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Der Aufschrei der Armen ist noch nicht verhallt
- Ein Werk von ungebrochener Aktualität
- Inseln der Hoffnung schaffen für die Armen in der Welt
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Seitenzahl: 449
Leonardo Boff, geboren 1938, studierte in Deutschland Theologie und Philosophie. Er war Professor für Systematische Theologie in Petropolis. 1985 erhielt er vom Vatikan Rede- und Lehrverbot wegen seiner Publikation »Kirche: Charisma und Macht«, was weltweit für Aufsehen sorgte; 1986 erhielt er die Lehrerlaubnis zurück. Für sein schriftstellerisches Werk und seinen Kampf für ein menschenwürdiges Leben der Armen und Ausgegrenzten erhielt er 2001 den Alternativen Nobelpreis.
Originalausgabe: Leonardo Boff: Kirche: Charisma und Macht. Studien zu einer streitbaren Ekklesiologie, Copyright © 1985 Patmos Verlag, Düsseldorf
Verlag und Übersetzer haben eine konzentrierte Auswahl aus Kirche: Charisma und Macht getroffen, anhand derer sich die wesentlichen Streitpunkte des Verfahrens der Glaubenskongregation gegen Leonardo Boff nachvollziehen lassen. Zu diesem Verfahren, das mit der Verurteilung des Buches und des Theologen endete, haben wir Dokumente des Vatikans sowie die Antwort und die spätere Bewertung durch Boff zusammengestellt. Das Buch und der Prozess haben nichts von ihrer Aktualität verloren, im Gegenteil: die von Buch und römischem Verfahren verhandelten Fragen um »Charisma und Macht« haben sich zugespitzt. Der Weg der katholischen Kirche als von Charismen geleitetes Volk Gottes oder von institutioneller Macht beherrschter Glaubensgemeinschaft steht weltweit zur Debatte.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung zur neuen deutschen Ausgabe 2009
Das Buch Kirche: Charisma und Macht wurde 1981 veröffentlicht, 1984 durch die Kongregation für die Glaubenslehre verurteilt und 1985 von derselben Kongregation mit dem Verbot der Wiederveröffentlichung belegt. Zugleich wurde dem Autor der Lehrstuhl für systematische und ökumenische Theologie entzogen und das Verbot erteilt, Texte jeglicher Art und für unbestimmte Zeit zu veröffentlichen, schließlich wurde ihm ein bußfertiges Schweigen befohlen.
Die vorliegende Ausgabe enthält große Teile des Buches von 1981, dazu Prozessakten sowie eine spätere Stellungnahme des lange Zeit zum Schweigen gezwungenen Autors.
Das Buch bleibt aktuell. Es behandelt Fragen, die seit dem Jahr 1000, deutlicher noch seit der Reformation nicht ausreichend beantwortet wurden. Darunter vor allem die nach dem Problem der geistlichen Macht.
Die Kategorie der sacra potestas (geistliche Macht) ist, wie bekannt, die strukturelle Grundlage der gesamten römisch-katholischen Kirche, insbesondere seit dem berühmten Schriftstück Papst Gregors VII., Dictatus Papae (1075), was, wörtlich übersetzt, Diktatur des Papstes bedeutet. Die sacra potestas ersetzte die grundlegende Kategorie der großen Tradition der sacra communio, also der geistlichen Gemeinschaft zwischen allen Gläubigen, der Gemeinschaft mit den geistlichen Dienstämtern in der Gemeinde und der Gemeinschaft mit Gott, der verstanden wird als Kommunion zwischen göttlichen Personen.
Die geistliche Macht jedoch konzentriert sich auf die Hierarchie, die einfachen Gläubigen sind entmachtet. Es ist keine Karikatur, die römisch-katholische Kirche so zu beschreiben: zum einen gibt es die Hierarchie mit dem Papst, den Bischöfen und den Priestern, die die Macht und das religiöse Wissen monopolisieren. Nur sie leiten Gottesdienste, nur sie reden, nur sie entscheiden. Zum anderen gibt es die Laien, getaufte Frauen und Männer, Angehörige des Volkes Gottes – aber eben nur »Laien«, d.h. ohne Wissen und ohne Macht. Sie müssen zuhören, gehorchen und die Aufgaben erfüllen, die ihnen die Hierarchie aufträgt. Es heißt, diese Trennung zwischen Geistlichen und Laien sei von Gott so eingerichtet worden und daher unantastbar und unveränderlich.
Gemäß dieser institutionellen Theologie ist die Kirche eine Einheit von Ungleichen, die innerhalb ihrer Grenzen keine Demokratie duldet und die Menschenrechte oft verletzt. Und so müsse sie unverändert durch den Lauf der Jahrhunderte bis zum Tag des Jüngsten Gerichts bleiben. Das Buch Kirche: Charisma und Macht stellt diese These in Frage. Denn so war die Struktur der Kirche im ersten Jahrtausend ihrer Geschichte nicht. Erst danach hat sie sich verändert, und sie könnte sich noch einmal zu ihren Gunsten und zugunsten ihrer Glaubwürdigkeit in der Welt von heute verändern.
Das Buch Kirche: Charisma und Macht ist jetzt noch aktueller als im Jahr 1981, in dem es geschrieben wurde. Seit dem Pontifikat von Johannes Paul II. und noch einmal verschärft unter Papst Benedikt XVI. ist ein harter Winter über die Kirche gekommen. Es gibt starke fundamentalistische Tendenzen und ein sektiererisches Verhalten – auch in den höchsten Instanzen des Vatikans, und beides unbestreitbar vorhanden in dem vom damaligen Joseph Ratzinger unterzeichneten Dokument Dominus Jesus (2000) und der Note zum Begriff Schwesterkirchen. In den Schriftstücken wird kategorisch behauptet, allein die römisch-katholische Kirche sei die Kirche Christi, die anderen »Kirchen« hätten nur ekklesiale Elemente und könnten deshalb nicht als Kirchen bezeichnet werden.
Der jetzige Papst übt heftige und generelle Kritik an jeder Form von Modernität und zerstört damit fünfzig Jahre Dialog und Eingliederung des christlichen Glaubens in die Welt der Arbeit, der Wissenschaft und der Kultur. Die Enzyklika Spe Salvi (2008) ist ein Zeichen dieses »Light«- oder »Schwach«-Fundamentalismus. Kein einziges Mal erwähnt sie das Dokument, vielleicht das am meisten inspirierte des Zweiten Vatikanischen Konzils, mit dem Wort Hoffnung in seinem Titel: Gaudium et Spes (Freude und Hoffnung). Stattdessen spricht sie nur die Christen, nicht die Menschheit insgesamt an, denn »allein wir haben Hoffnung, die anderen haben keine Hoffnung« (in den Absätzen 3, 5, 23, 27). Worin besteht die Hoffnung der Christen? Die reduktionistische Antwort lautet: »im Glück des ewigen Lebens”. Darin fehlen komplett die Verheißungen Christi, der Propheten und der Apostel mit ihrer Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt (2 Petr 3,13). So ist eine Kirche, die sich nur noch nach innen konzipiert, eine Galaxie, für die es außerhalb ihrer Grenzen nichts gibt.
Heute stehen sich zwei grundlegende Haltungen in der Kirche gegenüber:
Die eine, voller Sorgen und Angst, versucht, die Gläubigen fest verankert im Hafen zu halten, weit weg von Stürmen und gefährlichen Wellen. Sie denkt, Sicherheit gebe es nur durch Ordnung und das Befolgen der offiziellen Lehre. Daher legt sie großen Wert auf Disziplin und die Unterwerfung unter die Autorität.
Die andere versteht, dass Jesus uns ruft, den sicheren Hafen derer zu verlassen, die sich schon immer erlöst wähnen, und uns mutig auf die hohe See zu wagen, dahin, wo die Mehrheit der Menschen lebt, auch wenn wir mit gefährlichen Wellen kämpfen und unser Leben riskieren müssen. Diese Haltung erfleht von Gott nicht, dass er uns vor großen Wellen bewahre, sondern sie erbittet die Kraft, sie zu bestehen.
Selbstverständlich: Das Buch Kirche: Charisma und Macht übernimmt die zweite Haltung, denn sie scheint dem Traum Jesu und der Evangelien sehr viel näher als die erste.
In meinem Buch vertrete ich die Ansicht, dass Charisma und Macht keine gegensätzlichen, sondern ergänzende Begriffe sind, beides hat seinen Platz im Aufbau der Kirche. Wenn die Kirche aber immer dynamisch und offen für die Zeichen der Zeit bleiben will, dann muss sie das Verhältnis von Charisma und Macht vom Charisma her bestimmen. Das ist der Grundsatz der Kreativität, der ständigen Erneuerung der Gemeinde im Dialog mit der Welt.
Im heute gültigen Modell der Kirche gibt es jedoch ein inflationäres Übermaß an Macht, sie ist so stark, dass das Charisma verdrängt und erstickt wird. Daraus sind pathologische Formen von innerkirchlichen Beziehungen entstanden mit Autoritarismus, Dogmatismus, Juridismus und Fundamentalismus: Auswirkungen des fehlenden Charismas, also des unterdrückten Heiligen Geistes.
Die Stärke des Buches liegt in der Darstellung eines alternativen Modells von ekklesialer Institutionalität mit einem besseren Gleichgewicht zwischen Charisma und Macht. Dieses Modell entstand nicht in meinem Kopf oder in meiner Bibliothek, sondern aus der Beobachtung der Ekklesiogenesis (der Geburt einer neuen Kirchenform) in den Kirchen der Peripherien Lateinamerikas, Asiens und Afrikas. Das Volk ist dort demütig und unterdrückt. Aber dort stehen die Armen im Mittelpunkt der Kirchen, in Tausenden Kirchlichen Basisgemeinden, in Bibelkreisen, in allgemein verständlicher Bibellektüre, in der Sozialpastoral (mit den Schwerpunkten Land, Wohnung, Gesundheit, Erziehung, Farbige, indigene Völker, Frauen, Kinder, Straßenkinder) und im Mittelpunkt des gelebten Glaubenszeugnisses, manchmal sogar bis zum Martyrium. Dort entsteht empirisch, wie in den Anfängen des Christentums, eine Kirche der Gemeinschaft, die an der Welt teilhat, besonders präsent bei den Leidenden, sie ist der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, der Befreiung der Unterdrückten und dem Schutz der Mutter Erde. Alles wird gelebt, bedacht und bezeugt aus der Mitte der Botschaft und des Zeugnisses Jesu und der Apostel.
Der Autor glaubt nicht nur, dass eine andere Welt möglich ist. Er glaubt und hofft, dass es ein anderes Kirchenmodell gibt, das geschwisterlicher, umfassender, dem Erbe Christi würdiger und mitten in der Welt ist: das Angebot von einem guten Sinn und ein frohmachendes Geschenk für viele Menschen.
Leonardo Boff
Petrópolis/Rio de Janeiro, 6. Januar 2009
Kaum eine Institution in der Welt hat mehr die Würde des Menschen gepriesen als die Kirche. Sie konfrontiert das Gewissen des Menschen unmittelbar mit Gott, betrachtet ihn als Bild und Gleichnis des absoluten Geheimnisses, erblickt in ihm das Kind Gottes und den Bruder Jesu Christi, des Mensch gewordenen Gottes, beschreibt ihn als Träger einer von Gott selbst hypostatisch angenommenen Natur, dessen Los deshalb unwiderruflich mit dem ewigen Los der Heiligsten Dreifaltigkeit verbunden ist. Aus diesen und aus manchen anderen Gründen spielen im Menschenbild der Kirche unverletzliche Würde und Weihe eine große Rolle. Aus einer solchen Anthropologie ergeben sich sowohl unveräußerliche, weil ursprüngliche Rechte als auch eine unumgängliche Pflicht zur Achtung vor dem Menschen, die so radikal ist, dass die Sache des Menschen an die Sache Gottes rührt.
Obwohl das christliche Gewissen erst spät für die Thematik der Grundrechte und Grundpflichten des Menschen wach wurde, waren diese im theoretischen Verständnis vom Wesen des Menschen doch immer gegeben: »Der Sauerteig des Evangeliums hat im Herzen des Menschen den unbezwingbaren Anspruch auf Würde erweckt und erweckt ihn auch weiter« (Gaudium et spes, Nr. 26). Sicher war es dieses Menschenbild, das das Zweite Vatikanische Konzil in der Erklärung Dignitatis humanae das folgende, an die Dimensionen des Utopischen reichende Prinzip verkünden ließ: »In der Gesellschaft [soll] eine ungeschmälerte Freiheit walten, wonach dem Menschen ein möglichst weiter Freiheitsraum zuerkannt werden muss, und sie darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist« (Nr. 7). Und Gaudium et spes warnt die Staatsbürger davor, »der öffentlichen Autorität [...] eine zu umfangreiche Gewalt zuzugestehen« (Nr. 75).
Bei allem Lob ist sich die Kirche gleichwohl im Klaren, dass die Freiheit im konkreten Vollzug angesichts der Rechte des anderen wie auch der Pflichten gegenüber dem Mitmenschen und dem Gemeinwohl ihre Grenzen in der persönlichen wie gesellschaftlichen Verantwortung hat. Dennoch gibt es keine Rechtfertigung für irgendeine
Form von Diskriminierung: »Jede Form von Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht« (Gaudium et spes, Nr. 29).2
In Anbetracht eines solchen Bewusstseinsstandes der Kirche bezüglich der Menschenrechte könnte man erwarten, dass die Praxis der Kirche auch mit ihrer Theorie übereinstimmte. Aber offenbar geht nirgendwo die Reinheit theoretischer Praxis einschließlich ihrer Weitsicht und inneren Stimmigkeit glatt in die praktische Praxis mit ihren unumgänglichen Vermittlungen und den jedem Geschichtsprozess innewohnenden Zweideutigkeiten über. Nicht jede Theorie lässt sich in eine absolut konsequente Praxis umsetzen. Der theoretische Rahmen ist wie ein imperatives und in gewissem Sinne utopisches Modell. Die geschichtlichen Konkretisierungen bleiben immer hinter ihm zurück und lassen sich immer noch verbessern. Auch die Kirche kommt aus dieser schwierigen Dialektik nicht heraus. Mit anderen Worten: Auch in der Kirche ist die Theorie eine Sache und die Praxis in gewissem Sinne eine andere.
Aber abgesehen von dem unvermeidlichen Gefälle zwischen Verkündigung und Verwirklichung gibt es noch eine andere Diskrepanz. Diese resultiert aus Machtmechanismen, institutionellen Unzulänglichkeiten und praktischen wie theoretischen Verzerrungen aufgrund von mittlerweile überholten Modellen. Auch sie führt zur Verletzung von Grundrechten der Person. Ja, auch in der Kirche werden Menschenrechte verletzt. Dabei geht es uns gar nicht um jene Fälle, die auf den Machtmissbrauch einzelner zurückgehen und damit zufällig sind, sondern wir meinen all die Fälle, die sich aus einer bestimmten Form ergeben, die kirchliche Wirklichkeit zu verstehen und zu organisieren, und die folglich bleibend sind.
Wir beschränken uns hier darauf, einige bekannte Tatsachen zu nennen, in denen etwas von Missachtung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt, nach Mechanismen zu fragen, die sie erklären und verständlich machen können, und schließlich gangbare Lösungsmöglichkeiten zu überlegen.
Unsere Absicht ist es nicht, die Kirche schlechtzumachen. Wir sind Teil dieser Kirche und tun eine Arbeit in ihr, die ohne ein ausdrückliches Ja zu ihrer Sakramentalität schlicht unmöglich wäre. Der Wille der Kirche zur Selbstbehauptung widerspricht nicht nur nicht der Selbstkritik, sondern fordert sie nachgerade; denn obwohl die Kirche heilig ist, ist sie doch »stets der Reinigung bedürftig« (Lumen gentium, Nr. 8). Die Glaubwürdigkeit, mit der die Kirche für die Menschenrechte eintritt und Verletzungen dieser Rechte anprangert, hängt davon ab, wieweit sie selbst sie innerhalb ihres eigenen Kompetenzbereiches achtet. Das Dokument der Dritten Bischofssynode (1971) De iustitia in mundo erhärtet noch einmal, was wir sagen: »Weiß die Kirche sich verpflichtet, Zeugnis zu geben für die Gerechtigkeit, dann weiß sie auch und anerkennt, dass, wer immer sich anmaßt, den Menschen von Gerechtigkeit zu reden, an allererster Stelle selbst vor ihren Augen gerecht dastehen muss. Darum ist unser eigenes Verhalten, unser Besitz und unser Lebensstil in der Kirche einer genauen Prüfung zu unterziehen.«3
Wir wollen jedoch die Tragweite unserer Überlegungen nicht überschätzen. Gewiss, sie sollen das Engagement der Kirchen für die Menschenrechte echter und wirksamer gestalten. Aber im Augenblick liegt der Hauptwiderspruch eben nicht im Innern der Glaubensgemeinschaften, sondern in der Spannung zwischen ihnen einerseits und den autoritären Staaten andererseits. Deshalb dürfen wir der anklagenden und prophetischen Kraft der Kirchen aus taktischen Gründen keinen Abbruch tun. Der kircheninterne Widerspruch ist sekundär und wird auch in diesem Sinn von uns behandelt.
Im Folgenden richten wir unser Augenmerk nicht so sehr auf die Theorien als vielmehr auf die Praktiken der Kirche. Einige Verhaltensweisen, die nach unserer Meinung in Konflikt liegen mit dem Bewusstsein der Kirche von den Menschenrechten, möchten wir nennen. Alles können wir nicht auf den Tisch bringen.4 Die wichtigsten Fragen haben ja auch bereits die Teilnehmer der Bischofssynode 1971 herausgestellt und mit bemerkenswerter Offenheit in ihrem Dokument De iustitia in mundo festgehalten. Aber es gilt nicht nur die Ungerechtigkeiten in der Welt, sondern auch die in der Kirche deutlich zu machen.
Dass die Entscheidungsgewalt in der Kirche zentral verwaltet wird, ist offensichtlich. Dahinter steht ein langer Entwicklungsprozess geschichtlicher Formen, die zur Zeit ihres Entstehens vielleicht vernünftig waren, sich aber reiben mit dem Bewusstsein, das wir heute vom Recht und von der Würde der menschlichen Person haben.
So werden zum Beispiel die Leitungspositionen in der Kirche – vom Papstamt bis zum Presbyterat – ohne vorhergehende Befragung der Basis des Volkes Gottes besetzt; und wenn dennoch einmal irgendwelche Leute konsultiert werden, spielt deren Meinung keine Rolle. Die führenden Persönlichkeiten werden durch Ergänzungswahl aus einem begrenzten Kreis von Männern, die in der Kirche bereits über Macht verfügen, ausgesucht und den Gemeinden vorgesetzt. Dabei werden die Laien, die ja die überwältigende Mehrheit bilden, auch wenn sie im Augenblick über eine große berufliche, intellektuelle und selbst theologische Qualifikation verfügen, an den Rand gedrängt. Die Zentralisierung der Entscheidung führt zwangsläufig zu Marginalisierung. Diese aber berührt Grundrechte auf Information und Mitsprache bei allgemein verbindlichen Entscheidungen und in die ganze Gemeinschaft betreffenden Belangen. Aus diesem Grund war in dem Dokument über die Gerechtigkeit in der Welt die Forderung erhoben worden, alle Ungerechtigkeiten abzustellen, durch die die Laien von der Entscheidungsfindung in der Kirche ausgeschlossen werden: »Schließlich sollten die Glieder der Kirche einen gewissen Anteil haben an der Vorbereitung von Entscheidungen gemäß den vom Zweiten Vatikanischen Konzil und vom Heiligen Stuhl erlassenen Richtlinien, insbesondere durch Einführung von Räten auf allen Ebenen« (De iustitia in mundo, Nr. 47).
Nicht einmal die Priester hält man »für fähig, in Dingen, die sie betreffen, zu überlegen, sich zu organisieren und – im Respekt für die Einheit in der Kirche – Entscheidungen zu treffen. Auf Konzilien, Synoden oder ähnlichen Kirchentreffen sind es immer die Bischöfe, die für sie denken, handeln und entscheiden. Juristisch gelten sie als Gehilfen der Bischöfe und, was die Rechte ihres ordo anbelangt, als bischöfliche Anhängsel. Fast jedesmal, wenn es zur Bildung von Gruppen mit eigenen Konturen kam, erfolgten unmittelbar Verdächtigung, Diffamierung oder Druck von oben, wenn nicht gar Suspendierung und Exkommunikation. De iustitia in mundo betont, dass sich auch die Priester in der Kirche verwirklichen sollen: »Im eigenen Bereich der Kirche ist jedes Recht unbedingt zu achten. Keiner, welcher Art seine Beziehung zur Kirche auch sein mag, darf in den jedermann zustehenden Rechten verkürzt werden« (Nr. 42).
Ein offener Widerspruch zu den Grundrechten der menschlichen Person findet sich in der Gesetzgebung zur Rückversetzung eines Priesters in den Laienstand (1971). Der Wille, aus dem Priesteramt zu scheiden, wird mehr oder weniger als Sünde dargestellt; 5 der Präfekt und der Sekretär der Glaubenskongregation sagen in einem Begleitschreiben zu dem neuen Dekret im Rückgriff auf Worte des Papstes in der Enzyklika Sacerdotalis caelibatus (1967), diese Männer seien »unglücklicherweise ihren in der Weihe übernommenen Verpflichtungen untreu« geworden, bzw. qualifizieren sie kategorisch als »unglückliche Mitbrüder im Priesteramt«.6 Damit aber wird einer im Gewissen getroffenen Entscheidung die moralische Legitimität aberkannt. Nicht ohne Grund werden die Betreffenden mit einer Reihe von Verboten bestraft, die sie in einen Stand noch unterhalb der Laien versetzen. So darf der Laisierte, wo sein Status bekannt ist, bei gottesdienstlichen Feiern mit dem Volk weder irgendeine liturgische Funktion übernehmen noch die Predigt halten. Jedes pastorale Amt ist ihm verwehrt. In Seminaren, theologischen Fakultäten und ähnlichen Einrichtungen darf er keine Lehrtätigkeit ausüben. In einem späteren Dokument werden 1973 die Restriktionen präzisiert und rühren nunmehr – abgesehen von den Schäden für den Glauben der Betroffenen und für deren Verhältnis zur sichtbaren Kirche – sogar an ihren Lebensunterhalt. Verboten ist ihnen nämlich der Zutritt sowohl zu Fakultäten, Instituten und Schulen für kirchliche oder religiöse Wissenschaften (zum Beispiel: Fakultäten für kanonisches Recht, Missionswissenschaft, Kirchengeschichte und Philosophie sowie Instituten für Pastoral, Religionspädagogik, Katechese usw.) als auch zu anderen Stätten für höhere Studien, an denen theologische oder religiöse Fächer gelehrt werden, auch wenn solche Einrichtungen nicht unmittelbar von einer kirchlichen Obrigkeit abhängen. Verheiratete Priester dürfen dort weder eigentlich theologische Fächer noch mit ihnen in engerer Verbindung stehende Disziplinen (zum Beispiel: Religionspädagogik und Katechese) unterrichten. Untersagt ist es ihnen weiterhin, katholische Schulen zu leiten oder Religionslehrer zu sein, unabhängig davon, ob es sich um eine katholische oder eine andere Schule handelt.
Es liegt auf der Hand, dass Diskriminierungen dieser Art nicht nur die in den Laienstand versetzten Priester selbst treffen, sondern auch die Gemeinde, insofern sie ja der außergewöhnlichen Qualifikation dieser Männer für Führungsfunktionen und für die Ausbreitung des Glaubens beraubt wird.