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"Abhann!"
Der Fischer erstarrte zur Salzsäule, als er seinen Namen hörte.
"Abhann, lass mich hier nicht so liegen."
Liban rief nach ihm und ließ ihm keine Ruhe. Doch sie konnte doch unmöglich noch leben! Das musste ein böser Zauber sein.
"Abhann, du hast mir grausames Unrecht getan."
Heiße Tränen liefen seine Wangen hinab, als er im Geiste die Stimme seiner Liebsten hörte. Nicht bösartig oder gehässig, wie sie kurz vor ihrem Ableben zu ihm gesprochen hatte, sondern weich und zärtlich.
"Nein, das wollte ich nicht. Vergib mir."
"Dann bring mein Herz in die Mitte der Insel. Es soll dort weiterschlagen bis zu jenem Tag, an dem es seine Bestimmung erfüllen wird."
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Seitenzahl: 145
Cover
Impressum
Herz aus Eis
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: shutterstock/Vagengeim
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-2930-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Herz aus Eis
(1. Teil)
von Ian Rolf Hill
Vor der Küste von Ynys Gwrach, 6. Jahrhundert n. Chr.
Micah ap Breanainn zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen und hätte sich im selben Atemzug gerne bekreuzigt, doch leider brauchte er beide Hände, um das schwere Netz zu halten, in dem sich eine fette Beute befinden musste.
Er würde später zu Pater Mattock gehen und um Buße bitten, so wie es Brauch war, seit die römisch-katholische Kirche die geistliche Führung übernommen hatte.
Zurzeit aber hatte er andere Probleme, denn was auch immer ihm da ins Netz gegangen war, drohte ihm selbiges aus den derben Händen zu reißen und spurlos im Meer zu verschwinden.
Das würde Micah verhindern. Koste es was es wolle …
»Abhann!«, schrie Micah aus Leibeskräften nach seinem jüngeren Bruder, mit dem er von Kindesbeinen an auf Fischfang ging.
Der aber hatte längst gesehen, dass Micah Hilfe brauchte, und er schrak zusammen, als nur einen Lidschlag später zwei weitere Hände nach dem Netz griffen und kräftig daran zogen.
Kein leichtes Unterfangen, denn die kabbelige See sorgte dafür, dass ihr Kahn, der einem keltischen Fischerboot nachempfunden war, unruhig auf den Wellen hüpfte. Knapp zehn Meter maß der Rumpf und hatte eine Breite von weniger als zweieinhalb Metern. Genug Platz für drei Männer und jede Menge Fisch, den sie in schweißtreibender Knochenarbeit dem trotzigen Meer entreißen mussten.
Am Heck saß Edgan und tat sein Möglichstes, um das Boot auf den Wellen ruhig zu halten, während sich Micah und Abhann keuchend abmühten, das Netz einzuholen. Die Gesichter verzerrten sich vor Anstrengung, und selbst der kalte, schneidende Ostwind konnte nicht verhindern, dass ihnen der Schweiß am ganzen Körper ausbrach.
Edgan riskierte es schließlich und überließ das Boot der Obhut des Herrn, als er glaubte, es einigermaßen stabilisiert zu haben. Er stakste Richtung Bug und packte beherzt zu, um seinen Kameraden zu helfen.
Gemeinsam schafften sie es schließlich, das Netz an die Oberfläche zu ziehen. Den Männern stockte der Atem, angesichts dessen, was sie zu Gesicht bekamen, als der Fang die Wellen durchbrach und ans Tageslicht kam.
»Heilige Mutter Gottes«, stammelte Abhann.
Micah dagegen fluchte erneut auf Keltisch, doch dieses Mal verschwendete er keinen Gedanken an Buße und auch sein Bruder, der ihn sonst bei solchen Gelegenheiten zu tadeln pflegte, blieb stumm. Ebenso wie Edgan, der bei dem Anblick des langen braunen Haarschopfes keinen Laut über die Lippen brachte.
Zwei grüne Augen blickten die Männer qualvoll aus einem blassen, bläulich schimmernden Gesicht heraus an.
»Zieht, Männer!«, schrie Micah aufgebracht. »Zieht weiter!«
Zusammen gelang es den kräftigen Fischern, die Beute in ihrem Netz an Bord zu hieven. Kaum überragte der Kopf der armen Frau die niedrige Reling des Rumpfes, ließ Micah das Netz los und griff ihr unter die Achseln.
Abhann versicherte sich, dass Edgan das Netz hielt, und half seinem Bruder. Ein kräftiger Ruck, und das zarte Wesen rollte erschöpft auf die nassen Planken. Der kleine feste Busen bewies eindeutig, dass sie es mit einer Frau zu tun hatten. Doch keiner der drei gestandenen Kerle hatte für die entblößten weiblichen Rundungen einen Blick übrig.
Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie fassungslos dorthin, wo sich eigentlich die Beine und der Schoß der Frau hätten befinden müssen. Anstelle dessen sahen Micah, Abhann und Edgan jedoch nur einen kräftigen, geschuppten Schwanz mit einer großen geteilten Flosse an seinem Ende.
***
Ein kräftiger Wellenstoß ließ den Kahn erzittern und entlockte Micah einen erneuten Fluch, während er mühsam das Gleichgewicht zu wahren suchte. Edgan hatte weniger Glück und setzte sich schmerzhaft auf sein Hinterteil. Abhann konnte im letzten Moment die Bordwand greifen, während die geheimnisvolle Fischfrau lediglich wenige Handbreit über die Planken rollte.
Eine Welle klatschte von außen gegen die Bordwand, und Gischt benetzte den weißen Busen, sodass er verlockend glänzte.
»Geh, und zähme das Boot«, herrschte Micah seinen Kameraden Edgan an, der sich beeilte, den Befehl auszuführen.
Es war nie ausgesprochen worden, und doch war die Rangordnung an Bord klar und unmissverständlich: Micah ap Breanainn hatte das Sagen.
Also riss Edgan seinen Blick gewaltsam von der nackten Schönheit mit dem sonderbaren, unheimlichen Unterkörper los, strich sich das lange, nasse Haar aus der Stirn und begab sich zum Heck des Bootes.
Micah und Abhann wandten sich indes ihrem Fang zu. Der Jüngere der beiden Brüder kramte aus einer Holzkiste eine alte Schafdecke hervor, wollte sie der Frau um die Schultern legen, doch Micah hielt ihn zurück.
»Warte, Bruder. Vielleicht sind ihre Absichten böse.«
»Du meinst, sie wurde vom Satan geschickt?«
Micah zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Denk an die Geschichten, die Pater Mattock aus der heiligen Schrift gelesen hat. Das kann nicht Gottes Werk sein!« Dabei deutete er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die Fischfrau, die mittlerweile am ganzen Körper zitterte und ihre Arme schützend um ihre nackten Brüste gelegt hatte.
Abhann legte die Stirn in Falten. »Mag sein. Aber sie braucht Beistand. Sollte sie den dunklen Göttern huldigen, soll sich der Priester drum scheren. In der heiligen Schrift steht auch, dass man seinen Nächsten lieben soll.«
»Damit sind Menschen gemeint«, erwiderte Micah und stieß seinen immer noch ausgestreckten Zeigefinger wie einen Speer in Richtung des namenlosen Wesens. »Und das da ist kein Mensch.«
»Egal. Ich geb ihr das Fell, und du wirst mich nicht hindern.« Hart sah Abhann seinem älteren Bruder in die Augen.
Täuschte er sich, oder flackerte Angst in dessen Blick? Er erschrak, denn in den über zwanzig Sommern, die er ihn nun kannte, hatte er nie erlebt, dass Micah vor irgendetwas Angst gehabt hätte.
Einen Lidschlag lang hegte er die Befürchtung, dass sein Bruder ihn mit den Fäusten von seinem Vorhaben würde abhalten wollen, doch dann wandte sich Micah einfach ab und stapfte zum Heck des Bootes, um Edgan zu helfen.
Abhann aber würdigte ihn keines Blickes mehr, raffte das Schaffell in den Händen zusammen und ging schwankend einen Schritt auf das Wesen zu, das angsterfüllt auf den Planken kauerte und ihn mit weit aufgerissenen Augen beobachtete. Augen, in denen er einen wachen Geist zu erkennen glaubte.
Der Geruch von Salzwasser, Fisch und Tang ging von ihr aus. Jedoch keineswegs penetrant oder unangenehm, sondern eher süßlich und verlockend.
»Wie ist dein Name, Weib?«, fragte er, während er sich nach vorne beugte und ihr das Fell um die Schultern legte.
Der schwere, glitschige Fischschwanz rutschte über das nasse Holz und hätte Abhann beinahe zu Fall gebracht.
Die Fischfrau nutzte die Ablenkung, um beide Arme um Abhanns Nacken zu schlingen und ihn zu sich herab zu ziehen. Dabei kam sie ihm auf halbem Weg entgegen und brachte ihre Lippen dicht an sein Ohr. Dass ihre rechte, entblößte Brust mit der harten Warze seinen nackten Unterarm streifte, bemerkte er gar nicht.
»Muuurrrgggeeen.«
Abhann erstarrte. Obwohl seine Lage alles andere als bequem war, konnte er keinen Finger rühren. Wie gebannt lauschte er der Stimme dieses Wesens, das Laute ausstieß, die sich anhörten wie das Knarren feuchten Holzes, gepaart mit dem Gesang von Vögeln. Es klang wie ein Widerspruch, doch Abhann konnte es nicht anders benennen. Verzückt lauschte er dem Singsang dieses wunderschönen Meeresweibes, das seinen Namen erneut in sein Ohr säuselte.
»Muuurrrgggeeen.«
Und Abhann sah vor seinem geistigen Auge eine neue Welt entstehen. Ein sanftes, grünblau schimmerndes Meer, dessen Oberfläche glatt wie ein Spiegel war. Kein Wind kräuselte das Wasser, auf dem ein Schiff dahinglitt wie auf Wolken. Angetrieben wurde es von mehreren Rudern, die von harten Männerhänden gezogen wurden. Ein Mann stand gefesselt am Hauptmast, den Blick verklärt in die Ferne gerichtet, so als lausche er einem wunderschönen Gesang. Die Kleidung des Mannes sah sonderbar aus. Viel zu spärlich für die kalten Winde des Meeres. Allerdings hatte Abhann die Sonne auch nie so grell am Himmelszelt stehen sehen.
Er erwachte wie aus einem tiefen Schlaf und sah direkt in die grün schimmernden Augen dieser wunderschönen Frau.
»Ist das … dein Name?«, fragte er benommen.
»Murgen«, antwortete die Frau mit dem Fischschweif rätselhaft, sodass sich Abhann nicht einmal sicher sein konnte, dass sie ihn überhaupt verstanden hatte.
»Abhann, mach das Boot fest.« Die Stimme seines Bruders riss den jungen Mann aus seinen Überlegungen. Mit der Hand wischte er sich die Gischt aus dem dichten rotblonden Haar seines Bartes, warf einen letzten, sorgenvollen Blick auf das Fischweib und machte sich an die Arbeit.
Dabei dachte er immer wieder an diesen Traum, den er gehabt hatte, als sie ihm dieses eigenartige Wort ins Ohr geflüstert hatte. Ob vielleicht doch der finstere Götze, den Pater Mattock Satan nannte, dieses schöne Weib aus der Tiefe gesandt hatte, um ihn und seine Leute zu verderben?
***
»Ist sie eine Gesandte des Satans, Pater?«, fragte Micah und rang verlegen die Hände.
Abhann war immer wieder überrascht, wie unterwürfig sich sein älterer Bruder in Gegenwart des christlichen Priesters gab. Derart gehorsam hatte er ihn nicht einmal unter der strengen Knute des Vaters erlebt. Doch Pater Mattock nötigte Micah einen Respekt ab, der an hündische Ergebenheit grenzte.
Pater Mattock war ein Hüne mit breiten Schultern und harten Gesichtszügen. Sein Haar war grau wie Regenwolken, und genauso buschig umwölkte es auch den gesamten Kopf des Priesters. Der Mund war unter dem dichten Vollbart nur zu erahnen, und eigentlich sah man nur die knubbelige Nase und die blauen Augen, deren Ausdruck mal streng mal weise war. Keine Frage, wenn Micah die Fischer im Boot befehligte, so war Pater Mattock das Oberhaupt der Einwohner von Ynys Gwrach.
Jetzt stand er im schneidenden Wind auf dem stabilen Holzsteg und blickt hinab in den Kahn, wo das Fischweib zusammen mit Abhann saß. Edgan und Micah standen neben dem Priester und hatten das Boot fest vertäut, damit es vom Wind, der sich zu einem ausgewachsenen Sturm entwickelte, nicht gegen den Steg geworfen wurde.
»Hat sie gesprochen?«, wollte Pater Mattock wissen und sah dabei vor allem Abhann an. Der fühlte sich geradezu ertappt und nickte. »Sie … sie hat ‚Murgen’ gesagt. Aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll. Vielleicht ihr Name …«
Der Priester schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab und ging in die Knie.
»Wie heißt du, Kind?«, wandte er sich jetzt an die junge Frau.
Deren Lider flatterten, schließlich richtete sie ihre Augen fest auf das Gesicht des Priesters. »Murgen«, wiederholte sie.
Pater Mattock nickte stumm und erhob sich. »Bringt sie in die Kirche!«, befahl er streng.
»Aber Pater …«, begann Micah, doch der Priester duldete keine Widerworte.
»Tut, was ich sage«, brüllte er, drehte sich um und stapfte davon, Richtung Gotteshaus.
Micah sah ihm hinterher, wie er auf die kleine Kirche auf dem Hügel zustrebte. Es gab nur eine Siedlung auf der Insel, die sich in Sichtweite des Ufers gebildet hatte. Fünf dutzend Häuser und Stallungen. Außer Fischfang wurde auch Vieh gehalten. Vor allem Schafe, Schweine und ein paar Hühner. Getreide gedieh auf dem kargen Eiland kaum.
Edgan und Abhann hatten den Befehl des Priesters gehört und hoben die Fischfrau aus dem Kahn. Auf dem Steg nahm der kräftige Abhann sie allein auf seine Hände, während Murgen ihre Arme um seinen Hals schlang.
Sie schien Vertrauen zu dem jungen Fischer zu haben. Ein Umstand, der Micah sichtlich missfiel. Nicht weil er seinem Bruder die Zuneigung dieses außergewöhnlichen Wesens missgönnte, sondern aus Furcht vor dem, was kommen mochte. Hatte das Weib aus dem Meer seinen Bruder verzaubert?
Gemeinsam gingen sie zur Kirche. Für den Fang hatte in diesen Momenten keiner der drei Männer einen Gedanken übrig, darum konnten sie sich auch später noch kümmern.
Die Kirche war ein trutziger Bau, errichtet aus Bruchsteinen mit einem kleinen zinnenbewehrten Turm. Das Innere bot kaum Platz für alle Bewohner des Fischerdorfes, das nach der Insel Gwrach benannt worden war. Las Pater Mattock seine Andacht, standen die Dörfler bis draußen auf den Vorhof, wo sich auch das flache Gräberfeld erstreckte.
Natürlich waren die Ankunft der Fischer und ihr geheimnisvoller Fang nicht unbemerkt geblieben. Schon als Pater Mattock am Steg gestanden hatte, waren bereits einige Frauen und ältere Männer aus den Behausungen gekommen und hatten neugierig die Hälse gereckt. Jetzt aber, als Abhann mit seiner ungewöhnlichen Last durch die Straße des Dorfes hinauf zur Kirche ging, stand beinahe die gesamte Inselbevölkerung am Weg. Auch die restlichen Fischer waren wegen des aufkommenden Sturms zurück zur Insel gefahren. Ratloses Getuschel begleitete Abhann, Micah und Edgan und vermengte sich mit dem Pfeifen des Windes zu einer geisterhaften Kakofonie.
Passierten die Männer ein paar Bewohner, schlossen diese sich ihnen an, und kaum hatten sie das letzte Haus hinter sich gelassen, bildeten die Einwohner von Gwrach eine stumme Prozession, denn keiner wagte mehr ein Wort zu sagen.
Pater Mattock aber stand hoch erhobenen Hauptes im offenen Portal des Gotteshauses. Um seinen Hals hing ein schweres Kruzifix an einer stählernen Kette. Die rechte Hand auf ein großes Schwert mit langer, gerader Klinge und kurzem Griff gestützt, die linke hielt einen tönernen Krug.
Der Wind wehte auf dem Hügel vor der Kirche noch stärker und zerrte wild am Haar des Priesters, der sich davon jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ und wortlos auf die anrückenden Dörfler starrte.
Wenige Schritte vor ihm blieb Abhann stehen, stumm den Blick des Gottesmannes erwidernd. Murgen aber wand sich ängstlich auf seinem Arm, ihr geschuppter Fischschweif, der während des Marsches schlaff über seinen Arm gehangen hatte, zuckte aufgeregt. Für ihre menschliche Natur sprach jedoch, dass sie offenbar keine Schwierigkeiten damit hatte, Luft zu holen. Sie rang nicht wie ein gewöhnlicher Fisch auf dem Trockenen nach Atem.
»Leg sie vor mir ab. Auf der Schwelle zur Kirche«, sagte Pater Mattock und ging einen Schritt zurück.
Abhann nickte und bettete Murgen auf das weiche Schaffell, das immer noch ihren Oberkörper wärmte und ihre Blöße bedeckte. Langsam löste er sich von ihr und ging zwei Schritte zurück, nicht ohne ihr zuvor noch ein ermutigendes Lächeln zu schenken, das sie zum Erstaunen seines Bruders Micah, der dicht hinter Abhann stand, zu erwidern schien.
»Meine Kinder«, rief Pater Mattock über die Menge hinweg. »Dieses Wesen haben Micah, Abhann und Edgan auf ihrem Fischzug gefangen. Ein Wesen, wie es wohl keiner von uns zuvor zu Gesicht bekommen hat. Es sieht aus wie eine Frau. Doch wo ihre Beine sein müssten, sehen wir nur den Schwanz und die Flosse eines Fischs. Wir wissen nicht, ob sie unsere Sprache spricht. Wir kennen nicht ihre Absichten. Ist sie ein Kind Gottes oder eine Buhle des Satans? So werden wir sie hier und jetzt der christlichen Taufe unterziehen. Sollte sie sich der Weihe widersetzen oder mit Zorn und Hass reagieren, so werde ich ihr mit dem Schwert das Haupt abtrennen.«
Bei diesen Worten reckte Pater Mattock mit einer Hand die schwere Klinge in die Höhe. Ein Zeichen für die enorme Kraft, die in seinem Körper steckte.
Anschließend rammte er das Schwert als Zeichen dafür, dass er es ernst meinte, über dem Kopf des Mädchens in die feuchte Erde vor dem Portal. Danach begann er mit der Zeremonie. Die Spannung unter den Dörflern, die mittlerweile eine dichte Traube bildeten, war körperlich spürbar. Vor allem Abhann schlug das Herz bis zum Halse. Trotz des kühlen Windes trat der Schweiß auf seine Stirn.
Murgen aber lauschte gebannt und neugierig den Worten des Priesters, der schließlich verstummte, der Frau mit dem Fischschweif hart in die Augen sah und ihr das geweihte Wasser, das im Krug schwappte schwungvoll und ohne Warnung über das Haupt goss.
Abhann stockte der Atem.
Murgen aber schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende. Dann bäumte sich ihr Leib auf, und ein schriller Schrei entfuhr ihrem weit aufgerissenen Mund.
***
Unter erregtem Raunen wich die Menge ein paar Schritte zurück, ebenso wie Edgan. Nur Micah, Abhann und Pater Mattock blieben wie angewurzelt stehen und beobachteten die Reaktion des Mädchens. Es wand sich auf dem Rücken liegend wie ein Aal. Der geschuppte Fischschwanz peitschte auf und ab – und begann sich zu verändern.
Die Schuppen rieselten herab, zerfielen zu Staub und auch die große Flosse am Ende des Schwanzes löste sich unter den weit aufgerissenen Augen der Zeugen auf.
Unter den Schuppen kam eine helle Haut zum Vorschein. Die glatte, weiche Haut einer jungen Frau. Aus dem abstoßenden Schwanz des Fisches wurden zwei menschliche Beine. Murgen keuchte und stöhnte unter der Verwandlung und sank schließlich mit einem erlösenden Seufzen auf das Fell hinab. Ein ganz und gar nacktes, wunderschönes Mädchen.
Keiner der Männer brachte ein Wort heraus, bis sich Pater Mattock schließlich ein Herz fasste und Micah anherrschte: »Schnell, bringt Kleidung für das Mädchen!«
Der Fischer nickte stumm und gehorsam, bevor er sich durch die Menge drängte. Unter der befand sich auch seine Frau, an die er den Befehl des Priesters weitergab. Der raffte unterdessen das Fell des Schafes unter dem Leib der jungen Frau ein Stück hervor, sodass es sie so weit wie möglich bedeckte. Dann hob er die geschwächte Frau auf seine kräftigen Arme und trug sie in die Kirche, dicht gefolgt von Abhann.
Die restliche Menge wagte sich nur langsam vor und blieb dicht gedrängt an dem Portal stehen.
Pater Mattock legte Murgen vor dem Altar ab, einem hüfthohen steinernen Quader, der von einem weißen Tuch bedeckt wurde. Ein großes, dunkles Kreuz, zwei weiße Kerzen und die heilige Schrift bildeten die einzige Dekoration. Die Einrichtung des kleinen Gotteshauses war insgesamt gesehen wenig prunkvoll.
Abhann ging neben der jungen Frau in die Knie, während sich Pater Mattock aufrichtete und die neugierigen Dorfbewohner verscheuchte.