Kristalladern - Patricia Strunk - E-Book

Kristalladern E-Book

Patricia Strunk

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Beschreibung

Seit Generationen fristen die Ureinwohner der Insel Inagi ihr Leben als Sklaven in den Kristallminen der Gohari. Doch die Kristallenergie droht zu versiegen. Als die siebzehnjährige Ishira ihre besondere Verbindung zur Energie entdeckt, ahnt sie nicht, dass sie dadurch in den Kampf um die Zukunft ihrer Heimat hineingezogen wird. Plötzlich hat sie Visionen von den Drachen, die seit Jahren die Siedlungen bedrohen. Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen und der Energie? Doch der einzige Mensch, dem sie sich anvertrauen könnte, ist der verbitterte Krieger Yaren, der die Drachen unbarmherzig jagt. "Fantastisch und süchtig machend." Stella auf Amazon.de "Wunderbarer Auftakt zu einer epischen Reise." Anna-Lena Spies auf Amazon.de "Ein sehr vielschichtiges Buch, in dem die Figuren mehr sind als nur 'gut' und 'böse'." Caro auf Amazon.de

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Seitenzahl: 596

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Patricia Strunk

Kristalladern

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

KAPITEL I – Schrecken am Fluss

KAPITEL II – Die Lotterie

KAPITEL III – Geheimnisvolles Wispern

KAPITEL IV – Energieschlag

KAPITEL V – Aufbruch

KAPITEL VI – Fels und Kristall

KAPITEL VII – Kanhiros Entschluss

KAPITEL VIII – Unerwartetes Wiedersehen

KAPITEL IX – Im Haus des Heilers

KAPITEL X – Am Wasserfall

KAPITEL XI – Die Saat der Rebellion

KAPITEL XII – Herzensdinge

KAPITEL XIII – Inuyara

KAPITEL XIV – Drachentöter

KAPITEL XV – Tod eines Freundes

KAPITEL XVI – Auf diese Worte habe ich gewartet

KAPITEL XVII – Duell im Gewitter

KAPITEL XVIII – Verhinderte Rettung

KAPITEL XIX – Yarens Geschichte

KAPITEL XX – Über die Palisaden

KAPITEL XXI – Verraten

KAPITEL XXII – Das Herz des Kristalls

KAPITEL XXIII – Unheilvolles Weiß

KAPITEL XXIV – Feldzug ins Ungewisse

PERSONEN

GLOSSAR

DANKSAGUNG

ZUM SCHLUSS

Impressum neobooks

KAPITEL I – Schrecken am Fluss

INAGI

KRISTALLADERN

Patricia Strunk

***

Für meine Eltern

In the fell clutch of circumstance

I have not winced nor cried aloud.

Under the bludgeoning of chance

My head is bloody but unbowed.

William Ernest Henley (‚Invictus‘)

Rumpeln und Quietschen verrieten das Nahen der nächsten Lore. Die beiden Jungen, deren nackte Oberkörper vor Schweiß glänzten, mussten ihre gesamte Kraft aufbieten, um den verbeulten Eisenwagen von den Schienen auf die hölzerne Plattform neben dem Sortiertisch zu schieben. Mit geübtem Griff kurbelte der jüngere die Plattform nach oben, während der ältere, Mikusuki, langsam die Lore kippte. Ein neuer Schwall Kristalle floss auf das Gestell und gab dabei ein melodisches Klirren von sich. Ishira nutzte die kurze Pause, um ihren schmerzenden Rücken zu strecken. Der Tag wollte wieder kein Ende nehmen.

Mikusuki strich sein feuchtes Haar zurück. „Das dürfte für heute die letzte Fuhre sein“, erklärte er erschöpft. So schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden die beiden mit der leeren Lore wieder im düsteren Schlund des Berges.

Vorsichtig verteilten die Frauen die Kristalle auf dem Tisch. Das milchige Licht, das von ihnen ausging, sickerte durch ihre Finger und beleuchtete geisterhaft ihre Gesichter. Ishira klaubte einen der größeren Kristalle vom Tisch und ließ ihn in den Korb hinter ihr gleiten. Erst jetzt sah sie, dass dieser schon beinahe überquoll. Ozami, die direkt neben ihr stand, musste es auch bemerkt haben, doch sie machte keine Anstalten, den Korb zum Ausleeren zu bringen. Im Gegenteil schien sie mit Bedacht nur noch kleinere Kristalle auszuwählen. Ishira unterdrückte eine bissige Bemerkung. Dass Ozami, ein Jahr jünger als sie und so zierlich, dass sie beinahe zerbrechlich wirkte, sich nicht gerade um die Aufgabe riss, die vollen Körbe zu den Wagen zu schleppen, konnte sie nachvollziehen. Aber sie war sie es leid, dass die anderen Frauen stillschweigend von ihr erwarteten, dass sie allein die Körbe ausleerte, nur weil es ihr weniger ausmachte, schwere Lasten zu tragen als den übrigen. Trotzig beschloss sie, es diesmal darauf ankommen zu lassen, und nahm ebenfalls nur noch kleinere Kristalle vom Tisch.

Scharfer Schmerz zuckte über ihre Schultern und entriss ihr einen erschrockenen Aufschrei. Sie hatte nicht gemerkt, dass der Platzaufseher hinter sie getreten war. Sofort machte sich unter den Frauen Anspannung breit. Einige nahmen unwillkürlich eine geduckte Haltung ein oder zogen die Schultern hoch, als wollten sie sich gegen weitere Schläge wappnen. Nur um Ozamis Lippen spielte ein kaum wahrnehmbares Lächeln.

„Wieso bringt keine von euch die vollen Körbe zu den Wagen, ihr faules Pack?“ brüllte der Gohari. Drohend zog er die geflochtene Peitschenschnur durch seine Finger. „Du, Halbblut!“ Er zeigte auf Ishira. „Leer den Korb hinter dir aus, aber ein bisschen schnell!“

Sie biss die Zähne zusammen und hob den Korb auf ihre Schultern. Es war dumm gewesen, sich provozieren zu lassen. Sie hätte sich denken können, dass sie dabei wie immer den Kürzeren ziehen würde.

Der Aufseher beobachtete sie aus schmalen Augen, als wartete er nur darauf, dass sie ihm einen weiteren Grund lieferte, sie zu bestrafen. Ishira legte einen Schritt zu, bevor er sie noch einmal seine Peitsche schmecken ließ. Sie brachte den Korb zum gegenüberliegenden Ende des Minengeländes, wo mehrere mit Stroh und Stoff ausgelegte Wagen standen, und schüttete ihre Last vorsichtig auf die Ladefläche des linken Fuhrwerks. Sorgsam verteilte sie die Kristalle im Stroh, damit sie beim Transport nicht gegeneinanderschlugen und beschädigt wurden.

Ganz in der Nähe erklang das melodische Pfeifen eines Feuerschwanzvogels. Ishira erspähte seine leuchtend orangeroten Schwanzfedern auf dem oberen Ast einer Zeder jenseits der Palisaden, die den Minenvorplatz begrenzten. Noch während sie zu ihm hochsah, breitete er seine Schwingen aus und glitt über die Baumwipfel davon. Sehnsüchtig schaute sie ihm nach, bevor sie seufzend nach der leeren Kiepe griff. Als sie sich umdrehte, fielen ihr zwei Gohari in langen bestickten Gewändern auf, die gerade durch das Tor traten. Auf den ersten Blick hielt sie die beiden für Heiler, doch sie bemerkte ihren Irrtum rasch. Die Männer besaßen keine kahl rasierten Schädel und ihre Obergewänder waren nicht grün, sondern blau wie ein wolkenloser Himmel.

„Was wollen denn Telani hier?“ hörte sie Midori fragen. Das Mädchen hatte die Stimme gesenkt, damit der Platzaufseher, der auf dem Weg zum Tor war, um die beiden Gelehrten zu begrüßen, sie nicht hören konnte.

Ozami zuckte mit den Schultern. „Vielleicht die Minen inspizieren.“

Die Telani wechselten einige Worte mit dem Aufseher. In diesem Augenblick hallte der ersehnte Gongschlag über den Platz, der das Ende des Arbeitstages verkündete. Aus zahlreichen Kehlen stieg erlöstes Seufzen auf. Zusammen mit den übrigen Sortiererinnen ging Ishira hinüber zu den Lagerhäusern, um auf ihre Angehörigen zu warten. Kurz darauf quoll der erste Schwung Hauer und Träger aus dem Bergwerk. Die meisten hatten ihre Tuniken über die Schulter geworfen. Ihre Gesichter waren gerötet und verschwitzt und die Haare klebten auf ihrer nackten Haut. Blass schimmernder Kristallstaub bedeckte ihre Körper und ihre Füße waren beinahe so grau wie der felsige Untergrund. Hier und da war trockenes Husten zu hören, ausgelöst durch den feinen Kristallstaub, der in der Mine allgegenwärtig war. Er hing in der Luft, haftete an der Haut, setzte sich in der Kleidung ab und drang durch Mund und Nase in den Körper ein.

Ihr Bruder winkte ihr zu. Trotz seiner Erschöpfung grinste er. „Hoi, Nira-Shira!“ Er machte sich oft einen Spaß daraus, ihren Kosenamen auf den Ehrentitel, mit dem die älteren Geschwister angeredet wurden, zu reimen.

Sie grinste zurück. „Hoi, kleiner Bruder.“

„Was heißt hier klein?“ entrüstete sich Kenjin sofort. „Ich bin inzwischen genauso groß wie Hiros Vater.“

Das stimmte. Er hatte zu Beginn des Jahres einen Schuss in die Höhe gemacht und mit seinen kaum dreizehn Jahren Togawa so gut wie eingeholt. Doch der Rest seines Körpers hatte mit diesem Tempo nicht Schritt halten können. Ishira konnte seine Rippen zählen und trotz seiner Muskeln wirkte er schlaksig, als wüsste er nicht recht, wohin mit seinen Armen und Beinen.

Kenjin legte ihr den rechten Arm um die Taille und hob kritisch den Kopf. „Hoffentlich werde ich mal so groß wie du, dann haben es die Gohari schwer, auf mich hinunterzusehen.“

Ishira wuschelte ihm durch sein kurzgeschnittenes schwarzes Haar, was er mit einem unwilligen Laut quittierte. „Warten wir’s ab.“

Im Gegensatz zu ihrem Bruder empfand sie es als Strafe, so groß zu sein. Als wären ihre blauen Augen nicht schon auffällig genug, überragte sie sämtliche Frauen in der Siedlung und auch die meisten Männer. Selbst ihr Freund Kanhiro, für einen Inagiri hochgewachsen, war einen Fingerbreit kleiner als sie.

„Hauptsache, du wirst nicht zu groß, Ken“, sagte dieser lachend. „Sonst können wir mit dir irgendwann nur noch die Stollendecke abstützen.“

Diese Vorstellung brachte Ishira zum Kichern. Kenjin schnitt ihnen beiden ein Gesicht und blies sich beleidigt ein paar widerspenstige Strähnen aus der Stirn, bevor er zu den Lagerhäusern hinüber stapfte, wo die Arbeitsgeräte verwahrt wurden. Dort hatte sich bereits die übliche Schlange gebildet. Sobald auch Kanhiro und sein Vater ihre Spitzhacken dem Aufseher überreicht hatten und dieser ihre Namen auf seiner Liste abgestrichen hatte, machten sie sich auf den Weg zum Ausgang. Vor dem Tor stand der Platzaufseher. Die beiden wachhabenden Kireshi nicht eingerechnet, war er allein – die Telani mussten in eines der Verwaltungsgebäude gegangen sein. Seine stechenden Augen musterten die Bergleute, als suchte er jemanden. Sofort zog sich Ishiras Magen zusammen. Die nervösen Seitenblicke der vor ihr Gehenden verrieten, dass sie mit ihrem Unbehagen nicht allein war. Als sie an dem Gohari vorbeigingen, hielt dieser Kanhiros Vater zurück. „Du bleibst noch. Wir haben mit dir zu reden.“

Er war nicht der einzige, den der Aufseher aus der Menge pickte. Ishira spürte, wie Kanhiro sich neben ihr versteifte. Kenjin drängte sich näher an sie. „Was wollen die Gohari von Togawa, Nira?“ flüsterte er ängstlich.

Sie schüttelte hilflos den Kopf. „Ich weiß es nicht, Ken.“

„Los, los, geht nach Hause!“ befahl einer der beiden Kireshi barsch.

Widerstrebend verließen sie das Minengelände. Die von unzähligen Füßen und schweren Wagen festgestampfte Straße führte von der Mine am Berghang entlang nach Osten und vereinigte sich bald darauf mit dem Weg, der vom zweiten Bergwerk herabführte. Auch die Arbeiter der Ostmine befanden sich auf dem Heimweg. Rufe schwirrten durch die Luft, als sich Freunde und Verwandte zusammenfanden, doch das Lachen klang heute gedämpft. Kanhiros Schritt war verhalten und er warf immer wieder einen Blick zurück.

Ishira legte ihm leicht eine Hand auf den Arm. „Mach dir keine Sorgen, Hiro“, versuchte sie ihn zu beruhigen. „Dein Vater hat sich nichts zuschulden kommen lassen.“ Doch sie wusste selbst, dass die Gohari nicht lange nach Schuld oder Unschuld fragten, wenn jemand sich ihren Unwillen zugezogen hatte. Dann entsann sie sich der Besucher. „Vorhin sind zwei Telani angekommen. Leider konnte ich nicht verstehen, was sie gesagt haben. Denkst du, sie sind wegen der schwindenden Kristallenergie hier?“

„Schon möglich“, erwiderte er geistesabwesend. „Das heißt dann wohl, dass die Gohari es für ein ernstes Problem halten.“

„Vielleicht wollte der Aufseher deshalb mit deinem Vater reden, Hiro“, mischte sich Kenjin ein. „Die älteren Bergleute können wahrscheinlich am besten beurteilen, wie sich der Kristall verändert hat.“

Ishira sah ihren Bruder überrascht an. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass der Aufseher nur ältere Männer zurückgehalten hatte. Aber tatsächlich hatten zuerst die Arbeiter direkt an der Ader gemerkt, dass der Kristall trüber wurde. Inzwischen konnte man es allerdings selbst an den Bruchstücken erkennen.

„Meinetwegen kann die Energie ruhig versiegen“, brummte Kenjin. „Würde den Gohari nur recht geschehen, wenn sie auf einmal im Dunkeln säßen.“ Er grinste frech. „Sollen sie doch zu Feuerschalen und Öllampen zurückkehren.“

Kanhiro und Ishira tauschten einen amüsierten Blick.

Inzwischen hatten sie das Nordwestufer des Flusses erreicht. Während der heftigen Winterregenfälle der vergangenen Wochen war er auf seine doppelte Größe angeschwollen und zum reißenden Ungetüm geworden. Noch immer führte er mehr Wasser als gewöhnlich, aber inzwischen konnte man sich wieder einige Schritte weit hineinwagen. Die ersten Bergleute spülten sich bereits Schweiß und Staub von der Haut. Ein paar Jungen in Kenjins Alter rannten lachend und schreiend an ihnen vorbei und warfen sich aufspritzend in die Fluten.

„Wer zuerst im Wasser ist!“ forderte Ozamis jüngerer Bruder Seiichi Kenjin heraus. Noch im Laufen streifte er sich die wadenlangen weiten Hosen ab.

Ausgelassen lief Kenjin hinter seinem besten Freund her und versuchte ihn zu überholen. Hose und Tunika flogen achtlos auf den felsigen Boden. Gewohnheitsmäßig bückte Ishira sich, um die Sachen ihres Bruders aufzuheben, bevor jemand darauf trat, und legte sie auf einen großen Felsen. Als sie die Hände ins Wasser tauchte, um Arme und Gesicht zu erfrischen, konnte sie nur mühsam ein Frösteln unterdrücken. Das Flusswasser war beinahe das ganze Jahr über schneidend kalt, aber normalerweise war zumindest die Luft angenehm mild. In den letzten beiden Mondläufen waren die Temperaturen jedoch so tief gesunken, dass Ishira manchmal selbst in ihrem Überwurf gefroren hatte, und nur ganz allmählich wurde es wieder wärmer.

Ihr Bruder bespritzte sie übermütig mit einem Tropfenregen und schüttete sich über ihren erstickten Schrei schier vor Lachen aus. Das kalte Wasser brachte ihre Kopfhaut zum Prickeln. Sie wich einige Schritte zurück, bis sie außer Reichweite von Kenjins Attacken war. Kanhiro war inzwischen mit Waschen fertig. Vor Kälte hatten sich die feinen Härchen auf seinen Armen und Beinen aufgerichtet. Von seiner unbehaarten Brust perlte das Wasser und malte Streifen auf seine hellbraune Haut. Er watete zurück ans Ufer und holte seinen Wasserbehälter, um ihn aufzufüllen. Obwohl die dicken Bambusrohre einiges an Flüssigkeit fassten, reichte das Wasser kaum über den Tag, denn die Hitze im Bergwerk trocknete den Körper innerhalb kurzer Zeit aus. Ishira beobachtete, wie ihr Freund das Rohr an die Lippen setzte und in großen Schlucken trank. Mit einem vernehmlichen Seufzen ließ er den Wasserbehälter schließlich sinken und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Inzwischen war auch Kenjin aus dem Wasser gekommen. „Sag mal, Hiro, hilfst du mir bei nächster Gelegenheit, unser Dach zu reparieren? Einige Bündel Stroh sind hinüber. Bei dem Unwetter vor ein paar Tagen hat es in Niras Schlafkammer geregnet.“

„Kenjin!“ schimpfte Ishira. „Kannst du nicht mal etwas alleine machen? – Lass dich nicht von ihm einspannen, Hiro“, fuhr sie, an ihren Freund gewandt, fort. „Mein Bruder wird es wohl schaffen, ein bisschen Stroh auszubessern.“

Kanhiro winkte lachend ab. „Schon gut, ich helfe gerne, Shira. Zu zweit geht es viel schneller.“ Er zwinkerte Kenjin verschwörerisch zu. „Außerdem verdienen wir uns damit beide einen besonders großen Anteil am Mondwendeessen.“

Ishira schüttelte den Kopf. Sie gab sich alle Mühe, ihre missbilligende Miene aufrechtzuerhalten, doch angesichts von Kanhiros unschuldigem Blick zogen sich ihre treulosen Mundwinkel nach oben. „Du bist mir ein schönes Vorbild, Hiro!“

Er lachte reuelos, bevor sein Blick an ihr vorbei zur Straße ging. Auf seinem Gesicht malte sich Erleichterung. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie inmitten einer kleinen Gruppe von Hauern seinen Vater. Togawa hatte sie ebenfalls gesehen und löste sich von den anderen.

Ein entsetzter Aufschrei zerriss die Luft. „Amanori! Da hinten kommen Amanori!“

Beinahe zeitgleich begann im Fort auf der anderen Seite des Flusses der Alarmgong zu scheppern. Aufgeschreckt blickte Ishira zum Himmel. Die Echsen kamen von Norden und waren bereits so nah, dass sie deutlich die hellen Schuppen an Brust und Bauch erkennen konnte, die in den letzten Strahlen der Abendsonne aufglänzten. Es waren drei.

Unter den Bergleuten brach Panik aus. Die meisten rannten kopflos in Richtung Holzbrücke und stießen sich dabei gegenseitig aus dem Weg. Bevor Ishira einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte Kanhiro sie am Handgelenk gefasst und zog sie auf einen der großen Felsen zu, die das Ufer säumten. „Wir bleiben hier. Auf der Brücke haben die Amanori leichtes Spiel mit uns.“ Mit Gesten bedeutete er seinem Vater, gleichfalls in Deckung zu gehen.

Die Echsen hatten sie beinahe erreicht. Über die angstvollen Schreie der Dorfbewohner hinweg hörte sie das Rauschen des Windes in ihren mächtigen Schwingen. Die biegsamen Hälse waren weit vorgereckt. Jeden Moment würden die Amanori ihre Blitze ausstoßen, die einen Menschen innerhalb eines Lidschlags lähmten.

Ein Surren erfüllte die Luft, als die Kireshi auf den Wachtürmen des Forts ihre an überdimensionale Armbrüste erinnernden Geschütze abfeuerten. „Sinnlos“, spottete Kanhiro bitter. „Die Amanori sind außer Reichweite der Pfeile.“

Doch selbst, wenn die Pfeile ihr Ziel gefunden hätten, wären sie am dicken Schuppenpanzer der Echsen abgeprallt, ohne Schaden anzurichten. Ishira war sich nicht einmal sicher, ob menschliche Waffen diesen Geschöpfen überhaupt gefährlich werden konnten. Als sie den Felsen erreicht hatten, ließ ihr Freund sie los. Sein fassungsloser Gesichtsausdruck brachte Ishira dazu sich umzudrehen. Ihr Bruder, der dicht hinter ihnen gewesen war, balancierte hüpfend auf einem Bein und versuchte im Laufen, seine Hose anzuziehen. „Kenjin! Was machst du denn? Lass die Hose!“ Nervös knetete Ishira ihre Hände. Die Amanori waren schon viel zu nah!

Die ersten Blitze fanden ihre Ziele. Auf der Brücke sanken die Inagiri reihenweise in die Knie. Die Nachfolgenden stolperten über die sich zusammenkrampfenden Leiber, rissen sich bei dem Versuch, ihnen auszuweichen, gegenseitig zu Boden. Andere trampelten achtlos über sie hinweg in dem Bestreben, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Plötzlich war auch Kenjin von goldenem Feuer eingehüllt. Ishira schrie auf, als ihr Bruder taumelte, den Mund wie in einem stummen Laut der Überraschung geöffnet. Der Schwung seiner Bewegung trug ihn noch einen halben Schritt weiter, bevor er zusammenbrach und mit dem Gesicht nach unten in den Sand stürzte. Sie wollte zu ihm hinlaufen, doch Kanhiro packte sie am Arm und schob sie hinter den Felsen. „Du rührst dich nicht vom Fleck! Ich kümmere mich um Kenjin!“

Er rannte zu ihrem Bruder zurück, ohne auf die Gefahr für sich selbst zu achten, und hievte ihn sich auf die Schultern. Mit schweißfeuchten Händen beobachtete Ishira, wie die Amanori einen Bogen beschrieben. Diesmal teilten sie sich auf. Zwei flogen hinüber zur Garnison, während der dritte erneut auf die Flüchtenden zuhielt. Die ersten Bergleute hatten inzwischen das jenseitige Ufer erreicht. Als die Echse über sie hinweg fegte, warfen sie sich zu Boden. Eine ältere Frau reagierte nicht schnell genug. Der Amanori packte sie mit seinen Klauen und riss sie in die Höhe. Ihr schriller Todesschrei fuhr Ishira durch Mark und Bein. Mit einer ruckartigen Bewegung brach der Amanori der Frau das Genick und schleuderte sie wie ein Spielzeug, dessen er überdrüssig geworden war, in die Menge auf der Brücke. Im Tiefflug kam er über das Wasser und nahm sein nächstes Opfer ins Visier. Ishiras Herz setzte einen Schlag aus. „Pass auf, Hiro! Hinter dir!“

Er warf im Laufen einen raschen Blick über die Schulter und versuchte, sein Tempo noch zu steigern. Die Echse war in gerader Linie hinter ihm, was den grotesken Eindruck erweckte, als würden ihm Schwingen wachsen. Im letzten Moment erreichte er den Felsen und hechtete in Deckung. Der Blitz, der ihm gegolten hatte, knisterte über das Gestein und schlug Funken. Der Amanori stieß ein zorniges Rasseln aus und drehte ab. Schweratmend sank Kanhiro auf die Knie, während Ishira ihm Kenjin abnahm und zu Boden gleiten ließ. Sie bettete den Kopf ihres Bruders behutsam in ihren Schoß. „Ken“, flüsterte sie. Seine Arme und Beine zuckten unkontrolliert. Sie war nicht sicher, ob er sie überhaupt hörte.

Ein durchdringender, lang gezogener Klagelaut hallte vom gegenüberliegenden Ufer zu ihnen herüber. Er klang dermaßen unmenschlich, dass sich Ishiras Nackenhaare aufstellten. Unmittelbar darauf folgten Jubelrufe. Kanhiro und Ishira sahen einander ungläubig an. Sollte es den Gohari gelungen sein, einen der Amanori zu verwunden?

Durch Kenjins Körper lief eine Krampfwelle und schüttelte ihn so heftig, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Ihren Bruder so hilflos zu sehen, schnürte Ishira die Kehle zu. Sie beugte sich über ihn und drückte ihre Wange an sein Haar. „Was machst du nur immer für Sachen, Ken“, flüsterte sie.

Wenigstens würden die Krämpfe nicht lange anhalten. In ein, zwei Tagen ging es Kenjin bestimmt wieder gut.

Neue Schreie durchschnitten die Luft. Die Amanori nahmen Rache. Ishira lief es kalt den Rücken hinunter. Im ersten Impuls hatte sie ebenfalls zur Brücke laufen wollen. Hätte Kanhiro nicht so besonnen reagiert, wäre auch sie jetzt dort gefangen.

Nach einer Weile wurde es stiller. Ihr Freund wagte es, um den Felsen herum zu spähen. „Die Echsen haben sich zurückgezogen“, stellte er erleichtert fest. Dennoch warteten sie noch eine Weile, lauschten auf das Stöhnen und Wehklagen der Verletzten, bevor sie es wagten, ihre Deckung zu verlassen. Inzwischen hatte bereits die Dämmerung eingesetzt.

Togawa kam auf sie zu. „Bei allen Ahnenseelen, ich dachte, mir bleibt das Herz stehen! – Was ist mit Kenjin?“

„Er wird sich erholen.“ Kanhiro hatte sich Ishiras Bruder wieder auf den Rücken geladen und hielt ihn an den Handgelenken fest, die rechts und links neben seinem Hals herunterhingen.

Auf der Brücke löste sich das Chaos allmählich auf. Die Inagiri stützten sich gegenseitig und hatten die Toten und Verwundeten zwischen sich genommen. Togawa half einem jungen Mädchen auf, das Ishira erst auf den zweiten Blick als Midori erkannte. Die Arme war kreidebleich und zitterte am ganzen Leib. Ishira hätte sie gern getröstet, aber sie wusste nur zu gut, dass ihre Hilfe nicht erwünscht war. „Wird dir mein Bruder auch nicht zu schwer?“ erkundigte sie sich stattdessen bei Kanhiro.

Er schüttelte den Kopf. „Keine Sorge, ich habe schon ganz andere Lasten getragen.“

Am jenseitigen Ufer steuerte sein Freund Tasuke auf sie zu. „Ich habe gesehen, dass ihr drüben geblieben seid. War vermutlich die klügste Entscheidung.“ Ozamis älterer Bruder warf Kenjin einen teilnahmsvollen Blick zu. „Den Kleinen hat es also erwischt.“

„Halb so wild“, wehrte Kanhiro ab. „Was ist mit deiner Familie?“

„Es geht ihnen gut, ich habe sie ins Dorf voraus geschickt. – Gnädige Götter, Vater sagt, so einen Angriff habe er noch nie erlebt.“

„Die Amanori werden von Mal zu Mal aggressiver“, stimmte Togawa zu. „Wenn das so weitergeht…“

Tasuke stieß frustriert die Luft aus. „Wenn man sie nur irgendwie besiegen könnte! Aber gegen diese Biester scheint kein Kraut gewachsen zu sein.“

„Vielleicht ja doch“, murmelte Kanhiro.

Vor der Garnison hatte sich eine Gruppe Kireshi im Lichtschein einer Kristalllaterne um etwas Großes und Dunkles geschart, das aus dem hohen Gras zwischen Pfad und Ufer aufragte. Ein Stück abseits standen ein paar Inagiri und flüsterten aufgeregt miteinander. Ishira kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Trotzdem brauchte sie einen Moment, um zu erkennen, dass es sich bei der schattenhaften Gestalt um einen Amanori handelte, und einen weiteren, um zu begreifen, dass er tot war. Fassungslos blieb sie stehen. Der Anblick des geschundenen Kadavers hatte etwas Unwirkliches an sich.

„Sie haben wirklich einen abgeschossen!“ entfuhr es Kanhiro.

Sein Freund betrachtete andächtig den armlangen Pfeil, der zwischen den Brustplatten des Wesens steckte. „Also kann man sie doch töten.“

Obwohl sie ihren Bruder so schnell wie möglich nach Hause bringen wollte, drängte etwas Ishira dazu, den Amanori genauer anzusehen. Ohne den unfreundlichen Blicken der Kireshi Beachtung zu schenken, ging sie näher. Er maß an die sieben Schritte. Eine einzige krallenbewehrte Zehe war so lang wie ihre ganze Hand. Seine handtellergroßen Schuppen waren von einem tiefen Blaugrün, das an die großen Libellen erinnerte, die im Sommer über den Fluss schwirrten. Dazwischen waren schwarze Schuppen gesprenkelt, die ein verwirrendes Muster formten. Die überlappenden Hornplatten auf Bauch und Brust hatten ursprünglich die Farbe von Flusssand besessen, waren jetzt jedoch mit rostroten Streifen aus verschmiertem Blut überzogen. Der Hals mit der fächerförmigen Krause war nach hinten verdreht, der schmale, gehörnte Kopf lag halb auf dem Körper. Das Maul stand weit offen und ließ die fingerlangen, messerspitzen Zähne sehen. An der Stelle, wo das Auge hätte sein müssen, befand sich nur noch eine blutige Höhle. Einer der beiden hautbespannten Flügel war zerfetzt, die Knochen staken in die Luft wie Grabpfeiler. Unter dem Amanori hatte sich eine dunkle Blutlache gebildet. Sein Leib war mit zahllosen Schwertwunden übersät. Die Kireshi hatten ihre ganze Wut an ihm ausgelassen – oder sie hatten sichergehen wollen, dass ihr Gegner wirklich tot war. Es stimmte Ishira unerwartet traurig, die Echse so entstellt daliegen zu sehen. Im Tod war sie all ihrer Erhabenheit und Anmut beraubt. Die schimmernde Aura war erloschen und ihre Schuppen hatten jeglichen Glanz verloren.

„Was gibt es da zu gaffen?“ blaffte einer der Krieger sie an. „Verschwindet endlich!“

Sie fuhr zusammen und wich zurück. Tasuke drängte sie und Kanhiro weiter, wobei er ihr einen befremdeten Blick zuwarf. „Du siehst ja aus, als hättest du Mitleid mit dem Vieh.“

„Ich, ich weiß nicht. Vielleicht ein bisschen“, gab sie zu. „Immerhin sind selbst sie Geschöpfe der Götter.“ Aber war es wirklich Mitleid? Oder war sie in Wahrheit bestürzt darüber, dass es den Gohari gelungen war, sogar ein so mächtiges Wesen wie einen Amanori zur Strecke zu bringen?

Ozamis Bruder starrte sie an, als wären ihr soeben Hörner gewachsen. „Ist das dein Ernst? Gegen diese Ungeheuer wirkt doch sogar ein Dämon harmlos!“

„Du kennst Ishira doch“, entgegnete Kanhiro. „Sie findet selbst in der dunkelsten Höhle ein Loch, durch das Licht scheint.“ Er bedachte sie mit einem warmen Lächeln.

„Trotzdem solltest du das nicht zu laut sagen“, warnte Tasuke. „So etwas kann schnell zu Missverständnissen führen.“

Vor allem, wenn die Menschen es missverstehen wollen, setzte Ishira in Gedanken hinzu. Aber sie wusste, dass er es gut mit ihr meinte – anders als seine Schwester, die sofort losgelaufen wäre, um ihren Freundinnen brühwarm zu erzählen, welch schockierende Äußerung das Halbblut von sich gegeben hatte.

Nach wenigen Dutzend Schritten erreichten sie das Dorf. Die verwitterten Holzhäuser, die sich hinter den Palisaden in mehreren Reihen den Hang hinaufzogen, schienen sich unter den hohen, zedernbestandenen Bergen zu ducken, die das Tal auf drei Seiten umschlossen. Die meisten Dächer schimmerten grün von Moos und viele der Reisstrohbüschel waren vom Wind zerzaust und geknickt. Das Haus, das Ishira mit ihrem Bruder bewohnte, lag am Rande des Versammlungsplatzes. In einem nahen Gehege liefen laut gackernd die grüngefiederten Dorfhühner umher und schlugen aufgeschreckt mit den Flügeln. Die Eier morgen konnten sie wohl vergessen. Tasuke verabschiedete sich und bog in die schmale Gasse ein, die links am Haus vorbeiführte. Derweil stemmte Togawa sich mit der Schulter gegen die Tür, die trotz wiederholter Versuche, sie zu richten, beharrlich schief in den Angeln hing und beim Öffnen ein vernehmliches Knarren von sich gab, als würde sie wegen des Umstandes, dass sie sich bewegen musste, jammern und ächzen. Kanhiro folgte seinem Vater ins Innere, wobei er darauf achtete, mit Kenjins Schulter nicht am Türrahmen anzustoßen.

Das Erdgeschoss bestand nur aus einem einzigen Raum. Die dunklen Holzdielen waren blank gescheuert und von vielen Füßen durchgetreten. Das Haus hatte bereits einige Generationen von Ishiras Familie beherbergt – oder genauer gesagt, von Kenjins Familie. Die gesamte Mitte des Raums wurde von der Kochstelle eingenommen, einer Vertiefung aus gestampftem Lehm, aus der der gemauerte Herd ragte. Rings um die Senke verlief eine knöchelhohe hölzerne Bank, auf der sich mehrere dicke, aus Binsen geflochtene Matten verteilten.

„Soll ich Kenjin in seine Kammer tragen?“ erkundigte Kanhiro sich.

Ishira überlegte kurz. „Lass ihn besser hier. Neben der Kochstelle ist der wärmste Platz im Haus. Ich bringe seine Sachen nach unten.“

Sie kletterte die schmale Stiege hoch und holte Kenjins Matte und Decke aus seiner Kammer. Nachdem sie das Binsengeflecht neben der niedrigen Bank ausgerollt hatte, half Kanhiro ihr, ihren Bruder darauf zu betten. Sein Vater hatte derweil das Feuer angezündet und Teewasser aufgesetzt. „Soll ich etwas Reis für euch kochen, Ishira?“ wollte er wissen.

Sie schüttelte den Kopf, während sie Kenjin die feuchten, sandverklebten Haare aus dem Gesicht strich. „Lieb von dir, aber das ist nicht nötig. In der Speisekammer steht noch ein Rest von gestern.“

Ihr Bruder war erschreckend blass. Seine Brauen waren schmerzvoll zusammengezogen und seine Glieder so verkrampft, dass er kaum liegen konnte. Mit einem Zipfel der Decke reinigte Ishira sein Gesicht notdürftig vom Sand. An Kinn und Wange war die Haut vom Sturz aufgeschürft. Sie würde die Wunden später auswaschen und Salbe darauf streichen. Kanhiro begann damit, Kenjins Beine zu massieren, um den Blutfluss anzuregen. Sie folgte seinem Beispiel und nahm sich Kenjins Arme vor. Endlich schlug ihr Bruder die Augen auf. „N-Nira“ stotterte er. „W-was ist passiert?“

Sie streichelte seine Wange. „Du bist in den Blitzstrahl eines Amanori geraten.“

Kanhiro deutete ein Lächeln an. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich jetzt fühlst, Ken, aber sieh es mal so: In ein paar Tagen kannst du mit deinem Erlebnis bei den Mädchen angeben.“ Aufmunternd drückte er Kenjins Schulter.

Ihr Bruder versuchte zu grinsen, aber es wurde nur eine verzerrte Grimasse daraus, als eine neue Krampfwelle seinen Körper packte. Er keuchte abgehackt. Ishira nahm ihn in den Arm. „Alles wird gut, Ken.“

Ein herb-aromatischer Duft breitete sich im Raum aus. Togawa reichte ihr zwei Schalen mit dampfendem Ebotee. Sie nahm sie dankbar entgegen und stellte sie neben sich auf den Boden. „Du bist ein Schatz, Togawa.“

Sie wartete, bis sich der Tee etwas abgekühlt hatte, dann hob sie Kenjins Kopf an und setzte eine der Schalen vorsichtig an seine Lippen. Mühsam gelang es ihrem Bruder, zwischen zwei Krampfanfällen ein paar Schlucke zu trinken.

Sie wischte ihm sacht einen Tropfen vom Kinn. „Versuch’ zu schlafen. Morgen früh wird es dir schon viel besser gehen.“

„Können wir sonst noch etwas für euch tun, Ishira?“ fragte Togawa nach.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich denke, jetzt müssen wir einfach abwarten. Aber bevor ihr geht, verrate mir doch bitte noch, was die Gohari von dir und den anderen Hauern wollten.“

„Oh, richtig, das hatte ich schon beinahe vergessen.“ Togawas gutmütiges Gesicht legte sich in Falten. „Die Telani haben uns wegen der Kristallenergie befragt“, bestätigte er Kenjins Vermutung. „Sie wollten wissen, wann uns zum ersten Mal aufgefallen ist, dass die Energie schwächer wird, und wie schnell der Verfall voranschreitet.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das hätten sie allerdings alles auch in den Berichten der Aufseher nachlesen können.“

„Das werden sie wahrscheinlich außerdem getan haben“, meinte sein Sohn. „Aber offenbar wollen sie ganz sichergehen.“

„Sie müssen ziemlich besorgt sein“, murmelte Ishira.

„Nun, kein Wunder“, erwiderte Togawa. „Innerhalb weniger Jahre hat der Kristall so sichtbar an Leuchtkraft eingebüßt, dass er für die Gohari mit Sicherheit an Wert verloren hat.“

Kanhiro konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. „Und sie kennen noch immer nicht die Ursache, geschweige denn, dass sie etwas dagegen unternehmen können.“

Plötzlich wurde Ishira eigenartig beklommen zumute. „Was wird passieren, wenn die Kristalle irgendwann überhaupt nicht mehr leuchten? Wenn die Energie versiegt und die Gohari die beiden Minen schließen müssen?“

Ihr Freund wurde umgehend wieder ernst. „Du hast Recht, das wäre nicht unbedingt ein Grund zur Freude. Gut möglich, dass die Gohari uns umsiedeln und auf andere Dörfer verteilen.“

Sie krallte die Finger in die Falten ihres Kleides. Die Vorstellung, dass sie von Kanhiro und seinem Vater getrennt werden könnte, verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen.

Togawa sah sie an, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Nun, bis dahin fließt noch viel Wasser den Fluss hinunter und die Zukunft kennen allein die Götter.“ Er erhob sich. „Wir werden euch beide jetzt allein lassen, Ishira. Wenn etwas ist, komm zu uns rüber. Egal, wie spät es ist.“

Sie lächelte ihn an. „Danke.“ Ihr Blick wanderte weiter zu seinem Sohn. „Und, Hiro… danke, dass du meinen Bruder gerettet hast. Das werde ich nicht vergessen.“

Er hob abwehrend die Hände. „Ich bitte dich!“ Er war schon auf dem Weg zur Tür, als er sich noch einmal umdrehte. Ein verschmitztes Funkeln trat in seine Augen. „Aber wenn du dich revanchieren möchtest, tanz beim Sonnenwendfeuer nur mit mir.“

Ishira musste lachen. Als ob sie so viele Verehrer hätte! „Du bist unverbesserlich. Also abgemacht, auch wenn es noch ewig hin ist.“

Mit einem Grinsen war er fort.

KAPITEL II – Die Lotterie

Immer neue Krampfanfälle schüttelten Kenjins Körper. Wieder und wieder massierte Ishira seine Arme und Beine, um die verspannten Muskeln zu lockern, aber es half nicht viel. Ihr Bruder wimmerte leise. Sie legte seinen Kopf in ihren Schoß und streichelte tröstend seinen Rücken. „Morgen ist alles gut, versprochen.“

Der erste Angriff der Amanori in diesem Jahr. Wie viele würden noch folgen? Glücklicherweise hatte diesmal keines der Dächer Feuer gefangen. Entweder die Amanori hatten das Dorf in Frieden gelassen, da sie ihre Opfer außerhalb gefunden hatten, oder das Stroh war zu feucht gewesen, als dass die Blitze es hätten entzünden können. Vor zwei Jahren war eines der Häuser am Ostrand der Siedlung bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Die betroffene Familie hatte mehrere Mondläufe bei Verwandten unterkommen müssen, bis die Gohari ihnen das Holz gestellt hatten, um ihr Haus wiederaufzubauen. An den folgenden Mondwenden hatten fast alle Dorfbewohner beim Bau mitgeholfen.

Ishira merkte, dass ihre Gedanken abgeschweift waren, und lenkte sie zurück auf die Amanori. Wie sie aus Unterhaltungen der Gohari aufgeschnappt hatte, war Soshime nicht das einzige Ziel der geflügelten Echsen. Auch andere Minensiedlungen waren von den Angriffen betroffen. Das war nicht immer so gewesen. Früher hatte kaum jemand die Echsen zu Gesicht bekommen, höchstens Jäger, die sich tief in das Gebirge vorwagten. Deshalb nannten die Inagiri sie auch Ama-no-ri: ‚die Echsen, die im Innern leben‘. Erst vor rund dreimal zehn Jahren hatten sie damit begonnen, die Siedlungen heimzusuchen. Was hatte sie so aufgebracht, dass sie ihr Territorium verließen und die Menschen überfielen? War es wirklich die Schuld der Gohari, wovon nicht wenige Dorfbewohner überzeugt waren?

Ein Klopfen an der Haustür riss sie aus ihren Grübeleien. Es war Kanhiros Vater. In den Händen hielt er die vertraute längliche Stoffrolle, in der er sein Rehime aufbewahrte. „Wie geht es deinem Bruder?“ erkundigte er sich.

Sie blickte in Kenjins bleiches Gesicht, auf dem sich deutlich die roten Schrammen abzeichneten. Auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er hatte die Augen geschlossen, aber sein abgehacktes Atmen verriet, dass er wach war. „Nicht so gut. Er ist zu unruhig, um zu schlafen.“

„Möchtest du, dass ich ein wenig für euch spiele? Vielleicht lenkt es Kenjin ab.“

Ishira stimmte sofort zu. „Das ist eine gute Idee!“

Er ließ sich auf dem Boden nieder und wickelte das alte inagische Holzinstrument mit dem bauchigen Körper und dem langen Hals, der am Ende schneckenförmig eingedreht war, vorsichtig aus seiner Umhüllung. Der mit verschlungenen Mustern verzierte hölzerne Korpus war mit einer dünnen Tierhaut bespannt. Die vier Saiten waren über zwei Knochenstege gespannt und an gleichfalls aus Knochen gearbeiteten Wirbeln befestigt. Sie wurden gewöhnlich mit einem darmbespannten Bogen gestrichen; hin und wieder zupfte Togawa sie aber auch mit den Fingern, um eine Melodie zu variieren. Das Rehime befand sich schon seit vielen Generationen in seiner Familie und stammte noch aus der Zeit vor der Eroberung.

Togawa rutschte hin und her, bis er eine bequeme Haltung gefunden hatte, und schlug ein paar Mal die Saiten an, um sie zu stimmen. Das Instrument war sein kostbarster Besitz. Als vor vielen Jahren eine der Saiten aufgrund ihres hohen Alters gerissen war, hatte er es tatsächlich fertiggebracht, einen der Händler dazu zu überreden, ihm neue zu besorgen. Als Bezahlung hatte er den Lohn von vier Mondläufen auf den Tisch legen müssen. Wenn Ishiras Vater ihm damals nicht ausgeholfen hätte, hätten er und Kanhiro für lange Zeit nichts als Busho, den traditionellen dicken Reisbrei, essen können.

Wassertropfen gleich quollen die Töne hervor und brachten die Luft zum Vibrieren. Trotz der schweren Bergwerksarbeit spielte Togawa mit verblüffend geschmeidigen Fingern. Ishira liebte seine Musik. Schon als Kind hatte sie ihn dafür bewundert, dass er neben der harten Arbeit die Zeit und die Kraft gefunden hatte, das Instrument zu erlernen wie sein Vater vor ihm und davor dessen Vater. Er hatte ihr erklärt, die Musik würde ihm helfen, zu innerer Ruhe zu finden und seine Sorgen hinter sich zu lassen. Sie hatte damals noch nicht genau verstanden, was er damit meinte, aber sie hatte sofort gewusst, dass die Musik etwas Besonderes war. Sie hatte Togawa angebettelt, ihr das Spielen beizubringen, und er hatte sofort eingewilligt. Er war erfreut gewesen, in ihr eine gelehrige Schülerin zu finden, nachdem er die Hoffnung, dass sein Sohn einmal die Familientradition fortführen würde, begraben hatte. Kanhiro hatte in dieser Hinsicht zwei linke Hände bewiesen.

Der letzte Ton zerstob zitternd in der Luft. Kenjins Atemzüge waren tiefer und gleichmäßiger geworden. Ishira lächelte froh. „Es hat gewirkt. Er ist eingeschlafen.“

Kanhiros Vater erhob sich leise. „Dann werde ich jetzt gehen. Ich lasse dir das Rehime da, falls du es noch einmal brauchst.“

Sie nahm das Musikinstrument vorsichtig entgegen. „Ich danke dir, Togawa. Ich wüsste gar nicht, wie wir ohne euch zurechtkämen.“

Zur Antwort lächelte er nur schweigend. Nachdem sich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, legte Ishira ihre Hand zärtlich auf das polierte dunkle Holz des Rehime. Ihre Finger verlangten danach, über die Saiten zu streichen, aber sie wollte nicht riskieren, dass ihr Bruder davon wieder wach wurde. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie das erste Mal selbst auf dem Instrument gespielt hatte. Die Musik hatte sie mitgenommen auf eine Reise in die Tiefen ihrer Seele und zu ihrer inneren Mitte geführt, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab. Dort hatte sie schließlich die Ruhe und Kraft gefunden, von der Kanhiros Vater gesprochen hatte. Er hatte erstaunt gemeint, sie besäße eine natürliche Begabung für das Rehime. Es war ihr leicht gefallen, die Griffe zu erlernen und obwohl sie kaum Zeit zum Üben hatte, machte sie rasch Fortschritte. Die Melodien flogen ihr förmlich zu. Sie brauchte sie nur ein- oder zweimal zu hören, dann waren sie in ihrem Gedächtnis verankert. Sie liebte es, den Tönen nach zu lauschen und sich von ihnen in eine Welt davontragen zu lassen, in der es weder Sklaverei noch Furcht gab und in der niemand naserümpfend auf sie herabblickte. Eine Welt, in der nur sie selbst und die Musik existierten.

***

Sie war an einem Ort, der eine Höhle sein mochte. Der Boden unter ihren Füßen war felsig und uneben und über ihr leuchteten weder Mond noch Sterne. Doch die Höhle ließ keine Wände oder Decke erkennen. Um sie herum verlor sich alles in Dunkelheit. Nur von dem immensen Amanori, der vor ihr aufragte, ging ein schwaches Leuchten aus. Er lag zusammengerollt auf dem Boden und schnarchte friedlich, die ledrigen Schwingen zusammenfaltet, den stachligen Schwanz um die Beine gelegt. Sie betrachtete seinen geschuppten Leib. Die mächtige knochenbleiche Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug.

Von irgendwoher erhob sich Wind und strich mit kalten Fingern über ihre nackten Arme. Im selben Moment hob die Echse die Lider und fixierte sie mit ihren goldenen Augen. Ishira konnte sich nicht rühren. Eine Ewigkeit stand sie nur da und starrte den Amanori an, der ihren Blick ebenso reglos erwiderte. Irgendwann richtete er sich auf und griff mit einer seiner Klauen in eine riesige Urne, die ihr zuvor nicht aufgefallen war. Er zog eine Holztafel heraus und begann zu lachen. Das Lachen dröhnte in ihren Ohren wie ein Gong. Es hallte von den Wänden der Höhle wider und wurde immer lauter, bis es direkt in ihrem Kopf zu sein schien. Die Holztafeln wirbelten hoch und tanzten um sie herum. Abwehrend riss Ishira die Arme hoch.

Der Amanori schrumpfte und nahm die Gestalt ihres Bruders an. Kenjin streckte die Hand nach ihr aus, als plötzlich goldene Feuerzungen über seinen Körper leckten. Er schrie auf und taumelte. Als sie ihn auffangen wollte, traf sie unvermittelt auf Widerstand. Um Kenjin herum hatte sich eine Wand aus Kristall gebildet. Mit aller Kraft schlug Ishira auf die durchsichtige Barriere ein, bis der Kristall in Tausende kleiner Splitter zerbarst, die ihr die Haut aufritzten. Der junge Mann, der ihr leblos in die Arme sank, war jedoch nicht ihr Bruder, sondern Kanhiro.

Mit einem Ruck fuhr Ishira hoch. Ihr Herz hämmerte wild und ihr Atem kam stoßweise, als wäre sie zu schnell gelaufen. Die ganzen letzten Tage hatte sie jeden Gedanken an die heutige Lotterie verdrängt und gestern Abend war sie zu beschäftigt damit gewesen, sich um ihren Bruder zu kümmern – bis der Schrecken ihr in ihre Träume gefolgt war. Bewegungslos saß sie da, bis sich die Bilder des Traumes verflüchtigten.

Ihr Bruder drehte sich seufzend um und schmiegte sich dichter an sie, als hätte er ihre Unruhe gespürt. Erleichtert sah sie, dass sich die Linien, die der Schmerz in sein Gesicht gegraben hatte, geglättet hatten. Sie zog die Decke höher über seine schmalen Schultern. Ihr rechter Arm, der unter seinem Kopf lag, fühlte sich taub an. Vorsichtig wand sie sich unter Kenjin hervor. Durch das verschlissene, aus Reisfasern gepresste Papier vor dem Fenster drang das fahle Licht der Morgendämmerung. Sie hatte am Abend vergessen, die Läden zu schließen.

Ishira stand auf und schüttelte ihren Arm, bis das Gefühl darin zurückkehrte. Dann tappte sie die Treppe hoch in ihre Schlafkammer und goss etwas Wasser in ihre Waschschüssel. Sie streifte ihr knielanges Kleid und ihr langärmeliges Hemd über den Kopf und wusch sich rasch. Bruchstücke ihres Traums durchzuckten ihren Geist, aber sie schob sie energisch beiseite. Nachdem sie sich wieder angezogen hatte, löste sie die Schläfenzöpfe, die den Rest ihres Haares zusammenhielten, und fuhr ein paar Mal mit dem Kamm durch die dicken Strähnen, bevor sie die Zöpfe neu flocht und zum Knoten schlang.

Zurück in der Wohnstube hatte sie gerade den Reis aufgesetzt, als aus dem Fort der Gong erklang, der den Bergleuten anzeigte, dass es Zeit war aufzustehen. Kenjin gähnte und öffnete die Augen. „Geht es dir besser?“ wollte sie wissen.

Ihr Bruder winkelte versuchsweise einen Arm an und krauste die Nase. „Fühlt sich an, als hätte ich hundert Körbe Kristalle geschleppt.“

Sie musste trotz allem lachen. „Das gibt sich. – Hungrig?“

Er nickte. Während sie darauf wartete, dass die Reiskörner aufquollen, nahm sie den Sirup aus dem Regal, den die Bewohner Soshimes aus dem Nektar des Blutregens gewannen, der am Hang hinter dem Dorf wuchs. Als der Reis die richtige Konsistenz hatte, füllte sie den Brei in zwei Schalen und mischte einige Tropfen des Sirups unter, dessen Geschmack sie an einen warmen Sommertag erinnerte. Sie trug die Schalen zu Kenjins Lager und kniete sich neben ihn. Prüfend sah sie ihn an, während sie ihm dabei half, sich aufzusetzen. „Denkst du, du kannst allein essen?“

Ihr Bruder nickte entschieden. Er löffelte seinen Brei langsam und mit zittriger Hand. Selbst diese einfache Handlung verlangte seine gesamte Kraft und Konzentration, aber Ishira wusste, dass er sich nicht von ihr helfen lassen würde. Schweigend aß sie ihren eigenen Busho.

Als Kenjin die leere Schale auf dem Boden abstellen wollte, fiel sie ihm beinahe aus den verkrampften Fingern. Unwillig runzelte er die Stirn. Um seinen Mund erschien ein entschlossener Zug. Er holte tief Luft und stützte die Arme auf, um sich hoch zu stemmen. Seine Muskeln waren der Belastung jedoch nicht gewachsen und gaben unter seinem Gewicht nach. Er wäre zurückgefallen, hätte Ishira ihn nicht aufgefangen. „Was soll das werden?“ fragte sie kopfschüttelnd. „Du bist noch nicht in der Verfassung aufzustehen.“

„Aber Hiro und Togawa kommen gleich“, protestierte er keuchend.

„Und?“ gab sie zurück. „Du willst doch nicht etwa in die Mine? Wie stellst du dir das vor? Du kannst nicht einmal alleine aufstehen. Wie willst du da die schweren Körbe tragen?“

„Aber die Lotterie“, gab er verzweifelt zurück. „Ich kann unsere Freunde nicht allein gehen lassen. Nicht heute!“

Ishira nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Sei doch vernünftig, Kenjin“, beschwor sie ihn. „Wenn du hier bleibst, hilfst du ihnen viel mehr, als wenn sie sich dauernd Sorgen um dich machen müssen.“

Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür. „Guten Morgen, ihr beiden.“ Gefolgt von seinem Vater, betrat Kanhiro den Wohnraum. „Wie geht’s dir, Ken?“ fragte er, bevor Ishira etwas erwidern konnte, und hockte sich neben ihren Bruder.

Kenjin fuhr sich rasch mit dem Ärmel über die Augen. „Es geht mir gut. Aber Nira will mich nicht aufstehen lassen.“

„Und damit hat sie völlig Recht, Kenjin“, sagte Togawa, der hinter seinem Sohn stehengeblieben war, ernst.

„Aber wer soll euch denn dann als Träger begleiten?“ beharrte Kenjin störrisch.

„Mach dir darüber mal keine Gedanken, heute wird sowieso alles drunter und drüber gehen“, beruhigte ihn Kanhiro. „Du bist bei weitem nicht der einzige, der nicht einsatzfähig ist.“

Ishira folgte einer spontanen Eingebung. „Wenn der Oberaufseher es erlaubt, könnte ich mit euch kommen.“

Drei Augenpaare wandten sich ihr zu.

„Aber du bist doch Sortiererin“, wandte ihr Bruder zweifelnd ein.

Kanhiro hingegen lächelte. „Mit der Idee könnte ich mich anfreunden und Bilar wird wohl nichts dagegen haben. Er ist vermutlich froh, wenn er ein Problem weniger zu lösen hat. Aber macht es dir wirklich nichts aus, Shira? Du hast dich mit dem ganzen Gestein um dich herum nie besonders wohl gefühlt.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ist ja nur für ein oder zwei Tage.“

Tage, an denen sie in seiner Nähe sein konnte und Ozami nicht sehen musste. Auch wenn ihr die Mine immer unheimlich gewesen war, vermisste sie die Zeit, in der sie für ihn und seinen Vater als Trägerin gearbeitet hatte – bevor Kenjin in das entsprechende Alter gekommen war.

Der Gesichtsausdruck ihres Bruders verriet gleichermaßen Erleichterung und Enttäuschung, dass sich so schnell Ersatz für ihn gefunden hatte. Schließlich überwog die Erleichterung. „Wenn Nira geht, ist es wohl in Ordnung“, sagte er gönnerhaft.

Ishira sammelte das Frühstücksgeschirr ein und versenkte es im Spülbottich. Sie würde es heute Abend abwaschen. „Kommst du allein zurecht, Ken, oder soll ich Yuriko Bescheid sagen?“ Yuriko war eine der alten Frauen, die sich tagsüber um die Kinder und Kranken kümmerten. Wie die meisten Dorfbewohner wechselte sie mit Ishira nicht mehr Worte als nötig, aber glücklicherweise hatte sie ihre Ablehnung nicht auf Kenjin übertragen.

„Ich komm‘ schon klar.“

Kanhiro legte ihrem Bruder eine Hand auf die Schulter, bevor er sich erhob. „Lass es ruhig angehen, in Ordnung?“

Kenjin nickte. Einen Augenblick sah er so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann blickte er ihnen bloß unglücklich nach. Bevor Ishira das Haus verließ, verneigte sie sich vor dem Ahnenschrein neben der Tür. Sie hätte frische Blüten in die Schale legen sollen, aber sie war nicht mehr dazu gekommen.

***

Am Dorfeingang trafen sie auf Kaede, die Tochter der Frau, die gestern getötet worden war. Ihr Mann Shouro hatte schützend einen Arm um seine in Tränen aufgelöste Frau gelegt. Als sie an den beiden vorbeigingen, murmelte Kanhiro eine Beileidsbekundung. Kaede hob den Kopf. Für einen Moment richtete sich ihr Blick in stummer Anklage auf Ishira, als wollte sie sagen: ‚Warum musste es meine Mutter treffen? Warum nicht dich?‘Das Gesicht seiner Freundin verdunkelte sich betroffen.Rasch zog Kanhiro sie weiter. Kaedes Reaktion schmerzte ihn, zumal sie nicht die einzige im Dorf war, die so dachte. Wieso verachteten die Dorfbewohner Ishira nur so sehr? Sie konnte doch nichts für ihre Herkunft. Doch bis jetzt waren ihre zahllosen Bemühungen, mit den anderen zurechtzukommen, an deren verbohrter Sturheit gescheitert. Manchmal wollte Kanhiro sie alle nur schütteln, damit sie endlich zur Vernunft kamen. Umso mehr bewunderte er Ishira dafür, dass sie über ihre Nachbarn nie ein böses Wort sprach.

Als sie sich der Brücke näherten, spürte er ihr Widerstreben weiterzugehen. Auch er selbst ertappte sich dabei, das Unvermeidliche hinauszögern zu wollen. Er trat ans Geländer, das noch feucht war vom Regen der Nacht, und blickte auf den Fluss, der gurgelnd um die Holzpfeiler der neuen Brücke strudelte, als suchte er nach einer Schwachstelle. Der alten Brücke hatte er im vergangenen Jahr den Garaus gemacht. So ruhig und harmlos sich der Fluss die meiste Zeit des Jahres gab: während der Regenfälle im Frühling wurde er unberechenbar. Nach einem besonders heftigen Unwetter hatte er sich schäumend auf die Brückenpfeiler geworfen wie eine Horde Wasserdämonen. Die Baumstämme waren geknickt, als wären sie nicht mehr als dürre Äste, und die ganze Konstruktion war innerhalb weniger Augenblicke in die tosenden Fluten gestürzt. Es hatte Kanhiro fasziniert, die Gewalt des Wassers zu beobachten. Danach hatten er und ein paar andere einen halben Mondlauf lang nicht in der Mine arbeiten müssen, sondern nach den Vorgaben der Gohari die neue Brücke gebaut. Es war seit seinem zwölften Geburtstag das erste Mal gewesen, dass er mehrere Tage nicht im Bauch des Berges zugebracht, sondern frische Luft geatmet und Sonne und Regen auf der Haut gespürt hatte. Er musste immer wieder an dieses Gefühl denken.

Ishira trat neben ihn und stützte ihre Ellbogen auf die Holzbrüstung. Ihr Arm war um einige Schattierungen heller als seiner. Abgelenkt betrachtete Kanhiro ihr Gesicht, in dem inagische und goharische Merkmale seinem Empfinden nach eine höchst reizvolle Verbindung eingegangen waren. Die hohen Wangenknochen und die zierliche Nase waren eindeutig inagischen Ursprungs, ebenso der leicht schräge Schnitt ihrer mandelförmigen, von langen Wimpern verschatteten Augen. Die Farbe ihrer Iris – ein ins Violette spielendes Blau, das ihn an einen klaren Abendhimmel erinnerte – war hingegen ihrer goharischen Abstammung geschuldet. Sie selbst haderte mit der Farbe, doch er hätte ihr jederzeit versichert, dass sie die schönsten Augen der Welt besaß. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, weil sie ihn heute in die Mine begleiten würde. Auch wenn er wusste, dass es egoistisch von ihm war, so zu denken, war er glücklich über jeden Augenblick, den er mit ihr zusammen verbringen konnte.

Als hätte sie seinen Blick gespürt, wandte sie ihm das Gesicht zu. Sie blinzelte irritiert. „Worüber lächelst du?“

Er griff nach einer ihrer glänzenden Haarsträhnen, die über ihrer linken Schulter lagen, und rollte sie um seinen Finger. „Darüber, dass ich mit dir hier sein kann.“

Die Holzbohlen unter seinen Füßen vibrierten, als eine Gruppe von Bergleuten die Brücke betrat.

„Schaut euch die beiden an!“ rief Seiichis helle Jungenstimme mit einem Lachen, das eine Spur zu laut klang. „Unzertrennlich wie Uboshi!“

Ishira fuhr zusammen und trat hastig einen Schritt zurück, so dass Kanhiro ihre Haare loslassen musste. Ihre Wangen färbten sich rosig und sie wandte verlegen den Blick ab. Die langohrigen Uboshi – im wahrsten Bedeutungssinne ‚die Unzertrennlichen‘ – galten bei den Inagiri als Symbol der Liebe, weil Männchen und Weibchen stets so dicht beisammen saßen, dass sie aus der Entfernung wie ein einziges Tier aussahen. Wenn einer der beiden Partner starb, lebte angeblich auch der andere nicht mehr lange. Kanhiro fand den Vergleich gar nicht so unpassend. Ginge es nach ihm, würde er den ganzen Tag – und die Nacht – mit Ishira verbringen.

Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie Tasuke seinem jüngeren Bruder gegen die Schulter boxte. Der grinste nur. Ihre Schwester Ozami hatte die Lippen zusammengepresst, bemühte sich jedoch um ein Lächeln, als Kanhiros Blick ihren traf. Wahrscheinlich hatte sie sich auf dem Weg mal wieder mit ihren Brüdern gestritten.

Unvermittelt wurde Seiichi ernst. „Wie geht es Ken?“ wollte er wissen.

„Er ist schon wieder fast der alte“, antwortete Ishira. „Wenn du möchtest, komm doch heute Abend kurz vorbei. Darüber freut er sich bestimmt.“

„Klar, mach‘ ich.“ Das letzte Wort ging halb in Husten unter.

Seine Schwester warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Sagt Mutter es dir nicht immer wieder? Du sollst nicht so lange im kalten Wasser bleiben.“

„Jetzt fang du nicht auch noch an, Nira“, gab Seiichi ungnädig zurück. „Habt ihr heute Morgen noch etwas Neues über die Zahl der Opfer erfahren?“ wechselte er rasch das Thema. „Gab es außer Kioge noch weitere Tote?“

„Ja, eine: Mayumi“, erwiderte Kanhiro. Seine Nachbarn hatten es ihm und seinem Vater erzählt, kaum dass sie das Haus verlassen hatten. „Genau genommen waren es nicht einmal die Amanori. Sie wurde auf der Brücke zu Tode getrampelt.“

„Ist das nicht tragisch?“ rief Ozami aus. „Natürlich sind die Echsen an ihrem Tod schuld! Hätten sie nicht angegriffen, wäre das alles nicht passiert. Ich wünschte, diese grässlichen Ungeheuer würden endlich wieder dahin verschwinden, wo sie hergekommen sind!“

„Das wünschen wir uns wohl alle“, seufzte Kanhiro.

„Vielleicht haben die Gohari es ihnen diesmal ja gezeigt“, meinte Seiichi hoffnungsvoll, „und sie lassen uns eine Weile in Ruhe.“

„Schön wär’s“, brummte Tasuke, aber er sah nicht so aus, als würde er die Hoffnung seines Bruders teilen.

***

Ishiras Blick glitt über die Menge, die sich auf dem Platz vor der Mine versammelt hatte. Hinter ihnen ragte schwarz und drohend der Berg auf. Die in seinem Schatten bewegungslos dastehenden Inagiri mit ihren erstarrten Mienen erweckten bei flüchtiger Betrachtung eher den Anschein steinerner Abbilder als lebendiger Menschen. Alle Augen waren auf das Lagerhaus gerichtet, aus dem in wenigen Augenblicken der Oberaufseher heraustreten würde.

Niemand sprach. Gelegentliches Scharren von Füßen und hin und wieder ein tiefer, angespannter Atemzug oder unterdrücktes Husten waren die einzigen Geräusche. Wind strich über Ishiras Wange – ein kühler Hauch, der sie frösteln ließ und an den Albtraum der vergangenen Nacht erinnerte. Unwillkürlich rückte sie enger an Kanhiro heran. Seine Augen hingen wie die aller anderen an der Tür des Lagerhauses, doch auf ihre Berührung hin drehte er den Kopf und brachte ein kaum merkliches Lächeln zustande. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Seine Finger waren beruhigend warm. Sie schloss die Augen. Es war nur ein dummer Traum, nichts weiter. Du hast solchen Unsinn doch schon öfter geträumt. Lass dich nicht von deiner Angst beherrschen!

Ein Laut wie ein vielstimmiges Stöhnen lief durch die Menge. Ishiras Augen flogen wieder auf. Im Türrahmen war Bilar aufgetaucht, in den Händen ein großes zylinderförmiges Gefäß aus dunklem Holz. Es enthielt, in kleine Holztafeln geritzt, die Namen sämtlicher Hauer, die in diesem Bergwerk arbeiteten. Wie zuvor Ishira ließ Bilar seinen Blick langsam über die versammelten Bergleute gleiten. „Heute, zu Beginn des vierten Monds, wird erneut ein Hauer ausgewählt, um die Kristallader zu trennen.“ Seine Stimme schallte über den Platz und brach sich an den umliegenden Felsen. „Möge das Los entscheiden!“ Er hielt den Deckel fest und schüttelte die Trommel. Klappernd wurden die Tafeln durcheinander geworfen. Ishira schickte stumme Stoßgebete zu ihren Ahnen. Nach einer scheinbaren Ewigkeit nahm der Oberaufseher den Deckel ab und griff in das Gefäß. Auf dem Platz wurde es vollkommen still. Nicht einmal ein Vogel sang. Selbst der Wind erstarb – als würde sogar die Natur den Atem anhalten. Bilars Hand tauchte aus der Trommel auf. Zwischen den Fingern hielt er eine einzelne Holztafel. Er hob sie vor die Augen und las den eingravierten Namen vor. „Kanhiro, Sohn des Togawa.“

Ishiras Herz setzte einen Schlag aus. Das konnte nicht sein. Nicht er. Sie musste sich verhört haben.

Als wäre die Zeit stehen geblieben, registrierte sie überdeutlich die Reaktion der anderen. Togawas Hände hatten zu zittern begonnen. Seiichi und Tasuke starrten ihren Freund entsetzt an. Hinter ihnen hatte Ozami die Hand vor den Mund geschlagen, die Augen weit aufgerissen. Selbst ihre Eltern waren blass geworden.

Das Blut in Ishiras Adern schien sich in Flusswasser zu verwandeln, als die erbarmungslose Wahrheit in sie einsank. Sie umklammerte Kanhiros Hand, als könnte sie ihn auf diese Weise festhalten. „Nein“, flüsterte sie. „Nein. Nein!“

KAPITEL III – Geheimnisvolles Wispern

Kanhiros Mund war plötzlich trocken. Wie betäubt starrte er den Oberaufseher an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Er hatte immer gewusst, dass dieser Moment eines Tages kommen könnte. Dennoch war er nicht im Geringsten darauf vorbereitet. Er versuchte sich damit zu trösten, dass die Ziehung allein nicht den Untergang bedeutete und es nicht jedes Mal zu einem tödlichen Energieanstieg kam, doch die Kälte wollte nicht aus seinen Gliedern weichen. Zu tief hatte sich die Erinnerung an Hagares Tod in sein Gedächtnis eingegraben.

Ishiras Finger quetschten seine Hand schmerzhaft zusammen. Ihr Gesicht war gespenstisch bleich. Ob sie dasselbe dachte wie er? Langsam hob er seine freie Hand und strich ihr sacht über die Wange. Ihre Haut unter seinen rauen Fingerknöcheln war zart wie ein Blütenblatt. „Kopf hoch, Shira“, versuchte er sie aufzumuntern. „Ich habe nicht vor, da drinnen drauf zu gehen.“

„Das will ich dir auch geraten haben“, kommentierte Tasuke. Die Stimme seines besten Freundes klang eigentümlich belegt. „Du schuldest mir noch eine Partie Ujibo.“

Mit vorgetäuschter Zuversicht schlug Kanhiro ihm auf die Schulter. „Die werden wir auch spielen. Ich lasse mir doch keine Gelegenheit entgehen, dich zu schlagen!“

Er drehte sich wieder zu Ishira um. Sie kam ihm verloren vor, wie sie dort stand, mit bebenden Lippen, die linke Hand an die Brust gepresst, als wäre ihr kalt. „Ich werde Bilar bitten, mir einen anderen Träger zuzuteilen“, flüsterte er ihr zu. Obwohl er sich nichts mehr wünschte, als dass sie ihn trotz allem begleitete, durfte er es ihr unter diesen Umständen nicht zumuten. „Ich-“

Ihre Finger legten sich auf seine Lippen und hinderten ihn am Weitersprechen. „Nichts wirst du!“ sagte sie überraschend bestimmt. „Natürlich begleite ich dich.“

Er schaffte es irgendwie zu lächeln. „Danke. Das bedeutet mir viel, wirklich.“

Sein Vater hatte bis jetzt geschwiegen. Als ihre Blicke sich trafen, trat Togawa einen Schritt vor. Seine Miene war gefasst und entschlossen. Im selben Moment erkannte Kanhiro, was er vorhatte. Stumm schüttelte er den Kopf und umarmte ihn kurz. Niemals würde er zulassen, dass sein Vater sich sein eigenes Schicksal aufbürdete! Er wusste nicht recht, wie er sich verabschieden sollte. „So die Götter wollen, sehen wir uns heute Abend, Vater“, sagte er schließlich.

Togawa schloss kurz die Augen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Mögen die Ahnen dich beschützen, mein Sohn.“ Nur die gepresste Stimme verriet seinen inneren Aufruhr.

Kanhiro straffte sich. „Wir sollten den Oberaufseher nicht hinhalten.“

Mit festen Schritten ging er hinüber zu Bilar, der vor dem Lagerhaus auf ihn wartete. Ishira hatte seine Hand losgelassen und folgte ihm dichtauf. Der Oberaufseher hatte sich bereits den Beutel mit den Sprengsätzen um die Schulter geschlungen. Das Trennen der Kristallader überwachte er stets persönlich und er teilte den Hauern auch eigenhändig die Sprengrollen zu – damit sie ja nicht auf dumme Gedanken kamen und womöglich etwas anderes sprengten als die Ader.

Bilar musterte Ishira stirnrunzelnd. „Bist du nicht eine von den Sortiererinnen?“

Kanhiro wunderte sich nicht darüber, dass selbst der Oberaufseher sich an sie erinnerte. Ishira war nicht gerade eine unauffällige Erscheinung. „Das stimmt, Deiro“, erwiderte er und spürte zugleich, wie sich seine Zunge gegen die ehrenvolle Anrede ‚Herr‘ sträubte, obwohl er sie Bilar noch am ehesten zugestand. „Mein Träger, ihr Bruder, wurde bei dem Angriff gestern verletzt und sie hat angeboten, seine Stelle einzunehmen, sofern Ihr damit einverstanden seid.“

„Soll mir recht sein.“ Ohne weiteres Aufheben ging der Oberaufseher voran zum Werkzeuglager, vor dem sich heute ausnahmsweise keine Schlange gebildet hatte. An den Tagen der Sprengungen hielten sich nur der Oberaufseher, der ausgeloste Hauer und sein Träger beziehungsweise seine Trägerin sowie die Lorenjungen in der Mine auf. Die übrigen Bergleute arbeiteten während dieser Zeit draußen auf dem Vorplatz, reparierten Körbe, Werkzeuge oder Wagenräder, besserten die Schuppen und Palisaden aus und verrichteten sonstige Hilfstätigkeiten, die ihnen von den Gohari aufgetragen wurden. Lediglich die Sortiererinnen gingen weiterhin ihrer gewohnten Arbeit nach.

Statt der üblichen Hacke händigte der Aufseher, der die Werkzeuge verteilte, Kanhiro einen Meißel und einen großen Hammer aus. Damit würde er die Löcher für die Sprengladungen in den Kristall schlagen. Als er sich umwandte, sah er, dass Ishira inzwischen einen Tragekorb erhalten hatte. Sie war immer noch blass und in Kanhiro meldete sich erneut das schlechte Gewissen, weil er zuließ, dass sie vielleicht sehen musste, was er damals gesehen hatte. Dennoch war er froh, dass sie bei ihm war. Falls die Götter entschieden, dass seine Zeit abgelaufen war, würde er die letzten Momente seines Lebens wenigstens in Gesellschaft des Mädchens verbringen, das er liebte.

Auf seinem Weg zum Mineneingang erntete er von den Dorfbewohnern mitleidige Blicke, doch er sah in den Gesichtern auch Erleichterung darüber, dass es nicht sie selbst oder ihre Angehörigen getroffen hatte. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Auch er und sein Vater hatten ihren Ahnen und den Göttern nach jeder Lotterie Opfergaben dargebracht, um ihnen dafür zu danken, verschont geblieben zu sein.

***

Aus dem Tunnel drang schwach der Schein der Kristallsplitter, die in regelmäßigen Abständen in Eisenhalterungen in der Wand steckten und die Stollen ausleuchteten. Es war die Energie, die den Kristallen innewohnte, die ihren Abbau so gefährlich machte. Um die Menschen dafür zu bestrafen, dass diese ihre Ruhe störten, ließen die Geister des Berges sie gelegentlich sprunghaft ansteigen. Shigen, die ‚Leuchtende Welle‘, tötete jeden, der in diesem Augenblick Kontakt zur Kristallader hatte. Der todbringenden Lichtwelle ging keine Warnung voraus.

Um die Gefahr so gering wie möglich zu halten, hatten die Gohari eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Strategie ausgetüftelt: Anstatt die Kristalladern direkt abzubauen, ließen sie die Inagiri zu beiden Seiten parallele Stollen in den Fels treiben. Dabei kam ihnen zugute, dass die Adern mehr oder weniger geradlinig verliefen. Zweimal im Jahr wurde eine Querverbindung geschlagen und so ein Stück der Ader abgetrennt. Dieses Teilstück konnte gefahrlos abgebaut werden, da es von den Energieausbrüchen nicht mehr betroffen war. Später wurde der entstandene Hohlraum mit Steinen und Geröll aus den Seitenstollen verfüllt, um die Stabilität zu erhalten. Aus demselben Grund wurde stets ein Stück der Kristallader als tragender Pfeiler stehen gelassen. Zusätzlich wurden die Gänge an einigen Stellen durch dicke Holzbalken abgestützt.

Die beiden Parallelstollen waren so breit, dass sie zwei Hauern nebeneinander bequem Platz boten, und etwas über mannshoch – nach inagischem Maßstab gerechnet. Bilar, der Ishira um mehr als einen halben Kopf überragte, musste sich gelegentlich ducken, um sich an der unebenen Decke nicht zu stoßen.

Es war ein eigenartiges Gefühl, nach mehr als zehn Mondläufen zum ersten Mal wieder die Mine zu betreten. Im Gehen ließ sie ihre Finger über die rauen Felswände gleiten. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Der Geruch nach Felsen und Steinstaub. Die trockene Wärme. Das allgegenwärtige Leuchten des Kristalls. Hier unten schien die Zeit stillzustehen, außer dass sich die Stollen von Jahr zu Jahr tiefer in den Berg gruben. Selbst an ihrem Unbehagen angesichts des Felsgesteins über ihrem Kopf hatte sich nichts geändert. Nur gesellte sich diesmal nackte Angst hinzu. Angst davor, dass Kanhiro ihr ebenso entrissen werden könnte wie ihr Vater.