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Seitenzahl: 105
Sophokles
König Ödipus
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Theodor Pelster
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Sophokles: König Ödipus. Übers. von Kurt Steinmann. Hrsg. von Mario Leis. Stuttgart: Reclam, 2015 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, 19236.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 630.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15465
2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961286-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015465-6
www.reclam.de
Wenn im Winter eine Schneelawine ein ganzes Dorf unter sich begräbt, nennt man das eine ›Tragödie‹, und man kennzeichnet einen Unfall als ›tragisch‹, wenn ein junges Paar auf der Hochzeitsreise durch ein Unglück ums Leben kommt. Den Verlauf eines Spiels, etwa eines Fußballspiels, bewertet man als ›dramatisch‹, wenn die Ereignis- und Handlungsfolge dauernd wechselt und nicht abzusehen ist, wer am Ende gewinnen wird. Für den, der das Feld geschlagen verlässt, war das Ganze dann ein ›Drama‹.
Theater als Spiegel des LebensGanz selbstverständlich verwenden wir im Deutschen Fremd- und Lehnwörter wie ›Drama‹ und ›dramatisch‹, ›Tragödie‹ und ›tragisch‹, auch ›Komödie‹ und ›komisch‹, die ursprünglich in den Bereich der Theatersprache gehörten und aus dem Altgriechischen in die deutsche Sprache gelangt sind. Im Theater, also auf der Bühne und vor Publikum, wurde damals im alten Griechenland im Spiel gezeigt, welche Erfahrungen Menschen im Laufe ihres Lebens gemacht haben und wie sie diese Erfahrungen verarbeitet haben – der anwesende Zuschauer konnte dem aufgeführten Stück Erkenntnisse und Lehren für sich entnehmen. Der antike Tragödiendichter sah sich also vor die Aufgabe gestellt, an anschaulichen Beispielen zu zeigen, was den Menschen in diesem Leben erwartet, welche Fragen ihm gestellt werden, wie er sich verhalten kann und soll. Ödipus, einst Herrscher in Theben und später aus der Stadt verbannt, ist solch ein Beispiel.
König Ödipus ist eine Gestalt der griechischen Sagenwelt. Aus dieser schöpften die griechischen Dramatiker. Die von Sophokles gestaltete Tragödie König Ödipus ist eines der bedeutendsten und bekanntesten Werke der Weltliteratur.
In der Die AusgangssituationTragödie des Sophokles wird Ödipus zunächst als Herrscher der mächtigen Stadt Theben vorgestellt. Er ist, wie allgemein angenommen wird, als Fremder in die Stadt gekommen. In einer schwierigen Situation hatte er Theben von dem Unheil befreit, das von der Sphinx, einem sagenhaften Ungeheuer, ausging. Er allein hatte die über Leben und Tod entscheidende Frage der Sphinx beantworten können, welches Lebewesen sich am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien fortbewegt. Mit seiner Antwort – »Der Mensch« – hatte er das Rätsel gelöst und die Macht der Sphinx gebrochen. Die Thebaner machten ihn zum König, da Laios, der angestammte Herrscher, auf einer Fahrt zum Delphischen Orakel umgekommen war.
Nun steht König Ödipus vor einer neuen Herausforderung: In Theben ist die Pest ausgebrochen, und die Bewohner erwarten, dass ihr Herrscher auch dieses Unheil abwende. Ödipus schickt sich an, die Ursachen des neuerlichen Unheils ausfindig zu machen und das Übel an der Wurzel zu packen. Der Gang dieses Geschehens wird dem Zuschauer des Dramas vor Augen geführt.
Macht und Befugnis eines RegentenAnfangs scheint nur die Rolle des Herrschers zur Diskussion zu stehen: Was erwartet man von einem Herrscher, der zugleich Regent und Richter ist? Wie verhält er sich gegenüber den Göttern und gegenüber den Mitmenschen? Was kann, darf und soll er tun? Und wo sind die Grenzen seiner Macht und seiner Fähigkeiten?
Bald aber zeigt sich, dass die Frage zu eng gestellt ist. An König Ödipus erweist sich in herausgehobener Weise, was jeder Mensch an sich erfahren kann: Der Mensch ist nicht der Herr über alle Mächte und Gewalten. Begrenzt ist sein Wissen über sich selbst, über seine Herkunft und über den Lauf der Welt. Zu Hoch- und Übermut gibt es keinerlei Veranlassung. Allgemeinere und drängendere Fragen stellen sich dem Zuschauer und dem Leser: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Abb. 1: Strukturskizze des analytischen Dramas König Ödipus
Der Die Situation der Zuschauer in AthenZuschauer im Dionysostheater von Athen, für den die Tragödie König Ödipus verfasst und aufgeführt wurde, kannte die Geschichte, aus der ihm eine Szenenfolge gezeigt werden sollte, in ihrem ganzen Umfang, bevor er das Theater betrat. Er konnte die Titelfigur und ihre Lebensgeschichte dem thebanischen Sagenkreis zuordnen und wusste, wer die Vorfahren und die Nachkommen dieses Herrschers waren.
Die Die Familiengeschichte des ÖdipusFamiliengeschichte des Ödipus beginnt mit Kadmos, dem sagenhaften Gründer der Stadt Theben. Dieser Kadmos war aus der phönizischen Stadt Tyros auf das griechische Festland gekommen und hatte vom Delphischen Orakel den Auftrag erhalten, in Böotien eine Burgstadt zu gründen, die Kadmeia, die Burg von Theben. Trotz großer Schwierigkeiten setzte sich Kadmos durch und sicherte seine Herrschaft. Auch seine Nachkommen hatten sich mit Gegnern aller Art auseinanderzusetzen: Labdakos, der Enkel des Kadmos, musste sich den Thron hart erkämpfen; Laios, der Sohn des Labdakos, verbrachte eine Zeit im Exil, ehe er den Thron wieder erringen konnte. Im Exil hatte Laios sich den Zorn des Pelops, bei dem er aufgenommen worden war, und der Göttin Hera zugezogen, als er Chrysimos, den Sohn des Pelops, verführte. Seit dieser Zeit lastete ein Fluch auf der Familie des Laios.
Abb. 2: Stammbaum des Ödipus
Trotzdem gewann Laios das Königreich Theben zurück und heiratete Iokaste, die Tochter des Menoikeus und die Schwester des Kreon. Doch ein Orakelspruch aus Delphi verkündete Laios: »Wenn dir Iokaste einen Sohn gebiert, wird dieser dich töten und seine Mutter heiraten«.1 Als sie dennoch Eltern eines Sohnes werden, beauftragen sie einen Schafhirten, das Kind im Kithairon-Gebirge auszusetzen. Vorher durchbohrt man dem Neugeborenen die Füße, damit es nicht fortkriechen kann.
Der Hirte übergibt den Jungen jedoch entgegen der strengen Anordnung der Eltern einem Schäfer, den er auf den Weideplätzen des Kithairons trifft. Dieser bringt das Kind nach Korinth, wo es von Polybos, dem König von Korinth, und Merope, seiner Frau, aufgenommen wird. Sie, die selbst kinderlos sind, nennen den Jungen Ödipus, was – ins Deutsche übersetzt – »Schwellfuß« heißt. Eines Tages wird der inzwischen herangewachsene Ödipus von einem Betrunkenen verhöhnt, er sei nicht das leibliche Kind seiner Eltern. Ödipus macht sich auf, um vom Delphischen Orakel die Wahrheit zu erfragen. Aber auch dort erfährt er nichts über seine wahre Herkunft; doch prophezeit man ihm, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Um das zu vermeiden, beschließt Ödipus, nicht nach Korinth zurückzugehen. Als er sich allein von Delphi aus auf Wanderschaft begibt, gerät er in Streit mit einem edlen Herrn und seinen Dienern, die ihn vom Weg abdrängen wollen. Im Kampf setzt er sich durch, erschlägt den Herrn und mehrere aus dem Gefolge. In der Nähe von Ödipus in ThebenTheben angekommen, erfährt er, dass die Stadt von einer Sphinx bedroht wird, die von Hera entsandt war, um Theben zu bestrafen. Indem Ödipus Theben von der Gefahr befreit, wird er zum Retter der Stadt und zum Nachfolger des Laios, von dem man erfahren hat, dass er auf dem Rückweg vom Delphischen Orakel umgekommen sei. Ödipus heiratet Iokaste und lebt viele Jahre glücklich mit ihr und in Eintracht mit seinem Schwager Kreon. Vier Kinder werden dem Königspaar geboren – zwei Söhne, Eteokles und Polyneikes, und zwei Töchter, Antigone und Ismene.
Da sucht eine Plage die Stadt Theben heim, und Ödipus ist erneut herausgefordert. Hier nimmt das Drama seinen Ausgangspunkt.
Der Prolog. In Theben wütet die Pest in ThebenPest. Die Bürger haben sich versammelt, bringen den Göttern Opfer dar und suchen Rat und Hilfe bei Ödipus, dem Herrscher, der die Stadt auch früher schon vor Unheil bewahrt hat, als er die Sphinx besiegte. Ödipus hat auch jetzt bereits reagiert und seinen Schwager Kreon zum Delphischen Orakel gesandt. Dieser kommt mit der Botschaft zurück, dass Theben nur dann von der Pest befreit werde, wenn der Mord an Laios, dem Vorgänger des Ödipus, gesühnt sei. Der Tod des Laios war jahrelang verdrängt worden. Ödipus und der Auftrag des OrakelsNun sollen die Mörder des Laios ermittelt und bestraft werden. Ödipus leitet die Untersuchungen bereitwillig, streng und hoffnungsvoll ein und verkündet vor der versammelten Bürgerschaft: »von neuem werd ich, abermals, das Dunkel / lichten« (V. 132).
Parodos: Einzugslied des Chors. Den Chor bilden die Ältesten der Stadt. Sie bitten Zeus, Athene, Artemis und Apoll um Hilfe in der Not.
1. Epeisodion. Erste Maßnahmen des HerrschersEhe der Tatbestand aufgeklärt ist, verurteilt Ödipus den noch unbekannten Täter dazu, das Land zu verlassen. Zugleich fordert er alle auf, nach dem Mörder zu forschen. Wer sich diesem Auftrag widersetze oder gar den Mörder schütze, werde aus der Bürgerschaft ausgestoßen. Er selbst will verflucht sein, wenn der Mörder aus seinem Haus stammen sollte. Die gesamte Aktion geschehe, wie er betont, um den Auftrag der Götter zu erfüllen, also im Interesse der Stadt, aber auch zur Sicherung seiner Herrschaft.
Die Die Offenbarung des TeiresiasAussicht, einen Zeugen jener Mordtat in der Stadt zu finden, ist gering. Dagegen ist man überzeugt, dass der göttliche Seher Teiresias helfen könnte, »dem / die Wahrheit eingeboren ist als einzigem der Menschen« (V. 298 f.). Widerwillig erscheint Teiresias vor den Versammelten. Von Ödipus hart bedrängt, sagt er diesem ins Gesicht: »dieses Landes heilloser Besudler bist du« (V. 353) und: »Des Mannes Mörder, den du suchst, sag ich, bist du!« (V. 362). Ödipus hält diese Vorwürfe für völlig wirklichkeitsfremd. Sie scheinen ihm Teil eines Komplotts zu sein, das möglicherweise Kreon mit Teiresias vorbereitet hat, um selbst an die Herrschaft zu kommen. Als er den Seher verhöhnt und ihn einen Narren nennt, gibt Teiresias zu verstehen, dass er noch mehr wisse, als er bisher gesagt habe. Er kennt besser als Ödipus selbst die »Eltern […], die dich zeugten« (V. 436); er weiß, »wie tief du / steckst im Übel« (V. 413); er weiß auch, dass der Mann, der als Mörder gesucht wird, »Thebaner« (V. 453) ist, der »mit den eignen Kindern lebt […] als ihr Bruder und ihr Vater«, außerdem »der Frau, / der er entspross, Sohn und Gemahl und des Vaters / Mitsäer und sein Mörder!« (V. 457–460). Alles deutet darauf hin, dass Ödipus der Gesuchte ist, an dem sich das vollzogen hat, was seinem Vater Laios und ihm selbst durch Orakelsprüche vorhergesagt war. Ödipus allerdings verschließt sich den Offenbarungen des blinden Sehers. Dieser aber sagt nun voraus: »unter Sterblichen ist keiner, der schlimmer / als du wird ausgerottet werden je!« (V. 427 f.).
Gespannt wartet man, wie alles ans Licht kommt und wie sich das weitere Schicksal des Ödipus gestaltet.
Chor: 1. Stasimon. Die Ältesten der Stadt, vertreten im Chor, sind erschüttert von dem, was sie gehört haben. Sie schätzten Ödipus als Retter der Stadt und wissen nun nicht, was sie von den Anklagen des Teiresias halten sollen.
2. Epeisodion.Konflikt zwischen Ödipus und KreonKreon hat von den Anschuldigungen des Ödipus gehört und ist gekommen, sich zu rechtfertigen. Ödipus sieht aber seinen Verdacht Kreon gegenüber schon allein dadurch bestätigt, dass der Seher auf Kreons Rat hin kam; er geht deshalb davon aus, dass Teiresias im Auftrag Kreons handelte, wenn er ihn »Mörder des Laios« (V. 703) nannte. Ohne Kreons Gegenargumente zur Kenntnis zu nehmen und ohne selbst Beweise für seine Behauptungen zu liefern, verurteilt Ödipus seinen Schwager zum Tod: »Sterben sollst du« (V. 623).