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Dieser Band enthält folgende Krimis: Richter und Rächer (Thomas West) Craig Kennedy und der Todesschrei (Arthur B. Reeve) Die Einladung zu einer Wochenendparty nimmt der Schriftsteller Carol Howard zunächst nur widerwillig an und stellt bald fest, dass er nur durch eine Verwechslung eingeladen wurde. Als die Gastgeberin jedoch ermordet wird, steckt er plötzlich mitten in einem Mordfall, und die Reihe der Verdächtigen scheint endlos. Jeder hatte ein Motiv, aber wer war es wirklich?
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Krimi Doppelband 2256
Copyright
Richter und Rächer
Craig Kennedy und der Todesschrei: Krimi
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Richter und Rächer (Thomas West)
Craig Kennedy und der Todesschrei (Arthur B. Reeve)
Die Einladung zu einer Wochenendparty nimmt der Schriftsteller Carol Howard zunächst nur widerwillig an und stellt bald fest, dass er nur durch eine Verwechslung eingeladen wurde. Als die Gastgeberin jedoch ermordet wird, steckt er plötzlich mitten in einem Mordfall, und die Reihe der Verdächtigen scheint endlos. Jeder hatte ein Motiv, aber wer war es wirklich?
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Ein Jesse Trevellian Roman
In der Serie „Jesse Trevellian“ erschienen bislang folgende Titel (ungeachtet ihrer jeweiligen Lieferbarkeit auf allen Portalen):
Alfred Bekker: Killer ohne Namen
Alfred Bekker: Killer ohne Skrupel
Alfred Bekker: Killer ohne Gnade
Alfred Bekker: Killer ohne Reue
Alfred Bekker: Killer in New York (Sammelband)
Thomas West: Rächer ohne Namen
Thomas West: Gangster Rapper
Thomas West: Richter und Rächer
Weitere Titel folgen
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© Serienrechte „Jesse Trevellian“ by Alfred Bekker
© 1999 des Romans by Author
© 2012 der Digitalausgabe 2012 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Zypressen, mannshohe Holunderbüsche, Fliedersträuche und wieder Zypressen. Der Mann bewegte sich lautlos über den dicht bewachsenen Gartenhang. Er trug einen grünen Overall.
Die VanHaarens haben wieder einen Gärtner engagiert, würden die Nachbarn denken, sollten sie ihn zufällig beobachten. Aber weder war der Mann Gärtner, noch hatten ihn die Besitzer des Grundstücks beauftragt, ihren Garten zu pflegen.
Der Mann blieb stehen und lauschte. Musik drang vom Nachbargrundstück unterhalb des Hanges. Walzerklänge. Er hob die Rechte und bewegte sie im Rhythmus der Musik. Den Kopf leicht geneigt, spitzte er die Lippen und summte ein paar Takte mit. Geschichten aus dem Wienerwald - eines der schönsten Stücke des alten Strauß. Fand der Mann, der kein Gärtner war.
Er fuhr fort, sich durch das dichte Buschwerk hangaufwärts zu arbeiten. Aus seinem schäbigen Lederrucksack ragten die unterarmlangen Griffe einer Heckenschere.
Im Halbkreis um die rückseitige Fassade des alten Bürgerhauses gruppiert - eine grüne Palisade aus Zypressen. Dahinter begann ein kleines Rasenstück. Es grenzte an die Gartenterrasse des Hauses.
Der Mann schob sich zwischen zwei der mannshohen Zypressen hindurch. Statt quer über den Rasen, ging er über die vermoosten Steinplatten an dessen Rand auf die Terrasse zu. Spuren ließen sich nie ganz vermeiden. Aber man musste sie ja nicht gleich auf dem Silbertablett anbieten.
Er wusste, dass das Arztehepaar, dem die Villa gehörte, erst in zwei Wochen von einer Europareise zurückkehren würde. Und er wusste, dass die halbwüchsige Tochter des benachbarten Schuldirektors immer gleich nach der Schule in das Haus kam, um zu lüften und die Blumen zu gießen. Und jetzt war es früher Abend.
Trotzdem verharrte er sekundenlang bewegungslos lauschend am Treppenabsatz. Keine Bewegung hinter der großen Glasfront, durch deren Tür man von der Terrasse ins Haus gelangte. Kein Geräusch. Nur die Walzerklänge aus dem Gebäudekomplex am Fuße des Hanges.
Lautlos huschte er die acht Stufen zur Terrasse hinauf. Auf der Steinbalustrade zum Garten hin ein Blumentopf neben dem anderen. Azaleen, Rosenstöcke, Yukapalmen, und so weiter.
Der Mann stellte sich hinter einen verblühten Jasminstrauch. Von der Terrasse aus konnte man die Skyline Manhattans auf der anderen Seite des East Rivers sehen. Und rechts die Pfeilerspitzen der Brooklyn Bridge.
Unten, am Ende des kurzen Hanges, ragten drei uralte Ulmen über die Dächer des benachbarten Gebäudekomplexes. Ein altes Bürgerhaus, angrenzende Stallungen und Werkstätten. Alles aus Buntsandstein und zu Luxuswohnungen umgebaut.
Hier, in Brooklyn Heights, fand man viele solcher architektonischen Perlen aus dem letzten Jahrhundert. Heiß begehrte Immobilien bei der oberen Mittelschicht New York Citys.
Zwischen den Stämmen der Ulmen hindurch war ein kleiner Ausschnitt des Innenhofes einzusehen, den die drei Gebäude mit dem Zaun hinter den Ulmen bildeten. Aus diesem Innenhof kam die Musik.
Ein paar Menschen tanzten durch das Blickfeld des heimlichen Beobachters. Andere standen an einem schmalen, langen Tisch. Das weiße Tischtuch berührte fast den Boden des Hofes.
Der Mann zog sich den Rucksack vom Rücken und kramte ein Fernglas heraus. Er nahm sich viel Zeit, die Festgesellschaft auf dem Nachbargrundstück zu beobachten. Die Tanzenden, die Leute am kalten Büfett, plaudernde Paare im Schatten der efeubewachsenen Hausfassaden, und vor allem die kleine Gruppe um den runden Tisch nicht weit hinter den Ulmen.
Die dicken Baumstämme und der gusseiserne Zaun dahinter verdeckten die Gesichter und Körper der Menschen dort unten teilweise. Aber zwei oder drei waren gut zu erkennen.
Ein silberhaariger Mann in weißem Hemd, grauer Weste und mit roter Krawatte zum Beispiel.
Der Mann, der kein Gärtner war, brauchte das Alter des Silberhaarigen nicht zu schätzen. Er wusste, dass er vor wenigen Tagen dreiundfünfzig Jahre alt geworden war.
Oder die Frau des Silberhaarigen. Klein und zierlich. Mit verschränkten Armen stand sie hinter ihm. Sie war noch blasser und schmaler als damals. Und auch nicht mehr blond, sondern rot - mahagoni-rot.
Und die jüngere Frau neben dem Silberhaarigen - auch sie war gut zu erkennen. Rotblondes, offenes Haar, knallgelbes, ärmelloses T-Shirt, schwarzglänzende Lederhosen. Hinter ihr, achtlos über die Stuhllehne geworfen, eine schwarze Lederjacke. Breitbeinig hockte sie da. In ihrer Hand qualmte eine Zigarette.
Die Aufmerksamkeit der drei Menschen schien durch irgend etwas gefesselt zu sein, was sich vor ihnen, auf dem Rasen zwischen den Ulmen und ihrem Tisch abspielte.
Der Mann richtete sein Glas auf den Zaun zwischen den Baumstämmen und zoomte das Bild näher heran. Er konnte einen kleinen, blauen Körper entdecken - ein Kind. Es hockte im Gras unter den Bäumen. Etwa acht Schritte von den Ulmen und damit von Grundstückgrenze entfernt.
Das Kind wedelte mit einem länglichen, biegsamen Gegenstand herum. Ein Stück Papier? Ein Plastikrohr? Schwer zu sagen, was das das für ein Ding war.
Ein kleines, hellbraunes Tier sprang an dem Kind hoch, purzelte ins Gras, sprang erneut hoch. Eine junge Katze.
Ein paar Minuten noch beobachtete der Mann die Szene. Endlich setzte er das Glas ab. "Schön, so eine Feier", murmelte er. In seiner Miene jedoch keine Spur von Wohlwollen. Geschweige denn von gönnerhafter Freude. Wie gefroren wirkten seine Züge.
Er steckte das Glas zurück in den Rucksack und holte eine Kamera heraus. Nacheinander fotografierte er die Menschen unter der Linde. Jedenfalls die, die er sehen konnte. "Schön, so eine Feier..." Er verstaute die Kamera wieder im Rucksack, warf ihn sich über die rechte Schulter und stieg die Treppe hinab in den Garten. "Genießt sie", flüsterte er. "Ein bisschen Zeit habt ihr ja noch..."
Hangabwärts verschwand er zwischen den Ziersträuchern des Gartens.
*
Die junge Katze sprang nach der Pfauenfeder, versuchte das blaubunte Ding mit den Vorderpfoten zu krallen, ließ sich ins Gras fallen und duckte sich zum nächsten Angriff.
Der Knirps im Gras fuchtelte mit der Feder herum und krähte vor Vergnügen. Ein kleiner Bursche mit erstaunlich dichten, schwarzen Locken. Nicht älter als vierzehn, höchstens sechzehn Monate. Die hellblauen Höschen seines Matrosenanzuges waren von der Windel ausgebeult.
Wesley Harper beugte sich zu dem Zwerg herunter. "Du wirst mal ein furchtloser Löwenbändiger, was Luke?" Er streichelte den Jungen über die schwarzen Locken. Auf seinem braungebrannten Gesicht strahlte der ganze Stolz eines Großvaters über seinen ersten Enkel.
"Erst einmal muss er laufen lernen", sagte eine hohe Frauenstimme hinter ihm.
"Alles zu seiner Zeit", sagte Wesley. "Oliver hat auch erst mit anderthalb Jahren seine ersten Schritte gemacht, erinnerst du dich nicht, Viola?"
Das rotbraune Kätzchen machte einen Satz und packte Wesleys ins Gras baumelnden Seidenschlips. Der große, grauhaarige Mann lachte. Seine gepflegten Hände griffen nach dem Pelzknäuel. "Hey, du Möchtegerntiger!"
Er stand auf und versuchte die Pfötchen des Tieres von dem roten Edelbinder zu lösen. Die scharfen Krallen zogen lange Fäden aus dem Stoff. Der kleine Knabe quietschte entzückt.
"O nein, Wes - deine schöne Krawatte!" Wesley drehte sich um. Auf dem Gesicht seiner Frau die für Viola so typische Mischung aus Vorwurf und Weinerlichkeit. "Was glaubst du wie teuer die war...!"
"Sicher nicht so teuer wie meine Haut", knurrte Wesley. Er setzte das Kätzchen neben seinem Enkel ab. "Und die hat der kleine Möchtegerntiger nicht mal angekratzt - stimmt's Luke?" Der Kleine strahlte seinen Großvater an.
Einen zärtlichen Klaps für die Katze, einen Kuss auf die Stirn des Knirpses - Wesley richtete sich wieder auf und setzte sich zurück auf den Stuhl neben seine ältere Tochter.
Carol grinste spöttisch. Wie sie es meistens tat, wenn sie nicht gerade wütend war. Oder von ihrer neusten Idee begeistert, oder verliebt oder sonst irgendwie berauscht. "Aber wenn du gleich deine Rede hältst, werden alle Augen auf dich gerichtet sein. Und jeder wird die schrecklichen, katastrophalen, entwürdigenden Fäden an deinem Hundertfünfzig-Dollar-Schlips sehen können." Mit den letzten Worten fiel sie zunehmend in den Tonfall ihrer Mutter und äffte deren weinerliche Art nach.
Viola blitzte ihre Tochter beleidigt an, und Wesley betrachtete seinen Schlips. "Scheiß drauf...", murmelte er.
"Dann starren sie wenigstens nicht länger auf dein geschmackloses Unterhemd", schnarrte eine Frauenstimme von der anderen Tischseite. Eine sachlich klingende Frauenstimme mit einem sarkastischen Unterton. Die Stimme von Lilian Benson, Carols ein Jahr jüngerer Schwester und die Mutter des Kleinen. Eine zierlich Frau mit kurzen, schwarzen Haaren. Ihrer Mutter Viola wie aus dem Gesicht geschnitten.
"Und auf deine ständig brennende Zigarette," zeterte Viola, "und auf diese abscheuliche Jacke aus den Flegeljahren deines Vaters..."
Carol steckte die Zigaretten zwischen die Lippen und fasste unter ihre üppigen Brüste. "...und auf meine prächtigen Titten", rief sie laut.
Sie lachte ihr tiefes, rauchiges Lachen und genoss die giftigen Blicke ihrer Mutter und ihrer Schwester.
Auch der smarte Mann neben ihrer Schwester schmunzelte. Streichholzkurze, schwarze Haare, schmales, stoppelbärtiges Gesicht, weißes Jackett. Dr. Charles Benson, chirurgischer Oberarzt am Beekman Downtown Hospital in Manhattan. Und nebenbei Schwiegersohn der Harpers.
Carol hatte ein paar Wochen lang mit ihm gevögelt, bevor sie ihn ihrer Schwester überlassen hatte.
"Übertreib's nicht, Carol", knurrte Wes. Mehr sagte er nicht. Er hatte es aufgegeben seine Älteste erziehen zu wollen und war schon froh, wenn sie bei Feierlichkeiten wie dieser nicht öffentlich eine Pfeife anzündete oder einen Streifen Koks schnupfte.
Der Knirps im Gras packte die Katze am Schwanz und zog sie zu sich heran. Das Tier fauchte und schrie jämmerlich. Lilian sprang auf und lief ins Gras. "Nicht doch, Darling! Das tut dem Kätzchen weh!"
"Wie kann man einem Baby eine Katze zum ersten Geburtstag schenken." Carol verdrehte die Augen.
"Kinder brauchen etwas Lebendiges", behauptete Viola.
"Schon klar, Mom", seufzte Carol. "Sehe ich genauso - sie brauchen etwas Lebendiges. Sie brauchen eine Mutter."
Für Sekunden hielten alle die Luft an. Selbst Benson verging das weltmännische Schmunzeln.
Einer der gefürchteten Seitenhiebe Carols. Keiner am Tisch, den er nicht traf. Luke wurde weitgehend von einem Kindermädchen versorgt. Genau wie die drei Kinder der Harpers von einem Kindermädchen großgezogen worden waren.
"Jetzt ist aber Schluss, verdammt noch mal!", knurrte Wes. Er löste den Knoten seiner Krawatte.
Es war immer das gleiche - seine Familie konnte keine Stunde zusammensitzen, ohne dass nicht kleine Nettigkeiten ausgetauscht wurden. Und regelmäßig artete dieses vertraute Ritual in eine gehässige Beißerei aus. Vor allem, wenn Carol dabei war.
Missmutig drehte er sich um und blickte auf den Hof. Die knapp fünfzig Gäste tanzten zu Johann Strauß Kaiserwalzer, standen plaudernd in kleinen Gruppen zusammen oder belagerten die Tafel mit dem kalten Büfett.
Seit dem frühen Nachmittag plätscherte die Fete vor sich hin. Leute kamen, Leute gingen. Private und offizielle Gäste. Freunde und Bekannte, Kollegen aus dem Bezirksgericht und leitende Beamte des New York City Police Departments.
Selbst ein Vertreter des Bürgermeisters war gekommen und hatte ihm in einer kurzen Rede zum dreiundfünfzigsten Geburtstag und zum zwanzigjährigen Dienstjubiläum gratuliert.
Gestern vor genau zwanzig Jahren hatte Wesley Harper beim Manhattaner Bezirksgericht angefangen. Als kleiner Beamte der Staatsanwaltschaft. Heute war er der leitende Richter des Gericht.
Wesley zog sich die Krawatte aus dem Hemdkragen und warf sie auf den Tisch. "Ich will jetzt Walzer tanzen. Und zwar mit dir, Carol."
"Du wirst doch den Rest des Abend nicht etwa ohne Schlips herumlaufen!" Viola, seine Frau schien ernsthaft erschrocken zu sein über diese Aussicht.
Carol lachte trocken, und Wesley winkte ab. "Scheiß drauf. Kannst mir ja einen aus dem Haus holen." Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Haus an der Längsseite des Hofes.
Ein prächtiges, efeubewachsenes Gebäude aus unverputzem Buntsandstein und mit großen Rundbogenfenster. Palmen in dunklen Holzkübeln flankierten die beiden Flügel des hölzernen Eingangsportals. Eine dritte stand mitten im Hof.
Er bewohnte es mit Viola und Oliver, ihrem achtzehnjährigen Sohn. Von der Rückfront aus hatten sie einen fast freien Blick auf den East River hinunter und hinüber auf die Skyline Manhattans.
Das gegenüberliegende Haus zur Cranberry Street hatte er zur Hälfte vermietet. An einen Frauenarzt und einen Architekten. In der anderen Hälfte residierte seine Frau Viola und ihre Partnerin Angela Chassedy. Die beiden Frauen betrieben dort eine erfolgreiche Rechtsanwaltskanzlei.
Das Gebäude auf der Schmalseite des Hofes wurden von Wesleys Tochter Lilian und ihrem Mann bewohnt. Auf der gegenüberliegenden Schmalseite war der Hof durch einen kleinen Gartenpavillon und den gusseisernen Zaun vor den Ulmen begrenzt.
Vor zwölf Jahren hatte Wesley das Anwesen gekauft und restaurieren lassen. Eine ehemalige Spedition aus der Zeit, als die Bierfässer noch mit Pferdegespannen angeliefert wurden.
"Los, Carol, jetzt wird getanzt." Er zog seine Tochter aus dem Stuhl und warf einen zärtlichen Blick hinter sich auf seinen Enkel. Die Katze hatte sich die Pfauenfeder geschnappt und huschte durch das Gras auf den Zaun zu. Luke krabbelte ihr hinterher.
Sie mischten sich unter die anderen Tanzenden. "Wann zum Teufel wirst du es endlich lernen, deine scharfe Zunge im Zaum zu halten..." Wesley seufzte und drückte seine Tochter an sich.
Sie fühlte sich fest und straff an. Vollbusig, mit breitem Hüften und nicht einmal einen Kopf kleiner als der hünenhafte Wesley hatte sie nichts von der Zierlichkeit ihrer Mutter.
"Nie", lachte die Fünfundzwanzigjährige. "Ich werd' noch eine Menge lernen - aber das nie."
Lächelnde Gesichter um sie herum. Die tanzenden Paare schwangen sich im Rhythmus des Walzers um die große Palme mitten im Hof. Wesley nickte freundlich nach allen Seiten, während er mit Carol über den Hof tanzte. Die verstohlenen Blicke auf seine verrückte Tochter entgingen ihm nicht. Aber sie waren ihm herzlich gleichgültig. Er war froh, dass Carol sich überhaupt noch die Mühe machte aus SoHo herüber nach Brooklyn zu fahren, um ihre Familie zu besuchen.
Wesley kannte den Grund - ihre abgöttische Liebe zu ihm. Diese Liebe zueinander war nicht das einzige, was Wesley mit seiner ältesten Tochter gemeinsam hatte. Auch das wusste er. Und weil er es wusste, hatte sie fast völlige Narrenfreiheit bei ihm.
Auch Lilian und ihr Doktor hatten sich inzwischen unter die Tanzenden bequemt. Wesley hatte seine Mühe mit Charles Benson. Der Arzt war ihm zu glatt, zu wohlerzogen, zu arrogant. Er mochte keine Leute, die so taten, als bräuchte man nur die vierzehnhundert Gramm Hirn unter der Schädeldecke korrekt zu gebrauchen, um alles im Griff zu haben.
Wesley beobachtete, wie sich zwei Paare zu Viola gesellten, die allein am runden Tisch zurückgeblieben war. Einer musste ja das Kind im Auge behalten.
Wesley versuchte seinen Enkel im Gras vor dem Zaun auszumachen. Halbverdeckt von Tischbein und Stühlen sah er ihn die Katze mit der Pfauenfeder traktieren.
Hoffentlich würde das drollige Vieh nicht auf die Idee kommen ins Nachbargrundstück zu entwischen. Die VanHaarens hatten einen Garten wie einen Urwald - schier undurchdringlich. Ein Labyrinth für eine junge Katze.
Ein Blick auf die fast kniehohe Fundamentmauer des gusseisernen Zauns beruhigte Wesley - zu hoch für Lukes vierbeinige Spielgefährtin.
Der letzte Takt des Kaiserwalzers verklang. Wesley sah sich nach der Stereoanlage im offenen Fenster des Büros seiner Frau um. Niemand machte Anstalten eine neue Scheibe aufzulegen.
Sein Blick suchte Spencer Bush. Sein Freund, der Chefankläger am Manhattaner Bezirksgericht, hatte eigentlich den Job des Disc Jockeys übernommen. Doch statt sich um neue Musik zu kümmern zwinkerte er Wesley verschmitzt zu.
Das Portal zwischen den Palmen öffnete sich. Ein junger Mann in Richterobe und mit einem dicken Buch unter dem Arm trat auf den Hof. Oliver Harper, Wesleys Jüngster.
Hinter ihm, ebenfalls in schwarzer Robe, Angie, die Partnerin Violas. Selbst in dem altertümlichen weiten Gewand sah die blonde Frau verführerisch schön aus.
Angeführt von Perry Sheridan, dem pensionierten Chefankläger des Manhattaner Bezirksgerichtes, traten zwölf Männer und Frauen aus dem Haus. Alles Freunde und Bekannte der Harpers. Wesley begriff: Die Geschworenen.
"Wir eröffnen die Verhandlung gegen Wesley Harper!", rief Oliver mit todernster Stimme. Wesley schmunzelte. Nicht ohne Stolz betrachtete er seinen Sohn. Der Junge besuchte das Brooklyn College in Benson Hurst. Er wollte Jurist werden und in die Fußstapfen seines Vaters treten. Genau wie Wesley in die Fußstapfen seines Vaters getreten war.
Ohne seinen Vater wäre Wesley heute nicht das, was er war. Und Wesley würde dafür sorgen, dass Oliver eines Tages sein würde, was er werden wollte. Richter.
"Ich verlese die Anklagepunkte!" Oliver schlug das Buch auf. "Dem Angeklagten wird vorgeworfen, seine Mitarbeiter durch lautes Fluchen zu erschrecken und den Ruf des ehrwürdigen Bezirksgerichts von Manhattan durch hemmungsloses Singen von Frank-Sinatra-Liedern während der Dienstzeit zu beschädigen."
Feixen auf den Gesichtern der Gäste. Einige kicherten.
"Weiter wird ihm vorgeworfen, seine Angehörigen und engsten Freunde durch lebensgefährliche Hobbies in Angst und Schrecken zu versetzen: Fallschirmspringen, Bergsteigen und Tiefseetauchen." Gelächter wurde laut. Ein paar Leute klatschten und wurden von Oliver zur Ruhe ermahnt. Dann ging es im gleichen Tenor weiter.
Seine Abneigung gegen lange Sitzungen, sein Pünktlichkeitsfanatismus, sein ungeheurer Kaffeekonsum - alles wurde zur Sprache gebracht. Sogar seine heimlichen Zigaretten auf der Toilette und seine Vorliebe für junge Sekretärinnen.
Lautes Gelächter unter den Gästen. Wesley schmunzelte tapfer. Im Nacken spürte er Violas Blicke. Die Sache mit den Sekretärinnen konnte ihr nicht gefallen.
"Sie werden dich freisprechen", flüsterte Carol ihm zu. "Und dich als den menschlichsten Richter, den das Bezirksgericht je hatte für den Bürgermeisterposten vorschlagen."
"Warum nicht gleich als demokratischen Präsidentschaftskandidaten?", murmelte Wesley. Er war gespannt, was sein Filius und die quirlige Angie sich noch alles ausgedacht hatten.
Zunächst aber war er selbst am Zug. "Soweit die Anklageschrift. Dem Angeklagten steht es nun frei, sich zu diesen Vorwürfen zu äußern." Oliver Harper schlug das Buch zu. Auf seinem breiten Jungengesicht ein schelmisches Grinsen.
Alle Augen richteten sich auf Wesley Harper. Der räusperte sich und trat in die Mitte des Halbkreises, der sich um Oliver und Angie gebildet hatte. "Zunächst einmal danke ich dem hohen Gericht, den Damen und Herren Geschworenen und den hochverehrten Gästen dieser festlichen Gerichtsverhandlung, dass sie mir überhaupt soviel Aufmerksamkeit widmen. Und mir sogar das Wort erteilen, obwohl ich doch halbnackt hier vor euch erscheine..."
Er deutete auf seinen offenen Hemdkragen. "...ohne Krawatte!" Schallendes Gelächter. "Scheinbar habt ihr ja das alte Raubein Wesley Harper doch irgendwie gern, sonst hättet ihr ja heute nicht Schlange gestanden, um mir zu gratulieren und mit mir meinen Weinkeller zu leeren und dieses leckere Büfett wegzuputzen."
Gelächter und Beifall. Vereinzelte Hochrufe wurden laut.
Wesley war in seinem Element. Ganz die sympathische, überlegene Vaterfigur, die es gewohnt ist im Mittelpunkt zu stehen, schlug er die Zuhörer in seinen Bann.
"Und nun zu den Anklagepunkten. Selbstverständlich bekenne ich mich in jedem Punkt für schuldig. Und zwar mit dem größten Vergnügen..." Allgemeine Erheiterung und Beifall. "...oder in fast jedem Punkt. In der Tat schätze ich nichts mehr, als eine gute Sekretärin. Aber sagt mal selber - kann ich etwas dafür, wenn die besten Sekretärinnen zufällig auch die hübschesten sind...?"
Die ganze Gesellschaft lachte laut. Die beiden blutjungen Sekretärinnen des Richters erröteten.
Die einzige, die nicht lachte, war Viola. Mit wächserner Miene hockte sie noch immer am runden Tisch unter den Ulmen.
"Und was meine Hobbies betrifft..." Wesley breitete die Arme aus und machte ein bekümmertes Gesicht. "Ich ahnte ja nicht, dass ihr euch soviel Sorgen um mich macht. Aber mal ganz ehrlich - ihr wisst doch alle, wie unausstehlich ich werden kann, wenn ich mich langweile..."
Wieder Gelächter und anhaltender Beifall.
"Ein besonders schlechtes Gewissen habe ich - ich gestehe es - wegen Frankieboys Liedern..." Das Kind schrie. Wesley unterbrach sich und sah zum Rasenstück vor den Ulmen hinüber.
Viola war aufgesprungen, um den Kleinen zu beruhigen. "...unverzeihlich einseitig, ich gebe es zu", fuhr Wesley fort. "Und ich verspreche, mir schleunigst ein paar Scheiben von Queen, Madonna und Michael Jackson zu besorgen, um mein Repertoire zu..."
Viola kreischte so laut, dass ihm der Rest des Satzes im Hals stecken blieb. Alle Köpfe fuhren herum und starrten hinüber zu ihr. Sie stand auf dem Rasen unter den Ulmen, nahe am Zaun. Die Handflächen gegen die Wangen gepresst, blickte hinunter auf das plärrende Kind und wollte gar nicht mehr aufhören zu schreien.
Die Männer und Frauen, die mit ihr am runden Tisch gesessen hatten, sprangen auf und liefen zu ihr. Als würden sie gegen ein Mauer prallen, blieben sie hinter ihr stehen. Zwei der Frauen stimmten ebenfalls ein hysterisches Geschrei an.
Wesley spurtete los. "Was zum Teufel ist passiert!?", brüllte er. Lilian und ihr Mann hinter ihm her. Mit zwei Schritten setzte der Richter über den Rasen.
Der Kleine streckte schreiend beide Arme nach ihm aus. Die Hände waren blutverschmiert. Wie eine Messerklinge schnitt Wesley der Schock ins Herz. Unfähig zu atmen, unfähig sich zu bewegen, stand er für einen Augenblick wie festgewachsen.
Seine Augen weiteten sich - Blutspritzer auf dem blauweiß gestreiftem Matrosenhemdchen, Blutflecken auf dem hellblauen Höschen, und zwischen den Schenkelchen des Babys ein blutiges, pelziges Etwas... ein Katzenkopf.
"Himmel", krächzte Wesley. Er beugte sich zu seinem Enkel hinab. "Mein armes Lukiebaby..." Über ihm heulten Viola und zwei andere Frauen. Lilian stand nur stocksteif da und schien nichts zu begreifen. Wesley nahm das Kind hoch. Der Katzenkopf kullerte ins Gras. Blutverschmierte Händchen klammerten sich in Wesleys weißes Hemd.
Sein Schwiegersohn, Charles Benson, kniete sich neben dem Katzenkopf ins Gras. Mit der Pfauenfeder wendete er den blutigen Fellklumpen hin und her. "Glatt abgetrennt", murmelte er.
"So eine gottverdammte Sauerei!", zischte Carol.
Angewidert wandte Wesley sich ab. Das Kind schrie aus Leibeskräften. Wie ein Äffchen in höchster Panik klammerte es sich an ihn.
Eine Mauer aus festlich gekleideten Menschenleibern versperrte Wesley den Weg in den Hof. Vierzig, fünfzig blasse Gesichter. Stumm blickten sie auf den Katzenkopf im blutigen Gras.
Gleich in der ersten Reihe sein Sohn Oliver. In schwarzer Richterrobe und das dicke Buch wie ein Schutzschild vor die Brust gepresst.
Wesley sah, dass es eine Bibel war...
*
Niemand war so taktlos, gleich nach dem Vorfall nach Hause zu gehen. Die Gäste der Harpers standen in kleinen Gruppen zusammen. Empörten sich über die geschmacklose Grausamkeit, spekulierten über mögliche Täter. In Brooklyn Heights war man derartigen Vandalismus nicht gewohnt.
Niemand aß mehr etwas, niemand legte Musik auf.
Hinter vorgehaltener Hand einigte man sich auf eine Rachetheorie. Irgendein Krimineller, den Wesley hinter Gitter gebracht hatte, wollte dem Richter sein Jubiläumsfest versauen.
Das war ihm gründlich gelungen. Nach und nach löste sich die Festgesellschaft auf. Nicht einmal eine Stunde nach dem widerlichen Vorfall.
Wesley, sein Freund Spencer Busch, sein Sohn Oliver, und sein Schwiegersohn Charles Benson lehnten eine Leiter gegen den Zaun unter den Ulmen und kletterten auf das Nachbargrundstück. Bis zum Einbruch der Dämmerung durchkämmten sie den Garten.
Sie fanden nichts. Auch nicht den Torso des toten Kätzchens. Nur ein paar Blutspuren.
Später hockten sie um den runden Tisch auf dem Rasen unter den Ulmen. Die Familie Harper und zwei, drei enge Freunde. Auf dem Tisch brannten ein sechsarmiger Kerzenleuchter. Es war dunkel, und Mücken schwirrten um das flackernde Kerzenlicht.
Das Baby schlief auf Wesley Schoß. Oliver trug noch immer die Richterrobe, und Angie das Gewandt der Staatsanwältin. Auf dem Tisch lag das dicke Buch.
"Du musst die Polizei verständigen, Wes", sagte Viola. Ihre dünne, zitternde Stimme sprach Bände - sie stand noch immer unter Schock. Wesley schüttelte missmutig den Kopf.
"Viola hat recht, Wes", mischte Spencer Bush sich ein. "So eine bodenlose Gemeinheit muss bestraft werden."
"Die Cops könnten die Nachbarn abklappern", sagte Charles Benson. "Vielleicht hat irgend jemand etwas beobachtet."
Wesley winkte ab. "Und morgen liest dieses Schwein mit vor Stolz geschwellter Brust in der NewYork Post, dass es ihm gelungen ist, eine Festgesellschaft zu sprengen..."
"Das wird er auch in der Zeitung lesen, wenn du die Bullen nicht einschaltest." Carol sog an ihrer Zigarette. "Oder glaubst du, einer von den Leuten, die heute hier waren und diese Schweinerei gesehen haben, wird mit seinen Nachbarn in den nächsten Tagen über das Wetter reden?"
"Scheiß drauf...", knurrte Wesley. Es klang nicht besonders überzeugend.
"Bitte, Wes", flehte Viola. "Ich fürchte mich plötzlich..."
Wesley antwortete nicht. Er betrachtete die Bibel neben dem Kerzenleuchter. Dann sah er seinen Sohn an. Der hatte seit dem abrupten Ende der kabarettistischen Gerichtsverhandlung den Mund nicht mehr aufbekommen.
"Los, Oliver!" Wesley versuchte einen schnoddrigen Ton anzuschlagen. "Sag mir, was für ein Urteil du deinem Dad zugedacht hattest!"
Der Junge schluckte. "Vergiss es, Dad..."
*
Zwei Wochen Urlaub. Nichts besonderes eigentlich. Jeder macht mal Urlaub, und erlebt so dies und das bei der Gelegenheit. Warum also davon erzählen?
Wegen der alten Inianerin in Abilene.
Aber hübsch der Reihe nach.
Wir hatten also Urlaub. Milo und ich. Zwei Wochen. Es kommt sehr selten vor, dass mein Partner und ich zur gleichen Zeit Urlaub machen. Aber in diesem hatte es sich so ergeben. Jedenfalls während dieser zwei Wochen im Spätsommer.
Der Entschluss, gemeinsam etwas zu unternehmen, fiel spontan. Im North Star Pub, unserer Lieblingsbar am Sea Port. Es war im Frühjahr gewesen. Wir hatten gerade eine ziemlich üble Sache durchgestanden. Ein gerissener Bursche hatte versucht, ehemalige Komplizen aus der Gefängnisinsel Riker's Island zu befreien. Wir hatten eine Menge riskiert, um ihn daran zu hindern.
Um genau zu sein: Wir hatten unsere Haut riskiert.
Milo war nicht besonders gut drauf, als wir am Abend im North Star Pub den glücklich durchgestandenen Fall feierten. Oder feiern wollten. Denn wie gesagt: Milo war nicht gut drauf. Die Kämpfe der zurückliegenden Tage steckten ihm noch in allen Knochen. Und die richtige Feierstimmung ließ zu wünschen übrig.
"Weißt du eigentlich, dass ich, wenn ich von dir träume, dich immer nur in Schlips und Kragen und mit dem verdammten Schießeisen am Hintern vor mir sehe?", sagte er nach dem zweiten Budweiser.
"Ich war noch nie dabei gewesen. Woher soll ich's also wissen?" Dass mein Partner manchmal von mir träumte, war mir neu. Aber eigentlich normal, wenn man tagaus, tagein zusammenarbeitet. Oder?
"Manchmal auch mit Sturmhaube und kugelsicherer Weste", fuhr Milo unbeeindruckt fort. "Oder in Kampfanzug und mit einem Schnellfeuergewehr..."
"Jetzt übertreib's mal nicht, Partner."
"Ich würd' dich gern längere Zeit als Privatmann erleben. Ohne Schießeisen, ohne Schlips - in Jeans und Unterhemd, in Shorts oder Badehosen vielleicht, und ohne ein Wort über unseren Job zu verlieren." Milo lächelte wehmütig in sich hinein. Die Idee schien ihm zu gefallen. "Wenigstens ein oder zwei Wochen am Stück."
"Da wirst du dich noch ein Weilchen gedulden müssen, Partner. Bis zu meiner Pensionierung gehen noch ein paar Jährchen ins Land. Und ob ich die je erleben werde, wenn wir so weiter machen...?"
"Wir sollten mal zusammen in Urlaub fahren." Milo schien gar nicht zuzuhören. "Das wär's doch."
Und schon war die Idee geboren. Der Chef hatte nichts dagegen, gleich zwei Agenten auf einmal in Erholung zu schicken, und Milo buchte zwei Zimmer in einem kleinen Hotel in Port Washington. Das liegt zwischen Milwaukee und Green Bay am Westufer des Lake Michigan.
Bis zum letzten Arbeitstag rechnete ich damit, dass uns die Kundschaft einen Strich durch die Rechnung machen würde. In dieser Hinsicht bin ich ein unverbesserlicher Pessimist. Aber in dem Fall zu Unrecht - an einem Samstagmorgen Ende August landeten wir in Milwaukee, Wisconsins, und am gleichen Nachmittag bezogen wir unsere Hotelzimmer in Port Washington. Zimmer mit Seeblick.
Ich hatte mir meine ältesten Jeans eingepackt. Turnschuhe trug ich, und unter einer alten Fliegerjacke Feinripp-Muskelshirt. Milo war zufrieden mit mir.
Am zweiten Tag nieselte es. Am dritten Tag Gewitter und Platzregen. Und der Wetterbericht erklärte den Sommer in dieser Gegend der Staaten für beendet.
Nichts war es mit Strandflirt, Surfen und Wasserskifahren. Und man kann nicht zwei Tage am Stück angeln. Jedenfalls ich kann das nicht.
"In Kansas City soll es ein paar absolut heiße Jazz Clubs geben", sagte Milo am vierten Tag nach dem Frühstück. Vor den Hotelfenstern prasselte der Regen auf die Seeterrasse.
Kansas City liegt zwar gut siebenhundert Meilen Luftlinie von Milwaukee entfernt, aber warum soll man sein Leben dahingehen lassen, ohne einen absolut heißen Jazz Club in Kansas City gesehen zu haben? Also stiegen wir ins Flugzeug und flogen nach Kansas City.
Volltreffer. Zwei Tage und drei Nächte wandelten wir auf den Spuren Duke Ellingtons und Charly Parkers in den einschlägigen Clubs auf der Missouri-Seite der Stadt. Wir hatten eine Menge Spaß, lernten interessante Leute kennen und kamen drei Nächte lang kaum ins Bett.
Und dann - wie es eben so geht - fiel mir in einem dieser absolut heißen Jazzclubs ein Plakat ins Auge: Old Abilene Town. Die alte Cowboystadt zur Zeit des Viehbooms. Feuergefechte, sonntags 14.45 und 16.00 Uhr, 15.00 Uhr Original Can Can.
Habe ich gelegentlich erwähnt, dass ich alles über amerikanische Geschichte lese, was ich in die Finger kriege? Vor allem natürlich Bücher über die letzte Hälfte des vergangenen Jahrhunderts - die Zeit des Wilden Westens.
Jedenfalls durchzuckte es mich heiß, als ich das Stichwort Abilene las. Abilene, the Queen of Cowtowns mit ihren beiden legendären Marshals John Smith und Wild Bill Hickok....
Ich machte Milo auf das Plakat aufmerksam. "Willst du hinfahren?", fragte er. Es war ein Samstagnachmittag, unser achter Urlaubstag.
Warum soll man sein Leben dahingehen lassen, ohne wenigstens einmal in Abilene gewesen zu sein?
Noch am gleichen Tag mieteten wir einen BMW - das riss zwar ein unwiederbringliches Loch in unsere Urlaubskasse, aber man gönnt sich ja sonst nichts. Am nächsten Morgen nahmen wir die knapp hundertfünfzig Meilen nach Abilene, Kansas unter die Reifen.
Unterwegs durchquerten wir ein ödes Provinznest - es hieß Manhattan und wir bogen uns vor Lachen...
Wir kamen früh genug nach Abilene, um noch ein kräftiges Mittagessen zur Brust zu nehmen und mal wieder in einer Tageszeitung herumzuschnüffeln.
"Sagt dir der Name Harper etwas?", wollte Milo wissen. Er hatte eine New York Post erwischt.
"Was für eine Frage!" Ich spielte den Empörten. "Ein frommer Mann, nach dem eines der wichtigsten Dörfer der Welt benannte wurde - Harpersvillage...
"Ich weiß, ich weiß", wiegelte Milo ab. "Ein gewisser Jesse Trevellian wurde dort geboren - aber ich meine einen weniger wichtigen Mann: Wesley Harper, leitender Richter am Manhattaner Bezirksgericht."
"Hatten wir schon zu tun mit, glaub' ich..."
"Dem haben sie während einer Jubiläumsfeier die Katze geköpft und den Schädel seinem Enkel in den Schoß gelegt. Soll ich vorlesen?"
"Bloß nicht." Ich überflog gerade den Sportteil von USA TODAY.
Nach dem Essen nach Old Abilene Town. Dort hatten sie einen ganzen Straßenzug der Stadt originalgetreu dem Abilene während der Zeit John Smiths nachgebildet. Man konnte eine Viehverladestation besichtigen, das Office des Town Marshals, und einen Saloon. Gegen ein Eintrittsgeld natürlich.
Ein paar finster dreinblickende Gestalten betraten den Saloon - mit Munition gespickte Patronengurte um die Bäuche, Revolver in Hüftholstern, breitkrempige Stetsons. Sie lieferten sich eine filmreife Schlägerei in dem Saloon und duellierten sich anschließend auf der Straße. Mit Platzpatronen selbstverständlich.
Alles ein bisschen kitschig, aber sehr eindrucksvoll. Der Wild-West-Enthusiasmus meiner Kindertage spreizte die Flügel und ich war zufrieden.
"Das kannst du in Manhattan umsonst haben", knurrte Milo. "Und mit echten Patronen."
"Was du nicht sagst..."
Anschließend ging es in die Can Can Show. Die spärlich bekleidetenTänzerinnen schmissen ihre langen Beine hoch und zeigten auch sonst recht freimütig, was sie hatten. Milo neigte den Kopf zur Seite und lächelte andächtig. Die Vorstellung gefiel ihm besser, als die Schießerei.
Über gute Freunde kann man auch während eines gemeinsamen Urlaubs nicht viel Neues lernen...
Milo zerrte mich dann ins Eisenhower Center - tatsächlich: Unser verstorbener Präsident war ein Sohn dieser einst so wilden Stadt! - was mich nicht besonders interessierte. Und ich schleppte ihn zur Gedenkstätte des ersten Marshals von Abilene, John Smith. Das wiederum langweilte Milo.
Wenigstens hörte er höflich zu, als ich ihm erzählte, was ich von dem berühmten Marshal wusste.
Der gebürtige Engländer war Berufsboxer gewesen, bevor er 1870 das Amt des Town Marshals von Abilene antrat. Mit bloßen Fäusten zähmte er die wilden Kuhhirten aus Texas. Er verbot das Tragen von Waffen in Abilene, und trug prinzipiell selbst keine. Dabei setzte er auf den ungeschriebene Ehrenkodex der Texaner, das man nicht auf unbewaffnete Männer schoss. Die Texaner wiederum hielten nichts von Faustkämpfen. Also zogen sie den Kürzeren gegen den Marshal. So einfach ging das damals.
Bis Smith eines Tages zwei Killern in die Arme lief. Unbewaffnet, wie immer... Einer schoss auf ihn, der andere schlug ihm von hinten ein Beil in den Schädel.
"Soviel zum Thema Prinzipientreue..." Milo schüttelte den Kopf. "Und jetzt hab' ich Durst."
Manchmal möchte man seinen Glauben an den Zufall aufgeben. An diesem Sonntag zum Beispiel. Dem neunten Tag unseres Urlaubs. Wir gingen zurück in den Original Wild West Saloon aus John Smiths Tagen, weil dort auch Bier gezapft wurde. Und stolperten ihr gewissermaßen über die Füße. Jener Indianerin von Abilene.
Sie hockte am hintersten Tisch des Saloons vor einer Flasche Whisky. Sie trug keine Feder oder dergleichen in ihrem langen Grauhaar, hatte aber ein buntbesticktes Gewandt an, wie ich es schon auf Fotos von Apachen oder Navajos gesehen hatte.
Sie rauchte eine Pfeife, und ihr Gesicht erinnerte mich an das Gesicht einer gerade ausgewickelten Mumie. Ihre nackten Füße steckten in schmutzigen, ausgelatschten Adidas-Sportschuhen, deren ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war.
Die Greisin war an sich schon eine auffallende Erscheinung. Unsere Neugier entzündete sich vor allem an den Männer und Frauen, die sich um ihren Tisch drängten.
Wir beobachteten die Szene von der Theke aus, wo wir saßen. Der Wirt hörte uns über die Frau sprechen. "Eine Verrückte", erklärte er. "Für ein paar Dollar dichtet sie dir etwas über deine Zukunft zusammen."
Eine halbe Stunde saßen wir bei unserem Bier, betrachteten die Indianerin und ihre Kundschaft und lauschten dem Gemurmel an ihrem Tisch. Mehr als ein paar Gesprächsfetzen konnten wir nicht verstehen.
Irgendwann rutschte Milo vom Barhocker. "Das reizt mich..." Er gesellte sich zu der Gruppe um die Wahrsagerin. Zunächst hörte er nur zu. Schließlich nahm er auf dem freiwerdenden Klientenstuhl ihr gegenüber Platz.
Milo als Ratsuchender bei einer Schamanin - das wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich nahm mein Glas und stellte mich neben den Tisch. Die Alte beäugte Milo misstrauisch. "Also, dann erzählen Sie mir mal was über meine Zukunft", grinste mein Partner.
"Blödsinn", krächzte die Indianerin. "Deine Zukunft ist deine Sache. Ich kann dir höchstens ein paar Dinge sagen, die für dich wichtig sind."
"Was für Dinge?", wollte Milo wissen.
"Dinge, die ich sehe."
"Wie sehen Sie diese Dinge?"
"Ich sehe Sie, basta."
Milo nickte langsam. "Gut. Dann legen Sie los."
Die Greisin deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Holzschale am Rand des Tisches. "Fünf Dollar." Milo legte eine Fünf-Dollar-Note in die Schale.
Die Indianerin sog ein paar Mal an ihrer Pfeife und nahm einen tiefen Zug. Sie blies den Rauch zuerst an die Decke, dann auf den Fußboden und zuletzt in Milos Gesicht.
Danach ergriff sie seine Hand, schloss die Augen und murmelte ein paar Sätze in einer unbekannten Sprache. Anschließend ließ sie Milo in einen Lederbeutel fassen und ein paar mit Schnitzereien verzierte Knochenstückchen herausfischen.
Sie breitete die Knochen auf dem Tisch aus und blies das Zeug ebenfalls mit dem Rauch aus ihrer Pfeife an. Murmelnd beugte sie sich darüber. Konzentriert betrachtete sie die Knöchelchen, als hoffte sie einen Diamanten darunter zu finden. Schließlich lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und musterte Milo.
"Und? Was sehen Sie?" Ich kenne meinen Partner lange genug. Und sehr gut. Sein Tonfall war eindeutig: Er betrachtete die Sache als einen großen Spaß.
Die Indianerin nicht. Sie schwieg und ihre kleinen Augen schienen sich in Milos Stirn bohren zu wollen. "Du musst höllisch aufpassen, Junge", krächzte sie schließlich.
"So was hab' ich schon befürchtet." Milos Mundwinkel zuckten.
"Stell mir eine Frage", forderte die Alte ihn auf.
"Werde ich noch ein paar schöne Urlaubstage erleben?"
"Nein."
"Schade. Was sehen Sie denn?"
Die Alte antwortete nicht gleich. Sie griff nach der Whiskyflasche und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. "Was bist du von Beruf?", fragte sie, während sie die Flasche zurück auf den Tisch knallte.
"Ich züchte Yorkshire Terriers."
"Das kannst du deiner Großmutter erzählen."
Milos Augenbrauen wanderten Richtung Haaransatz. "Was sehen Sie denn?"
"Ich sehe ein paar Menschen. Menschen, die verflucht sind."
"Das ist ja schrecklich!" Milo versuchte krampfhaft nicht zu grinsen.
"Und ich sehe eine Frau."
"Nicht schlecht."
"Eine unanständige Frau."
"Na, prächtig!"
"Du wirst ihr aus dem Weg gehen, oder du wirst mit ihr untergehen."
Darauf fiel Milo nichts ein. "Und sonst?"
"Sonst nichts."
Die Indianerin zog an ihrer Pfeife. Die kleinen Äuglein in ihrem Leguan-Gesicht klebten an Milos Miene. Das Grinsen darauf wirkte etwas bemüht. "Dann war's das wohl", sagte er. Die Alte nickte schweigend.
Milo stand auf. "Besten Dank, Madame." Er stellte den Stuhl an den Tisch und nickte der Greisin freundlich zu. Gemeinsam gingen wir zurück zur Theke.
"Pass gut auf dich auf, G-man!", rief die Indianerin ihm laut hinterher. Sämtlich Köpfe fuhren herum. Neugierige Blicke trafen Milo. Der stand wie vom Donner gerührt. Und ich auch, ehrlich gesagt.
Wir sprachen nicht viel, während wir zum Parkplatz gingen, auf dem unser Mietwagen stand. Erst als wir das Ortsschild Abilenes passiert hatten, brach Milo das Schweigen.
"Du sagst gar nichts, Partner - wie fandst du denn die Show?"
"Ganz witzig. Bis auf den letzten Satz."
"War schon komisch", Milo schüttelte den Kopf. "Wir haben uns seit Tagen nicht rasiert, tragen speckige Hosen und verschwitzte Shirts, und trotzdem scheint uns der Cop aus den Augen zu schauen."
"Was heißt hier uns", protestierte ich, "dir!"
Anderthalb Stunden lang fuhren wir Richtung Kansas City. Die Skyline der Stadt tauchte vor uns in der Dämmerung auf. Wir tauchten in das Labyrinth der Vororte ein, überquerten die Grenze zwischen Kansas und Missouri - sie verläuft bekanntlich mitten durch Kansas City hindurch - und näherten uns unserem Hotel.
Mein Handy orgelte los. Ich presste das Gerät ans Ohr. "Trevellian?"
"Federal Plaza, McKee." Ich wusste auch ohne Wahrsagerin, dass unser Urlaub zu Ende war. "Sorry, Jesse - ich weiß, Sie hätten eigentlich noch vier Tage. Aber ich brauch' Sie und Milo hier."
"Was liegt an, Sir?"
"Kennen Sie Wesley Harper, den Chefrichter am Bezirksgericht?" Ich bejahte.
"Er fühlt sich bedroht. Jemand hat auf sehr geschmacklose Weise eine Feier in seinem Haus gesprengt. Vielleicht haben Sie von der Sache in der Zeitung gelesen. Eigentlich wollte ich den Fall gar nicht annehmen. Aber der Mann hat ein paar gute Freunde in der Stadtregierung."
"Kann man nichts machen, Sir. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir in New York City gelandet sind."
"Danke, Jesse. Und grüßen Sie Milo."
"Bye, bye Wilder Westen - die Wilde Ostküste ruft." Ich steckte mein Handy ein. Ein paar Tage noch, und ich sollte mir wünschen, es in einem der absolut heißen Jazzclubs Kansas Citys verloren zu haben. "Gruß vom Chef."
"Sag' bloß, der Urlaub ist zu Ende!"
"So ist es Partner, und das hat uns die merkwürdige Prophetin nicht ansehen können."
"Zufall, weiter nichts", knurrte Milo. "Was liegt an?"
Ich erzählte es ihm.
"Das darf doch nicht wahr sein?!" Mein Partner war ernsthaft entrüstet. "Wegen einer lächerlichen Katze! So ein Bullshit! Liegt das überhaupt in unserem Zuständigkeitsbereich?!"
"Angriff auf einen Bundesbeamten..."
"War die Katze verbeamtet, oder was?!"
"Muss ich darauf antworten?"
"Wenn jemand meiner Katze den Hals abschneidet, ist das doch kein Angriff auf mich, zum Teufel!"
"Interpretationssache. Ein paar Leute aus der Umgebung Rudis des Eisernen sehen das nun mal anders. Und unser Rudi wiederum hat gute Freunde in Washington. Also müssen wir ran."
"Der kriegt meine Stimme nicht bei der nächsten Bürgermeisterwahl..."
" Take a walk on the wild side, Partner, um es mit den Worten des alten Rockers zu sagen. Wir fliegen nach New York City und suchen den Katzenmörder. Ich liebe die Abwechslung, die unser Job mit sich bringt!"
Es fiel Milo schwer sich von meiner guten Laune anstecken zu lassen. Er beäugte mich von der Seite und machte ein missmutiges Gesicht. "Du scheinst ja ganz wild auf Arbeit zu sein." Dann seufzte er laut, als würde er sich innerlich in den Hintern treten. "Also gut. Fliegen wir eben nach Hause. Wird sowieso höchste Zeit, dass du dich mal wieder rasierst und dir einen Schlips umbindest..."
*
Vierundzwanzig Stunden später am Konferenztisch unseres Chefs. Jonathan D. McKees vertrautes Gesicht, Mandys Kaffee, einen frisch gereinigten Anzug am Leib, die SIG im Gürtelholster und das Gefühl wieder zu Hause zu sein. Nicht verkehrt.
Man ist eben was man ist. Und ich bin nun mal G-man.
Vor uns auf dem Konferenztisch die mageren Ermittlungsunterlagen der City Police im Falle geköpfte Katze Wesley Harper.
Die Sache stellte sich bei näherem Hinsehen doch bedrohlicher dar, als wir zunächst geglaubt hatten. Da hatte nicht nur einfach einer ein Fest verderben wollen. Der Anlass, der Zeitpunkt, die ganze Inszenierung der Katzentötung schien uns sorgfältig geplant worden zu sein.
"Ich kann mir nicht helfen", sagte Milo. "Aber ein rachesüchtiger Vandale hätte eine Gang engagiert oder die Katze einfach totgeschlagen, oder faule Eier auf das kalte Büfett geworfen. Das hier kommt mir vor wie eine Szene aus einem Horrorfilm."