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Bei Boschs letztem Einsatz ist einiges schiefgegangen, und er wurde für ein paar Monate suspendiert. Jetzt ist er zurück im Dienst – und sein erster Fall bei der Mordkommission lässt nicht lange auf sich warten: Der Medizinphysiker Stanley Kent wurde mit zwei Schüssen in den Hinterkopf regelrecht hingerichtet und an einem Aussichtspunkt über dem Mulholland Dam in den Hollywood Hills zurückgelassen. Erst als Boschs alte Bekannte Rachel Walling vom FBI am Tatort auftaucht, wird Bosch die Tragweite des Falls bewusst: Im Krankenhaus hatte Kent Zugang zu Cäsium, einem radioaktiven Stoff, der zur Behandlung von Krebs eingesetzt werden kann. Er eignet sich aber auch für den Bau »schmutziger Bomben«. Gerät das Cäsium in die falschen Hände, kann es enormen Schaden anrichten. Als die Ermittler an Kents Arbeitsplatz ankommen, bestätigen sich ihre schlimmsten Vermutungen: Der Safe mit dem Cäsium wurde leergeräumt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
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Seitenzahl: 303
Michael Connelly
Der 13. Fall für Harry Bosch
Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb
Kampa
Für die Bibliothekarin,
die mir Wer die Nachtigall stört gab
Der Anruf kam um Mitternacht. Harry Bosch warnoch wach und saß im Dunkeln in seinem Wohnzimmer. Er dachte gern, er täte das, weil er so das Saxophon besser hören konnte. Durch das Ausblenden eines Wahrnehmungssinnes schärfte er einen anderen.
Aber wenn er ganz ehrlich war, wusste er ganz genau, was der wahre Grund war. Er wartete.
Der Anruf kam von Larry Gandle, seinem Supervisor bei Homicide Special. Es war Boschs erster Außeneinsatz in seiner neuen Dienststelle. Und das war, worauf er gewartet hatte.
»Harry, sind Sie noch auf?«
»Ich bin noch auf.«
»Was haben Sie da im Hintergrund laufen?«
»Frank Morgan, live im Jazz Standard in New York. Wen Sie da gerade am Piano hören, ist George Cables.«
»Hört sich ganz nach ›All Blues‹ an.«
»Völlig richtig.«
»Nicht übel. Tut mir leid, dass ich Sie da jetzt rausreißen muss.«
Bosch machte die Musik mit der Fernbedienung aus.
»Weswegen rufen Sie an, Lieutenant?«
»Die Jungs von der Hollywood Division möchten, dass Sie und Iggy eine Sache übernehmen. Das ist heute schon ihr vierter Fall, und sie kommen nicht mehr nach. Außerdem sieht es aus, als könnte das Ihr neues Hobby werden. Riecht schwer nach einer Hinrichtung.«
Das Los Angeles Police Department hatte siebzehn geographische Divisions, jede mit einer eigenen Polizeiwache und einem Detective Bureau, einschließlich eines Morddezernats. Die einzelnen Einheiten der Divisions waren jedoch vor allem für die Erstversorgung zuständig und konnten sich nicht mit langwierigen Fällen befassen. Wenn daher ein Mord mit Politik-, Prominenz- oder Medienbezug geschah, wurde er in den meisten Fällen an die Abteilung Homicide Special weitergereicht, die in der Robbery-Homicide-Division im Parker Center stationiert war. Zu einem sofortigen Kandidaten für Homicide Special avancierte außerdem jeder Fall, der besonders schwierig oder zeitaufwendig zu werden schien – für die Ermittler also die Dimensionen eines Hobbys annehmen würde. Und das hier war so einer.
»Wo?«, fragte Bosch.
»Am Aussichtspunkt über dem Mulholland Dam. Wissen Sie, welche Stelle ich meine?«
»Ja, ich kenne die Gegend da oben.«
Bosch stand auf und ging zum Esszimmertisch. Er öffnete eine Schublade, die eigentlich für Besteck gedacht war, und nahm einen Stift und einen kleinen Notizblock heraus. Auf die oberste Seite des Blocks schrieb er Zeitpunkt und Ort des Mordes.
»Sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte er.
»Nicht viel«, sagte Gandle. »Wie gesagt, es wurde mir als eine Hinrichtung beschrieben. Zwei Kugeln in den Hinterkopf. Jemand hat den armen Teufel da raufgebracht und sein Gehirn über die tolle Aussicht verteilt.«
Bosch dachte kurz nach, bevor er die nächste Frage stellte.
»Wissen sie, wer der Tote ist?«
»Daran arbeiten sie noch. Vielleicht erfahren Sie ja schon mehr, wenn Sie hinkommen. Ist doch gleich um die Ecke von Ihnen oder nicht?«
»Jedenfalls nicht allzu weit.«
Gandle beschrieb Bosch die Lage des Tatorts noch etwas genauer und fragte ihn dann, ob er seinen Partner anrufen könnte. Bosch sagte, er würde sich darum kümmern.
»Okay, Harry, dann fahren Sie da mal rauf und sondieren die Lage, und wenn Sie etwas klarer sehen, rufen Sie mich an und sagen mir Bescheid. Wecken Sie mich ruhig. Alle anderen tun es auch.«
Bosch fand es typisch Vorgesetzter, sich über solche nächtlichen Anrufe bei jemandem zu beklagen, den er im Lauf ihres Arbeitsverhältnisses regelmäßig um seinen Schlaf bringen würde.
»Mache ich«, sagte Bosch.
Er legte auf und rief sofort Ignacio Ferras an, seinen neuen Partner. Sie beschnupperten sich noch. Ferras war über zwanzig Jahre jünger und aus einem anderen Kulturkreis. Der Funke würde überspringen, da war sich Bosch sicher, aber es würde eine Weile dauern. Das war immer so.
Ferras wurde von Boschs Anruf geweckt, war aber schnell wach und schien begierig, den Einsatz zu übernehmen. Das war gut. Das Problem war nur, dass er weit draußen in Diamond Bar wohnte, weshalb er frühestens in einer Stunde am Tatort sein konnte. Bosch hatte diesen Punkt gleich am ersten Tag, an dem sie einander als Partner zugeteilt worden waren, zur Sprache gebracht, aber Ferras war nicht an einem Wohnsitzwechsel interessiert. Er hatte in Diamond Bar ein familiäres Unterstützungssystem, das er nicht aufgeben wollte.
Bosch wusste, dass er deutlich früher als Ferras am Tatort war, und das hieß, dass er jegliche Reibereien, was Fragen der Zuständigkeit anging, allein ausbaden müsste. Den Detectives einer Division einen Fall zu entziehen, war immer eine haarige Angelegenheit. Es war in der Regel eine Entscheidung, die von Vorgesetzten getroffen wurde, nicht von den Detectives vor Ort. Kein Homicide Detective, der das Gold auf seiner Dienstmarke wert war, gab einen Fall gern ab. Das war einfach nicht Teil seiner Mission.
»Dann also bis gleich, Ignacio«, sagte Bosch.
»Harry«, sagte Ferras. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich Iggy nennen. Alle tun das.«
Bosch sagte nichts. Er wollte ihn nicht Iggy nennen. Er fand, das war kein Name, der zur Bedeutung ihrer Mission passte. Er hoffte, sein Partner würde es irgendwann merken und aufhören, ihn darum zu bitten.
Dann fiel Bosch noch etwas ein, und er trug Ferras auf, im Parker Center vorbeizufahren und dort ein Auto für sie auszuleihen. Das würde zwar sein Eintreffen am Tatort verzögern, aber Bosch hatte vor, mit seinem eigenen Wagen zum Tatort zu fahren, und er wusste, er hatte nicht mehr viel Benzin im Tank.
»Okay, bis dann.« Diesmal verzichtete Bosch einfach auf irgendwelche Namen.
Er legte auf und nahm sein Sakko aus dem Schrank am Eingang. Als er hineinschlüpfte, begutachtete er sich kurz in dem Spiegel, der an der Innenseite der Tür angebracht war. Mit sechsundfünfzig Jahren war er schlank und fit, und er hätte sogar ein paar Pfunde mehr auf den Rippen vertragen können, während andere Detectives seines Alters eher mit einem mehr oder weniger umfangreichen Rettungsring durch die Gegend liefen.
Bei Homicide Special gab es zwei Detectives, die wegen ihrer Körperfülle als Fass und Kiste bekannt waren. Mit solchen Problemen brauchte sich Bosch nicht herumzuschlagen.
Das Grau hatte noch nicht alles Braun aus seinem Haar vertrieben, aber viel fehlte nicht mehr. Seine dunklen Augen blitzten, und er war bereit für die Herausforderung, die ihn am Aussichtspunkt erwartete. Bosch sah in seinen Augen eine Grundvoraussetzung für die Arbeit eines Ermittlers des Morddezernats: dass er, wenn er zur Tür hinausging, nicht nur dazu bereit, sondern auch in der Lage war, alles zu tun, um seinen Auftrag zu erfüllen – und zwar egal, was es ihm abverlangte. Das verlieh ihm das Gefühl, kugelsicher zu sein.
Er langte mit der linken Hand quer über seinen Oberkörper, um seine Dienstwaffe aus dem Holster an der rechten Hüfte zu ziehen. Es war eine Kimber Ultra Carry. Er überprüfte Ladestreifen und Verschluss, dann steckte er die Pistole wieder ins Holster zurück.
Er war bereit. Er öffnete die Tür.
Der Lieutenant hatte nicht viel über den Fall gewusst, aber in einem Punkt hatte er recht gehabt. Der Tatort war nicht weit von Boschs Haus entfernt.
Er fuhr zum Cahuenga hinunter und nahm dann den Barham Boulevard über den Freeway 101. Von da war es auf dem Lake Hollywood Drive nicht mehr weit zum Mulholland Dam hinauf, wo sich die Häuser an die Hills um den Stausee drängten. Es waren teure Häuser.
Er fuhr um den eingezäunten Stausee herum und hielt nur einmal kurz an, als er einen Kojoten auf der Straße sah. Das Scheinwerferlicht ließ dessen Augen aufleuchten, bevor er sich abwandte und gemächlich über die Straße schlenderte und im Gestrüpp verschwand.
Der Kojote hatte es nicht eilig, fast so, als wollte er Bosch herausfordern, etwas zu tun. Es erinnerte ihn an seine Zeit als Streifenpolizist, als er genau den gleichen herausfordernden Blick in den Augen der meisten jungen Männer gesehen hatte, denen er auf der Straße begegnet war.
Als er den Stausee passiert hatte, fuhr er auf dem Tahoe Drive weiter die Hills hinauf, bis er das Ostende des Mulholland Drives erreichte. Dort lag ein inoffizieller Aussichtspunkt auf die Stadt. Er war bepflastert mit Parkverbots- und Aussichtspunkt-bei-Dunkelheit-geschlossen-Schildern, die jedoch regelmäßig zu allen Tages- und Nachtzeiten missachtet wurden.
Bosch hielt hinter einer Reihe von Behördenfahrzeugen an – der Kombi der Spurensicherung, der Wagen der Rechtsmediziner sowie mehrere Streifenwagen und zivile Einsatzfahrzeuge.
Der Tatort war weiträumig mit gelbem Polizeitape abgesperrt. Hinter der Absperrung stand ein silberner Porsche Carrera mit offener Motorhaube, der noch einmal mit gelbem Absperrungsband umgeben war. Daraus schloss Bosch, dass es sich dabei um das Auto des Opfers handelte.
Bosch parkte und stieg aus. An der äußeren Absperrung notierte ein Streifenpolizist seinen Namen und seine Dienstnummer – 2997 –, bevor er ihn unter dem gelben Tape durchließ. Bosch näherte sich dem Tatort. Zu beiden Seiten der Leiche, die in der Mitte des Aussichtspunkts lag, war eine Reihe tragbarer Scheinwerfer aufgestellt, in deren grellem Schein sich die Techniker der Spurensicherung und die Rechtsmediziner zu schaffen machten. Ein Mann mit einer Videokamera filmte den Tatort.
»Harry, hier rüber.«
Bosch drehte sich um und sah Detective Jerry Edgar an der Motorhaube einer Limousine lehnen. Er hatte einen Becher Kaffee in der Hand und schien nur zu warten. Als Bosch auf ihn zukam, löste er sich von dem Auto.
Edgar war bei der Hollywood Division sein Partner gewesen. Bosch hatte damals ein Team des Morddezernats geleitet. Diesen Posten hatte jetzt Edgar.
»Dass jemand von der RHD aufkreuzen würde, war mir klar«, sagte Edgar. »Aber dass du es sein würdest, hätte ich nicht erwartet, Mann.«
»Tja.«
»Übernimmst du das solo?«
»Nein, mein Partner kommt nach.«
»Dein neuer Partner, wie? Seit diesem Schlamassel letztes Jahr drüben in Echo Park habe ich nichts mehr von dir gehört.«
»Mhm. Und was gibt es hier?«
Bosch hatte keine Lust, mit Edgar über Echo Park zu reden. Übrigens auch mit sonst niemandem. Er wollte sich ganz auf den anstehenden Fall konzentrieren. Es war sein erster Außeneinsatz seit seiner Versetzung zu Homicide Special. Er wusste, dass eine Menge Leute jeden seiner Schritte beobachten würden. Und es waren nicht wenige darunter, die hofften, dass er scheitern würde.
Edgar drehte sich zur Seite, sodass Bosch sehen konnte, was auf dem Kofferraum des Autos ausgebreitet lag. Bosch holte seine Brille aus der Tasche, setzte sie auf und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Es gab nicht viel Licht, aber er konnte eine Reihe von Beweismitteltüten erkennen. Sie enthielten Gegenstände, die an der Leiche gefunden worden waren: Brieftasche, Schlüsselbund, ansteckbares Namensschild. Außerdem eine Geldspange mit einem dicken Packen Scheine und ein Blackberry-Handy, das noch an war. Das blinkende grüne Licht signalisierte seine Bereitschaft, Gespräche zu übertragen, die sein Besitzer nicht mehr führen oder entgegennehmen würde.
»Das hier habe ich gerade alles von den Rechtsmedizinern gekriegt«, sagte Edgar. »Vielleicht noch zehn Minuten, dann sind sie mit der Leiche fertig.«
Bosch griff nach der Tüte mit dem Namensschild und hielt sie ins Licht. Der Ausweis war von der Saint Agatha’s Clinic for Women. Das Foto zeigte einen Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen. Sein Name war mit Dr. Stanley Kent angegeben. Er lächelte in die Kamera. Bosch stellte fest, dass der Klinikausweis zugleich ein Generalschlüssel war, der abgeschlossene Türen öffnen konnte.
»Hast du in letzter Zeit mal was von Kiz gehört?«, fragte Edgar.
Diese Bemerkung bezog sich auf Boschs frühere Partnerin, die sich nach Echo Park auf einen Verwaltungsposten beim OCP hatte versetzen lassen.
»Nur flüchtig. Aber es geht ihr gut.«
Bosch wandte sich den anderen Beweismitteltüten zu und wollte das Gespräch von Kiz Rider auf den vorliegenden Fall lenken.
»Fass doch mal kurz für mich zusammen, was du bisher alles hast, Jerry.«
»Klar, gern«, sagte Edgar. »Der Tote wurde vor etwa einer Stunde entdeckt. Wie du an den Schildern vorn an der Straße sehen kannst, ist es nach Einbruch der Dunkelheit nicht erlaubt, sich hier aufzuhalten oder zu parken. Die Hollywood Division schickt deshalb jede Nacht ein paarmal einen Streifenwagen vorbei, um irgendwelche schrägen Vögel zu verscheuchen. Damit die reichen Anwohner hier oben Ruhe geben. Angeblich ist das dort drüben das Haus von Madonna. Oder war es mal.«
Er deutete auf eine weitläufige Villa etwa hundert Meter vom Aussichtspunkt entfernt. Sie hatte einen Turm, dessen Silhouette sich scharf gegen das Mondlicht abzeichnete. Die Außenwände der Villa waren wie eine toskanische Kirche in kräftigen Rost- und Ockertönen gestrichen. Sie lag auf einem Vorsprung, sodass man von allen Fenstern einen herrlichen Blick auf die Stadt hatte. Bosch stellte sich vor, wie die Sängerin vom Turm auf die ihr zu Füßen liegende Stadt hinabschaute.
Bosch sah wieder seinen alten Partner an, um sich den Rest seiner Meldung anzuhören.
»Als gegen elf ein Streifenwagen vorbeikommt, sieht er den Porsche mit offener Motorhaube auf dem Aussichtspunkt stehen.«
»Aber diese Porsches haben den Motor alle hinten, Harry. Das heißt, der Kofferraum war offen.«
»Schon klar.«
»Okay, das wusstest du also schon. Jedenfalls, der Streifenwagen hält neben dem Porsche an, und weil sie nirgendwo jemanden sehen, steigen die zwei Streifenpolizisten aus, und einer von ihnen findet den Toten. Er liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und hat zwei Löcher im Hinterkopf. Eine richtige Hinrich-tung.«
Bosch deutete mit dem Kopf auf die Beweismitteltüte mit dem Namensschild.
»Und das ist der Mann, Stanley Kent?«
»Sieht ganz so aus. Laut Namensschild und Brieftasche ist er Stanley Kent, zweiundvierzig Jahre alt, wohnhaft gleich um die Ecke im Arrowhead Drive. Wir ließen das Kennzeichen des Porsches durch den Computer laufen, er ist auf eine Firma zugelassen, die sich K and K Medical Physicists nennt. Gerade habe ich auch Kents Namen eingegeben, er hat eine weiße Weste. Ein paar Geschwindigkeitsübertretungen mit dem Porsche, mehr nicht. Es liegt nichts gegen ihn vor.«
Bosch nickte, während er diese Informationen aufnahm.
»Ich habe übrigens nichts dagegen, dass du mir den Fall abnimmst, Harry«, fuhr Edgar fort. »Einer meiner Partner ist diesen Monat die ganze Zeit im Gericht, den anderen habe ich am ersten Tatort gelassen, den wir heute hatten – drei Tote und ein viertes Opfer auf der Intensivstation des Queen of Angels.«
Bosch erinnerte sich, dass in der Hollywood Division die Detectives des Morddezernats in Dreierteams arbeiteten und nicht in den üblichen Zweierpartnerschaften.
»Besteht die Möglichkeit, dass der Dreifache hiermit was zu tun hat?«
Bosch deutete auf die Techniker, die um den Toten auf dem Aussichtspunkt versammelt waren.
»Nein, das war ein typischer Bandenkrieg«, sagte Edgar. »Aber das hier ist was völlig anderes, wenn du mich fragst, und ich bin echt froh, wenn du mir das abnimmst.«
»Gut«, sagte Bosch. »Ich stelle dich frei, sobald ich kann. Hat schon jemand einen Blick in das Auto geworfen?«
»Nicht richtig. Wir haben auf dich gewartet.«
»Okay. War schon jemand im Haus des Opfers im Arrowhead?«
»Ebenfalls negativ.«
»Jemand bei den Nachbarn rumgefragt?«
»Noch nicht. Wir haben uns erst den Tatort vorgenommen.«
Offensichtlich hatte Edgar früh beschlossen, den Fall an die RHD weiterzureichen. Es ärgerte Bosch, dass nichts unternommen worden war, aber ihm war auch klar, dass es jetzt ihm und Ferras zukäme, ganz von vorn anzufangen, was ebenfalls seine Vorteile hatte. Es gab eine lange Liste von Fällen, die im Zuge der Übergabe von einer Division an ein Team aus dem Parker Center erheblich beschädigt oder von Grund auf verpfuscht worden waren.
Er schaute auf den beleuchteten Aussichtspunkt und zählte insgesamt fünf Spurensicherungstechniker und Rechtsmediziner, die sich an der Leiche oder ihrer Umgebung zu schaffen machten.
Dann wandte sich Bosch wieder Edgar zu. »Nachdem ihr euch den Tatort als Erstes vorgenommen habt – hat in der Umgebung der Leiche jemand nach Fußabdrücken Ausschau gehalten, bevor du die Techniker drangelassen hast?«
Bosch gelang es nicht, den Ärger in seiner Stimme zu überspielen.
»Harry«, sagte Edgar, in dessen Stimme nun Ärger über Boschs Ärger mitschwang, »auf diesem Aussichtspunkt trampeln Tag für Tag Hunderte von Leuten rum. Wenn wir gewollt hätten, hätten wir hier bis Weihnachten nach Fußabdrücken suchen können. Ich glaube also nicht, dass wir das getan haben. Wir hatten eine Leiche an einem öffentlich zugänglichen Ort liegen und mussten an sie rankommen. Außerdem sieht es ganz nach einem Auftragsmord aus. Das heißt, Schuhe, Waffe, Auto, alles längst verschwunden.«
Bosch nickte. Er wollte nicht weiter darauf herumreiten.
»Okay«, sagte er ruhig. »Dann bist du wahrscheinlich aus dem Schneider.«
Edgar nickte, und Bosch dachte, er könnte vielleicht Ärger kriegen.
»Wie bereits gesagt, Harry, ich wusste ja nicht, dass du es wärst.«
Anders ausgedrückt, für Harry hätte er es nicht verbockt, nur für jemand anderen von der RHD.
»Klar«, sagte Bosch, »ich verstehe.«
Nachdem Edgar gegangen war, kehrte Bosch zu seinem Auto zurück und holte das Maglite aus dem Kofferraum. Damit ging er zum Porsche, zog Handschuhe an und öffnete die Tür auf der Fahrerseite. Er beugte sich in den Wagen und schaute sich darin um. Auf dem Beifahrersitz lag ein Aktenkoffer. Er war nicht abgeschlossen und enthielt mehrere Ordner sowie einen Taschenrechner, Blöcke, Stifte und Papiere. Ohne den Koffer von seinem Platz zu entfernen, schloss Bosch ihn wieder. Der Umstand, dass er auf dem Sitz lag, deutete darauf hin, dass der Tote wahrscheinlich allein zum Aussichtspunkt gekommen war. Er hatte sich mit seinem Mörder erst hier oben getroffen und ihn nicht nach hier oben mitgenommen. Das, dachte Bosch, könnte wichtig sein.
Er öffnete das Handschuhfach, und mehrere weitere Namensschilder wie das an der Leiche gefundene purzelten ihm entgegen. Er hob eins nach dem anderen auf und stellte fest, dass jeder Ausweis von einem anderen Krankenhaus der Stadt ausgestellt worden war. Aber auf jeder Schlüsselkarte war der gleiche Name und das gleiche Foto. Stanley Kent, der Mann, von dem Bosch annahm, dass er tot auf dem Aussichtspunkt lag.
Auf der Rückseite mehrerer Namensschilder entdeckte er handschriftliche Notizen. In den meisten Fällen waren es Nummern mit den Buchstaben L oder R am Schluss. Daraus schloss er, dass es Kombinationen für Schlösser waren.
Bosch schaute tiefer in das Handschuhfach und fand weitere Ausweise und Schlüsselkarten. So, wie es sich ihm inzwischen darstellte, hatte der Tote – falls er Stanley Kent war – freien Zugang zu so ziemlich jedem Krankenhaus in Los Angeles County gehabt. Außerdem hatte er die Kombinationen von Sicherheitsschlössern in fast jedem dieser Krankenhäuser. Bosch spielte kurz die Möglichkeit durch, dass die Ausweise und Schlüsselkarten gefälscht und vom Opfer für irgendeine krumme Tour in Zusammenhang mit Krankenhäusern verwendet worden waren.
Schließlich legte er alles wieder in das Handschuhfach zurück und schloss es. Dann schaute er unter und zwischen die Sitze, fand aber nichts, was seine Aufmerksamkeit erregte. Er zog sich rückwärts aus dem Auto zurück und ging zur offenen Haube.
Der Kofferraum war klein und leer. Im Schein der Taschenlampe konnte Bosch jedoch vier Einkerbungen in der Bodenmatte erkennen. Offensichtlich war dort etwas Schweres, Viereckiges mit vier Beinen oder Rädern befördert worden. Weil der Porsche mit geöffnetem Kofferraum entdeckt worden war, war es wahrscheinlich, dass dieser Gegenstand im Zug des Mordes entfernt worden war.
»Detective?«
Bosch drehte sich um und richtete den Strahl der Taschenlampe in das Gesicht eines Streifenpolizisten. Es war der Officer, der an der Absperrung seinen Namen und seine Dienstnummer notiert hatte. Er senkte die Lampe.
»Was gibt’s?«
»Eben ist eine FBI-Agentin angekommen. Sie bittet um Erlaubnis, den Tatort betreten zu dürfen.«
»Wo ist sie?«
Der Polizist ging mit Bosch zu der Absperrung zurück. Als sie sich dem gelben Band näherten, sah Bosch eine Frau an der offenen Tür eines Autos stehen. Sie war allein, und sie lächelte nicht. Bosch spürte den Schlag eines unangenehmen Wiedererkennens auf seiner Brust.
»Hallo, Harry«, sagte sie, als sie ihn sah.
»Hallo, Rachel«, sagte er.
Es war fast sechs Monate her, dass er Special AgentRachel Walling vom Federal Bureau of Investigation zum letzten Mal gesehen hatte. Aber als er an der Absperrung auf sie zuging, war er sicher, dass seither kein Tag vergangen war, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Er hätte allerdings nie geglaubt, dass sie sich – falls sie sich je wieder sehen sollten – mitten in der Nacht am Tatort eines Mordes begegnen würden. Sie trug eine Jeans, ein Oxford-Hemd und einen dunkelblauen Blazer. Ihr dunkles Haar war nicht gekämmt, aber sie sah trotzdem schön aus. Offensichtlich hatte sie genau wie Bosch zu Hause einen Anruf erhalten. Sie lächelte nicht, und Bosch wurde daran erinnert, wie unerfreulich ihre letzte Begegnung geendet hatte.
»Ich weiß zwar, ich bin dir aus dem Weg gegangen«, begann er, »aber das ist doch noch lange kein Grund, mich deswegen ausgerechnet an einem Tatort aufzuspüren, bloß um …«
»Das ist wirklich nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Witze«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Jedenfalls nicht, wenn das hier ist, was ich denke.«
Zum letzten Mal hatten sie beim Echo-Park-Fall miteinander zu tun gehabt. Damals hatte sie für eine dubiose FBI-Einheit gearbeitet, die sich Tactical Intelligence Unit nannte. Sie hatte ihm nie erzählt, was diese Einheit machte, und er war nicht weiter in sie gedrungen, weil es für die Echo-Park-Ermittlungen unerheblich war. Er hatte sich ursprünglich wegen ihrer früheren Tätigkeit als Profiler an sie gewandt – und wegen ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Beim Echo-Park-Fall war einiges schiefgelaufen, und damit hatten sich auch alle Aussichten auf eine Wiederbelebung ihrer Beziehung zerschlagen.
Wenn Bosch sie jetzt ansah, wurde ihm sofort klar, dass sie ihr Verhältnis auf einer rein dienstlichen Ebene belassen wollte. Außerdem konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er schon bald herausfinden würde, was es mit dieser Tactical Intelligence Unit auf sich hatte.
»Und was denkst du, könnte es sein?«, fragte er.
»Das sage ich dir, wenn ich es dir sagen darf. Kann ich mir jetzt bitte den Tatort ansehen?«
Widerstrebend hob Bosch das gelbe Absperrungstape an und reagierte mit routinemäßigem Sarkasmus auf ihre Förmlichkeit.
»Nur hereinspaziert, Agent Walling. Fühlen Sie sich wie zu Hause.«
Sie duckte sich unter der Absperrung hindurch und blieb stehen. Zumindest respektierte sie sein Vorrecht, sie zum Tatort zu führen.
»Unter Umständen kann ich dir bei diesem Fall wirklich helfen«, sagte sie. »Wenn ich die Leiche sehen darf, kann ich möglicherweise eine offizielle Identifizierung für dich vornehmen.«
Sie hob den Ordner hoch, den sie bisher an ihrer Seite gehalten hatte.
»Hier lang«, sagte Bosch.
Er führte sie auf den Aussichtspunkt, wo das Opfer in das sterile Neonlicht der mobilen Scheinwerfer getaucht war. Der Tote lag etwa eineinhalb Meter von dem Steilabfall am Rand des Aussichtspunkts entfernt auf der orangefarbenen Erde. Auf dem Stausee am Fuß der steilen Böschung spiegelte sich das Mondlicht, und hinter dem Staudamm breitete sich die Stadt wie eine Decke von Millionen Lichtern aus, die in der kühlen Abendluft funkelten.
Als sie den Rand des Lichtkreises erreichten, streckte Bosch den Arm aus, um Walling zurückzuhalten. Das Opfer war von einem der Rechtsmediziner auf den Rücken gedreht worden. Gesicht und Stirn des Toten wiesen zahlreiche Abschürfungen auf, aber trotzdem glaubte Bosch, in ihm den Mann erkennen zu können, der auf den Fotos der Namensschilder im Handschuhfach zu sehen gewesen war. Stanley Kent. Sein Hemd war offen, und darunter war die blasse weiße Haut seines unbehaarten Brustkorbs zu sehen. Auf der Seite des Oberkörpers, wo der Rechtsmediziner eine Temperatursonde in die Leber gestoßen hatte, war ein Einstich zu erkennen.
»’n Abend, Harry«, sagte Joe Felton, der Rechtsmediziner. »Oder vielleicht sollte ich schon guten Morgen sagen. Wer ist Ihre Freundin da? Ich dachte, Ihr neuer Partner wäre Iggy Ferras?«
»So ist es auch«, antwortete Bosch. »Das hier ist Special Agent Walling von der Tactical Intelligence Unit des FBI.«
»Tactical Intelligence? Was lassen die sich eigentlich noch alles einfallen?«
»Ich schätze mal, das ist irgend so eine Heimatschutz-Veranstaltung. Sie wissen schon, nichts fragen, nichts sagen, diese Nummer. Sie meint, vielleicht kann sie uns die Identifizierung des Toten bestätigen.«
Walling bedachte Bosch mit einem Blick, der sagen sollte, er sei kindisch.
»Ist es okay, wenn wir reinkommen, Doc?«, fragte Bosch.
»Klar, Harry, wir sind hier so gut wie fertig.«
Bosch wollte einen Schritt nach vorn machen, aber Walling kam ihm zuvor und trat vor ihm in den grellen Lichtschein. Ohne zu zögern, stellte sie sich neben die Leiche. Sie öffnete den Ordner und nahm ein farbiges 18 x 24-Porträt heraus. Dann bückte sie sich und hielt das Foto neben das Gesicht des Toten. Bosch stellte sich neben sie, um ebenfalls einen Vergleich vorzunehmen.
»Er ist es«, sagte sie. »Stanley Kent.«
Bosch nickte bestätigend und hielt ihr die Hand hin, damit sie über die Leiche zurücksteigen könnte. Sie ignorierte sie und tat es ohne seine Hilfe. Bosch schaute zu Felton hinab, der neben der Leiche kauerte.
»Und, Doc, können Sie uns schon sagen, womit wir es hier zu tun haben?«
Bosch beugte sich zu der Leiche hinab, um besser sehen zu können.
»Wir haben hier einen Mann, der aus bisher unbekannten Gründen hierher kam oder auch gebracht wurde und dann gezwungen wurde, niederzuknien.«
Felton deutete auf die Hose des Opfers. Beide Knie wiesen Spuren orangefarbener Erde auf.
»Dann schoss ihm jemand zweimal in den Hinterkopf, und er fiel mit dem Gesicht voran auf den Boden. Die Gesichtsverletzungen, die Sie sehen können, zog er sich zu, als er auf dem Boden aufschlug. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot.«
Bosch nickte.
»Keine Austrittswunden«, fuhr Felton fort. »Wahrscheinlich was Kleineres, eine Zweiundzwanziger zum Beispiel. Die Kugeln sind von der Innenwand des Schädels zurückgeprallt. Sehr wirkungsvoll.«
Bosch merkte, dass Lieutenant Gandles Bemerkung, das Hirn des Opfers sei über die Aussicht verteilt, im übertragenen Sinn gemeint gewesen war. In Zukunft musste er Gandles Hang zur Übertreibung berücksichtigen.
»Todeszeitpunkt?«, fragte er Felton.
»Der Lebertemperatur nach zu schließen, etwa vor vier bis fünf Stunden«, antwortete der Rechtsmediziner. »Gegen zwanzig Uhr.«
Das gab Bosch zu denken. Er wusste, um acht Uhr war es bereits dunkel und alle Sonnenuntergangsfans waren wahrscheinlich längst wieder fort. Aber die zwei Schüsse mussten in den Häusern in der unmittelbaren Umgebung des Aussichtspunkts zu hören gewesen sein. Doch niemand hatte bei der Polizei angerufen, und die Leiche war erst drei Stunden später von einem zufällig vorbeikommenden Streifenwagen entdeckt worden.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte Felton. »Warum hat niemand den Knall gehört? Dafür gibt es möglicherweise eine Erklärung. Dreht ihn noch mal auf den Bauch, Jungs.«
Bosch richtete sich auf und trat zur Seite, während Felton und einer seiner Assistenten die Leiche herumdrehten. Bosch sah Walling an, und einen Moment trafen sich ihre Blicke, bevor sie wieder auf den Toten hinabschaute.
Jetzt waren die Schusswunden am Hinterkopf sichtbar. Das schwarze Haar des Opfers war blutverklebt. Über den Rücken seines weißen Hemds waren extrem feine Spritzer einer braunen Substanz verteilt, die sofort Boschs Aufmerksamkeit erregten. Er war schon an zu vielen Tatorten gewesen, um sie noch zählen zu können. Und er glaubte nicht, dass die Spritzer auf dem Hemd des Toten Blutflecken waren.
»Das ist doch kein Blut, oder?«, sagte er zu Felton.
»Nein, das ist kein Blut«, bestätigte ihm der Rechtsmediziner. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie im Labor feststellen werden, dass es ganz ordinäres Coca-Cola ist. Der eingedickte Rest, der sich auf dem Boden einer ausgetrockneten Dose oder Flasche absetzt.«
Bevor Bosch antworten konnte, tat es Walling.
»Ein behelfsmäßiger Schalldämpfer, um das Geräusch der Schüsse zu dämpfen«, sagte sie. »Man bringt mit Tape eine leere Plastik-Colaflasche am Lauf der Waffe an. Dadurch wird das Geräusch des Schusses deutlich gedämpft, weil die Schallwellen in der Flasche bleiben und sich nicht in der umgebenden Luft ausbreiten. Wenn in der Flasche noch ein Rest Cola ist, wird das Ziel des Schusses mit der Flüssigkeit besprüht.«
Felton sah Bosch an und nickte zur Bestätigung.
»Wo haben Sie denn die aufgegabelt, Harry? Auf die sollten Sie schauen.«
Bosch sah Walling an. Auch er war beeindruckt.
»Habe ich alles aus dem Internet«, sagte sie.
Bosch nickte, obwohl er ihr nicht glaubte.
»Und da ist noch etwas, was Sie bestimmt interessieren wird«, sagte Felton und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Leiche.
Bosch beugte sich erneut vor. Felton langte über den Toten, um auf dessen Hand zu deuten.
»Einen von denen haben wir an jeder Hand.«
Er zeigte auf einen roten Plastikring am Mittelfinger des Toten. Bosch sah ihn sich kurz an und schaute dann auf die andere Hand. Auch hier steckte am Mittelfinger ein solcher roter Ring. Beide Ringe hatten auf der Handinnenseite einen weißen Überzug, wie eine Art Tape.
»Was sind das für Ringe?«, fragte Bosch.
»Das kann ich noch nicht mit Sicherheit sagen«, antwortete Felton. »Aber ich vermute stark …«
»Ich weiß es«, sagte Walling.
Bosch blickte zu ihr auf. Er nickte. Natürlich wusste sie es.
»Das sind sogenannte TLD-Ringe«, sagte Walling. »Das ist die Abkürzung für Thermolumineszenz-Dosimeter. Es ist ein Frühwarngerät. So ein Ring misst die Strahlenbelastung.«
Nach dieser Information legte sich unbehagliches Schweigen über die kleine Gruppe. Bis Walling fortfuhr.
»Und es gibt noch etwas, was ich Ihnen dazu sagen kann. Wenn so ein Ring wie in diesem Fall nach innen gedreht ist, mit der TLD-Anzeige auf der Handinnenseite, heißt das normalerweise, dass sein Träger direkt mit radioaktivem Material in Berührung kommt.«
Bosch richtete sich auf.
»Okay, alle mal herhören«, ordnete er an. »Zurück von der Leiche. Bitte alle zurücktreten.«
Die Techniker der Spurensicherung, die Rechtsmediziner und Bosch begannen, sich von dem Toten zu entfernen. Nur Walling rührte sich nicht von der Stelle. Sie hob die Hände, als bitte sie in der Kirche um die Aufmerksamkeit der versammelten Gemeinde.
»Nur keine Aufregung«, sagte sie. »Niemand muss zurücktreten. Es besteht keine Gefahr. Alles im grünen Bereich.«
Alle blieben stehen, aber niemand kehrte an seinen ursprünglichen Platz zurück.
»Bestünde die Gefahr einer Strahlenbelastung, wären die TLD-Anzeigen an den Ringen schwarz«, sagte sie. »Das ist die Frühwarnung. Aber nachdem sie nicht schwarz sind, haben wir nichts zu befürchten. Außerdem habe ich das hier dabei.«
Sie zog ihr Sakko zurück, sodass ein kleines schwarzes Kästchen sichtbar wurde, das wie ein Pager an ihrem Gürtel befestigt war.
»Ein Strahlenmessgerät«, erklärte sie dazu. »Glauben Sie mir, wenn eine Gefährdung bestünde, würde dieses Ding loslegen wie nichts, und ich wäre die Erste, die das Weite suchen würde. Aber es besteht keine Gefahr. Es ist alles im grünen Bereich, okay?«
Die Leute am Tatort begannen zögernd, an ihre Plätze zurückzukehren. Harry Bosch stellte sich dicht neben Walling und fasste sie am Ellbogen.
»Kann ich kurz mit dir reden?«
Sie verließen den Aussichtspunkt und gingen in Richtung Mulholland Drive. Bosch hatte das Gefühl, dass sich das Machtverhältnis verschob, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Er war aufgebracht. Er wollte nicht die Kontrolle über den Tatort verlieren, aber diese Art von Informationen drohten, genau das zu bewirken.
»Was machst du hier eigentlich, Rachel?«, sagte er. »Was geht da vor?«
»Mir geht es nicht anders als dir. Ich bekam mitten in der Nacht einen Anruf und den Auftrag, auszurücken.«
»Das hilft mir nicht im Geringsten weiter.«
»Ich versichere dir, ich bin hier, um zu helfen.«
»Dann fang schon mal an, zu erzählen, was genau du hier tust und wer dich hergeschickt hat. Das wäre mir eine große Hilfe.«
Walling blickte sich um und sah dann wieder Bosch an. Sie deutete über das gelbe Absperrungsband.
»Können wir?«
Bosch streckte die Hand aus, damit sie voranging. Sie duckten sich unter dem Tape durch und traten auf die Straße hinaus. Als er das Gefühl hatte, dass sie außer Hörweite waren, blieb er stehen und sah sie an.
»Okay, das dürfte weit genug sein«, sagte er. »Was wird hier gespielt? Wer hat dich geschickt?«
Sie sah ihm wieder in die Augen.
»Hör zu, was ich dir jetzt sage, muss unbedingt unter uns bleiben. Zumindest vorläufig.«
»Also wirklich, Rachel, ich habe jetzt keine Zeit für …«
»Stanley Kent steht auf einer Liste. Als du oder einer deiner Kollegen heute Abend seinen Namen in den National Crime Index Computer eingegeben hat, ging in Washington DC ein rotes Warnlicht an, und gleichzeitig wurde ich über Tactical verständigt.«
»Heißt das, der Kerl war ein Terrorist?«
»Nein, er war Medizinphysiker. Und, soviel ich weiß, ein unbescholtener Bürger.«
»Und was ist dann mit diesen Strahlungsringen? Und warum taucht mitten in der Nacht das FBI hier auf? Auf was für einer Liste stand Stanley Kent?«
Walling überging die Frage.
»Darf ich dich vielleicht erst mal fragen, Harry, ob schon jemand in der Wohnung dieses Mannes war oder bei seiner Frau angerufen hat?«
»Bis jetzt noch nicht. Wir haben uns erst den Tatort angesehen. Aber ich werde …«
»Dann, glaube ich, sollten wir das umgehend nachholen«, sagte sie in dringlichem Ton. »Fragen kannst du mir unterwegs stellen. Hol seine Schlüssel, falls uns niemand öffnet. Und ich hole inzwischen mein Auto.«
Walling wandte sich zum Gehen, aber Bosch hielt sie am Arm zurück.
»Ich fahre«, sagte er.
Er deutete auf seinen Mustang und ließ sie stehen. Er ging zu dem Streifenwagen, auf dessen Motorhaube noch immer die Beweismitteltüten ausgebreitet waren. Inzwischen bereute er bereits, Edgar so rasch weggeschickt zu haben. Er winkte dem diensthabenden Sergeant.
»Hören Sie, ich muss den Tatort verlassen, um mir das Haus des Opfers anzusehen. Es dürfte nicht allzu lange dauern, außerdem müsste Detective Ferras jeden Moment aufkreuzen. Lassen Sie den Tatort einfach so, wie er ist, bis einer von uns kommt.«
»Alles klar.«
Bosch holte sein Handy heraus und rief seinen Partner an.
»Wo sind Sie?«
»Gerade vom Parker Center losgefahren. In zwanzig Minuten bin ich da.«
Bosch erklärte Ferras, er müsse sich vom Tatort entfernen, und fügte hinzu, Ferras solle sich beeilen. Dann beendete er das Gespräch, schnappte sich die Beweismitteltüte mit dem Schlüsselbund vom Kofferraumdeckel des Streifenwagens und steckte ihn in seine Jackentasche.
Als er zu seinem Auto kam, sah er, dass Walling bereits auf dem Beifahrersitz saß. Sie beendete gerade ein Telefongespräch und klappte ihr Handy zu.
»Wer war das?«, fragte Bosch, nachdem er eingestiegen war. »Der Präsident?«
»Mein Partner«, antwortete sie. »Ich habe ihm gesagt, er soll sich in Kents Haus mit mir treffen. Wo ist dein Partner?«
»Unterwegs.«
Bosch startete den Wagen. Sobald er losgefahren war, begann er, Fragen zu stellen.
»Wenn Stanley Kent kein Terrorist war, auf welcher Liste stand er dann?«
»Als Medizinphysiker hatte er direkten Zugang zu radioaktiven Materialien. Deshalb kam er automatisch auf eine Liste.«
Bosch musste an die ganzen Klinik-Namensschilder denken, die er im Porsche des Toten gefunden hatte.
»Wo hatte er damit Zugang? In Krankenhäusern?«
»Richtig. Dort wird es aufbewahrt. Vorwiegend handelt es sich dabei um Material, das zur Krebstherapie eingesetzt wird.«
Bosch nickte. Langsam begann er, klarer zu sehen, aber er hatte noch immer nicht genügend Informationen.
»Na schön, und was ist der springende Punkt bei der Sache, Rachel? Könntest du mir das vielleicht mal erklären?«
»Stanley Kent hatte direkten Zugang zu Materialien, die andere Leute auf der Welt nur zu gern in ihre Hand brächten. Materialien, die für diese Leute sehr wertvoll sein könnten. Aber nicht zur Krebstherapie.«
»Terroristen.«
»Ganz genau.«
»Soll das heißen, dieser Typ konnte einfach in ein Krankenhaus reinmarschieren und sich dieses Zeug besorgen? Gibt es da keine Sicherheitsbestimmungen?«
Walling nickte.
»Es gibt immer Sicherheitsbestimmungen, Harry. Aber sie nur zu haben, reicht nicht immer aus. Wiederholung, Routine – das sind die Schwachpunkte jedes Sicherheitssystems. Bisher haben wir die Cockpit-Türen in Passagierflugzeugen immer unverschlossen gelassen. Inzwischen tun wir das nicht mehr. Es ist ein Ereignis von lebensverändernden Konsequenzen nötig, damit Verfahrensweisen geändert und Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Bosch musste an die Notizen auf den Rückseiten einiger Namensschilder im Porsche des Toten denken. Könnte Stanley Kent so nachlässig gewesen sein, dass er sich die Zugangskombinationen zu diesen brisanten Materialien auf seine Ausweise geschrieben hatte? Bosch konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Antwort darauf wahrscheinlich Ja lautete.
»Ja, das verstehe ich«, sagte er zu Walling.
»Wenn du also ein bestehendes Sicherheitssystem, egal, wie schwach oder stark es ist, umgehen wolltest«, fragte sie, »wo würdest du ansetzen?«
Bosch nickte. »Bei jemandem, der dieses Sicherheitssystem sehr gut kennt.«
»Genau.«
Bosch bog in den Arrowhead Drive und begann, nach den Hausnummern Ausschau zu halten.
»Willst du damit sagen, das hier könnte ein Ereignis von lebensverändernden Konsequenzen sein?«
»Nein, will ich nicht. Noch nicht.«
»Kanntest du Kent?«
Bosch sah Walling an, als er sie das fragte, und sie schien überrascht über die Frage. Es war ziemlich weit hergeholt, aber er hatte es wegen ihrer Reaktion getan, nicht unbedingt wegen der Antwort. Walling drehte sich von ihm weg und schaute aus dem Fenster, bevor sie antwortete. Bosch kannte diese Bewegung. Ein untrügliches Zeichen. Er wusste, jetzt würde sie ihn belügen.
»Nein, woher auch?«
Bosch fuhr in die nächste Einfahrt und hielt an.
»Was machst du da?«, fragte sie.
»Wir sind da. Das ist Kents Haus.«
Sie standen vor einem Haus, in dem nirgendwo Licht brannte. Es sah unbewohnt aus.
»Quatsch«, sagte Walling. »Sein Haus ist eine Straße weiter und …«