mal im Hals stecken geblieben, weil meistens ich damit gemeint war.

»Ass … whole«, sagt Darin langsam. »Kann nur irgendein Jugendlicher gewesen sein. Die meisten Erwachsenen wissen, wie man das Wort schreibt.«

»Du würdest dich wundern.« Ich streiche leicht über einen Buchstaben, es bleibt aber keine Farbe an meiner Fingerkuppe kleben. Also kann das nur gestern Nacht irgendwann nach Restaurantschluss passiert sein.

»Meinst du, die haben absichtlich whole statt hole geschrieben?«, fragt Darin. »Um anzudeuten, dass du durch und durch ein Arschloch bist?«

»Warum gehst du eigentlich automatisch davon aus, dass das mir gilt? Könntest doch genauso gut du damit gemeint sein oder Brad.«

»Das hier ist dein Restaurant.« Darin zieht seine Jacke aus und bricht damit eine große, im Rahmen des eingeschlagenen Fensters stecken gebliebene Glasscherbe heraus. »Es könnte ein unzufriedener Mitarbeiter gewesen sein.«

»Habe ich unzufriedene Mitarbeiter?« Von den Leuten, die auf meiner Gehaltsliste stehen, fällt mir niemand ein, der so etwas tun würde. Die letzte Kündigung war vor fünf Monaten – eine Servicekraft, die ihr Studium abgeschlossen hatte, wir haben uns also im Guten getrennt.

»Da gab es doch diesen einen Spüler, den wir hatten, bevor du Brad eingestellt hast. Wie hieß der noch gleich? Der hatte so einen schrägen Namen, wie eine Gesteinsart oder so was.«

»Quarz«, sage ich. »Das war ein Spitzname.« Ich habe schon ewig nicht mehr an diesen Typen gedacht und kann mir nicht vorstellen, dass er nach der ganzen Zeit noch irgendeine Rechnung mit mir offen haben sollte. Ich habe ihn damals kurz nach der Restauranteröffnung entlassen, nachdem ich herausgefunden hatte, dass er das Geschirr nur dann gespült hat, wenn er noch Essensreste darauf entdeckt hat. Gläser, Teller, Besteck – egal, was von einem Tisch in die Küche zurückkam und noch halbwegs sauber aussah, hat er einfach sofort ins Trockengestell einsortiert.

Hätte ich ihn nicht gefeuert, hätte mir über kurz oder lang das Gesundheitsamt das Restaurant dichtgemacht.

»Du solltest die Sache der Polizei melden«, sagt Darin. »Wir müssen den Schaden für die Versicherung anzeigen.«

Bevor ich etwas einwenden kann, taucht Brad an der Hintertür auf, unter seinen Schuhsohlen knirschen Glasscherben. Er hat drinnen eine Bestandsaufnahme gemacht, um festzustellen, ob irgendwas geklaut wurde.

Er kratzt sich über sein stoppeliges Kinn. »Die Croutons sind weg.«

Verwirrte Stille.

»Hast du Croutons gesagt?«, fragt Darin schließlich.

»Hab ich. Die ganzen Croutons, die wir gestern Abend vorbereitet haben, sind weg. Aber davon abgesehen scheint nichts zu fehlen.«

Damit habe ich nicht gerechnet. Wenn jemand in ein Restaurant einbricht und weder Gerätschaften noch sonst irgendetwas mitgehen lässt, das man zu Geld machen könnte, lässt das eigentlich nur einen Schluss zu – er ist in das Restaurant eingebrochen, weil er Hunger hatte. Diese Art der Verzweiflung kenne ich aus eigener Erfahrung. »Ich erstatte keine Anzeige.«

Darin dreht sich zu mir. »Was? Wieso das denn nicht?«

»Vielleicht finden sie denjenigen, der dahintersteckt.«

»Genau das ist Sinn und Zweck der Übung.«

Ich hole einen leeren Karton aus der Papiertonne und fange an, die Glasscherben aufzusammeln. »Ich bin selbst mal in ein Restaurant eingebrochen. Hab ein Truthahnsandwich geklaut.«

Brad und Darin schauen mich mit großen Augen an. »Warst du betrunken?«, fragt Darin.

»Nein. Ich hatte Hunger. Ich will nicht, dass jemand festgenommen wird, weil er Croutons geklaut hat.«

»Okay, aber vielleicht ist das bloß der Anfang gewesen. Was, wenn der oder die wiederkommen und es das nächste Mal auf die Geräte abgesehen haben?«, sagt Darin. »Ist die Überwachungskamera immer noch kaputt?«

Er liegt mir schon seit Monaten in den Ohren, sie endlich reparieren zu lassen. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, den Kundendienst anzurufen.«

Darin nimmt mir den Karton ab und sammelt die restlichen Scherben ein. »Brad hat recht. Kümmer dich lieber darum, bevor die wiederkommen. Oh Mann, am Ende versuchen sie es heute Abend im Corrigan’s, weil es im Bib’s so ein Kinderspiel war.«

»Die Überwachungskamera im Corrigan’s funktioniert einwandfrei. Außerdem glaube ich wie gesagt nicht, dass es um mich oder meine Restaurants geht. Derjenige hat aus einer Notlage heraus gehandelt, nicht um mir zu schaden.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagt Darin.

Ich will gerade etwas erwidern, als eine Nachricht eingeht. So schnell habe ich wahrscheinlich noch nie nach meinem Handy gegriffen. Meine Aufregung bekommt einen Dämpfer, als ich sehe, dass die Nachricht nicht von Lily ist.

Heute Morgen bin ich ihr zufällig begegnet, während ich auf dem Weg ins Restaurant war. Wir hatten uns seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen, aber sie war spät dran und musste zur Arbeit, und ich hatte gerade die Nachricht von Darin wegen des Einbruchs bekommen. Wir haben uns ziemlich überstürzt voneinander verabschiedet, und sie hat versprochen, mir zu schreiben, sobald sie in ihrem Laden ist.

Das ist jetzt eineinhalb Stunden her und ich habe bisher nichts von ihr gehört. Eineinhalb Stunden sind nichts, ich weiß, da nagt nur dieser Gedanke in mir, der mir einzureden versucht, dass sie vielleicht gerade alles infrage stellt, was in diesem fünfminütigen Gespräch auf dem Gehweg gesagt wurde.

Ich stelle nichts von dem, was ich gesagt habe, infrage. Möglich, dass meine Begeisterung ein bisschen mit mir durchgegangen ist – weil sie glücklich ausgesehen hat und anscheinend von Ryle getrennt ist. Aber ich habe jedes Wort, das ich zu ihr gesagt habe, ernst gemeint.

Ich bin bereit. So was vonbereit.

Ich scrolle in meinen Kontakten zu ihrem Namen. Wie oft habe ich mir in den letzten anderthalb Jahren ausgemalt, ihr zu schreiben, aber bei unserem letzten Gespräch damals habe ich es ausdrücklich ihr überlassen, den nächsten Schritt zu tun. Sie hatte schon genug, womit sie klarkommen musste, da wollte ich ihr Leben nicht noch komplizierter machen.

Aber inzwischen ist sie wieder Single, und für mich klang es so, als wäre sie bereit, dem, was zwischen uns sein könnte – egal, was es ist –, eine Chance zu geben. Allerdings hatte sie jetzt anderthalb Stunden Zeit, nachzudenken, und eineinhalb Stunden reichen völlig aus, um Zweifel zu bekommen. Jede Minute, die ohne eine Nachricht von ihr vergeht, fühlt sich wie ein verfluchter Tag an.

Sie steht immer noch als Lily Kincaid in meinen Kontakten und ich ändere ihren Nachnamen wieder in Bloom.

Ich spüre, wie Darin über meine Schulter aufs Handydisplay späht. »Ist das unsere Lily?«

Brad hebt den Kopf. »Was? Schreibt er Lily?«

»Unsere Lily?«, sage ich blinzelnd. »Ihr habt sie nur ein einziges Mal gesehen.«

»Ist sie noch verheiratet?«, fragt Darin.

Ich schüttle den Kopf.

»Gut für sie«, sagt er. »Sie war damals schwanger, oder? Was ist es geworden? Junge oder Mädchen?«

Ich will nicht über Lily reden, weil es noch nichts zu bereden gibt. »Ein Mädchen, und das ist die letzte Frage, die ich beantworte.« Ich werfe Brad einen Blick zu. »Kommt Theo heute?«

»Heute ist Donnerstag, also ja.«

Ich verschwinde im Restaurant. Wenn es jemanden gibt, mit dem ich über Lily sprechen werde, dann ist das Theo.

2.Lily

Meine Hände zittern immer noch, obwohl es jetzt schon fast zwei Stunden her ist, seit Atlas und ich uns so unerwartet wiederbegegnet sind. Ich kann nicht sagen, ob das daran liegt, dass ich so aufgewühlt bin, oder daran, dass ich noch keinen einzigen Bissen gegessen habe, seit ich im Laden bin. Bisher hatte ich keine fünf Sekunden Zeit, um auch nur ansatzweise zu verarbeiten, was ich heute Morgen erlebt habe, geschweige denn das Sandwich auszupacken, das ich mir als Frühstück mitgebracht habe.

Ist das vorhin tatsächlich passiert? Habe ich Atlas wirklich diese ganzen Fragen gestellt, die ihm so absurd vorgekommen sein müssen, dass ich bei der Erinnerung daran garantiert noch in einem Jahr rot anlaufe?

Wobei ich nicht den Eindruck hatte, dass er mich seltsam fand. Ich hatte das Gefühl, er hat sich genauso gefreut, mich wiederzusehen, wie ich. Als er mich umarmt hat, war das, als würde er etwas in meinem Inneren wieder zum Leben erwecken, das tief geschlafen hat.

Aber als ich es jetzt endlich mal schaffe, auf die Toilette zu gehen, und mich anschließend im Spiegel betrachte, würde ich am liebsten heulen. Ich habe hektische rote Flecken auf den Wangen, mein Top ist voller Karottenpampe, und mein Nagellack ist abgeblättert, weil ich mir die Nägel ungefähr im Januar das letzte Mal lackiert habe.

Nicht dass ich glaube, Atlas würde äußerliche Perfektion von mir erwarten oder sich auch nur wünschen. Aber ich habe mir so oft ausgemalt, wie es wäre, ihm zufällig über den Weg zu laufen, und dann muss es ausgerechnet an einem hektischen Morgen passieren, an dem meine elfeinhalb Monate alte Tochter mich kurz vorher als Zielscheibe für matschige Karottenscheiben benutzt hat.

Er sah so gut aus. Und hat so gut gerochen.

Und ich? Ich rieche wahrscheinlich nach Muttermilch.

Keine Ahnung, was unsere Begegnung letztendlich bedeutet, aber ich bin so durcheinander, dass ich doppelt so lang gebraucht habe wie sonst, um alles für den Kurier vorzubereiten. Ich habe es noch nicht mal geschafft, auf unserer Webseite nach neuen Bestellungen zu schauen. Im Rausgehen werfe ich noch einen letzten Blick in den Spiegel, aber alles, was ich sehe, ist eine alleinerziehende Mutter, die völlig überarbeitet ist und unter massivem Schlafmangel leidet.

Als ich wieder hinter der Theke stehe, drucke ich die zu einer Bestellung gehörende Nachricht aus und lege sie in eine Klappkarte. Ausnahmsweise bin ich sogar froh, dass heute so viel zu tun ist – mein Bedürfnis nach Ablenkung war nie größer.

Irgendein Jonathan, der einen Strauß Rosen für eine Greta bestellt hat, schreibt:»Tut mir leid wegen gestern. Kannst du mir noch mal verzeihen?«

Ich stöhne. Solche Sträuße lösen immer ein ungutes Gefühl in mir aus, weil ich mich unweigerlich frage, wofür der Mann sich entschuldigt. Hat er sie versetzt? Ist er zu spät nach Hause gekommen? Haben die beiden gestritten?

Hat er sie geschlagen?

Manchmal bin ich versucht, die Nummer des Bostoner Frauennotrufs auf die Karte zu schreiben, aber dann mache ich mir klar, dass nicht jede Entschuldigung mit einer ähnlich traumatischen Erfahrung verbunden ist wie die, für die mein Ex-Mann mich immer wieder um Entschuldigung gebeten hat. Vielleicht ist Jonathan ja auch nur ein guter Freund von Greta, dem eine unbedachte Bemerkung leidtut. Vielleicht ist er ihr Mann, der einen Scherz ein bisschen zu weit getrieben hat.

Was auch immer der Grund für diesen Strauß ist – ich hoffe, es steckt etwas Harmloses dahinter. Ich schiebe die Karte in einen Umschlag, stecke ihn zwischen die Blumen und lege den Strauß ins Abholfach. Als ich gerade die nächste Bestellung aus dem Drucker hole, brummt mein Handy.

Ich greife so hektisch danach, als würde sich die Nachricht selbst zerstören, falls ich sie nicht innerhalb von drei Sekunden lese. Beim Blick aufs Display spüre ich einen Stich der Enttäuschung. Sie ist nicht von Atlas, sondern von Ryle.

 

Darf sie schon Pommes essen?

 

Ich tippe schnell eine Antwort – Ja, aber nur die weichen – und werfe das Handy auf die Theke. Eigentlich finde ich es nicht so toll, dass Emmy Pommes isst, aber Ryle hat sie nur ein oder zwei Tage die Woche, und an den anderen Tagen achte ich auf eine gesunde Ernährung.

Ich hatte Ryle tatsächlich gerade ein paar Sekunden lang vergessen, bis seine Nachricht mich wieder daran erinnert hat, dass es ihn gibt. Und ich befürchte, solange es ihn gibt, kann es keine Beziehung zwischen mir und Atlas geben. Ganz egal, in welcher Form. Wie würde Ryle reagieren, wenn Atlas ein Teil meines Lebens wäre? Wie würde er sich verhalten, falls die beiden sich begegnen sollten?

Aber was mache ich mir überhaupt solche Gedanken? Zwischen Atlas und mir ist schließlich nichts passiert.

Mein Blick fällt wieder aufs Handy. Ich habe Atlas versprochen, mich bei ihm zu melden, sobald ich den Laden aufgemacht habe, aber als ich hier ankam, standen schon die ersten Kunden vor der Tür. Und nachdem Ryle mich jetzt durch seine Nachricht daran erinnert hat, dass er – aus egal welchem Szenario – nicht wegzudenken ist, bin ich nicht sicher, ob ich Atlas überhaupt schreiben soll.

Das Glöckchen über der Tür bimmelt, und ich sehe mit Erleichterung, dass Lucy endlich kommt. Obwohl sie wie immer perfekt gestylt ist, steht ihr die schlechte Laune deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Guten Morgen, Lucy.«

Sie legt seufzend ihre Tasche auf die Theke und schüttelt sich die Haare aus den Augen. »Was soll an diesem Morgen bitte gut sein?«

Lucy ist ein totaler Morgenmuffel, weshalb ich meistens bis elf mit meiner anderen Mitarbeiterin Serena vorne im Laden arbeite, während sie hinten Sträuße bindet. Sie braucht mindestens eine bis fünf Tassen Kaffee, bevor man sie den Kunden zumuten kann.

»Ich hab eben bei der Druckerei angerufen und erfahren, dass unsere Tischkarten deswegen noch nicht gekommen sind, weil sie nicht mehr produziert werden, und jetzt ist es zu spät, neue zu bestellen. Bis zur Hochzeit bleibt uns nicht mal mehr ein ganzer Monat.«

Bei der Vorbereitung dieser Hochzeit ist schon so viel schiefgelaufen, dass ich kurz versucht bin, ihr zu raten, sie lieber ganz abzublasen. Dabei bin ich eigentlich nicht abergläubisch. Sie hoffentlich auch nicht.

»Handgemachte Tischkarten sind wieder total angesagt«, tröste ich sie.

Lucy verdreht die Augen. »Genau. Weil ich ja so wahnsinnig kreativ bin«, murmelt sie. »Ich hab gar keine Lust mehr, zu heiraten. Gefühlt planen wir diese Hochzeit schon länger, als wir überhaupt zusammen sind.« Ja, das kommt mir auch so vor. »Vielleicht lassen wir das Ganze einfach und fliegen zu zweit nach Vegas, wie ihr es gemacht habt. Oder bereust du das inzwischen?«

Ich weiß nicht, auf welche ihrer Bemerkungen ich als Erstes reagieren soll. »Wie kannst du behaupten, dass du nicht kreativ bist? Du arbeitest in einem Blumenladen. Und ich bin mittlerweile geschieden. Klar bereue ich es.« Ich reiche ihr einen kleinen Stapel von Bestellungen, zu denen ich noch nicht gekommen bin. »Aber lustig war es schon«, gebe ich zu.

Lucy verschwindet nach hinten, um die Sträuße zu binden, während ich weiter über Atlas nachdenke. Und über Ryle. Und über die Schlacht um Leben und Tod, die in meinem Kopf stattfindet, wenn ich an beide gleichzeitig denke.

Ich weiß wirklich nicht, wie das mit Atlas und mir funktionieren sollte. Als wir uns heute Morgen begegnet sind, war ich so überwältigt, dass alles andere erst mal in den Hintergrund gerückt ist, einschließlich Ryle. Aber jetzt drängt er sich unweigerlich wieder in meine Gedanken. Natürlich nicht so wie früher, sondern als jemand, der sich für meine weitere Zukunft als massives Hindernis erweisen könnte. In den vergangenen eineinhalb Jahren ist mein Beziehungsleben vollkommen gradlinig und einfach verlaufen – was vor allem daran lag, dass es nicht existiert hat –, und jetzt sehe ich plötzlich überall gefährliche Schlaglöcher und Abgründe vor mir.

Ist es das wert? Atlasbedeutet mir unglaublich viel, keine Frage. Aber wäre ein potenzielles Wir das alles wert? Wäre eine mögliche Beziehung mit Atlas die Komplikationen wert, die sich daraus zwangsläufig für sämtliche anderen Bereiche meines Lebens ergeben würden?

Ich habe mich schon lange nicht mehr so zerrissen gefühlt. Wie gern würde ich jetzt Allysa anrufen und ihr erzählen, dass ich Atlas getroffen habe, aber das geht nicht. Ryle ist nun mal ihr Bruder. Sie weiß, dass er immer noch etwas für mich empfindet und wie hart es ihn treffen würde, wenn Atlas in meinem Leben wieder eine Rolle spielen würde.

Mit meiner Mutter kann ich auch nicht darüber sprechen, weil sie nun mal … meine Mutter ist. Unser Verhältnis ist zwar viel enger geworden, seit sie nach Boston gezogen ist, aber ich bin noch nicht so weit, mit ihr über Atlas zu reden.

Eigentlich gibt es in meinem Leben nur eine einzige Person, der ich meine Gedanken gerade ohne Vorbehalte anvertrauen kann.

»Lucy?«

»Ja?« Sie kommt aus dem Hinterzimmer und zieht einen Kopfhörer aus dem Ohr. »Brauchst du mich?«

»Könntest du mich an der Kasse vertreten? Ich muss schnell was besorgen. Dauert höchstens eine Stunde.«

Lucy übernimmt meinen Platz hinter der Theke und ich hänge mir meine Tasche um. Seit Emerson auf der Welt ist, habe ich kaum noch Zeit für mich selbst, weshalb ich mir manchmal erlaube, eine kleine Pause zu machen, wenn ich jemanden habe, der solange im Laden ist.

In einem Leben mit Kind gibt es kaum noch Rückzugsmöglichkeiten. Ich bin selbst dann im Mutter-Modus, wenn Emmy schläft. Und im Laden kommen ständig neue Kunden und Aufträge rein, weshalb ich selten mal wirklich Ruhe habe, ohne sofort wieder aus meinen Gedanken gerissen zu werden.

Oft reicht es mir schon, eine halbe Stunde allein in meinem Wagen zu sitzen, Musik zu hören oder mir etwas Süßes von der Cheesecake Factory zu gönnen, um das Chaos in meinem Kopf zu ordnen.

Als ich eine Viertelstunde später einen Parkplatz mit Blick auf den Bostoner Hafen gefunden habe, ziehe ich Block und Stift aus meiner Tasche. Ich weiß nicht, ob das, was ich vorhabe, denselben Effekt hat wie ein Stück Cheesecake, aber früher hat es mir immer total dabei geholfen, meine Gedanken zu sortieren und die einzelnen Puzzlestücke meines Lebens zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Wobei ich diesmal einfach nur hoffe, dass es mir hilft, die Puzzleteile daran zu hindern, auseinanderzubrechen.

Liebe Ellen,

rate mal, wer wieder da ist?

Ich.

Atlas.

Wir beide.

Ich wäre fast mit ihm zusammengestoßen, als ich heute Morgen mit Emmy auf dem Weg zu Ryle war. Es war total schön, ihn wiederzusehen und uns kurz zu erzählen, was in der Zwischenzeit so alles in unseren Leben passiert ist, aber gleichzeitig waren wir beide auch ein bisschen befangen und außerdem in Eile. Atlas wurde in seinem Restaurant gebraucht und ich musste den Laden öffnen. Beim Abschied habe ich versprochen, mich nachher noch mal bei ihm zu melden.

Und das will ich auch. Auf jeden Fall. Als er so unerwartet vor mir stand, habe ich wieder gespürt, wie wohl ich mich immer mit ihm gefühlt habe. Wie vertraut wir uns sind.

Bis zu der Begegnung mit ihm heute Morgen war mir gar nicht klar, wie allein ich mich oft fühle. Na ja, seit Ryle und ich geschieden sind … Ach so, ja, das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt.

Es ist viel zu lange her, dass ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Okay, dann bringe ich dich erst mal auf den neuesten Stand.

Gleich nach der Geburt von Emmy habe ich beschlossen, mich von Ryle zu trennen. Das Timing war krass, ich weiß, aber ich habe es nicht aus Grausamkeit getan. Sondern weil ich in dem Augenblick, in dem ich meine Tochter zum ersten Mal im Arm hielt, mit jeder Faser gespürt habe, dass ich ihr zuliebe alles in meiner Macht Stehende tun muss, um den Kreislauf der häuslichen Gewalt zu durchbrechen.

Ja, es war hart, Ryle zu sagen, dass ich die Scheidung will. Ja, das hat mir das Herz zerrissen. Aber nein, ich bereue es nicht. Mittlerweile habe ich erkannt, dass die Entscheidungen, die einem am schwersten fallen, am Ende oft die positivsten Auswirkungen haben.

Wobei es gelogen wäre zu behaupten, ich würde nichts aus unserer gemeinsamen Zeit vermissen. Das tue ich. Ich vermisse das Paar, das Ryle und ich in unseren guten Momenten waren. Ich vermisse die Familie, in der Emerson hätte aufwachsen können. Aber auch wenn mich die Folgen meiner Entscheidung manchmal belasten, weiß ich, dass sie absolut richtig war. Das Schwierige ist, dass ich weiterhin mit Ryle zu tun haben muss. Wobei er ja immer noch all die guten Seiten hat, in die ich mich damals verliebt habe. Seine hässliche Seite, die zum Ende unserer Ehe geführt hat, bekomme ich jetzt nur noch selten zu sehen. Er verhält sich mir gegenüber eigentlich meistens vorbildlich. Andererseits ist ihm sicher auch bewusst, dass ich ihn wegen seiner gewalttätigen Übergriffe hätte anzeigen können. Und dann hätte er weitaus mehr verloren als nur seine Frau. Unsere Gespräche darüber, wie wir die Betreuung von Emerson regeln, verliefen friedlicher, als ich es erwartet hätte.

Das kann natürlich auch daran liegen, dass ich keinen Versuch gemacht habe, meine Interessen um jeden Preis durchzusetzen. Meine Anwältin hat ganz offen mit mir gesprochen, als ich ihr gesagt habe, dass ich am liebsten das alleinige Sorgerecht beantragen würde. Sie meinte, falls ich nicht bereit sei, die unschönen Details aus unserer Ehe vor Gericht auszubreiten, hätte ich wenig Chancen, Ryle das Sorge- oder Besuchsrecht zu verweigern. Und selbst wenn ich das, was er mir angetan hat, in die Waagschale werfen würde, sähe es nicht viel besser aus. Es käme äußerst selten vor, dass einem verhandlungsbereiten, beruflich erfolgreichen Vater, der keinerlei Vorstrafen hat und bereitwillig Unterhalt zahlt, irgendwelche Rechte entzogen werden würden.

Mir blieben also nur zwei Optionen. Entweder die Sache – praktisch ohne Aussicht auf Erfolg – vor Gericht bringen oder versuchen, eine außergerichtliche Einigung zu erzielen, mit der wir beide halbwegs leben können, indem wir festlegen, dass Emmy die meiste Zeit bei mir ist und nur an bestimmten Tagen bei ihm.

Zu guter Letzt haben wir uns auf einen Kompromiss verständigt, obwohl es keine Einigung geben kann, mit der ich mich hundertprozentig wohlfühle, solange ich meine Tochter einem Menschen anvertrauen muss, der seine Emotionen nicht im Griff hat. Trotzdem glaube ich, dass die jetzige Lösung das kleinere Übel ist. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Emmy die gewalttätige Seite ihres Vaters niemals kennenlernen muss.

Ich wünsche mir für sie, dass sie eine enge Beziehung zu Ryle entwickeln kann, und will ihm seine Tochter nicht vorenthalten. Ich möchte einfach nur dafür sorgen, dass sie so unbelastet wie möglich aufwachsen kann. Deswegen habe ich Ryle gebeten, sie während ihrer ersten beiden Lebensjahre erst mal nur tagsüber zu nehmen. Ich habe ihm nie direkt gesagt, dass das etwas mit meinem mangelnden Vertrauen ihm gegenüber zu tun hat, sondern es damit begründet, dass es praktischer wäre, solange ich sie stille und er jederzeit aufgrund eines Notfalls in die Klinik gerufen werden könne. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass er den wahren Grund ahnt.

Über seine gewalttätigen Ausfälle gegen mich haben wir nie gesprochen. Wir sprechen über Emmy, wir sprechen über unsere Arbeit, wir kleben uns ein Lächeln ins Gesicht, wenn unsere Tochter dabei ist. Manchmal fühlt sich unser jetziges Verhältnis – zumindest von meiner Seite aus – unendlich falsch und künstlich an, aber es ist immer noch besser als das, was wir hätten, wenn ich ihn vor Gericht gebracht und verloren hätte. Notfalls muss ich mein Lächeln faken, bis sie achtzehn ist.

Aber eigentlich läuft es ganz gut zwischen uns, abgesehen davon, dass er immer mal wieder versucht, mich zu verunsichern oder mit mir zu flirten – worauf ich natürlich nie eingehe. Obwohl ich ihm klar gesagt habe, dass unsere Liebesbeziehung durch die Scheidung für mich beendet ist, merke ich, dass er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben hat. Manchmal macht er Bemerkungen, aus denen ziemlich deutlich hervorgeht, dass er sich wünscht, wir könnten eines Tages wieder zusammenkommen. Vielleicht beruhen seine Zugeständnisse sogar zu einem großen Teil auf der Vorstellung, er könnte mich zurückgewinnen, wenn er mir nur lang genug beweist, dass er sich geändert hat. Wahrscheinlich glaubt er tatsächlich, ich würde mit der Zeit wieder weich werden.

Aber das wird nicht passieren, Ellen. Irgendwann werde ich eine neue Beziehung mit einem anderen Mann eingehen und wenn ich ehrlich bin, wünsche ich mir, dass dieser Mann Atlas ist. Und auch wenn ich im Moment natürlich noch gar nicht sagen kann, ob das überhaupt eine Möglichkeit wäre, weiß ich eins mit absoluter Sicherheit: Ich werde nie mehr mit Ryle zusammenkommen, ganz egal, wie viel Zeit vergeht.

Bald ist es ein Jahr her, dass ich die Scheidung eingereicht habe, und seit dem Vorfall, der meine Liebe zu ihm ultimativ beendet hat, sind neunzehn Monate vergangen. Das bedeutet, dass ich jetzt schon seit eineinhalb Jahren Single bin.

Ein Zeitraum von eineinhalb Jahren zwischen einer alten und einer neuen Beziehung erscheint mir eigentlich lang genug. Vielleicht würde Ryle das sogar genauso empfinden, wenn es hier nicht ausgerechnet um Atlas ginge. Verdammt, ich sehe einfach nicht, wie das funktionieren soll. Ich meine, was wäre, wenn ich Atlas jetzt eine Nachricht schreiben und er mich daraufhin zum Mittagessen einladen würde? Wenn wir uns (was garantiert der Fall wäre) super verstehen würden? Wenn wir uns dann auch mal abends treffen und nach und nach die gleichen Gefühle füreinander entwickeln würden wie früher? Was dann dazu führen würde, dass Atlas fester Bestandteil meines Lebens werden würde …

Ich weiß schon, Ellen. Ich presche in Gedanken viel zu weit voraus, aber hier geht es nun mal um Atlas. Wir wissen beide, wie leicht es mir fällt, ihn zu lieben. Und falls er nicht eine komplette Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hat, wird auch genau das passieren, Ellen. Deswegen zögere ich so, ihm zu schreiben, verstehst du? Ich habe Angst, dass es zwischen uns funktioniert.

Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie Ryle darauf reagieren würde. Emerson feiert bald ihren ersten Geburtstag. Das letzte Jahr haben Ryle und ich ohne allzu große Dramen durchgestanden, was aber vor allem daran liegt, dass unsere Routine durch nichts gestört wurde. Leider habe ich die dumpfe Ahnung, dass allein schon die Erwähnung von Atlas’ Namen einen Tsunami auslösen könnte.

Auch wenn Ryle es noch nicht mal ansatzweise verdient hat, dass ich seinetwegen meine Gefühle für jemand anderen unterdrücke, ist es nun mal eine Tatsache, dass er uns das Leben zur Hölle machen kann. Es kotzt mich selbst an, dass er immer noch so eine Riesenrolle in meinen Gedanken spielt. Ich meine, das hier könnte der Beginn von etwas ganz Besonderem sein, aber sobald ich es mir gestatte, mir eine Zukunft mit Atlas vorzustellen, aktiviert sich der Teil meines Gehirns, in dem ich Entscheidungen über mein eigenes Leben immer noch von Ryles möglicher Reaktion abhängig mache. Weil ich Angst davor habe.

Ich wage es ja noch nicht mal zu hoffen, dass Ryle nicht eifersüchtig wäre, weil ich leider genau weiß, dass er es sein wird. Falls ich mit Atlas zusammenkommen sollte, würde Ryle sämtlichen Beteiligten das Leben schwer machen. Die Scheidung war definitiv richtig, aber sie hat auch Konsequenzen. Eine davon ist, dass Ryle Atlas für immer als den Mann betrachten wird, der unsere Ehe zerstört hat.

Ryle ist nun mal der Vater meiner Tochter, und das bedeutet, dass die Verbindung zu ihm für immer bestehen wird. Andere Männer können kommen und gehen, er ist die Konstante. Wenn ich will, dass meine Tochter in Frieden aufwächst, muss ich für Frieden zwischen ihm und mir sorgen. Aber sollte Atlas Corrigan wieder in mein Leben treten, wird Ryle in den Krieg ziehen. Daran gibt es keinen Zweifel.

Wenn du mir doch nur sagen könntest, was ich machen soll, Ellen. Muss ich auf das verzichten, von dem ich weiß, dass es mich glücklich macht, weil ich mich vor den Folgen fürchte?

Oder sollte ich diese Folgen auf mich nehmen, weil sonst für alle Zeiten ein riesiges atlasförmiges Loch in meinem Herzen klafft?

Er wartet darauf, dass ich mich bei ihm melde, aber ich brauche einfach noch ein bisschen Zeit, um über das alles nachzudenken. Ich wüsste gar nicht, was ich ihm jetzt schreiben sollte.

Ich weiß gerade überhaupt nichts.

Ich melde mich wieder bei dir, Ellen, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe.

Deine Lily

3.Atlas

»›Du kannst aufhören zu schwimmen, Lily, wir sind endlich angekommen‹?«, wiederholt Theo. »Das hast du zu ihr gesagt? Laut?«

Ich rutsche verlegen auf der Couch hin und her. »Als wir jünger waren, haben wir mal Findet Nemo zusammen geschaut, das ist eine wichtige gemeinsame Erinnerung.«

»Du hast eine Figur aus einem Animationsfilm zitiert.« Theo verdreht dramatisch die Augen. »Hat ja super funktioniert. Du bist ihr vor über acht Stunden über den Weg gelaufen und sie hat sich immer noch nicht bei dir gemeldet.«

»Vielleicht war im Laden zu viel los.«

»Oder du hast es übertrieben.« Theo beugt sich vor, klemmt die Hände zwischen die Knie und konzentriert sich wieder. »Okay, was ist passiert, nachdem du dieses peinliche Zeug von dir gegeben hast?«

Er kennt keine Gnade. »Nichts. Wir mussten beide zur Arbeit. Ich hab sie gefragt, ob sie meine Nummer noch hat, und sie hat gesagt, sie würde sie auswendig können, und dann haben wir uns verab…«

»Stopp«, unterbricht Theo mich. »Sie kann deine Nummer auswendig?«

»Scheint so.«

»Okay.« Er wirkt zuversichtlicher. »Das hat was zu bedeuten. Heutzutage lernt kein Mensch mehr Telefonnummern auswendig.«

Dasselbe habe ich auch gedacht, mich aber gleichzeitig gefragt, ob es einen anderen Grund dafür gibt, dass sie sich meine Nummer gemerkt hat. Ich habe sie ihr damals für den Notfall aufgeschrieben und in ihre Handyhülle gesteckt. Vielleicht wollte sie für den Tag, an dem sie sie brauchen würde, vorbereitet sein, dann hätte die Tatsache, dass sie sie auswendig gelernt hat, nichts mit ihren Gefühlen für mich zu tun.

»Also, was soll ich machen? Ihr schreiben? Sie anrufen? Warten, bis sie sich meldet?«

»Es ist acht Stunden her, Atlas. Chill mal.«

»Chill mal?«, wiederhole ich verwirrt. »Vor zwei Minuten hast du doch noch gesagt, dass acht Stunden ohne eine Nachricht von ihr zu lang sind.«

Theo zuckt mit den Achseln und stößt sich an meinem Schreibtisch ab, um sich im Bürostuhl zu drehen. »Ich bin zwölf. Ich hab noch nicht mal ein Handy, und du willst von mir wissen, wie der Textnachrichten-Verhaltenskodex lautet?«

Es überrascht mich, dass er noch kein Handy hat. Brad macht mir nicht den Eindruck, ein strenger Vater zu sein. »Warum hast du kein Handy?«

»Dad hat gesagt, ich krieg eins, wenn ich dreizehn werde. Noch acht Wochen«, seufzt er sehnsüchtig.

Seit Brads Beförderung vor sechs Monaten kommt Theo zweimal die Woche nach der Schule ins Restaurant. Er hat mir erzählt, dass er später mal Psychotherapeut werden will, und ich habe ihm angeboten, an mir zu üben. In letzter Zeit habe ich allerdings immer mehr das Gefühl, dass unsere Gespräche eher mir etwas nutzen anstatt ihm.

Brad steckt den Kopf in mein Büro. »Abmarsch. Atlas muss arbeiten.« Er gibt seinem Sohn ein Zeichen, aufzustehen, aber Theo dreht sich weiter in meinem Bürostuhl.

»Atlas hat mich zu sich gerufen. Er hat meinen Rat gebraucht.«

»Ich werde nie verstehen, was ihr beide hier macht«, stöhnt Brad. »Was sollen das für Ratschläge sein, die du von meinem Sohn kriegst? Wie man sich vor seinen Hausaufgaben drückt und bei Minecraft gewinnt?«

Theo steht auf und streckt sich. »Wenn du’s genau wissen willst – es geht um Mädchen. Und bei Minecraft geht es nicht ums Gewinnen, Dad. Minecraft ist ein Sandbox-Game, da geht es vor allem um Kreativität.« Theo schaut im Rausgehen über die Schulter zu mir zurück. »Schreib ihr einfach«, sagt er, als wäre das die naheliegendste Lösung. Und vielleicht stimmt das ja.

Brad zieht ihn von der Tür weg.

Ich setze mich an den Schreibtisch und starre auf das schwarze Display meines Handys. Vielleicht hat sie sich die Nummer falsch gemerkt.

Wieder rufe ich ihren Kontakt auf, zögere dann aber. Vielleicht hat Theo recht. Vielleicht habe ich es wirklich übertrieben. Wir haben bei unserer zufälligen Begegnung zwar gar nicht so viel gesagt, aber was wir gesagt haben, war authentisch und von Bedeutung. Vielleicht hat ihr das Angst gemacht.

Oder … sie hat sich die Nummer falsch gemerkt.

Mein Daumen schwebt über der Tastatur. Ich will ihr schreiben, sie aber auch auf keinen Fall unter Druck setzen. Andererseits wird ihr genauso klar sein wie mir, dass unsere Leben komplett anders verlaufen wären, hätte ich nicht so viele Fehlentscheidungen getroffen, was sie angeht.

Jahrelang habe ich mir eingeredet, mein Leben wäre nicht gut genug für sie. Dass sie etwas Besseres verdient hätte. Dabei war Lily schon immer mein perfektes Match. Und diesmal lasse ich sie nicht einfach so gehen. Diesmal mache ich es richtig. Angefangen damit, mich zu vergewissern, dass sie meine korrekte Handynummer hat.

 

Es war gut, dich zu sehen, Lily.

 

Ich warte. Als die drei Punkte erscheinen, halte ich die Luft an.

 

Ja, fand ich auch.

 

Ich starre ewig auf ihre Antwort, hoffe, dass noch mehr kommt. Es kommt aber nicht mehr. Das ist alles, was ich kriege.

Bloß vier Wörter, aber ich kann zwischen den Zeilen lesen.

Mit einem niedergeschlagenen Seufzen lege ich das Handy auf den Schreibtisch zurück.

4.Lily

Ryle und ich sind ziemlich ungewöhnliche Eltern. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es noch viele andere Paare gibt, die am selben Tag, an dem sie die Geburtsurkunde für ihre neugeborene Tochter beantragt haben, auch die Scheidung eingereicht haben.

Es hat mich damals unendlich traurig gemacht, dass Ryle mir durch sein Verhalten keine andere Wahl gelassen hat, als unsere Ehe zu beenden. Trotzdem stand für mich von Anfang an fest, dass ich mich niemals zwischen ihn und seine Tochter stellen würde. Mir liegt viel daran, dass Emerson eine unbelastete Beziehung zu ihrem Vater hat, weshalb ich ihm, so gut ich kann, entgegenkomme, auch wenn das wegen seiner ständig wechselnden Dienste oft nicht einfach ist. Manchmal besuche ich ihn sogar mit Emmy in der Klinik, damit die beiden sich wenigstens während einer seiner Pausen sehen können.

Ich habe ihm auch einen Schlüssel zu dem Apartment gegeben, in das ich kurz nach Emmys Geburt gezogen bin, damit er sie im Notfall abends schon mal ins Bett bringen kann, wenn ich länger im Laden bin. Richtig wohl fühle ich mich allerdings nicht damit, dass er jederzeit Zugang zu meiner Wohnung hat.

Als ich vorhin gerade dabei war, den Laden abzuschließen, kam eine Nachricht von ihm. Emmy sei müde gewesen und er hätte sie zu mir gefahren. Das kommt in letzter Zeit ziemlich oft vor, und allmählich frage ich mich, ob es ihm dabei wirklich nur um Emmy geht.

Als ich eine halbe Stunde später nach Hause komme, sitzt er in der Küche. »Hey, da bist du ja. Ich hab uns was mitgebracht.« Er hält eine Papiertüte meines Lieblings-Thailänders hoch. »Wie ich dich kenne, hast du noch nichts gegessen.«

Es gefällt mir nicht, dass er sich benimmt, als wären wir immer noch ein Paar, das zusammen hier lebt. Aber nach dem Tag heute bin ich emotional so erschöpft, dass ich nur den Kopf schüttle und beschließe, das Thema ein anderes Mal anzusprechen. »Stimmt, hab ich wirklich nicht. Danke.« Ich lege meine Tasche auf den Esstisch und will zu Emmy, um nach ihr zu schauen.

»Sie ist gerade erst eingeschlafen«, warnt mich Ryle.

Ich drücke ein Ohr an die Tür und lausche einen Moment. Als tatsächlich alles ruhig bleibt, kehre ich in die Küche zurück.

So schlecht ich mich wegen meiner extrem kurzen Nachricht an Atlas auch fühle, so sehr bestätigt Ryles Verhalten mir, dass es klüger ist, mich zurückzuhalten. Wie soll ich eine neue Beziehung eingehen, wenn mein Ex-Mann mir immer noch Abendessen mitbringt und einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat?

Erst mal muss ich mit Ryle klare Verhältnisse schaffen, bevor ich auch nur daran denken kann, Atlas in irgendeiner Form in mein Leben zu lassen.

Ryle steht vor dem kleinen Weinregal und zieht eine Flasche Rotwein heraus. »Was dagegen, wenn ich uns den hier aufmache?«

Ich zucke mit den Schultern, während ich mir eine kleine Portion von dem Pad Thai nehme. »Mach ruhig, aber ich möchte keinen.«

Er stellt die Flasche zurück und gießt sich stattdessen ein Glas Eistee ein. Ich hole mir ein Wasser aus dem Kühlschrank und wir setzen uns an den Tisch.

»Wie war sie heute?«, frage ich.

»Ein bisschen quengelig, aber ich hab ihr auch einiges zugemutet, weil ich ziemlich viel erledigen musste. Irgendwann hatte sie es wohl satt, ständig in den Kindersitz geschnallt und wieder rausgehoben zu werden. Dafür sind wir später noch bei Allysa vorbeigefahren und ab da war sie wieder fröhlicher.«

»Wann hast du deinen nächsten freien Tag?«

»Das kann ich dir gerade gar nicht sagen. Ich schau nachher im Dienstplan nach und schreib dir eine Nachricht.« Er beugt sich über den Tisch und wischt mir mit dem Daumen etwas von der Wange. Dass ich zusammenzucke, merkt er gar nicht. Vielleicht tut er auch nur so, als würde er es nicht merken. Ich weiß nicht, ob ihm auffällt, dass es mich jedes Mal triggert, wenn er mich berührt. Gut möglich, dass er sich einbildet, ich würde wohlig erschauern, weil es zwischen uns immer noch funkt.

Ich muss zugeben, dass es nach Emmys Geburt tatsächlich Momente gab, in denen es sich so angefühlt hat, als gäbe es diesen Funken noch. Wenn Ryle etwas Süßes gesagt oder gemacht hat oder Emmy im Arm hielt und ihr etwas vorgesungen hat, ist manchmal so ein sehnsüchtiges Gefühl in mir aufgestiegen. Aber das waren seltene Aussetzer. Die kleinste Erinnerung an das, was passiert ist, genügte, um jede auch nur ansatzweise romantische Regung in mir sofort wieder zu ersticken.

Es hat Zeit und Kraft gekostet, mich gefühlsmäßig ganz von ihm zu lösen, aber mittlerweile bin ich immun.

In meinem Schmuckkästchen liegt eine Liste, auf der ich all die Gründe notiert habe, warum ich mich von ihm getrennt habe – trennen musste. Wenn Ryle hier war, gehe ich anschließend manchmal in mein Zimmer und lese sie mir noch mal durch, um mir bewusst zu machen, dass dieses Arrangement das Beste für uns alle ist. Na ja, vielleicht nicht ganz genau dieses Arrangement. Meinen Schlüssel hätte ich schon gern zurück.

Als ich weiteressen will, dringt aus meiner Tasche am anderen Ende des Tischs ein leises Pling. Hastig lasse ich die Gabel fallen, beuge mich schnell vor und ziehe das Handy heraus, bevor Ryle es mir geben kann. Nicht dass er meine Nachrichten lesen würde, aber ich möchte auf keinen Fall riskieren, dass er womöglich Atlas’ Namen auf dem Display sieht. Das würde eine Diskussion auslösen, der ich mich gerade definitiv nicht gewachsen fühle.

Die Nachricht ist aber gar nicht von Atlas, sondern von meiner Mutter, die mir ein paar Fotos geschickt hat, die sie Anfang der Woche von Emmy gemacht hat. Erleichtert lege ich das Handy zur Seite und greife wieder nach meiner Gabel, als ich Ryles Blick bemerke.

»Nur meine Mutter«, sage ich und ärgere mich sofort über mich selbst, weil ich ihm schließlich keine Erklärung schulde. Ich mag es nur nicht, wie er mich ansieht.

»Und was hattest du gehofft, von wem sie ist? Du bist ja fast über den Tisch gesprungen, um an dein Handy zu kommen.«

»Von niemandem.« Ich trinke einen Schluck Wasser, um seinem bohrenden Blick auszuweichen. Keine Ahnung, ob er meine Lüge durchschaut.

Ryle starrt mit zusammengepressten Lippen auf seinen Teller und dreht Nudeln auf die Gabel. »Triffst du dich mit jemandem?«, fragt er mit scharfem Unterton.

»Das geht dich zwar nichts an, aber nein, tu ich nicht.«

»Ich behaupte nicht, dass es mich was angeht. Ich habe nur eine harmlose Frage gestellt.«

Ich spare mir jede Erwiderung, weil das natürlich gelogen ist. Jeder kürzlich geschiedene Mann, der von seiner Ex-Frau wissen will, ob sie sich mit jemandem trifft, macht alles andere als harmlosen Small Talk.

»Ich glaube, wir sollten uns irgendwann in nächster Zeit mal darüber unterhalten, wie wir es handhaben, falls einer von uns jemanden kennenlernt«, sagt er. »Was Emerson angeht, meine ich. Vielleicht wäre es gut, rechtzeitig ein paar Regeln festzulegen.«

Ich nicke. »Stimmt, und das ist nicht das Einzige, worüber wir uns unterhalten müssen.«

Ryle verengt die Augen. »Worüber noch?«

»Darüber, wer Zugang zu meiner Wohnung hat.« Ich schlucke. »Ich hätte gern meinen Schlüssel zurück.«

Zunächst verzieht er keine Miene, dann wischt er sich über den Mund. »Ich darf also meine eigene Tochter nicht mehr ins Bett bringen?«

»Das habe ich so nicht gesagt.«

»Du weißt, wie absurd meine Arbeitszeiten sind, Lily. Ich bekomme Emmy ja so schon kaum zu Gesicht.«

»Es geht mir nicht darum, dass du sie seltener sehen sollst. Ich will nur meinen Schlüssel zurück. Ich brauche meine Privatsphäre.«

Es zuckt in Ryles Kiefer, als hätte er Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Mir war schon klar, dass er das nicht gut aufnehmen würde, aber er macht mehr daraus, als es ist. Das Ganze hat nichts mit Emmy zu tun. Ich möchte einfach nur nicht, dass er nach Lust und Laune bei mir ein und ausgeht. Schließlich hatte ich weiß Gott gute Gründe, warum ich bei ihm ausgezogen bin und die Scheidung wollte.

Wenn er mir den Schlüssel zurückgibt, wird das in unserem Alltag nicht viel verändern, aber es ist ein wichtiger Schritt, um uns aus unserer ungesunden Dynamik zu lösen.

»Von mir aus. Dann behalte ich Emmy eben ab jetzt über Nacht bei mir«, sagt er und sieht mich herausfordernd an.

»Ich glaube nicht, dass ich dazu jetzt schon bereit bin«, entgegne ich so ruhig wie möglich.

Ryle wirft seine Gabel klirrend auf den Teller. »Wenn sich die Umstände ändern, müssen wir das Betreuungsmodell nun mal anpassen. Notfalls gerichtlich.«

Irgendwie gelingt es mir, meine Empörung in Zaum zu halten. Ich stehe auf und greife nach meinem Teller. »Ist das dein Ernst, Ryle? Ich bitte dich, mir den Schlüssel zu meiner Wohnung wiederzugeben, und du drohst mir mit gerichtlichen Schritten?«

Wir haben uns gemeinsam auf das aktuelle Betreuungsmodell geeinigt, und jetzt dreht er es so hin, als wäre ich die Einzige, die davon profitiert. Dabei weiß er ganz genau, dass ich nach allem, was ich seinetwegen durchgestanden habe, das alleinige Sorgerecht hätte beantragen können. Ich habe ihn nicht einmal angezeigt. Er sollte mir dankbar dafür sein, dass er so glimpflich davongekommen ist.

Nachdem ich den Teller in die Spüle gestellt habe, stütze ich die Hände auf die Arbeitsfläche und atme ein paarmal tief durch. Beruhige dich, Lily. Er ist wütend und will dich provozieren.

Ich höre Ryle seufzen. Als ich den Wasserhahn aufdrehe, um den Teller abzuspülen, kommt er in die Küche und lehnt sich an die Theke. »Kannst du mir wenigstens eine Perspektive geben?« Er bemüht sich um einen sachlichen Ton. »Wann erlaubst du mir, sie auch mal über Nacht zu behalten?«

Ich drehe mich zu ihm um. »Sobald sie reden kann.«

»Warum erst dann?«

Dass er mich dazu zwingt, es auszusprechen, macht mich wütend. »Damit sie es mir erzählen kann, falls irgendwas passiert, Ryle.«

Es dauert einen Moment, bis er begreift, dann gräbt er die Zähne in die Unterlippe und nickt frustriert. Die an seinem Hals hervortretenden Venen sind ein deutliches Zeichen dafür, dass er sich extrem zusammenreißen muss, um nicht auszurasten. Schließlich holt er wortlos seinen Schlüsselbund aus der Tasche, zieht den Schlüssel zu meiner Wohnung ab, wirft ihn auf die Theke, dreht sich um und nimmt seine Jacke vom Stuhl.

Als die Wohnungstür hinter ihm zufällt, sinke ich im ersten Moment erleichtert in mich zusammen und fühle mich im nächsten wie ein gemeines Miststück. Diese Schuldgefühle kenne ich nur allzu gut. Und wieder einmal frage ich mich: Bin ich zu hart mit ihm? Vielleicht hat er sich ja wirklich geändert?

Obwohl ich die Antwort auf diese Fragen genau kenne, braucht es manchmal eine zusätzliche Erinnerung. Ich gehe ins Schlafzimmer und nehme meine Liste aus dem Schmuckkästchen.

 

1) Er hat dich brutal gegen einen Schrank geschleudert, weil du gelacht hast.

2) Er hat dich die Treppe runtergestoßen.

3) Er hat dich gebissen.

4) Er war kurz davor, dich zu vergewaltigen, und hat dann seinen Kopf so heftig gegen deinen geknallt, dass du bewusstlos wurdest.

5) Seinetwegen musstest du genäht werden.

6) Er hat dir mehr als einmal körperliche Gewalt angetan und er würde es wieder und wieder tun.

7) Du bist es deiner Tochter schuldig, konsequent zu bleiben.

 

Ich streiche über die Tätowierung auf meiner Schulter, um die feinen Narben zu spüren, die seine Zähne dort hinterlassen haben. Wenn Ryle dazu fähig war, mir all diese Dinge in einer Zeit anzutun, in der wir eigentlich glücklich waren – wozu wäre er dann erst imstande gewesen, wenn unsere Beziehung einen Tiefpunkt erreicht hätte?

Seufzend falte ich die Liste wieder zusammen und lege sie in das Kästchen zurück, bis ich das nächste Mal eine Erinnerungsstütze brauche.

5.Atlas

»Diesmal ist es definitiv gezielt gewesen«, sagt Brad kopfschüttelnd.

Wer auch immer vor zwei Tagen das Bib’s attackiert hat, hat letzte Nacht beschlossen, sich auch mein neues Restaurant vorzunehmen. Zwei Fenster des Corrigan’s sind eingeschlagen und auf der Hintertür wurde eine weitere gesprühte Botschaft hinterlassen.

FUCK U ATLASS.

Meinem Namen ist ein zweites s angehängt worden und ASS wurde unterstrichen. Ganz schön gewitzt, fast hätte ich darüber gelacht, aber in meiner heutigen Stimmung ist kein Platz für Humor.

Der Übergriff gestern hat mich nicht sonderlich gestresst, was vielleicht daran lag, dass ich Lily gerade getroffen hatte und immer noch voller Glückshormone war. Aber seit ich heute Morgen aufgewacht bin, macht es mir schwer zu schaffen, dass sie anscheinend keinen Kontakt zu mir will. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb mir der Schaden an meinem neuen Restaurant so nahegeht.

»Ich schaue mir die Aufnahmen der Überwachungskamera an.« Hoffentlich entdecke ich darauf irgendwas Nützliches. Ich weiß immer noch nicht, ob ich die Polizei einschalten soll. Vielleicht ist es ja jemand, den ich kenne, dann könnte ich denjenigen wenigstens zur Rede stellen, bevor ich dann gegebenenfalls härtere Maßnahmen ergreife.

Brad folgt mir ins Büro. Ich schalte den Computer ein und öffne die Security-App. Brad scheint zu spüren, in was für einer düsteren Stimmung ich bin, er sagt nämlich kein Wort, während ich die Aufnahmen durchgehe.

»Da!« Er zeigt auf den linken unteren Bildausschnitt. Ich verlangsame die Aufnahme, bis wir eine Gestalt erkennen.

Nachdem ich wieder auf Play getippt habe, starren wir verdutzt auf jemanden, der zusammengerollt auf der Hintertreppe des Restaurants liegt. Ungefähr eine halbe Minute später lasse ich die Aufnahme noch mal zurücklaufen und checke die Zeitangabe – derjenige bleibt über zwei Stunden auf einer der Treppenstufen liegen. Ohne Decke. Im Oktober. In Boston.

»Der hat hier geschlafen?«, sagt Brad. »Scheint sich ja keine allzu großen Sorgen gemacht zu haben, erwischt zu werden.«

Ich spule die Aufnahme noch weiter zurück, bis zu sehen ist, wie die Gestalt kurz nach ein Uhr nachts zum ersten Mal ins Bild tritt. Das Gesicht ist wegen der schlechten Lichtverhältnisse kaum auszumachen, aber der Körperbau lässt auf einen Jugendlichen schließen.

Er schleicht ein paar Minuten herum – wühlt im Müllcontainer. Untersucht das Schloss der Hintertür. Holt eine Sprühdose aus seinem Rucksack. Sprüht seine originelle Message.

Nachdem er eine Weile vergeblich versucht hat, mit der Dose zwei der Fenster – die im Gegensatz zu denen im Bib’s dreifach verglast sind – einzuschlagen, um ins Restaurant zu gelangen, gibt er auf, rollt sich auf der Treppenstufe zusammen und schläft ein.

Kurz vor Sonnenaufgang wacht er auf, schaut sich um und schlendert dann vollkommen gelassen davon.

»Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?«, fragt Brad.

»Nein. Du?«

»Nope.«

Ich halte die Aufnahme an der Stelle an, an der die Gestalt am deutlichsten zu sehen ist, aber das Bild ist zu grobkörnig, um mehr zu erkennen, als dass sie eine Jeans und einen dunklen Hoodie anhat. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, sodass die Haare darunter versteckt sind.

Ausgeschlossen, dass wir denjenigen wiedererkennen könnten, wenn wir ihm gegenüberstehen würden. Die Aufnahme ist nicht scharf genug und er schaut kein einziges Mal direkt in die Kamera. Nicht mal die Polizei könnte mit diesem Bildmaterial etwas anfangen.

Ich schicke die Datei trotzdem per Mail an mich selbst. Genau in dem Moment, in dem ich auf Senden klicke, plingt ein Handy. Ich werfe einen Blick auf meins, aber es ist Brad, der eine Nachricht bekommen hat.

»Darin schreibt, im Bib’s ist alles okay.« Er steckt sein Telefon wieder ein und steuert auf die Tür zu. »Ich fange schon mal mit Aufräumen an.«

Ich gehe in meine Mails, öffne die angehängte Datei und schaue mir die Aufnahme noch mal an. Dabei empfinde ich eher Mitgefühl als Verärgerung. Das Ganze erinnert mich einfach zu sehr an die frostigen Nächte, die ich damals in dem verlassenen Haus verbracht habe, bevor Lily mich in ihrem Zimmer aufgenommen hat. Allein bei dem Gedanken daran spüre ich wieder die eisige Kälte in den Knochen.

Ich habe wirklich keine Ahnung, wer das sein könnte. Es hat etwas Beunruhigendes, dass derjenige meinen Namen auf die Hintertür gesprayt hat und sich danach nicht sofort aus dem Staub gemacht, sondern auch noch zwei Stunden seelenruhig geschlafen hat. Fast als würde er es darauf anlegen, von mir erwischt zu werden.

Das Handy auf meinem Schreibtisch vibriert. Ich greife danach und sehe, dass der Anruf von einer unbekannten Nummer kommt. Eigentlich gehe ich in solchen Fällen nicht dran, aber mir schwirrt Lily die ganze Zeit im Hinterkopf herum. Könnte ja sein, dass sie mich vom Festnetz im Laden aus anruft.

Oh Mann, so weit ist es schon mit mir.

Ich hebe das Handy ans Ohr. »Hallo?«

Am anderen Ende der Leitung seufzt jemand. Eine Frau. Sie klingt erleichtert, dass ich drangegangen bin. »Atlas?«

Ich seufze auch, aber nicht vor Erleichterung. Ich seufze, weil es nicht Lilys Stimme ist. Ich weiß nicht, wer da anruft, aber offensichtlich löst jede Stimme, die nicht Lily gehört, Enttäuschung in mir aus.

Ich lehne mich in meinem Bürostuhl zurück. »Ja, bitte?«

»Ich bin’s.«

Ich habe keine Ahnung, wer ich ist, und gehe im Kopf meine Ex-Freundinnen durch, aber von denen klingt keine wie diese Frau. Und ich glaube auch nicht, dass eine von ihnen davon ausgehen würde, dass ich sofort wüsste, wer sie ist, wenn sie einfach nur Ich bin’s sagt.

»Wer ist da?«

»Ich«, sagt sie wieder und betont es so, als würde mir das auf die Sprünge helfen. »Sutton. Deine Mutter.«

Hastig nehme ich das Handy vom Ohr und schaue noch mal auf die Nummer. Das kann nur irgendein blöder Streich sein. Woher soll meine Mutter meine Handynummer haben? Warum sollte sie sie überhaupt haben wollen? Immerhin hat sie mir vor vielen Jahren eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie mich nie wieder sehen will.

Ich sage nichts. Ich habe nichts zu sagen. Ich straffe mich kurz, dann beuge ich mich ein Stück vor und warte darauf, dass sie damit rausrückt, warum sie sich die Mühe macht, Kontakt zu mir aufzunehmen.

»Ich …« Sie hält inne. Im Hintergrund sind Fernsehergeräusche zu hören. Klingt nach The Price is Right. Ich kann praktisch vor mir sehen, wie sie auf der Couch hockt und schon morgens um zehn ein Bier in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand hat. Früher hat sie meistens nachts durchgearbeitet, und wenn sie dann nach Hause gekommen ist, hat sie vor dem Schlafengehen noch was gegessen und The Price is Right geschaut.

Das war die Tageszeit, vor der mir immer am meisten gegraut hat.

»Was willst du?«, frage ich knapp.

Sie stößt die Luft aus, und auch nach all den Jahren weiß ich sofort, dass sie genervt ist. Ein einziges Schnauben, aus dem ich heraushören kann, dass sie mich nicht anrufen wollte. Sie tut es, weil sie muss. Sie meldet sich nicht, um sich zu entschuldigen, sie meldet sich, weil sie keine andere Wahl hat.

»Liegst du im Sterben?« Das wäre der einzige Grund, der mich davon abhalten würde, dieses Gespräch zu beenden.

»Ob ich im Sterben liege?«, wiederholt sie lachend, als wäre ich ein dummes, vorlautes Arsch … Loch. »Nein, ich liege nicht im Sterben. Mir geht es sehr gut.«

»Brauchst du Geld?«

»Wer nicht?«

In diesen wenigen Sekunden mit ihr am Telefon kehrt die ganze Angst und Beklemmung zurück, die sie früher immer in mir ausgelöst hat. Ich drücke sie weg. Es gibt nichts, was ich dieser Frau zu sagen habe. Ich blockiere ihre Nummer und bereue, überhaupt so lange mit ihr geredet zu haben. Ich hätte schon in dem Moment auflegen sollen, in dem sie mir gesagt hat, wer sie ist.

Ich verschränke die Unterarme auf dem Schreibtisch und lege den Kopf auf die Tischplatte. Mein ganzer Körper zittert.

Es überrascht mich, dass ich so heftig darauf reagiere. Mir war schon klar, dass sie sich eines Tages melden könnte, aber ich bin immer sicher gewesen, dass mich das kaltlassen würde. Ich dachte, es wäre mir genauso egal, wenn sie in mein Leben zurückkehren würde, wie es mir irgendwann egal war, dass sie mich aus ihrem Leben rausgeworfen hat. Aber damals sind mir eine Menge Dinge egal gewesen.

Jetzt mag ich mein Leben. Ich bin stolz auf das, was ich erreicht habe. Und das lasse ich mir von niemandem kaputt machen, schon gar nicht von ihr.

Ich reibe mir mit beiden Händen übers Gesicht und zwinge mich zur Ruhe. Dann stehe ich auf und gehe nach draußen, um Brad beim Aufräumen zu helfen und zu versuchen, den Vorfall erst mal wegzuschieben. Allerdings ist das gar nicht so leicht. Es kommt mir vor, als würde meine Vergangenheit plötzlich aus allen Richtungen auf mich einstürmen, und ich habe absolut niemanden, mit dem ich darüber reden kann.

Nachdem wir ein paar Minuten lang schweigend vor uns hin gearbeitet haben, sage ich zu Brad: »Du solltest Theo ein Handy besorgen. Er ist fast dreizehn.«

Brad lacht. »Und du solltest dir einen Therapeuten in deiner Altersklasse suchen.«

6.Lily

»Hast du dir eigentlich schon was für Emersons Geburtstag überlegt?«, fragt Allysa.

Sie und Marshall haben zu Rylees erstem Geburtstag eine Party gegeben, die so bombastisch war, als wäre ihre Tochter volljährig geworden. »Ich kaufe ihr eine Cake-Smash-Torte und ein paar Geschenke. Bei mir in der Wohnung ist gar nicht genug Platz, um groß zu feiern.«

»Wir könnten bei uns feiern«, schlägt Allysa vor.

»Aber wen sollte ich denn einladen? Emmy wird ein Jahr alt, sie hat noch keine Freunde. Sie kann ja noch nicht mal sprechen.«

Allysa grinst. »Hallo? Kindergeburtstage macht man doch nicht für seine Kinder, sondern um seine Freunde zu beeindrucken.«

»Du bist meine einzige Freundin und dich muss ich zum Glück nicht beeindrucken.« Ich ziehe ein Bestellformular aus dem Drucker und reiche es ihr. »Essen wir heute zusammen?«

Ich bin mindestens zweimal die Woche bei Marshall und ihr zum Abendessen. Ryle schaut zwar manchmal auch vorbei, aber eigentlich lege ich meine Besuche immer bewusst auf die Abende, an denen er Nachtdienst hat. Ich weiß nicht, ob das Allysa schon aufgefallen ist. Falls ja, nimmt sie es mir anscheinend nicht übel. Sie sagt, dass es ihr im Herzen wehtut, Ryle zu beobachten, wenn wir beide da sind, weil sie wie ich den Verdacht hat, dass er sich noch Hoffnungen macht, wir könnten wieder zusammenkommen. Deswegen trifft sie sich lieber allein mit ihm.

»Geht nicht, weißt du doch. Heute kommen Marshalls Eltern.«

»Ach ja, stimmt. Viel Spaß.« Allysa kommt gut mit Marshalls Eltern aus, trotzdem glaube ich nicht, dass es überhaupt jemanden gibt, der sich auf einen Besuch der Schwiegereltern freut, wenn sie gleich eine ganze Woche bleiben.

Die Ladenglocke bimmelt, und Allysa und ich schauen gleichzeitig hoch, aber ich bezweifle, dass ihre Welt in diesem Moment genauso aus den Angeln gehoben wird wie meine. Atlas steht in der Tür.

»Ist das …?«

»Oh. Mein. Gott«, stoße ich leise hervor.

»Stimmt. Er ist ein Gott«, flüstert Allysa andächtig.

Was macht Atlas hier?

Und warum sieht er tatsächlich aus wie ein Gott? Das macht die Entscheidung, die ich treffen muss, so unendlich viel schwieriger. Ich bin ja noch nicht mal in der Lage, Hallo zu sagen, weil mir die Stimme versagt. Stattdessen lächle ich nur dümmlich und starre ihm stumm entgegen, als er ganz lässig durch den Laden auf uns zugeschlendert kommt, was gefühlt in etwa so lange dauert, als wäre die Strecke nicht nur ein paar Meter, sondern eine Meile lang.

Währenddessen schaut er mich die ganze Zeit an. Erst als er vor uns steht, lächelt er Allysa kurz zu, sieht dann wieder mich an und hält mir einen To-go-Behälter hin. »Lunch für dich«, sagt er mit einer Selbstverständlichkeit, als würde er mir jeden Tag Essen vorbeibringen und ich hätte sicher schon darauf gewartet.

Diese Stimme. Ich hatte ganz vergessen, was für eine Wirkung sie auf mich hat. Wie sie durch meinen ganzen Körper vibriert.

Ich nehme ihm den Behälter ab, weiß aber nicht, was ich sagen soll. Allysas Anwesenheit hemmt mich total. Ich werfe ihr einen vielsagenden Blick zu, den sie geflissentlich ignoriert, worauf ich so streng die Brauen zusammenziehe, dass sie schließlich doch klein beigibt.

»Alles klar, dann … ähm … dann geh ich mal nach den Blumen schauen«, stammelt sie und verschwindet im hinteren Bereich des Ladens.

Ich halte den Behälter hoch. »Danke. Was ist das?«

»Unser heutiges Spezialgericht«, sagt er. »Die Warum-versteckst-du-dich-vor-mir?-Pasta.«

»Ich verstecke mich nicht …«, widerspreche ich lachend, verstumme dann aber und schüttle den Kopf. »Doch«, sage ich. »Ich verstecke mich vor dir.« Seufzend stütze ich die Ellbogen auf die Theke und schlage die Hände vors Gesicht. »Tut mir leid.«

Als Atlas darauf nichts sagt, nehme ich die Hände wieder runter und sehe ihn an. Er erwidert meinen Blick ernst und fragt: »Soll ich lieber wieder gehen?«

Ich schüttle den Kopf, worauf sich die Fältchen in seinen Augenwinkeln vertiefen. Was in seinem Gesicht passiert, ist so subtil, dass man es eigentlich kaum als Lächeln bezeichnen kann, und trotzdem durchströmt mich sofort eine tröstliche Wärme.

Bei unserer Begegnung gestern Morgen habe ich wie ein Wasserfall geredet, jetzt bin ich so überfordert, dass ich praktisch kein Wort herausbringe. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mit ihm über all die Dinge zu sprechen, die mir in den letzten vierundzwanzig Stunden durch den Kopf gegangen sind.

Als wir uns damals in Plethora angefreundet haben, war ich noch so unerfahren. Ich hatte ja keine Ahnung, wie selten Männer wie Atlas sind und was für ein Glück ich hatte, ihm begegnet zu sein.