Kleiner Himmel in der Pfütze - Elisabeth Dreisbach - E-Book

Kleiner Himmel in der Pfütze E-Book

Elisabeth Dreisbach

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Beschreibung

Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht das Leben der Lehrerin Binia, die jetzt ihre Aufgabe darin sieht, heimatlosen und verstoßenen Kindern im Bauernhaus ihres Großvaters eine neue Heimat zu geben. Ihr Nachbar und Jugendfreund Hans-Jörg Ottmar hat nach manchen bitteren Enttäuschungen zu seiner Frau Olga gefunden, die nach einer halbjährigen Entziehungskur als eine andere zurückgekehrt ist, aber - von ihrem früheren Leben gezeichnet - körperlich immer schwächer wird und bald stirbt. Mitten in den Vorbereitungen für einen Ferienaufenthalt am Bodensee bricht ein Feuer aus und zerstört das ganze Anwesen. Hans-Jörg Ottmar, der sich bei den Löscharbeiten mit voller Kraft eingesetzt hat, bietet nun Binia nicht nur seine Hilfe beim Bau des neuen Kinderheimes an - er will es fortan mit ihr gemeinsam führen und bittet sie, seine Frau zu werden. Ein Stück Himmel wird sichtbar mitten in der vielfachen Not dieser Welt - wie sich öfter ein kleiner Himmel in der Pfütze spiegelt, die der Regen entstehen lässt. Kann das nicht auch heißen: Es gibt keinen Platz, zu dem Gottes Liebe nicht hinfindet? Fortsetzung von: In Gottes Terminkalender Elisabeth Dreisbach (1904 - 1996) zählt zu den beliebtesten christlichen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre zahlreichen Romane und Erzählungen erreichten ein Millionenpublikum. Sie schrieb spannende, glaubensfördernde und ermutigende Geschichten für alle Altersstufen. Unzählig Leserinnen und Leser bezeugen wie sehr sie die Bücher bewegt und im Glauben gestärkt haben.

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Kleiner Himmel in der Pfütze

Fortsetzung zu „In Gottes Terminkalender“Band 24

Elisabeth Dreisbach

Impressum

© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe

Autor: Elisabeth Dreisbach

Cover: Caspar Kaufmann

ISBN: 978-3-95893-145-9

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

 

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Autor

Elisabeth Dreisbach (auch: Elisabeth Sauter-Dreisbach; * 20. April 1904 in Hamburg; † 14. Juni 1996 in Bad Überkingen) war eine deutsche Erzieherin, Missionarin und Schriftstellerin.

Elisabeth Dreisbach absolvierte – unterbrochen von einer schweren Erkrankung – eine Ausbildung zur Erzieherin in Königsberg und Berlin. Sie war anschließend auf dem Gebiet der Sozialarbeit tätig. Später besuchte sie die Ausbildungsschule der Heilsarmee – der ihre Eltern angehört hatten – wechselte dann aber zur Evangelischen Landeskirche in Württemberg, für die sie in den Bereichen Innere Mission und Evangelisation wirkte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gründete Dreisbach in Geislingen an der Steige ein Heim für Flüchtlingskinder, in dem im Laufe der Jahre 1500 Kinder betreut wurden. Dreisbach lebte zuletzt in Bad Überkingen.

Elisabeth Dreisbach war neben ihrer sozialen und missionarischen Tätigkeit Verfasserin zahlreicher Romane und Erzählungen – teilweise für Kinder und Jugendliche – die geprägt waren vom sozialen Engagement und vom christlichen Glauben der Autorin.1

1 Quelle: wikipedia.org

Inhalt

Titelblatt

Impressum

Autor

Kleiner Himmel in der Pfütze

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Kleiner Himmel in der Pfütze

„Binia, Binia! Komm schnell, ich seh' den Himmel auf der Erde!“

Das kleine Mädchen war ein Stück hinter den anderen zurückgeblieben und hatte versucht, da und dort am Wegrand einige der wenigen Blumen zu pflücken, die um diese Jahreszeit noch zu finden waren. Es hielt nur ein kümmerliches Sträußchen in der Hand, denn die Wiesen waren längst abgemäht und die Blumen verblüht. Immerhin war es Ende Oktober. An einigen Bäumen leuchteten noch herbstlich bunte Farben auf, aber die meisten waren schon kahl.

Tagelang hatte es geregnet. Der Sturm war mit den Bäumen gewalttätig verfahren, hatte sie gerüttelt und geschüttelt und den Waldboden mit einem Laubteppich bedeckt. Die raschelnden Blätter wurden nun durch die Füße der Kinder aufgewirbelt, fielen aber gleich wieder todesmatt zur Erde.

Binia ließ die Kinder gewähren. Ihr war es lieber, als wenn sie durch die Pfützen gewatet wären, die sich in den letzten Tagen an den ausgehöhlten Stellen der Straße gebildet hatten.

Des Kindes Stimme ertönte wieder: „Binia, du hörst gar nicht! Ich habe dich schon zweimal gerufen.“

Die Angesprochene drehte sich herum. „Verzeih, Marion! Die Kinder machen einen solchen Lärm. Was wolltest du mir sagen?“

„Du sollst mal kommen und sehen. Hier ist der Himmel auf der Erde.“

Was mochte das Kind meinen? Es schien ihm sehr wichtig zu sein, denn es winkte eifrig mit der Hand. So ging Binia die paar Schritte zurück und stand gleich darauf vor einer Wasserpfütze, in der sich der blaue Himmel und eine weiße Wolke spiegelten.

„Hast du so etwas schon einmal gesehen?“ fragte die Kleine und wiederholte staunend: „Der Himmel auf der Erde – ein kleiner Himmel in der Pfütze!“ Das Kindergesicht strahlte. „Ist das nicht schön, Binia?“

Die junge Frau legte ihren Arm um die schmächtige Gestalt und zog sie an sich. „Doch, Marion – das ist wunderschön! Immer haben wir in den letzten Tagen wegen des Regens gejammert. Aber sieh, wenn der nicht die Pfützen gebildet hätte, könnten wir jetzt nicht den blauen Himmel und die ziehenden Wolken darin sehen.“

Marion hob Binia ihr kümmerliches Sträußchen entgegen. „Nicht wahr, das ist auch schön?“

„Ja, mein Herzchen, auch das ist schön! Ich helfe dir nachher, ein paar Zweige von den roten Hagebutten zu pflücken. Vielleicht finden wir auch noch ein paar späte Skabiosen und einige Golddisteln. Dann hast du ein schönes Herbststräußchen beisammen.“

„Es ist für dich, Binia.“

„Willst du es nicht lieber der Mutter mitbringen? Sie freut sich sicher darüber, besonders jetzt, wo sie zu schwach ist, um selbst auf die Heide zu gehen.“

Das Kind blickte auf die Blumen in seiner Hand und wieder auf Binia. Dann entschied es: „Ich teile es. Du bekommst eine Hälfte und Mutter die andere Hälfte.“

„Fein, dann freuen wir uns beide. Aber nun müssen wir zu den übrigen Kindern. Schau, sie beginnen bereits eine Laubschlacht. Was meinst du, wie schmutzig ihre Haare werden.“

Lachend liefen beide davon.

In Binia Jansens Innerem aber klang es während des ganzen Tages nach: „Der Himmel auf der Erde! Ein kleiner Himmel in der Pfütze!“

Vor zwei Jahren hatte die junge Lehrerin ihren Beruf aufgegeben und den Hof des Großvaters, auf dem sie mit wenigen Unterbrechungen ihre Kinder- und Jungmädchenzeit zugebracht hatte, zu einem Kinderheim umgestaltet. Da sie nicht mehr daran dachte zu heiraten, war der Wunsch in ihr immer stärker geworden, Kindern aus milieugeschädigten Verhältnissen oder solchen, die vernachlässigt wurden und ungeliebt heranwuchsen, eine Heimat zu bieten und an ihnen Mutterstelle zu vertreten.

Christoph Pfisterer, der bereits das achtzigste Lebensjahr überschritten hatte, war schon längere Zeit nicht mehr imstande gewesen, sein Vieh und die Felder zu versorgen. Bis auf zwei Kühe, die man wegen der Milch für den eigenen Gebrauch benötigte, waren alle Tiere verkauft und die Äcker verpachtet worden. Das Geld hatte er seiner Enkelin für den Umbau des Hofes gegeben. So war ein schönes, zweckmäßiges Kinderheim entstanden, in dem sich zwanzig Jungen und Mädchen tummelten.

Eine Kindergärtnerin und zwei Praktikantinnen standen Binia in der Betreuung und Erziehung der Kinder zur Seite. Für die Hausarbeit hatte sie eine schon seit Jahren auf dem Hof tätige Magd und einen Knecht, der sehr geschickt war. Sie sorgte für den Garten, und er erledigte alle anfallenden Reparaturen. Eines der bereits aus der Schule entlassenen Mädchen half ebenfalls mit. Der Großvater lebte immer noch, musste aber viel liegen und hatte wegen seines schweren Asthmas manche Not durchzustehen.

Binia, für die er in all den Jahren wie ein Vater gesorgt hatte, betreute ihn liebevoll und sehr gewissenhaft.

Die Arbeit in ihrem Kinderheim tat sie gerne. Ihre natürliche Gabe kam ihr beim Umgang mit den ihr anvertrauten Jungen und Mädchen zustatten, nicht weniger aber auch ihre Ausbildung als Lehrerin. Einige Jahre hatte sie ihren erlernten Beruf ausgeübt, in den letzten Jahren an der Schule ihres heimatlichen Dorfes. Eigentlich konnte sie den kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb nicht so nennen, denn sie war in Berlin geboren. Da sie aber ihre Schulzeit hier zugebracht hatte, war der Geburtsort ihrer Mutter und der Hof des Großvaters ihr zur eigentlichen Heimat geworden.

Der Vater leitete schon seit Jahren ein Männerheim in Hamburg. Die Eltern gehörten der Heilsarmee an. Binias Großvater väterlicherseits war Pfarrer in einem Fischerdorf Ostpreußens gewesen. Dessen Sohn, ihr Vater, wollte ursprünglich Lehrer werden, hatte sich dann aber entschlossen, der Heilsarmee beizutreten, weil er meinte, dadurch die beste Möglichkeit zu haben, um haltlosen, schwachen und oft auch verkommenen Menschen zu dienen und ihnen zu helfen. Binias Mutter hatte er in Berlin kennengelernt, wo sie eine Frauenfachschule besuchte. Ihre Eltern, besonders der Vater, hatten sich anfänglich sehr gegen diese Verbindung gewehrt, weil sie erwarteten, dass ihre einzige Tochter auf den Hof zurückkehren und einen tüchtigen Bauern heiraten sollte, der das Anwesen einmal weiterführte.

Die beiden jungen Menschen jedoch, Peter Jansen und Angelika Pfisterer, waren sich ihres Weges und Auftrages so sicher gewesen, dass sie meinten, davon nicht abweichen zu können. Wohl war Angelika noch für eine Zeit auf den väterlichen Hof zurückgekehrt doch hatte sich über sie eine Art Schwermut gelegt, so dass die Mutter ihren Mann inständig bat, dem Wunsch der Tochter nicht mehr länger zu widerstehen und ihr die Erlaubnis zur Heirat mit ihrem Peter zu geben, an dessen Seite sie sich der Rettung von Trinkern, Dirnen, Rauschgiftsüchtigen und anderen Gestrandeten hingeben wollte. So kam es, dass die einzige Tochter den Hof verließ und seitdem den schweren, sie aber befriedigenden Dienst an solchen versah, für die andere kaum noch oder nur wenig Hoffnung hatten.

Binia wurde geboren. Sie blieb das einzige Kind ihrer Eltern. In den ersten Jahren ihres Lebens kränkelte sie viel, so dass die Ärzte rieten, das Kind zu den Großeltern in die gute Luft der Schwäbischen Alb zu bringen. Verschiedene Versuche zeigten, dass immer wieder gesundheitliche Rückfälle eintraten, sobald die Kleine zu den Eltern in die Großstadt gebracht wurde. So mussten diese sich schweren Herzens damit abfinden, die Tochter bei den Großeltern zu lassen, die dann auch alles Menschenmögliche taten, damit sich der Gesundheitszustand der Enkelin besserte und festigte, was mit den Jahren auch gelang.

Auf dem Nachbarhof, der dem Bauern Ottmar gehörte, war fast im gleichen Alter wie Binia ein einziger Sohn aufgewachsen. Wie Geschwister hatten Hans-Jörg und Binia Freud und Leid miteinander geteilt, und als sie heranwuchsen, war daraus eine schöne Jugendfreundschaft geworden. Jeder im Dorf hatte nichts anderes erwartet, als dass die beiden einmal ein Paar werden würden, selbst dann noch, als Binia zum Studium in die Stadt zog und Hans-Jörg Ottmar nach der mittleren Reife auf dem Hof des Vaters arbeitete. Selbst die beiden jungen Menschen hatten fest damit gerechnet. Doch dann entfernten sie sich unerklärlicherweise voneinander, und schließlich war Olga Schamblovski, ein Flüchtlingsmädchen mit einem nicht guten Ruf, die Frau des Jungbauern Ottmar geworden.

Wie sehr er und auch Binia unter diesen unverständlichen Ereignissen gelitten hatten, das wusste außer den nächsten Angehörigen niemand. Über die tiefgreifende Wandlung, in der Binias auf begehrendes Herz endlich still geworden war, hatte diese nur mit ihren Eltern sprechen können. Für die Dorfbewohner war sie immer mehr ein Rätsel geworden. Doch erwartete sie gar nicht, von ihnen verstanden zu werden. Binia ging den Weg, den sie glaubte gehen zu müssen. In der Ausübung ihrer Pflichten war sie froh geworden. Ihr blieb gar keine Zeit zum Nachgrübeln, und das war ihr nur recht.

Nun meinte Binia immer wieder den Ausspruch der kleinen Marion zu hören: „Sieh nur, der Himmel auf der Erde.“ Nichts anderes war es gewesen als das Spiegelbild der ziehenden Wolken und des herbstklaren, blauen Himmels in einer Pfütze.

Obgleich Binia sehr nüchtern war, fiel es ihr nie schwer, in Bildern zu denken: Der Himmel in der Pfütze. Die Vergangenheit einiger ihrer Kinder stand plötzlich vor ihr auf, die mehr oder weniger in trüben Pfützen gelebt hatten.

Da waren die vier Geschwister aus Kiel. Der stets betrunkene Vater hatte vor ihren Augen die Mutter immer wieder missbraucht und sie eines Nachts im Delirium erwürgt.

Da war der blonde Holländer, dessen Mutter den Vater verlassen hatte, weil sie es angeblich vor Heimweh nicht mehr aushielt und mit ihrem Kind nach Hamburg zurückkehrte, sich dort aber als Dirne verkaufte, nachdem die eigene Familie sie nicht mehr aufnahm. Die Sittenpolizei war dahinter gekommen und hatte ihr das Kind abgenommen.

Da war Tilla, im Gefängnis geboren und einundeinhalb Jahre – solange ihre Mutter die Strafzeit absaß – in der Säuglings- und Kleinkinderabteilung der Strafanstalt gewesen.

Roland, der Zwölfjährige, war an eine Verbrecherbande geraten und hatte sich bereits als findiger Taschendieb entwickelt. Nachdem er sich in einer Erziehungsanstalt wider Erwarten gut hielt, durfte er zu Binia auf die Alb kommen.

Sylvia hatte mit ihren vierzehn Jahren bereits einem Kind das Leben geschenkt und durfte, nachdem sie ein Jahr in einem Fürsorgeheim zugebracht hatte, nicht mehr zu ihren Eltern zurückkehren. Das Jugendamt hatte sie in das kleine Albdorf zu Binia gebracht.

Und Gerd und Peter und Susi und Natalie – und – und – und … Mit wenigen Ausnahmen hatten sie schon alle in den Pfützen eines armseligen und unbehüteten Lebens vegetiert. Daran änderte auch der Fernsehapparat oder die Musiktruhe nichts, die in der Wohnung ihrer Eltern standen. Eine Pfütze blieb es, auch wenn der Vater ein Auto besaß, aber sich nicht schämte, seine Freundin nach Hause zu bringen und in Gegenwart seiner Kinder und vor seiner Frau mit ihr zärtlich zu sein. Nein, nicht Armut und Hunger machten die Pfütze aus – aber fast alle Kinder hatten innerlich gedarbt, waren herumgestoßen worden und hatten kaum je erfahren, was wahre Liebe und Geborgenheit bedeuten.

In den ersten Wochen hatte Mama Binia, so nannten sie die Kinder, Bedenken gehabt, Mädchen und Jungen aus solch verschiedenen Verhältnissen aufzunehmen. Waren die weniger verdorbenen nicht durch die anderen, die bereits allerlei eindeutige Erlebnisse hinter sich hatten, in Gefahr, beeinflusst zu werden? Würden sie durch die anderen nicht kennenlernen, was sie bis jetzt noch nicht wussten, und dadurch zum Schlechten verleitet werden?

Binia dachte an den Ausspruch ihrer Freundin, die in der Gefängnismission arbeitete und von diesen Frauen als von ihren armen Schwestern sprach. „Wir sind nicht besser als sie, wir hatten es nur besser“, sagte sie.

So überwand sie die Furcht und nahm auch solche Kinder auf, die völlig verwahrlost und seelisch verdorben worden waren. Nicht etwa, weil sie sich selber stark genug dünkte, diese Kinder zu ändern, sondern weil sie es Gott zutraute.

Binia war nicht nur eine kluge und tatkräftige Frau – sie war vor allem eine bewusste Christin. Hier lag die Quelle ihrer Kraft. Außerdem besaß sie ein mütterliches Herz, zerbrach aber nicht daran, dass ihr eigene Kinder versagt geblieben waren.

Es gab kaum einen Tag ohne irgendwelche Überraschungen von ergötzlicher und heiterer Art, aber auch solche von unliebsamer Art. Oft wunderte Binia sich über sich selbst. Früher hatte sie gemeint, wenn sie nur richtig organisiere und plane, ihren Tag gewissermaßen nach einem wohldurchdachten Stundenplan einteile, müsse alles programmgemäß ablaufen. Diese Einstellung hatte sie schon längst aufgegeben, seitdem sie als bewusste Christin lebte und sich führen ließ.

In Binias Leben hatte es eine Zeit gegeben, in der sie beinahe mitleidig über die Auffassung ihrer Eltern gelächelt hatte, die von Führungen Gottes sprachen. Nachdem sie aber selbst schwere Lebenserfahrungen machen musste und erkannt hatte, dass man wohl Wünsche hegen und Pläne schmieden kann, diese aber nicht unbedingt in Erfüllung gehen müssen, war ihr klar geworden, dass der gläubige Mensch keineswegs einem blinden Zufall ausgesetzt ist, sondern von Gott geführt wird. In dieser Erkenntnis war ihr Herz ruhig geworden, das lange Zeit aufbegehrt und sich gegen sein Schicksal gewehrt hatte. Und kamen Augenblicke, in denen sie den Verzicht und das Alleinsein dennoch schmerzlich empfand, flüchtete sie sich in die Arbeit. Der Dienst an den Kindern ließ ihr sowieso kaum Zeit, sich in Grübeleien zu verlieren.

Kleiner Himmel in der Pfütze! Ach wie sehr wünschte sie, dass es ihr gelänge, ihren Kindern, die vielfach mit dunklen Erlebnissen zu ihr kamen, ein Stück Himmel zu bereiten! Binia prüfte ihre Gedankengänge gewissenhaft. Ein Stück Himmel? War es nicht vermessen, sich so viel vorzunehmen? Nein, sie blieb bei ihrer Erkenntnis. Ist nicht dort, wo Eintracht und Friede herrschen, wo Liebe geübt wird, ein Stück Himmel? Mussten ein lebendiger Glaube und das Bemühen, dem anderen, dem Nächsten – in diesem Fall ihren Kindern und Mitarbeitern – in Geduld, Sanftmut und Güte zu begegnen, nicht eine Atmosphäre schaffen, die vom Himmlischen zumindest etwas ahnen ließ?

Kleiner Himmel in der Pfütze! Wie so oft machten sich Binias Gedanken auch jetzt auf den Weg zum Nachbarhof. War es nicht lange so gewesen, zumindest nachdem Olga aufgetaucht und später Hans-Jörgs Frau geworden war, als spiele sich dort das ganze Dasein in einer Pfütze ab? Früher hatte der Ottmarsche Hof geradezu als musterhaft gegolten. Aber dann kam die unglückselige Sache mit Olga, die überstürzte Heirat und in deren Gefolge das ganze Elend. Hans-Jörg Ottmar hatte alles verlottern lassen und war oft wie ein Traumwandler durch Haus und Stallungen und über die Felder gegangen. Durch die Trunksucht der jungen Frau und die Verwahrlosung der Kinder war das ganze Anwesen in der Tat immer mehr zur Pfütze geworden.

Das Herz hatte Binia wehgetan, als sie den Zerfall mit ansehen musste.

Nun schien es, als ob sich drüben auf dem Nachbarhof ein Stückchen blauer Himmel zeigte. Hans-Jörg ging nicht mehr mit gesenktem Haupt über seinen Hof und stieß auch nicht mehr mit dem Fuß beiseite, was ihm im Wege lag. Er hatte sich wieder aufgerichtet. Man hörte ihn mit seinen Kindern reden oder gar scherzen, und er fand sichtlich Freude daran, wieder Ordnung zu schaffen.

Als Binia an jenem Herbsttag mit den Kindern über die Heide gewandert war, hatte es einen kleinen, aber unliebsamen Zwischenfall gegeben.

Wieder waren sie an einer Wasserlache vorbeigekommen. Marion, Hans-Jörg Ottmars Tochter, die zwar nicht zu den Kindern des Kinderheims gehörte, aber sich mit ihrer Schwester Monika viel bei Binia auf hielt, hatte auch die anderen darauf aufmerksam gemacht: „Habt ihr schon gesehen? Der Himmel ist in der Pfütze!“

Sie hatten sich um die Pfütze gedrängt und es mehr oder weniger staunend bestätigt: „Ja, seht nur, der blaue Himmel ist zu sehen!“

Plötzlich schreckte sie ein höhnisches Gelächter auf. Als sie sich umwandten, wurde gerade ein großer Stein über ihre Köpfe hinweg mitten in die Pfütze geworfen, so dass das Wasser hoch aufspritzte.

Fast einstimmig waren die Kinder in den empörten Ruf ausgebrochen: „Das hat Emilio getan!“

„So eine Gemeinheit!“

„Ich bin ganz nass!“

„Der hinterlistige Kerl!“

Nur Roland, der höchst unlustig mit Binia und den anderen gegangen war, zollte Emilio – der es in der Tat gewesen war – lebhaften Beifall: „Bravo, Emilio! Bravo! Das war Sache! Mitten hinein hast du getroffen. Ein Meisterwurf!“

Der Zwölfjährige war nun hinter dem Gebüsch hervorgetreten, wo er sich versteckt hatte. „Na, hoffentlich hat es alle erwischt! Schade, dass nicht mehr Wasser in der Pfütze war!“

Binia, die etwas abseits stand, war näher getreten. Ernst sah sie den Jungen mit dem schwarzen Haar und den dunklen, funkelnden Augen an: „Findest du, dass das eine Heldentat war, Emilio? Ais ich dich einlud, mit uns spazieren zu gehen, hast du höhnisch gelacht und gesagt, du seist schließlich kein kleines Kind mehr, das ausgeführt werden muss. Nun aber schleichst du uns nach und willst den Kindern die Freude verderben. Es ist nur ein Glück, dass du mit dem großen Stein niemand getroffen und verletzt hast.“

„Pah, lächerlich!“ antwortete der Junge geringschätzig. „Als ob ich so schlecht zielen könnte!“

Am liebsten hätte Binia ihm nun verwehrt, mit ihnen weiterzugehen. Aber schließlich war die Heide nicht ihr Privatbesitz. Jedermann konnte hier Spazierengehen, und zweitens würde der Junge, Olgas Sohn, ihr gegenüber nur noch mehr verbittert werden. So beendete sie den Spaziergang früher, als es beabsichtigt war.

Emilio versuchte immer wieder, ihr einen Schabernack zu spielen, und seine Taten waren nicht nur harmloser Art. An jenem Tag hatte er besonders seine beiden kleineren Schwestern zu ärgern versucht, indem er Marion stolpern ließ und Monika feuchte Erde auf den Kopf warf. Schließlich tat er sich mit Roland, Binias Sorgenkind unter ihren Kindern, zusammen. Die beiden hatten sich von den anderen abgesondert und waren später mit langen, dünnen Gerten aus dem Hinterhalt gekommen, um damit den Kindern um die Beine zu schlagen. Nur mit Mühe war es Binia gelungen, ihnen die Gerten fortzunehmen und sie zu zerbrechen.

Nein, längst nicht immer war ein Stück Himmel zu sehen – oft schien er ganz verdunkelt zu sein. Aber Binia hatte sich auch an jenem Tag nicht anmerken lassen, dass sie sich innerlich über die Ungezogenheiten Emilios ärgerte. Als Ersatz für den verkürzten Spaziergang hatte sie den Kindern einen Spielabend mit Überraschungen in Aussicht gestellt.

„O Binia“, hatte Marion gebettelt, „dürfen Monika und ich auch kommen?“

Die scheue Schwester mit der entstellenden Narbe unter der Nase hatte sie nur bittend angeblickt. Sie ließ gewöhnlich Marion für sich sprechen. Aber es war ihr anzusehen, wie gerne auch sie an dem Spielabend teilgenommen hätte.

„Ihr müsst zuerst eure Eltern fragen“, hatte Binia geantwortet. „Wenn sie es erlauben, dürft ihr gerne kommen.“

Sie überlegte, ob sie auch Emilio einladen sollte. Gerade dieser schwierige Junge brauchte es, dass man ihm immer wieder in Güte entgegenkam und seine Ungezogenheiten übersah.

In diesem Augenblick herrschte Emilio seine kleine Schwester an: „Was brauchst du schon wieder um Erlaubnis zu plärren! Man könnte meinen, bei uns wäre es nicht zum Aushalten. Außerdem habt ihr beide bestimmt eure Schulaufgaben noch nicht fertig.“

„Wir haben sie fertig!“ empörten sich die beiden Schwestern. „Aber du hast bestimmt noch nichts gemacht.“

„Sag es doch wieder dem Vater!“ schrie Emilio Marion an. „Du alte Petze trägst ja sowieso alles zu ihm.“

„Streitet nicht schon wieder!“ hatte Binia zu schlichten versucht. „Wenn deine Schwestern herüberkommen dürfen, darfst du sie begleiten, Emilio.“

„So blöd!“ hatte er lässig geantwortet und ihr den Rücken gekehrt.

Noch immer war die Molke der beliebte Treffpunkt der Dorfjugend. Es hieß zwar, dass der Betrieb eingestellt und die Milch jeden Morgen mit dem Auto herunter in die Stadt zur Milchzentrale gebracht werden sollte. Die Bauern brauchten dann die Kannen nur vor ihre Höfe an den Straßenrand zu stellen. Aber vorerst blieb es noch beim Alten. Das kleine Backsteingebäude mitten im Ort war an jedem Abend von Jungen und Mädchen umlagert, die dort die Milch ablieferten und außerdem dafür sorgten, dass der Dorfklatsch verbreitet wurde.

Aber es waren nicht nur die Jungen, denen es ein Anliegen schien, dass man auf dem Laufenden blieb.

Schließlich hatten diese noch ihre eigenen Probleme und besonderen Interessen. Auch die Erwachsenen waren nicht abgeneigt, einen Schwatz zu halten und Dorfsensationen anzuhören oder weiterzugeben.

Eine Frau zwischen dreißig und vierzig Jahren war soeben dabei, ihre leeren Milchkannen auf dem Handwagen unterzubringen, um wieder heimwärts zu ziehen, als eine andere um die Ecke bog und sie ansprach.

„Schon wieder auf dem Heimweg, Theres? Wart, ich beeile mich, dann können wir Zusammengehen.“

„Gut, aber halte dich nicht auf, ich hab's heute eilig!“

Als die beiden Frauen sich ein wenig später auf den Weg machen wollten, gesellte sich noch eine dritte hinzu. Bis zur Kirche gingen sie gemeinsam. Schon hatte sich eine mit einem „gute Nacht“ verabschiedet und war in die Seitenstraße eingebogen, als sie noch einmal zurückkam. „Habt ihr schon gehört, dass es der Schamblovski ganz schlecht gehen soll?“

Merkwürdig, noch heute, nachdem diese bald zehn Jahre im Dorf lebte, nannte sie kaum jemand anders. Keiner sprach von Frau Ottmar. Irgendwie blieb die junge Bäuerin die Fremde, die Zugezogene, die man nie als seinesgleichen betrachtete. Oder war es der üble Ruf Olgas, der ihr wie ein unangenehmer Geruch anhing und ihr den Zugang zu den meisten Dorfbewohnern verwehrte?

„Ach komm“, erwiderte eine der beiden anderen Frauen geringschätzig. „Das hat man jetzt schon so oft gesagt. Vor ein paar Wochen hieß es sogar, sie sei im Sterben.“

„Unkraut vergeht nicht!“ fügte die dritte hinzu.

„Der Hans-Jörg wird froh sein, wenn er sie los ist. Sie haben sich ja nie vertragen.“

„Wenn er auch so blöd war, so 'was Hergelaufenes zu heiraten. Er hätte doch genug Möglichkeiten gehabt, eine aus unserem Dorf zu nehmen.“

„Zum Beispiel dich, Theres, nicht wahr?“ stichelte die junge Frau vom Totengräber.

„Na, du hättest den Hans-Jörg doch ebenso gern gehabt“, gab diese zurück. „Erst als er die Olga geheiratet hatte und für dich keine Hoffnung mehr bestand, ihn zu bekommen, hast du dich mit deinem Jetzigen abgefunden.“

„Was geht's dich an?“

Ein richtiger Streit schien zwischen ihnen auszubrechen.

Babette lenkte ein. „Hört doch auf, euch gegenseitig Vorhaltungen zu machen. Ihr seid mit euren Dreißig schließlich keine Kinder mehr. Aber sag, Anne, steht es wirklich so schlimm mit der Schamblovski?“

„Meine Mutter hat es im Laden gehört, als sie beim Einkäufen war.“

„Aber die Sophie erzählt doch herum, die Olga rauche noch immer zehn bis zwanzig Zigaretten pro Tag – und was das Unbegreifliche ist, der Hans-Jörg soll sie ihr sogar kaufen.“

„Glaub doch das nicht!“

„Doch, die Sophie hat es gesagt, und wenn man – wie sie – so viele Jahre auf einem Hof ist, dann weiß man schließlich Bescheid.“

„Ach, wer weiß, ob's stimmt. Die alte Hexe hat die Olga noch nie leiden können und redet, so lange sie auf dem Hof ist, nur niederträchtig über sie. Außerdem glaube ich nicht, dass der Hans-Jörg so dumm ist und sein Geld dafür ausgibt.“

„Ha, vielleicht hat er seine Gründe.“

„Wie meinst du das?“

Babette blickte witternd um sich und senkte ihre Stimme zum Flüstern. „Je mehr die Olga bei ihrem miserablen Gesundheitszustand raucht, desto eher geht sie drauf. Dann kann er ja seine Jugendflamme heiraten.“

„Du meinst die Binia?“

„Wen denn sonst? Die geht doch schon längst bei ihm aus und ein.“

„Du, das ist eine gemeine Verleumdung, Babette! Ich kann dir nur sagen, lass deine dreckigen Finger von der Binia. Die ist die Alleranständigste im ganzen Dorf.“

„Ja, ja – halt du nur deine sauberen Hände über sie und setze ihr noch einen Heiligenschein aufs Haupt. Es weiß doch jeder, dass die beiden schon als Kinder zusammengingen und dass die Binia sich dann hochmütig von Hans-Jörg abgewandt hat. Als sie Lehrerin studierte, war er ihr auf einmal nicht mehr vornehm genug. Weil sie aber trotz ihrer Gescheitheit keinen anderen Mann bekommen hat, macht sie sich jetzt wieder an ihn heran, um seiner sicher zu sein, wenn die Olga tot ist.“

„Du bist doch eine ganz gemeine, elende Verleumderin!“

„Na, vielleicht ist doch was dran!“

Theres, die sicher gerne Hans-Jörgs Frau geworden wäre, pflichtete ihr bei.

Im nächststehenden Gehöft öffnete sich ein Fenster. Der Lindenbauer – wegen seiner Spottlust bekannt – rief den drei Frauen zu: „Wollt ihr euch nicht auf die Bank vor meinem Haus setzen? Da könnt ihr bequemer über eure Mit- und Nebenmenschen herziehen, und ich brauch' mich nicht so anzustrengen, euch zu verstehen. Ihr scheint alle drei viel Zeit übrig zu haben!“

Ärgerlich bückte sich Babette nach ihren Milchkannen, die sie auf den Boden gestellt hatte, und des Totengräbers Frau setzte ihren Karren in Bewegung.

„Alter Schnüffler!“ murmelte sie halblaut vor sich hin. „Hoffentlich hat er nicht verstanden, was wir gesprochen haben. Der ist imstande und erzählt alles dem Hans-Jörg.“

„Soll er doch! Macht nichts, wenn er weiß, was man über ihn und die Binia spricht.“

„Vor allem du über deine verschmähte Liebe.“

Zwei lachende und eine gekränkte Frau zogen gleich darauf ihres Weges.

Derjenige, über den sie geredet hatten, stand in diesem Augenblick vor seiner Frau, die bleich, von Hustenanfällen geschüttelt, beinahe zum Skelett abgemagert, im Lehnstuhl saß und nach Luft rang. Besorgt blickte der junge Bauer sie an. Was war aus der einst so blühenden, gesunden Frau geworden!

„Meinst du nicht, wir sollten noch ein Stück hinausgehen?“ fragte Hans-Jörg. „Die schönen Tage sind gezählt. Noch zwei, drei Wochen, dann stehen die Bäume wieder kahl da. Ich meine, du würdest besser schlafen, wenn du noch ein wenig frische Luft atmest.“

Mit einem müden Ausdruck auf dem Gesicht blickte die junge Frau zu ihrem Mann empor, der breitschultrig und aufrecht vor ihr stand – ein Bild ungebrochener Kraft. Oh, wie sie ihn liebte! „Mit mir ist es bald aus“, erwiderte Olga. „Ich fühle es, Hans-Jörg.“

Er versuchte ihr die trübe Ahnung auszureden.

„Das hast du nun schon so oft gesagt, und immer wieder ging es. Wenn du nur erst wieder richtig essen könntest, damit du zu Kräften kommst. Von dem, was du zu dir nimmst, kann kein Kind – geschweige denn ein erwachsener Mensch – leben.“

Die Augen der jungen Bäuerin füllten sich mit Tränen. Sie lehnte den Kopf an den Arm ihres Mannes und fuhr fort: „Ich will auch nicht mehr, Hans-Jörg, begreife es doch!“

Mit fast unbeholfener Gebärde strich er ihr über das Haar. Es war zwischen ihnen nicht üblich, sich Zärtlichkeiten zu erweisen. Wenn es ihn jetzt manchmal doch dazu trieb, entgegen seiner Natur, dann aus echtem Mitleid gegenüber seiner Frau, die wie ein Schatten dahinwelkte. Er hatte das Empfinden, es fiele ihr immer noch schwer, an seine Liebe zu glauben. Hatte sie eigentlich nicht recht? Es war weniger Liebe, sondern mehr Erbarmen, das ihn dazu drängte. Was hatte sie denn schon von ihrem Leben gehabt – sie, die während des Krieges im allgemeinen Wirrwarr ihren Eltern auf der Flucht verlorengegangen war! Was konnte sie dafür, dass sich Menschen mit schlechter Gesinnung ihrer annahmen, sie ausnutzten und sie durch eine minderwertige Lebensauffassung formten? Lange genug hatte er gebraucht, ehe er begriff, dass sie gar nicht anders hatte werden können, als sie geworden war, und dass ihr Leichtsinn und ihre Lebensgier nichts anderes als eine Folgeerscheinung jener Jahre waren, die sie innerlich und äußerlich darbend zugebracht hatte.

Böse Erfahrungen machte sie mit verschiedenen Männern, die sie bereits missbrauchten, als sie fast noch ein Kind war. Schließlich hatte sie nur noch Hass und Verachtung gegenüber ihren Peinigern empfunden, andererseits aber konnte sie ohne Beziehung zu irgendeinem Mann fast nicht mehr leben. So war sie Hans-Jörg auf der Suche nach ihren Eltern zum ersten Mal begegnet. Nein, er würde es nie vergessen können, wie sie mit ihrem unehelichen Kind, dem damals noch kleinen Emilio, während eines furchtbaren Unwetters den Berg heraufhastete. Der Sturm hatte ihr beinahe die Kleider vom Leib gerissen. Wie wirre Flammen hatten ihre roten Haare das von Angst entstellte Gesicht umweht. Zu Tode erschöpft war sie an seine Brust gesunken, als sie ihm mit letzter Kraft ihr wimmerndes Kind entgegen streckte. Er hatte in ihr nur einen schutzlosen, verzweifelten Menschen gesehen. Bald stellte sich heraus, dass sie die verlorengegangene Tochter der beiden Schamblovskis war, die seit einigen Jahren auf dem Hof seines Vaters treue Dienste leisteten. Es war ein ergreifendes Wiedersehen zwischen den Eltern und der Tochter gewesen, und ihn hatte ein tiefes Mitleid mit dem jungen, heimatlosen Mädchen erfüllt – aber nicht mehr als das.

Hans-Jörg befand sich in jener Zeit in einer inneren Krise. Ja, die Dorfbewohner hatten recht, wenn sie behaupteten, er habe jahrelang auf Binia, die Enkelin des Bauern Pfisterer, seines Nachbarn, gehofft. Für ihn war es damals eine unglückselige Zeit. Er war der Meinung gewesen, dass zwischen ihnen, die von Kind an wie Geschwister miteinander aufgewachsen waren, Worte nicht mehr nötig seien. Nichts schien ihm so selbstverständlich, als dass Binia Jansen einmal seine Frau werden würde.

Als beide empfanden, dass es nicht geschwisterliche Liebe war, die sie miteinander verband, hatte die junge Lehrerin vergeblich auf ein klärendes Wort des Freundes gewartet und schließlich zutiefst enttäuscht angenommen, er wolle von ihr nichts mehr wissen. Als ihm endlich die Augen für die Wirklichkeit aufgingen, war es bereits zu spät. Da war die Olga schon einige Jahre seine Frau, mit der er in einer unglücklichen Ehe lebte.

Manchmal, wenn er nachts neben ihr lag und auf ihren unruhigen Atem lauschte, oder wenn sie beide keine Ruhe fanden, wanderten seine Gedanken zurück in jene Zeit.

Obgleich nicht mehr der Jüngste – er ging damals bereits auf die Dreißig zu – war er im Umgang mit Frauen völlig unerfahren gewesen. Binia war sein Idealbild, aber die – so meinte er in jener Zeit – wollte ihn ja nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie als Lehrerin andere Pläne und gab sich nicht mehr mit einem Bauern zufrieden. Damals hatte er gemeint, er werde es nie verwinden können, und ihr bitter gegrollt, weil sie sich – wie er dachte – kaltherzig von ihm zurückgezogen und alles vergessen hatte, was sie während der Kinder- und Jugendjahre miteinander verband.

In jener Zeit nun war Olga Schamblovski auf getaucht. Wie konnte er, der Unerfahrene, ahnen, dass ihre Heiterkeit, ihr fröhliches Wesen, ihr Arbeitseifer und Fleiß nur ein einziges Ziel hatten, nämlich: ihn als ihren Ehemann zu gewinnen, koste es, was es wolle. Erst viel später hatte er erfahren – Binia selbst war es gewesen, die ihm die dafür Augen geöffnet hatte –, dass Olga von der Sauberkeit seines Charakters fasziniert war, nachdem sie bisher nur ganz andere Männer kennengelernt hatte, die in ihr stets ein Objekt zur Befriedigung ihrer triebhaften Wünsche sahen.

Tatsächlich hatte er, nachdem er meinte, keine Möglichkeit mehr zu haben, Binia zu besitzen, einige Maie mit dem Gedanken gespielt, die heitere, lebensfrohe Olga zu seiner Frau zu machen. Er war sogar bereit, darüber hinwegzusehen, dass sie ein uneheliches Kind besaß. Doch dann hatte Olga gemeint, ihn mit List fangen zu müssen, indem sie gegenüber seiner Mutter behauptete, sie erwarte von ihm ein Kind. Sie hatte diese aber beschworen, davon keinem Menschen, auch ihm nichts zu sagen, weil sie fürchtete, er jage sie vom Hof. Nur eines sollte Hans-Jörgs Mutter tun, nämlich ihren Sohn mit aller Macht beeinflussen, sie zu heiraten, denn das sei jetzt schließlich seine Pflicht.

Dass die Bäuerin, von Unruhe und Angst getrieben, ihrem Sohn schließlich doch alles gestand, damit hatte Olga nicht gerechnet. Außer sich vor Empörung hatte Hans-Jörg das Mädchen zur Rede gestellt und war drauf und dran gewesen, sie vom Hof zu weisen. Sie aber hatte es verstanden, ihn durch einen Tränenstrom und das Geständnis, noch nie einen Mann so geliebt zu haben wie ihn, zu erweichen. Sie nutzte sein Mitleid aus und warf sich ihm an den Hals. Er aber hatte es sich nie verzeihen können, in jener Stunde schwach geworden zu sein.

Danach hatte der im Grunde hoch anständige junge Bauer sich verpflichtet gefühlt, sie zu heiraten, sie – die er letztlich verachtete, zumal sich später herausstellte, dass sie von einem Knecht im Dorf ein Kind erwartete. Auch dies war zum Dorfklatsch geworden, und als der Knecht seinem Kinde ein trauriges Erbe hinterließ – es kam mit einem ebensolchen Wolfsrachen und mit einer Hasenscharte auf die Welt, wie er sie hatte – bestand kein Zweifel mehr darüber, wer der Vater des zweiten Kindes der Schamblovski war.

So hatte Hans-Jörg Ottmar neben dieser Frau gelebt und war ihr immer mehr entfremdet, obgleich Olga ihm schließlich auch noch ein Kind gebar. An diesem seinem eigenen Kind, der kleinen Marion, hing er sehr. Der Tochter des Knechtes, der das Dorf schon vor der Geburt des Kindes heimlich verlassen hatte, brachte er nur Mitleid und Erbarmen entgegen. Ihr Gesicht würde trotz der Operation, die er gewünscht und bezahlt hatte, entstellt bleiben. Olga aber, die sich damals dem Trunk ergab, begann er zu hassen. Das war so weit gegangen, dass er sie in einem Augenblick maßloser Wut schlug.

Noch heute erschien es ihm unfassbar, wenn er darüber nachdachte, dass ihm ausgerechnet Binia in den Arm gefallen war und ihm Olga entrissen und damit verhütet hatte, dass er, der seiner Sinne kaum noch Herr war, ein Unglück anrichtete, dessen Folgen nicht abzusehen waren.

In jener schrecklichen wie auch unvergesslichen Stunde erkannte er, dass Binia ihn immer noch liebte und ihn aus Liebe vor dem Furchtbaren bewahrt hatte. Tatsächlich, er wäre in jenen Augenblicken dazu imstande gewesen, seiner Frau etwas anzutun. Das hatte Binia mit Entsetzen erkannt. Bis ins Herz getroffen, war er damals davongewankt.

Über Olga aber kam eine unbeschreibliche Verzweiflung. Sie wollte mit ihrem Kind, der Tochter von Hans-Jörg, dem Manne, den sie als einzigen von Herzen liebte, aus dem Leben scheiden.

Zufall konnte man es nicht nennen, dass Binia, die eine Freundin besucht hatte, auf dem Heimweg von einer höheren Macht geleitet einen Umweg machte und genau in dem Augenblick an jenem Waldsee vorbeifahren musste, als Olga Schamblovski mit dem sich verzweifelt wehrenden Kind ins Wasser gehen wollte.

Binia hatte sofort die Situation erkannt, ihr Auto zum Stehen gebracht und war gerade noch zurechtgekommen, um die Unglückselige zu retten. Mit liebevollen und beruhigenden Worten hatte sie Olga und die kleine Marion zu ihrem Wagen geführt und beide zu sich nach Hause genommen. Olga erlitt einen totalen Zusammenbruch.

In der Zwischenzeit war Hans-Jörg Ottmar, der den Abschiedsbrief seiner Frau gefunden hatte, von unaussprechlicher Angst getrieben, umhergeirrt. Was Olga unternehmen wollte, hatte sie ihm nicht mitgeteilt. Dass sie jedoch nicht länger leben wollte und ihm sein Kind nicht zurückzulassen gedachte, ging aus ihren Zeilen eindeutig hervor. Ihm war es nicht in erster Linie um sie, sondern um Marion gegangen, an der sein ganzes Herz hing. Bei seinem verzweifelten nächtlichen Suchen aber wurde ihm klar, dass nicht nur Olga an ihm, sondern auch er an ihr schuldig geworden war.

Nachdem Olga endlich eingeschlafen war, hatte Binia in der Dunkelheit der Nacht vor ihrem Haus auf Hans-Jörg gewartet. Als er kam, war sie auf ihn zugegangen und hatte ihm gesagt, was sie in den letzten Stunden erlebt und dass sie Olga und das Kind zu sich genommen hatte.

„Ihr müsst miteinander neu anfangen“, das war Binias dringliches Anliegen gewesen. „Gib Olga noch eine Chance, und stoße sie nicht in größere Dunkelheit!“