1,99 €
Die drei Vermummten näherten sich dem Haus im Schutz der Dunkelheit. Ihr schwarzer Van parkte unweit des Zielgebäudes am Rand des nahegelegenen Waldes. Sie mussten sich beeilen, denn niemand sollte erfahren, wer hinter der Entführung steckte.
Die Männer waren mit Tasern und Pistolen bewaffnet - falls sich wider Erwarten noch jemand im Haus befinden sollte. Davon gingen die drei Vermummten aber nicht aus. Die einzige Frau, die mit der Zielperson in dem großen Gebäude wohnte, war vor zwei Stunden weggefahren. Und jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, konnten sie endlich zuschlagen.
Rein und raus in dreißig Sekunden. Einen derart leichten Job hatten sie schon lange nicht mehr gehabt. Es konnte doch gar nichts schiefgehen.
Dachten sie ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 156
Cover
Impressum
In den Fängen eines Satans
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Vincent Manalo/Rainer Kalwitz
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4535-3
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
In den Fängen eines Satans
von Ian Rolf Hill
Die drei Vermummten näherten sich dem Haus im Schutz der Dunkelheit. Ihr schwarzer Van parkte unweit des Zielgebäudes am Rand des nahe gelegenen Waldes. Sie mussten sich beeilen, denn niemand sollte erfahren, wer hinter der Entführung steckte.
Die Männer waren mit Tasern und Pistolen bewaffnet – falls sich wider Erwarten noch jemand im Haus befinden sollte. Davon gingen die drei Vermummten aber nicht aus. Die einzige Frau, die mit der Zielperson in dem großen Gebäude wohnte, war vor zwei Stunden weggefahren. Und jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, konnten sie endlich zuschlagen.
Rein und raus in dreißig Sekunden. Einen derart leichten Job hatten sie schon lange nicht mehr gehabt. Es konnte doch gar nichts schiefgehen.
Dachten sie …
Carlotta seufzte und strich dem Kätzchen über den winzigen Kopf. Ein klägliches Maunzen drang aus seinem Mäulchen. Es klang so ängstlich und herzzerreißend, dass Carlotta schlucken musste. Am liebsten hätte sie den kleinen Kater mit ins Bett genommen, nur war das leider nicht möglich. So kraulte sie das Tier noch einmal unterm Kinn und verschloss dann die Box, in dem Salem die Nacht verbringen musste. Den Namen verdankte er seinem schwarzen Fell und der Vorliebe seiner Besitzerin für die Serie »Sabrina«.
Leider hatte Salem das Schicksal vieler junger Hauskater ereilt, die kastriert wurden und danach schmerzhafte Harnkristalle entwickelten. Die verstopften seine Harnröhre, sodass er nur noch tröpfchenweise das Wasser lassen konnte. Zum Glück hatte seine Besitzerin das Leiden rechtzeitig bemerkt und Salem in die Tierarztpraxis von Dr. Maxine Wells gebracht.
Die hatte ihm mit Carlottas Hilfe einen Katheter gelegt. Die Blase wurde regelmäßig gespült, damit die Kristalle ausgeschwemmt wurden. Waren sie erst einmal verschwunden, würde Salem ein Spezialfutter bekommen, dass die Neubildung von Harnkristallen verhinderte.
Carlotta hatte die letzte Spülung für den heutigen Tag vorgenommen, da ihre Ziehmutter Maxine in Dundee verabredet war. Xaver hatte seinen irischen Wolfshund zur Behandlung gebracht, und während Maxine nur Augen für Little John gehabt hatte, wie Xaver seinen vierbeinigen Gefährten treffenderweise nannte, hatte sein Besitzer heftig mit der attraktiven Ärztin geflirtet.
Das war dieser gar nicht aufgefallen, doch Carlotta, die sich wohlweislich im Hintergrund gehalten und in einem Nebenraum Medikamente und Probenpackungen sortiert hatte, war es nicht entgangen. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass Xaver und Little John hierherkamen, und zumindest Carlotta fand, dass die Gründe dafür teilweise reichlich banal waren. Möglicherweise war Xaver schlichtweg überfürsorglich, wahrscheinlicher war jedoch, dass er selbst derjenige mit dem Leiden war, das sich eindeutig auf sein Herz bezog.
Carlotta hatte beinahe aufgelacht, als Xaver einen plumpen Annäherungsversuch gestartet und Maxine zum Essen eingeladen hatte. Die war plötzlich verlegen geworden, hatte behauptet, etwas aus dem Nebenraum holen zu müssen, und war verschwunden. Atemlos hatte sie die Tür hinter sich zugeschlagen, sich mit dem Rücken dagegen gelehnt und fahrig mit den Händen über das gerötete Gesicht gestrichen.
Carlotta lächelte traurig, als sie sich daran erinnerte, denn die Szene hatte sie einfach zu sehr an eine Comedy-Serie erinnert, ohne das Konservengelächter wohlgemerkt. Trotzdem bedauerte sie ihre Worte, die sie ihrer Ziehmutter im folgenden Dialog an den Kopf geworfen hatte, von tiefstem Herzen.
***
Vor einigen Stunden
»Was soll ich tun, Carlotta?«, fragte Maxine und starrte ihren Schützling entgeistert an.
»Ihn wegschicken.« Demonstrativ widmete Carlotta sich wieder dem Schrank vor ihr. Als Maxine nicht reagierte, fügte sie schnippisch hinzu: »Und sein hypochondrisches Riesenkalb kann er meinetwegen Huckepack tragen.«
»Sei nicht so eklig, Carlotta. Was hat dir Xaver denn getan?«
Sie lachte auf. »Mir nichts. Aber du scheinst ihn ja zu mögen.« Sie zuckte mit den Schultern und stapelte weiter Medikamente.
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Maxine sich ihr näherte, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Was ist los, Carlotta?«
Sie hob die Schultern. »Nichts. Was soll los sein?«
»Du bist abweisend und launisch.«
Carlotta verzog das Gesicht und verdrehte die Augen. »Ich mag ihn halt nur nicht.«
»Das habe ich nicht auf Xaver bezogen«, erklärte Maxine mit scharfer Stimme. »Seit dem Vorfall mit dem Vogelmenschen und Aibon1) bist du verändert. Du … du …« Die Tierärztin rang nach Worten. »Du weichst mir aus, redest kaum und …«
»Was ist mit John Sinclair?«
Maxine hob die Augenbrauen und schüttelte überrascht den Kopf. »Was soll mit ihm sein?«
Wütend hieb Carlotta eine Medikamentenschachtel auf die Arbeitsfläche. Ihre gewaltigen, weiß gefiederten Schwingen auf dem Rücken zuckten aufgeregt. »Du tust gerade so, als ob zwischen euch nichts gewesen wäre.«
»John wohnt in London und lebt sein eigenes Leben. Wir sind Freunde, nicht mehr, Carlotta. Im Übrigen darf ich ausgehen, mit wem ich will, junge Dame.«
Ruckartig wandte Carlotta den Kopf. »Schön, dann geh doch mit deinem Xaver meinetwegen essen oder … sonst wohin.«
Im letzten Moment bekam sie sich zumindest so weit in den Griff, nicht übers Ziel hinauszuschießen und unverschämt zu werden. Trotzdem brannte die Wut wie ein loderndes Feuer in ihrem Innern. Doch da war noch weitaus mehr. Und sie hätte sich niemals mit Maxine so gut verstanden, wenn diese nicht längst geahnt hätte, woher der Wind wehte.
Mit einem Mal wurde die angespannte Miene der Tierärztin weicher. »Carlotta, hör zu. Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Du bist eine junge Frau, und … du hast sicherlich bestimmte Wünsche und Vorstellungen von deinem Leben. Ich kann das verstehen …«
»Nein!«, schrie Carlotta. Ihre Flügel spreizten sich unvermittelt, sodass Maxine erschrocken zurückzuckte. Mit der rechten Schwinge fegte Carlotta eine Nierenschale von der Arbeitsfläche, die scheppernd zu Boden fiel. Tränen brannten in den Augen, ein Kloß saß in ihrer Kehle, und ein ziehender Schmerz verkrampfte den Unterleib. »Nichts verstehst du. Gar nichts! Ich werde nie ein normales Leben führen können. Niemals! Wer weiß, wie viele Mutationen dieser Mistkerl Elax noch auf die Menschheit losgelassen hat? Ja, ich kann fliegen.« Carlotta schluchzte. »Ich kann fliegen, toll. Aber ich werde mich nie vor allen Menschen zeigen können. Ich werde nicht in der Fußgängerzone spazieren gehen können. Ich werde mich nicht verlieben dürfen, weil niemand sehen darf, was für ein Monster ich bin.« Tränen rannen aus ihren Augen. Ja, es war gerade so, als hätte der letzte Vorfall mit Gideon, dem Verbannten, einen Knoten zum Platzen gebracht. Irgendwann brachte der berühmte Tropfen auch das allergrößte Fass zum Überlaufen.
Sie sah, wie Maxines Augen verräterisch schimmerten. Ihre Unterlippe zitterte, und Maxine machte einen Schritt auf Carlotta zu, um sie in den Arm zu nehmen.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt: Mitleid. Sie wich zurück, senkte den Kopf und wandte den Blick schräg nach rechts unten, sodass ihre braunen Haare wie ein Schleier vor ihr Gesicht fielen. Abwehrend streckte sie die Arme aus, während sich die Schwingen langsam wieder auf ihrem Rücken zusammenfalteten.
»Geh, Maxine. Geh einfach, hörst du? Lass mich allein. Bitte. Ich … ich kümmere mich um Salem und Little John. Aber lass mich für heute einfach in Ruhe, ja?«
Nach diesen Worten drehte sie sich um und hob die Nierenschale auf.
Maxine stand hilflos hinter ihrem Schützling, die Hände zu Fäusten geballt. Ohnmächtig musste sie mit ansehen, wie Carlotta litt. Und doch brannte auch in ihr der Zorn. Was hatte sie nicht alles aufgegeben, um ihr ein Zuhause zu bieten?
Doch zugleich wusste sie, dass Carlotta eine schwere Zeit durchmachte. Wohl wissend, dass sie heute Abend mit ihr nicht mehr vernünftig würde reden können, sagte sie leise: »Ich bleibe nicht lange weg.«
Dann drehte sie sich um und ging.
***
Carlotta verschloss Salems Käfig, fütterte noch die Meerschweinchen, die von ihren Besitzern zur Pflege dagelassen worden waren, während diese auf den Malediven Urlaub machten, und verließ die Praxisräume.
Der Wohnbereich des Hauses schloss sich direkt an die Räumlichkeiten der Tierarztpraxis an. Carlotta beeilte sich, denn ihr Gast wartete sicherlich schon ungeduldig auf sie. Zuvor aber ging sie noch einmal ins Badezimmer. Die ziehenden Unterleibsschmerzen waren in den letzten Minuten heftiger geworden, und sie wollte mit einer Tablette frühzeitig gegensteuern.
Wehmütig dachte sie an ihr Gespräch mit Maxine.
Carlotta schnaubte. Was heißt schon Gespräch?, dachte sie bitter. Wie eine undankbare, verzogene Göre habe ich mich aufgeführt.
Sie hoffte, dass ihre Ziehmutter nicht zu spät von ihrem Date zurückkehrte. Wenn möglich wollte sie sich noch heute bei Maxine entschuldigen. Zugleich ertappte sich Carlotta dabei, wie sie eifersüchtig wurde. Ja, sie hätte auch gerne ein Rendezvous gehabt. Einen jungen Mann, der sie zum Essen ausführte, vielleicht sogar zum Tanz. Sie sanft in seinen starken Armen hielt und ihr am Ende eines wundervollen Abends einen Kuss auf die Lippen hauchte.
Carlotta dachte an Johnny Conolly, als sie die Packung mit den Schmerztabletten aus dem Badezimmerschrank nahm und sich zwei der kleinen Dragees aus dem Blister drückte. Wie Maxine ihr berichtet hatte, war seine Mutter Sheila, gar nicht weit von hier, auf Glamis Castle, auf grausame Art und Weise ums Leben gekommen. Und Johnny selbst war seitdem verschwunden. Verschollen in einer fremden Dimension. Vielleicht selbst schon tot …
Carlotta schluckte und spürte wieder den Druck hinter den Augen. Sie mochte Johnny und hätte ihn gerne besser kennengelernt. Doch vielmehr noch wünschte sie sich, dass er einfach wieder zurückkehrte. Was war sie doch für eine selbstsüchtige, dumme Gans. Sich aufzuregen, dass ihr zwei Flügel aus dem Rücken wuchsen, wo doch andere Menschen viel gravierendere Probleme hatten. Nur leider konnte sie sich momentan nur um ihre eigenen kümmern.
War da nicht noch etwas Schokoladeneis im Gefrierfach? Genau das richtige, um sich den Abend zu versüßen.
Sie spülte die Tabletten gerade mit zwei großen Schlucken eiskalten Leitungswassers hinunter, als sie derart zusammenschrak, dass ihr beinahe der Zahnputzbecher aus der Hand gefallen wäre. Sie hörte das laute Bellen von Little John, der in der Küche auf einer alten Stoffdecke gedöst hatte, während sie in der Praxis arbeitete.
Carlotta lief zur Tür, riss sie auf und stürmte in den dahinterliegenden Flur. Sie wollte sich nach links in Richtung Küche wenden, als sie aus dem rechten Augenwinkel einen Schatten auf sich zukommen sah.
Ohne zu zögern reagierte sie. Sie mochte eine junge Frau sein, die das zweite Lebensjahrzehnt noch nicht einmal vollendet hatte, doch die harte Schule, die sie in ihrer Kindheit hatte durchmachen müssen, sowie die zahllosen Abenteuer mit Feinden aus einer anderen Realität hatten sie abgehärtet. Außerdem benötigte man Kraft, um sich mit Hilfe zweier gefiederter Schwingen in die Lüfte zu erheben. Nicht nur äußerlich war Carlotta genetisch verändert worden. Auch ihre Muskeln und Knochen hatte man entsprechend angepasst. Sie war deutlich breiter in den Schultern, als es Frauen in ihrem Alter für gewöhnlich waren.
Und was für eine Stärke in ihren Flügel steckte, bekam der Angreifer unweigerlich zu spüren. Beinahe reflexartig spreizte sie ihre gewaltigen Schwingen, was in dem engen Flur gar nicht so einfach war. Während ihr linker Flügel die Vase von einer kleinen Kommode fegte und fast noch das darüber hängende Bild von der Wand holte, traf der Knochen der rechten Schwinge den Angreifer im Gesicht.
Dieser stieß einen Laut der Überraschung und des Schmerzes aus, der unter seiner Sturmhaube dumpf klang. Zugleich taumelte er zwei Schritte nach hinten und kam seinem Kameraden ins Gehege, der hinter ihm erschien und einen knapp armlangen, dünnen Stock in der Hand hielt, den Carlotta als Viehtreiber identifizierte. Eine perfide Waffe, die schmerzhafte Stromstöße verursachte.
Sie wollte nachsetzen, als ein irrsinniger Schmerz durch ihren linken Flügel jagte.
Carlotta schrie gepeinigt auf, taumelte zurück und wandte sich noch in der Bewegung dem dritten Angreifer zu, der auf der anderen Seite gelauert haben musste. Möglicherweise geduckt hinter der Kommode. Die Dunkelheit im Flur und seine schwarze Kleidung hatten ihn so gut wie unsichtbar gemacht.
Jetzt stand er vor ihr, ebenfalls einen Viehtreiber in der Hand, mit dem er ihren Flügel außer Gefecht gesetzt hatte. Carlotta spürte die Wut in sich, die die lähmende Angst sekundenlang vertrieb. Sie wollte sich auf den Einbrecher stürzen, doch der bewies in den nächsten Augenblicken, dass er kein Anfänger war. Er schlug Carlottas Arme zur Seite, trat ihr zugleich die Beine unter dem Körper weg und stieß ihr die beiden Pole des Elektroschockers in den Leib.
Carlotta glaubte, ihr Körper stünde in Flammen. Ihre Muskeln erstarrten, ihre Eingeweide verkrampften sich. Sie wollte ihren Schmerz herausbrüllen, doch ihre Kiefer pressten sich schlagartig aufeinander. Sie musste sich dabei auf die Innenseite der Wange oder die Zunge gebissen haben, denn sie schmeckte Blut.
Übelkeit wallte in ihr auf. Carlotta sah deutlich die Augen des Mannes unter der Sturmhaube. Kalt und erbarmungslos fixierten sie ihre Beute, während der Angreifer den Elektroschocker fest gegen ihren Körper gepresst hielt und immer mehr Strom in ihren Leib jagte.
Mit einem Mal verschwand der Druck. Verschwommen sah Carlotta einen riesigen Schatten hinter dem Angreifer. Ein abgehacktes Brüllen erklang. Der Mann wollte sich umdrehen, den Viehtreiber gegen den neuen Feind einsetzen, doch da war es längst zu spät. Little John wuchs hinter dem Einbrecher empor wie ein Grizzlybär, rammte ihn zu Boden und schloss seine gewaltigen Kiefer um den Unterarm des Mannes. Ein knirschendes Geräusch ertönte. Ein Schrei. Der Viehtreiber fiel zu Boden.
Little John schlug mit den Vorderpfoten nach dem Eindringling, knurrte und brüllte, bis er die Kehle des Mannes fand.
Wie durch Watte gefiltert vernahm Carlotta zwei leise, ploppende Geräusche, sah wie der gewaltige Leib des Wolfshundes unter den Einschlägen der Projektile zuckte.
Schatten, schwärzer als das Halbdunkel im Flur, krochen von den Seiten in Carlottas Blickfeld. Der Schmerz war so allumfassend, dass sie die Ohnmacht willkommen hieß. Ihr vorletzter Gedanke galt Little John. Unendliche Trauer überschwemmte sie und begleitete sie in die Bewusstlosigkeit. Zuletzt dachte sie an Maxine.
Es tut mir leid!
***
»Hey, Maxine. Ist alles in Ordnung?«
Xavers Stimme riss die Tierärztin aus ihren Gedanken. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg und sie rot wurde. Verlegen strich sie mit beiden Händen über die blütenweiße Tischdecke.
»Oh, äh, ja natürlich. Alles bestens.« Maxine lächelte verkrampft und legte den Kopf schräg. »Es tut mir leid, Xaver. Ich bin eine schreckliche Gesellschafterin.«
Er schüttelte den Kopf mit den blonden Haaren und lächelte nachsichtig. »Aber keineswegs. Du bist die netteste Frau, mit der ich seit sehr langer Zeit zusammen bin. Nur scheinst du mit deinen Gedanken gerade ganz woanders zu sein.«
Maxine senkte den Blick und nickte. Schließlich hob sie den Kopf und sah Xaver in die blaugrauen Augen. Verflixt, dachte sie. Er hat wirklich ziemlich viel Ähnlichkeit mit einem anderen netten Mann, der jedoch sehr viel weiter weg wohnt und selten Zeit für einen entspannten Abend zu zweit hat.
»Es … entschuldige, ich muss nur immer wieder an Carlotta … meine Tochter denken. Wir hatten heute einen entsetzlichen Streit, und …«
Sanft legte Xaver seine Hand auf ihren Unterarm. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Maxine. Und mir auch nichts zu erklären. Wenn du willst, fahren wir zurück. Dann schnappe ich mir Little John, du kannst mit Carlotta sprechen, und wir wiederholen das hier einfach ein anderes Mal.«
Maxine spürte, wie ihr eine Zentnerlast von den Schultern fiel. Sie lächelte befreit und spürte, wie Tränen der Erleichterung und Rührung aufzusteigen drohten. Mit eiserner Willenskraft riss sie sich zusammen. Sie hatte gewiss keine Probleme, Gefühle zu zeigen, doch sie wollte beim ersten Date auch nicht als hysterische Ziege im Gedächtnis haften bleiben. Daher sagte sie schnell: »Nur, wenn es dir nichts ausmacht.«
Xaver schüttelte den Kopf und winkte dem Ober, der gerade zwei Tische weiter abrechnete.
»Solange du mir versprichst, dass wir das Essen schnellstmöglich nachholen.« Er grinste sie ebenso unverschämt wie liebenswürdig an, und Maxine wurde es warm ums Herz.
»Ich denke, damit kann ich leben«, erwiderte sie lächelnd. »Wie wäre es gleich nächsten Freitag?«
»Abgemacht.«
Der Ober trat an ihren Tisch und fragte nach ihren Wünschen.
»Wir würden gerne zahlen«, sagte Xaver, bevor Maxine das Wort ergreifen konnte.
Der junge, galante Mann mit den schwarzen Koteletten wirkte zerknirscht. »Oh, hat ihnen das Essen nicht geschmeckt? Sie haben ja kaum was gegessen!«
»Nein, nein, das Essen war vorzüglich.«
»Sagt Ihnen unser Ambiente nicht zu? Wir …«
Xaver hob beide Hände und winkte heftig ab. »Alles bestens. Nur, gibt es einen kleinen privaten Notfall, und wir müssen leider vorzeitig abbrechen. Bitte bringen Sie uns die Rechnung.«
»Wir kommen bald wieder, versprochen«, fügte Maxine hinzu.
Kaum war der Ober verschwunden, hob Xaver die Augenbrauen und blies die Wangen auf. »Gerade noch mal gut gegangen. Ich dachte schon, der Knabe wird ohnmächtig.«
Maxine fing an zu lachen und griff nach ihrer Handtasche, um die Brieftasche hervorzuholen. Als Xaver dies sah, schüttelte er hastig den Kopf.
»Ich zahle! Schließlich habe ich dich eingeladen.«
»Oh nein, mein Lieber. Ich habe uns den Abend ruiniert. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Wenn wir das Essen wiederholen, darfst du gerne bezahlen, aber heute übernehme ich die Rechnung.«
Wenn sie wollte, konnte Maxine sehr überzeugend sein, und so gab Xaver schließlich klein bei, und auch der Ober verlor kein weiteres Wort über ihren vorzeitigen, überhasteten Aufbruch. Die Tierärztin legte noch ein ordentliches Trinkgeld oben drauf, danach verabschiedeten sie sich. Das Restaurant lag in der Innenstadt von Dundee, und da sowohl Xaver, als auch Maxine außerhalb der Stadt wohnten, waren sie mit dem Auto gefahren.
Der Einfachheit halber beide mit den eigenen Fahrzeugen, denn Xaver musste schließlich noch Little John einladen. Dank der großzügigen Ladefläche seines Wagens kein Problem. Er hatte den irischen Wolfshund am Nachmittag gleich in der Praxis gelassen, war aber noch mal zu sich nach Hause gefahren, weil er sich noch frisch machen und umziehen wollte. Sie hatten sich direkt auf dem Parkplatz vor dem Restaurant verabredet, und von hier aus fuhren sie gemeinsam zum Haus der Tierärztin zurück.
Während der Fahrt dachte Maxine immer wieder an Carlotta und hätte fast noch über Handy bei ihr angerufen, hielt sich aber zurück. Dieses Gespräch musste sie von Angesicht zu Angesicht führen. Zu viel konnte missverstanden werden, wenn Gestik und Mimik fehlten. Und so umklammerte die Tierärztin das Lenkrad fester, blickte in den Rückspiegel und lächelte versonnen, als sie den schweren Geländewagen von Xaver hinter ihr sah.
Ja, er war schon etwas Besonderes. Nicht nur verständnisvoll und freundlich. Er war auch tierlieb und arbeitete in der Forstverwaltung von Dundee, wo er unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war.