Kristallherz - Patricia Strunk - E-Book

Kristallherz E-Book

Patricia Strunk

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Beschreibung

Die Gohari stehen vor der entscheidenden Schlacht gegen die Drachen, doch damit ist der Krieg zwischen Echsen und Menschen noch nicht vorbei. Ishira erfährt, was sich vor Urzeiten im Zentrum der Insel abgespielt hat, aber kann ihr dieses Wissen helfen, den Untergang Inagis zu verhindern? Als die Gohari das Ausmaß ihrer Kräfte erkennen, lassen die Befehlshaber sie gefangen nehmen. Yaren wird in die innerhalb der Armee aufflackernden Unruhen hineingezogen und von ihr getrennt. Damit nicht genug, steht Kanhiros Rebellion kurz vor dem Scheitern. Ishiras Schicksal scheint besiegelt – und auch das ihrer Heimat. "Bildgewaltiges Ende einer epischen Fantasy Trilogie mit Suchtfaktor." Wilfried Spies "Großartig; ganz großer Lesegenuß!!!" Kurrer auf Amazon.de Die Inagi-Trilogie: Kristalladern Kristallblut Kristallherz Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de/

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Seitenzahl: 623

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Patricia Strunk

Kristallherz

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

KAPITEL I – Hetzjagd durch die Ruinen

KAPITEL II – Im Herzen Inagis

KAPITEL III – Erinnerungen aus ferner Vergangenheit

KAPITEL IV – Die Schlacht

KAPITEL V – Letzte Hoffnung

KAPITEL VI – An die Geschütze

KAPITEL VII – Die Botschaft

KAPITEL VIII – Schlafe, Drache, schlafe

KAPITEL IX – Traum und Wirklichkeit

KAPITEL X – Ein kühner Streich

KAPITEL XI – Gefangenentausch

KAPITEL XII – Bitterer Verlust

KAPITEL XIII – Im Lager der Raikari

KAPITEL XIV – Magur zeigt sein Gesicht

KAPITEL XV – Rebellenüberfall

KAPITEL XVI – Unglückliches Wiedersehen

KAPITEL XVII – Rivalen

KAPITEL XVIII – In Ketten geschlagen

KAPITEL XIX – Zum Tode verurteilt

KAPITEL XX – Schwingen über den Dächern

KAPITEL XXI – Das letzte Gefecht

KAPITEL XXII – Eine neue Ära

KAPITEL XXIII – Ishiras Plan

KAPITEL XXIV – Rückkehr zur Quelle

KAPITEL XXV – Im Fluss der Energie

PERSONEN

GLOSSAR

DANKSAGUNG

ZUM SCHLUSS

Impressum neobooks

KAPITEL I – Hetzjagd durch die Ruinen

INAGI

KRISTALLHERZ

Patricia Strunk

***

Für meine treuen Leser,

die (un)geduldig auf das Finale gewartet haben.

“Are you gonna do something,

or are you just gonna stand there and bleed?”

aus dem Film ‚Tombstone‘

Ishira verharrte am Eingang zur Ruinenstadt, die Augen auf den Hang gerichtet, hinter dem Yaren verschwunden war. Sie konnte nichts empfinden, an nichts denken. Empfindungen oder Gedanken zuzulassen, hätte bedeutet, den Schmerz einzulassen.

Ihre Brüder standen schweigend neben ihr, ebenso reglos wie sie selbst, und warteten geduldig. Die Schatten wurden länger, bis die Nacht auch das Tor erreicht hatte. Langsam drehte Ishira sich um. Die Zeit wartete nicht. Wenn sie herausfinden wollte, warum die Geister sie hergerufen hatten, und ob ihr dieses Wissen dabei helfen konnte, dem Blutvergießen zwischen Menschen und Amanori ein Ende zu bereiten, musste sie sich beeilen. Wie unmöglich die Erfüllung ihres Wunsches auch immer scheinen mochte: sie klammerte sich an die Hoffnung wie eine Ertrinkende an einen brüchigen Ast, weil sie das Einzige war, was ihre Verzweiflung im Zaum hielt.

Die Geister begannen wieder zu wispern, drängender denn je. Eile dich!Du musst zur Höhle kommen.

Ishira hatte keine Mühe mehr, sie zu verstehen. „Zur Höhle? Aber ich dachte, ihr wolltet mir in den Ruinen etwas zeigen. Habt ihr mir nicht deshalb die Erinnerungen der Stadtbewohner geschickt?“

In der Höhle werden deine Fragen beantwortet werden. Bald wirst du alles verstehen.

Unschlüssig blickte sie die Straße entlang. Sie wusste nur, dass der unterirdische Raum, von dem Yaren gesprochen hatte, irgendwo im Nordosten der Stadt zu finden sein musste.

Ich hätte ihn nach dem Weg fragen sollen.

Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als in ihrem Kopf ein Bild aufblitzte. Die Straße vor dem Palast, in dem sie mit Otaru gewesen war. Das nächste Bild zeigte ein Bauwerk am Rande der Stadt, das wie ein Brunnen in die Erde eingelassen war. Im Hintergrund erkannte sie den Felsen, der über der Quellhöhle aufragte. Sie wandte sich zu ihren Brüdern um. „Der Zugang zur Höhle befindet sich in einer Art unterirdischem Turm auf der anderen Seite der Ruinen. Die Geister werden uns dorthin führen.“

Die drei nickten einvernehmlich, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, den Weg von geisterhaften Stimmen und Visionen gewiesen zu bekommen. Einmal mehr war Ishira dankbar für die Entscheidung ihres Vaters, ihr ihre Brüder zur Seite zu stellen. Jeder andere hätte ihre Worte angezweifelt.

Beinahe jeder andere…

Der kurze Gedanke an Yaren reichte aus, um die in ihrem Innern schwelende Angst neu anzufachen. Sie wallte in ihren Eingeweiden hoch wie eine heiße Flüssigkeit und zog ihr die Kehle so eng zusammen, dass sie beinahe erstickte. Fast meinte sie, seine Lippen wieder auf ihren zu spüren.

Wenn kein Wunder geschah, würde der Morgen eine Schlacht sehen, die erbarmungsloser und schrecklicher wüten würde als alle vorausgegangenen. Menschen und Echsen würden bis zum Äußersten gehen. Yaren war ein begnadeter Kämpfer, aber er war nicht unverwundbar – und er war geschwächt. Wie lange konnte er durchhalten?

Beinahe zornig rieb sie sich über die Lider. Nein, sie würde nicht weinen. Dafür war jetzt keine Zeit – und noch war nicht alles verloren. Energisch richtete sie ihren Blick auf das gesprungene Pflaster der uralten Straße. Die in Bodennähe wabernde Energie tauchte die Ruinen in gespenstisches Zwielicht. Zwischen den verfallenen Gebäuden weiter vorn leuchtete der sichelförmige See im Zentrum der Stadt wie eine Widerspiegelung des Mondes.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit folgten sie der Hauptstraße bis zum Palast. Die Energie gab genügend Licht ab, um ihnen trotz der einsetzenden Dämmerung die Orientierung zu ermöglichen. Im Gegenteil waren Spalten und Risse jetzt sogar besser zu sehen als im Sonnenlicht. Dennoch stolperte Ishira hin und wieder über eine Unebenheit oder stieß sich die Zehen an einem vorstehenden Stein. Neidvoll fragte sie sich, wie ihre Brüder es anstellten, nicht ein einziges Mal aus dem Gleichschritt zu kommen.

Die weitgehend rechtwinklige Anordnung der Straßen erinnerte sie an ein Ujibobrett. Im Zwielicht hatten die Ruinen nichts Großartiges mehr an sich, sondern wirkten abweisend und bedrohlich. Die verfallenen Mauern schienen jeden Moment auf sie niederstürzen zu wollen und aus den unregelmäßigen Steinhaufen wurden in Ishiras überreizter Fantasie lauernde Ungeheuer, deren Atem der Wind war, der durch die leeren Fensteröffnungen strich.

Rechts von ihnen zweigte eine weitere Querstraße ab. An der Kreuzung reckte sich ein einsamer Baum in die Höhe, an dessen verdrehten Ästen nur wenige Blätter hingen, die schimmerten wie aus Licht gesponnen. Als ein Windstoß durch die Zweige fuhr, gaben die Blätter ein leises Knistern von sich. Unmittelbar darauf richteten sich die Härchen in Ishiras Nacken auf.

Der Amanori hockte auf den unkrautüberwucherten Pflastersteinen der Querstraße, als hätte er auf sie gewartet. Kaum ein Muskel regte sich in dem gewaltigen Leib. Nur die Spitze des stachelbewehrten Schwanzes zuckte leicht hin und her. Die Energieaura, die seinen Leib umspielte, ließ ihn seltsam unstofflich erscheinen. Mehr als jemals zuvor wirkte er wie ein Wesen aus der anderen Welt.

Sie hatte ihn nicht kommen hören. Wie lange saß er schon dort?

Die Geister begannen beunruhigt zu summen. Mit dieser Störung hatten sie nicht gerechnet.

Die goldenen Augen des Amanori waren unverwandt auf Ishira gerichtet. Zorn schlug ihr entgegen wie ein Schwall glutheißer Luft. Der umher peitschende Schwanz wehte graubraunen Staub in ihre Richtung. Hinter und neben sich hörte sie das metallische Schaben, mit dem Schwerter aus ihrer Umhüllung gezogen wurden.

„Nein, wartet noch“, gebot sie ihren Brüdern leise. Sie wollte versuchen, Kontakt herzustellen, und das würde nicht einfacher werden, wenn sie die Echse mit Waffen bedrohten.

Die Geister wisperten um sie herum wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm. Flieht!

Ishira zögerte, bemühte sich, den Vorhang aus Zorn zu durchdringen. Von einem Moment zum anderen wechselte die Tonlage der Geister, wurde zu einem windähnlichen Säuseln, das sie an ein Schlaflied denken ließ. Versuchten die Geister, ihr zu helfen und den Amanori zu beschwichtigen? Sie ließ ein Bild von ihr und der Echse entstehen, wie sie friedlich nebeneinander standen und auf die Ruinen blickten, doch es prallte am von Schmerz und Rache verdunkelten Geist ihres Gegenübers ab. Die Wut machte ihn blind und taub für jeden Versuch einer Verständigung. Er stieß einen donnernden Gonglaut aus und erhob sich mit schlagenden Schwingen auf die Hinterbeine. Der aufwirbelnde Staub nahm Ishira die Sicht.

Mahati sprang vor sie. „Lauf!“

Sie wollte protestieren, doch als der Amanori drohend einen Schritt auf sie zumachte, wich sie unwillkürlich zurück. Aus den goldenen Augen loderten Flammen. Das Wispern der Geister war verstummt, als hielten sie in Erwartung des Kampfes den Atem an. Ihre Brüder schlossen die Lücken zwischen sich und bildeten eine Barriere, die sie vor der Echse abschirmte. Sie stieß mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes, spürte das Prickeln der Energie in ihrer Wirbelsäule.

Nicht! schrie sie dem Amanori lautlos entgegen, während sie ein weiteres Mal versuchte, eine Gedankenverbindung zu ihm herzustellen. Wir wollen nicht gegen dich kämpfen. Wir sind nicht deine Feinde.

Der Amanori reagierte nicht. Er war zu sehr in Rage, um sie zu hören – oder hören zu wollen. Wieder stieß er seinen markerschütternden Kampfruf aus. Der Ton war noch nicht verklungen, als der erste Blitzstrahl aus seinem Maul schoss. Ishiras Brüder duckten sich nicht einmal. Sie griffen ihre Waffen fester und antworteten mit einem ebenso durchdringenden Schrei, der klang, als stammte er aus einer einzigen Kehle. In völligem Gleichklang rannten sie los: Otaru stürzte in gerader Linie auf die Echse zu, während Mahati und Izzanak leichte Bögen beschrieben, um ihren Gegner einzukreisen. Dessen Kopf schnellte auf Otaru zu, während er gleichzeitig mit einer Vorderklaue nach Mahati hieb und den stachelbewehrten Schwanz in Izzanaks Richtung schwang. Otaru wich den zuschnappenden Kiefern ebenso geschickt aus wie seine Brüder Krallen und Schwanz. Beinahe zeitgleich stießen sie mit ihren Keshs zu. Der Kampf war so schnell zu Ende, wie er begonnen hatte. Der Amanori gab einen langgezogenen Todesschrei von sich und sank zu Boden, die Schwingen wie in einem letzten Aufbäumen ausgebreitet.

Auf einmal fühlte Ishira sich unglaublich müde. Was hoffte sie eigentlich zu erreichen? Wie wollte sie die Schlacht zwischen Menschen und Echsen verhindern, wenn sie nicht einmal in der Lage war, zu einem einzelnen Amanori durchzudringen?

Flügelschlag riss sie aus ihren trüben Gedanken. Über den Ruinen tauchten drei weitere Echsen auf und hielten auf sie zu. Wieder spürte Ishira, wie sich die Geister ihnen entgegenstellten – und scheiterten. Der Zorn der Amanori war zu groß.

Flieht! gellte der Schrei der Geister in ihrem Kopf. Diesmal verlor Ishira keine Zeit. „Wir müssen hier weg!“ schrie sie ihren Brüdern zu. „Es sind zu viele!“

Sie rannten die Straße entlang, wobei sie immer wieder geborstenen Steinplatten ausweichen und über Risse und Spalten springen mussten. Doch gegen ihre fliegenden Verfolger hatten sie keine Chance. Mit jedem Schlag ihrer Schwingen verringerten die Echsen den Abstand zu ihnen. In wenigen Herzschlägen würden die Amanori sie eingeholt haben.

Vor ihnen ragten die Felsen auf. Die Straße bog scharf nach rechts ab. Sie hatten den am stärksten zerstörten Teil der Stadt erreicht. Sämtliche Gebäude waren bis auf die Grundfesten zusammengestürzt. In einiger Entfernung erblickte Ishira ein Rund aus zerbrochenen Säulen, in dessen Mitte ein Abgrund klaffte. Das musste der unterirdische Turm sein. Sie hatten es beinahe geschafft! Sie zwang ihre Beine dazu, sich noch schneller zu bewegen, obwohl ihre Muskeln schon jetzt bei jedem Schritt protestierten. „Nur noch ein kurzes Stück“, keuchte sie, mehr um sich selbst anzuspornen als ihre Brüder, die im Gegensatz zu ihr nicht im Geringsten außer Atem schienen.

Ein Blitzstrahl schoss zwischen ihnen hindurch. Ishira schlug einen Haken. Der nächste Blitz verfehlte sie nur um Haaresbreite. Über Otarus Oberkörper zogen sich goldene Lichtweben, doch er beachtete sie nicht.

Ein schauriges Brüllen über ihren Köpfen ließ sie zusammenzucken. Der vorderste Amanori hatte sie erreicht.

„Lauft weiter!“ brüllte Izzanak. „Ich lenke sssie ab!“

Bevor Ishira widersprechen konnte, packte Otaru sie am Arm und zerrte sie mit sich. Mahati blieb hinter ihnen zurück, unschlüssig, ob er Izzanak helfen oder dessen Aufforderung folgen sollte. Im Laufen blickte Ishira über ihre Schulter zurück. Noch bevor der Amanori gelandet war, sprangen ihre Brüder auf ihn zu. Ihre Klingen durchschnitten die Luft in zwei perfekten Bögen und stießen zwischen die Hornplatten, die die Flanken der Echse schützten. Das Brüllen des Amanori vermischte sich mit Izzanaks und Mahatis Triumphschreien. Die beiden anderen Echsen schossen einen Blitzhagel auf sie ab und stürzten sich von oben auf sie. Izzanak gelang es mit knapper Not, den zuschnappenden Zähnen auszuweichen. Er schrie Mahati etwas zu, das Ishira nicht verstand, bevor er sich mit blanker Klinge auf den Amanori warf.

„Wir müssen ihnen helfen!“ Verbissen versuchte sie, sich aus Otarus Griff zu winden, doch er packte nur noch fester zu.

„Nein. Dich zu beschützen hat oberste Priorität.“

„Aber-“

„Wo ist dieser Turm?“

Sie zeigte es ihm. Otaru zog sie auf das Loch zu, ohne sich um ihr Sträuben zu kümmern. Die Turmruine schraubte sich tief ins felsige Erdreich. Ihr wurde beinahe schwindelig, als sie in den Abgrund spähte. Weit unten war ein Schutthaufen zu erahnen. Was von der Treppe übrig war, sah nicht sehr vertrauenerweckend aus, auch wenn sie Yaren offenbar getragen hatte. Aber welche Wahl blieb ihnen?

Otaru hatte ihr Handgelenk losgelassen und seinen Fuß auf die oberste Stufe gesetzt. Ein letztes Mal blickte Ishira zurück. Einer der Amanori lag tot am Boden. Die beiden anderen attackierten ihre Brüder mit unverminderter Heftigkeit, obwohl eine der Echsen aus einer Wunde am Hals blutete. Gerade als Izzanak ein weiteres Mal mit seinem Kesh ausholte, schlug der Amanori mit seinen Klauen zu. Ihr Bruder wich zur Seite aus, doch im selben Moment riss die andere Echse, die Mahati ins Visier genommen hatte, ihren Kopf herum. Ishira schrie vor Entsetzen, als deren Maul zuschnappte und Izzanaks Kesh davongeschleudert wurde. Ihr Bruder taumelte von seinem Gegner weg. Statt seiner rechten Hand hing ein blutiger Stumpf an seiner Seite, aus dem die Knochen herausstaken. Mahati wollte ihm zu Hilfe kommen, doch Izzanak stieß ihn grob von sich und brüllte ihn an zu verschwinden. Mahati tat, wie ihm geheißen, und rannte auf den Turm zu. Ishiras Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen, während sie beobachtete, wie Izzanak sich den beiden Amanori entgegenstellte, das Kurzschwert in der linken Hand.

Er kam nicht dazu, die Waffe einzusetzen. Voller Grauen musste sie mit ansehen, wie die Echsen ihren Bruder packten und hochrissen. Dann stand Mahati vor ihr und verstellte ihr die Sicht. In seinen Augen lag eine Härte, die den aufsteigenden Schrei in ihrer Kehle erstickte. Wie betäubt stieg sie in die Tiefe, verfolgt von Izzanaks gellenden Schreien. Als die Schreie abrupt abbrachen, hatte Ishira das Gefühl, etwas in ihr würde erlöschen. Halb blind vor Tränen stolperte sie hinter Otaru her, der bereits ein Stück voraus war. Wie hatte sie nur jemals glauben können, die Amanori würden ihr zuhören?

Ein Blitz schlug dicht neben ihr in die Wand ein. Funken sprühten. Einer der beiden Amanori war am Rande des Turms gelandet und brüllte seine Wut darüber hinaus, dass sie außerhalb seiner Reichweite waren. Der nächste Blitzstrahl traf Mahati mit voller Wucht in den Rücken. Er geriet ins Taumeln, fand jedoch Halt an einer Ranke, die sich ins Mauerwerk krallte. Über ihnen schnaubte der Amanori und schlug seinen Schwanz auf den Boden, dass der Grund erzitterte. Sand rieselte in den Schacht. Mittlerweile war auch die zweite Echse gelandet und umkreiste den Turm. Eine neuerliche Blitzsalve warf flackernde Schatten gegen die Wände. Mahati drängte Ishira weiterzugehen.

Plötzlich prasselten von oben Steine auf sie nieder. Sie riss die Arme hoch, um ihren Kopf zu schützen. Kurz sah sie den Schwanz eines Amanori über dem Schacht, bevor sie von Mahati gegen die Wand gepresst wurde. Er hatte sich über sie gebeugt und deckte sie mit seinem Körper. Weitere Steine stürzten auf sie herab. Die Echsen waren nicht gewillt sie entkommen zu lassen. Mahati zuckte zusammen, als ein großer Mauerstein seine Schulter traf. Seine Hand neben Ishiras Kopf, mit der er sich an der Mauer abstützte, ballte sich zur Faust. Dann ließ der Steinregen nach.

Ihr Bruder richtete sich auf. „Geh weiter“, sagte er gepresst.

Ishira warf ihm einen besorgten Blick zu, doch Mahati scheuchte sie stumm vorwärts. So schnell sie konnte, lief sie die bröckeligen Stufen nach unten. Mehr als einmal glitt sie aus, doch immer waren Mahati oder Otaru da und verhinderten, dass sie stürzte. Über ihnen hörte sie die Amanori wüten. Endlich erreichten sie die nächste Ebene. Jetzt schützten die Stufen über ihren Köpfen sie vor den Angriffen der Echsen. Ishira verlangsamte ihr Tempo etwas und achtete mehr darauf, wohin sie ihre Schritte setzte. Unvermittelt hatte sie das Empfinden, ein fremdes Bewusstsein würde ihren Geist streifen, aber es war ein diffuses Gefühl, als würde ein Schatten vorüberziehen. Über ihnen stießen die Amanori frustrierte Laute aus. Flügelschläge verrieten, dass sie sich in die Luft erhoben hatten. War es nur Zufall, dass die Echsen ihren Angriff in eben diesem Moment abbrachen? Oder hatte der Leitamanori sie zurückbefohlen?

Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, erreichten sie das Ende der Treppe – oder besser gesagt die Stelle, an der die Stufen in dem Schutthaufen verschwanden, den sie von oben gesehen hatte. Die untere Hälfte des Gangs war verschüttet. Geduckt und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, um die Steine nicht ins Rollen zu bringen, arbeiteten sie sich vor bis zu einem Durchgang, hinter dem ein kurzer Korridor tiefer in den Berg führte. Fußspuren im Staub zeigten ihr, dass auch Yaren diesen Weg genommen hatte. Direkt vor ihr waren die Spuren verwischt, als hätte jemand auf dem Boden gesessen – oder gelegen. War Yaren hier zusammengebrochen?

Am Ende des Korridors erwartete sie hinter einem ungewöhnlichen, runden Durchgang ein aus dem Fels geschlagener Raum, dessen gegenüberliegende Wand von einer Ansammlung unterschiedlich dicker Rohre, Stellräder und Hebel beherrscht wurde. Die Rohre hatten früher nach oben durch die Decke geführt, doch die Hälfte von ihnen war infolge der Katastrophe, die zum Untergang der Stadt geführt hatte, geborsten und endete in gezackten Stümpfen. Hatte dieser Raum einst dazu gedient, die Energie zu kontrollieren?

Ishira war von der komplizierten Konstruktion so abgelenkt, dass sie beinahe über die beiden ausgetrockneten Leichen auf dem Fußboden gestolpert wäre. Sie fuhr zurück. Die Männer mussten seit Ewigkeiten tot sein.

Otaru musterte ihre gekrümmte Haltung. „Sind sie genauso gestorben wie die Frau, die wir oben in den Ruinen gefunden haben?“

Er sprach von der Hofdame, deren Erinnerungen ihr die Geister geschickt hatten. Sie nickte. „Hier unten war die Energie mit Sicherheit am stärksten. Die Männer müssen sofort tot gewesen sein.“

Auch jetzt war die Konzentration höher als an der Erdoberfläche. Ein Schauder kroch ihre Schultern entlang, als sie daran dachte, dass auch Yarens Leben hier um ein Haar sein Ende gefunden hätte. Es war so leichtsinnig von ihm gewesen, hierher zu kommen – und alles nur ihretwegen.

Sie warf einen Blick umher, bevor sie auf eine weitere offen stehende Tür neben der Steuerwand zuhielt. Dahinter lag ein zweiter Raum, kleiner als der erste, der bis auf ein einzelnes großes Rohr, das von der Wand neben ihr zur gegenüberliegenden Wand führte, vollkommen leer war. Zerbrochene Tonplatten bedeckten den Boden und knirschten unter ihren Tritten. Es gab keine weiteren Türen.

Hatte Yaren von diesem Raum gesprochen? Aber wo sollte hier ein Zugang zur Höhle sein? Es sei denn…

Sie kehrte in den ersten Raum zurück und betrachtete die Konstruktion. Etwa in der Mitte entdeckte sie, wonach sie suchte. Dort kam das große Rohr aus der Wand und teilte sich in mehrere dünnere Rohre auf. Was würde passieren, wenn sie die Rohre zerschlugen? Floß in ihnen noch immer Energie? Zum ersten Mal kam ihr in den Sinn, dass die Energie am Ursprung so stark sein mochte, dass selbst sie und ihre Brüder nicht lange genug überlebten, um der Höhle ihre Geheimnisse zu entreißen. Aber jetzt waren sie hier. Es gab kein Zurück mehr.

KAPITEL II – Im Herzen Inagis

Den ganzen Weg zu Fuß zu gehen, hatte Yaren mehr erschöpft, als er irgendjemandem gegenüber zugegeben hätte. Wenn es jetzt ein Drache auf ihn abgesehen hätte, hätte er dem Biest nicht viel entgegenzusetzen. Doch nachts griffen die Echsen nicht an. Davon abgesehen war der Canyon, den der Fluss in die Felsen geschnitten hatte, an dieser Stelle so eng, dass ein Drache Schwierigkeiten hätte hier zu fliegen, ohne mit seinen Schwingen die Felswände zu touchieren. Nur kurz nach ihrem Aufbruch aus den Ruinen hatte er geglaubt, einen oder zwei von ihnen in der Ferne brüllen zu hören. Einen Moment hatte er erwogen umzukehren, doch dann hatte er sich gesagt, dass Ishiras Brüder sie besser beschützen konnten als er. Außerdem konnte er die Armee nicht ohne Vorwarnung ins Verderben laufen lassen.

Dennoch haderte er mit seiner Entscheidung, Ishira in den Ruinen zurückgelassen zu haben, obwohl sie dadurch wenigstens nicht in das morgige Kampfgeschehen verwickelt würde. Er warf Yuroka, der neben ihm ging, einen kurzen Blick zu. Wie dieser wohl darüber dachte, dass sie ihn mit ihm zurückgeschickt hatte? Viel geredet hatten sie unterwegs nicht. Der Raikar hatte keine Anstalten gemacht, ein Gespräch anzufangen, und er selbst hatte lediglich herausfinden wollen, ob Ishira ihren Brüdern mehr erzählt hatte als ihm, was jedoch nicht der Fall zu sein schien. Es sei denn, Yuroka war nicht nur schweigsam, sondern auch verschwiegen.

Die meisten Männer schliefen tief und fest, als sie im Lager ankamen. Hier und da schnarchte jemand oder murmelte unverständlich vor sich hin. Am liebsten hätte Yaren sich in seine Decke gerollt und es seinen Kameraden gleichgetan, aber zuerst musste er den Befehlshabern von seiner Vermutung berichten.

Die Kommandanten und die Kundschafter waren noch wach. Sobald Yuroka und er in den Lichtschein des Lagerfeuers traten, kam Bewegung in die Männer.

„Den Göttern sei Dank, Ihr seid zurück“, rief Berelar mit gedämpfter Stimme. „Noch dazu in einem Stück.“

Mebilor hatte sich erhoben und legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter. „Götter, Junge, bin ich froh, dich zu sehen.“

Beruk hingegen runzelte irritiert die Stirn. „Hat die Sklavin unsere Befehle nicht übermittelt oder warum seid Ihr zurückgekommen? Ihr seht mir nicht aus, als würdet Ihr die Dienste eines Heilers benötigen.“

„Glücklicherweise nicht“, bestätigte Yaren. „Ich bin hier, um Euch zu warnen.“

„Uns zu warnen?“ wiederholte Helon. „Wovor?“

„Ich glaube, ich weiß jetzt, warum uns die Drachen bis hierher haben kommen lassen. Warum sie uns genau dort angreifen wollen, wo sie die damalige Armee vernichtet haben.“

Gemurmel setzte ein. Der Shohon sorgte mit einer Handbewegung für Ruhe. „Was habt Ihr herausgefunden, Kiresh Yaren?“

Froh, endlich sitzen zu können, ließ Yaren sich Helon gegenüber am Feuer nieder. Auch Mebilor und Berelar nahmen wieder ihre Plätze ein. „Ich habe mir die Ruinen angesehen. Die Energie ist überall. Sie dringt aus jeder Bodenspalte, durchströmt jede Pflanze und jeden Stein – und sie ist so stark, dass ein Mensch sich dort nicht lange aufhalten kann, ohne Schaden zu erleiden.“

Magur musterte ihn lauernd. „Dass Ihr es dennoch konntet, legt den Schluss nahe, dass Ihr gegen das Gesetz verstoßen und Euch mit dem Blut der Drachen eingerieben habt, obwohl Ihr nicht zu den Koshagi gehört.“

„Eure Schlussfolgerung ist korrekt“, kam der Shohon einer Antwort Yarens zuvor. „Kiresh Yaren hat seine Tat vor seinem Aufbruch in die Ruinen gestanden, nachdem ich ihn mit meinem eigenen Verdacht konfrontiert hatte. Ich unterstelle ihn hiermit Eurem Befehl, Kouran Magur. Zu gegebener Zeit wird eine Strafe über ihn verhängt werden, doch im Moment ist die Verfehlung des Kiresh unser geringstes Problem.“

Yaren neigte den Kopf zum Zeichen, dass er Helons Entscheidung akzeptierte, und wandte sich widerstrebend Magur zu. „Ich stehe zu Eurer Verfügung, Kouran.“

Die Lippen des Paladins wurden schmal. „Ab sofort ist Euer Platz bei meinen Männern. Außerdem ist es Euch untersagt, Euch der Sklavin zu nähern. Ich ersuche den Shohon, für ihre Bewachung einen anderen Kiresh abzustellen – falls sich diese Maßnahme nicht ohnehin erübrigt.“ Seiner Stimme war anzumerken, dass es ihm nicht unlieb wäre, wenn Ishira nicht aus den Ruinen zurückkehrte.

Helon nickte müde, als hätte er diesen Antrag erwartet. Im ersten Impuls wollte Yaren widersprechen, doch er biss sich rechtzeitig auf die Lippen. Magur gegen sich aufbringen, wäre das Dümmste, was er tun könnte. Aber er konnte Ishira nicht einfach irgendeinem anderen Mann ausliefern. Erst recht nicht, nachdem zwei der Kireshi vor ein paar Tagen versucht hatten, sie mit Gewalt zu nehmen. Sein Zorn kochte hoch, wenn er nur daran dachte.

„Ich erbiete mich, die Aufgabe zu übernehmen und ein Auge auf Ishira zu haben“, meldete sich Mebilor zu Wort, als hätte er Yarens stummen Aufschrei gehört. Er warf dem Heiler einen dankbaren Blick zu, den dieser mit einem beruhigenden Nicken erwiderte.

Der Shohon schien erleichtert, dass die Angelegenheit so rasch und ohne sein Zutun geregelt war. „So sei es. Hiermit gebe ich die Sklavin bis auf weiteres in Eure Obhut, Telan Mebilor. – Fahrt mit Eurem Bericht fort, Kiresh Yaren.“

„Die Stadt ist gewaltig und die einstigen Bewohner waren technisch so weit fortgeschritten, dass sie die Energie anzapfen und durch ein ausgeklügeltes Rohrsystem in ihre Häuser leiten konnten.“ Diesmal waren es vor allem die Telani, die aufgeregt zu tuscheln anfingen. Erneut musste der Shohon die Ruhe wiederherstellen. „Ich habe eine unterirdische Kammer gefunden, hinter der aller Wahrscheinlichkeit nach die Energiequelle liegt. Während ich dort unten war, stieg die Energie sprunghaft an. Ich verlor kurze Zeit die Besinnung und konnte deshalb nicht rechtzeitig am Treffpunkt sein. Aber mir wurde plötzlich klar, was die Drachen vorhaben. Sie wollen uns in die Ruinen locken und dann die Energie ansteigen lassen, indem sie ihre Speicher aufladen. Dazu müssen sie vermutlich nicht einmal zum Ursprung fliegen, sondern können es an jeder Stelle innerhalb der Stadt tun, an der Energie austritt. Sobald die Energie uns geschwächt hat, wird es den Echsen ein Leichtes sein, uns den Rest zu geben. Genau genommen brauchen sie überhaupt nichts zu tun. Sie müssen uns lediglich so lange in ihrer Falle festhalten, bis die Energie uns den Garaus macht.“

Einen Moment herrschte schockiertes Schweigen, bis Beruk sich mit der Faust auf den Schenkel hieb. „Bei Kaddors Feuern, Ihr habt Recht! Warum ist uns das nicht früher in den Sinn gekommen?“

Magur schoss Ralan einen finsteren Blick zu. „Deine Tochter muss es gewusst haben“, warf er dem Anführer der Raikari vor. „Schließlich steht sie mit den Drachen in Verbindung. Hat sie uns absichtlich in diese Falle gelockt?“

„Das ist eine unerhörte Unterstellung!“ fuhr dieser auf. „Meine Tochter kann die Präsenz der Echsen spüren, aber nicht ihre Gedanken lesen. Davon abgesehen wäre sie wohl kaum freiwillig in die Stadt gegangen, wenn sie von den Plänen der Drachen gewusst hätte.“

„Ach nein? Was hat sie denn zu befürchten? Schließlich ist sie immun gegen die Energie. Genauso wie deine Zwitter.“

„Immun gegen die Blitze der Drachen“, berichtigte Ralan ihn frostig. „Ich habe keine Ahnung, wie meine Männer auf eine stärkere Dosis der Energie reagieren. Aber du solltest besser dafür beten, dass sie auch dann noch kämpfen können, wenn die Echsen die Energiekonzentration in die Höhe treiben, denn deine Männer werden es vermutlich nicht mehr können. Von den Kireshi ganz zu schweigen. Du hast Kiresh Yaren gehört.“

„Uns gegenseitig Vorwürfe zu machen, hilft uns nicht weiter“, unterbrach Helon ruhig und brachte damit die beiden Streithähne zum Verstummen. „Wir sollten uns besser eine Strategie überlegen, wie wir die Pläne der Drachen vereiteln, sollte sich Kiresh Yarens Vermutung als richtig erweisen. – Wie schätzt Ihr die Gegebenheiten innerhalb der Ruinen ein, Kiresh? Habt Ihr außer der Energie weitere potenzielle Gefahrenquellen ausmachen können?“

„Der See im Zentrum ist ebenso energiegeschwängert wie die blauen Teiche, mit deren Wasser ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, Bekanntschaft zu schließen, und es hat sich eine einzigartige Vegetation entwickelt, die sich an die Energie angepasst hat. Sie scheint mir nicht sonderlich gefährlich zu sein, aber es wäre besser, direkten Kontakt zu vermeiden.“

Helon nickte. „Ich werde es an die Männer weitergeben.“

Den nächsten halben Sanddurchlauf verbrachten sie damit, darüber zu diskutieren, wie die Einheiten aufgestellt und die Geschütze verteilt werden sollten.

„Konntet Ihr Hinweise darauf finden, wodurch die Höhle, in der die Energie ihren Ursprung nimmt, zerstört wurde?“ erkundigte sich Garulan bei Yaren, nachdem alle taktischen Fragen geklärt waren.

„Es könnte ein Erdbeben gewesen sein. In der Nähe der Höhle hat sich die Erde aufgeworfen und die Zerstörungen sind dort am stärksten sichtbar. Aber es kann genauso gut sein, dass die austretende Energie zu Explosionen geführt hat.“

„Ich würde diese Ruinen zu gern erforschen“, sagte Koban wehmütig. „Wir könnten so viel von dieser alten Hochkultur lernen.“

„Die Stadt war in der Tat hochentwickelt“, stimmte Yaren zu. „Möglicherweise besaßen sie sogar fliegende Schiffe. Zumindest waren solche Gefährte an den Mauern des Palastes abgebildet.“

Er hatte kaum ausgesprochen, als die Telani ihn schon mit Fragen bestürmten. Selbst Helon hörte interessiert zu, als er von den Reliefs erzählte.

„Fliegen wie die Drachen!“ rief Koban aus. „Welch wundervolle Vorstellung! Denkt nur, wenn wir die Baupläne für diese fliegenden Schiffe finden könnten!“

„Wenn es uns gelingt, das Loch in der Höhlendecke zu schließen, und keine Energie mehr austritt, wird die Stadt vielleicht auch wieder für normale Menschen zugänglich“, sagte Garulan hoffnungsvoll. „Habt Ihr die Sklavin zu diesem unterirdischen Raum geführt, Kiresh Yaren?“

„Das war nicht nötig. Sie findet den Turm allein.“ Er sprach mit solcher Überzeugung, dass weder Garulan noch Koban an seiner Behauptung zweifelten.

Der Shohon nickte kurz. „Ich denke, dann ist alles besprochen. Bevor wir im Morgengrauen aufbrechen, sollten wir noch etwas Ruhe suchen.“

Die Versammlung löste sich auf. Mebilor nahm Yaren beiseite. „Du siehst schlecht aus. Du hast deinem Körper in den letzten Tagen zu viel zugemutet.“

Yaren hob die Schultern. „Nicht zu ändern. Aber falls Ihr in Eurer Gifttruhe etwas habt, das mich morgen den Kampf durchstehen lässt, wüsste ich das zu schätzen.“

Der Heiler seufzte. „Folge mir.“

„Hat Ishira Euch jemals etwas von Geistern erzählt?“ fragte Yaren im Gehen.

Mebilor sah ihn verständnislos an. „Geistern?“

„Sie hat behauptet, die Geister der Berge oder der Energie oder was weiß ich würden zu ihr sprechen und hätten sie aufgefordert, in die Ruinenstadt zu kommen. Sie sagte, sie hätten ihr die Erinnerungen einer der Stadtbewohnerinnen geschickt.“ Als er es aussprach, merkte er, wie verrückt das klang. Auf einmal war ihm schleierhaft, wie er Ishiras Worte einfach so hatte hinnehmen können ohne nachzufragen. Die Energie musste seinen Verstand benebelt haben.

Doch der Heiler wirkte nicht besonders überrascht. „In Ishiras Fall wundert mich gar nichts mehr, wie unwahrscheinlich es auch klingen mag. Aber, um deine Frage zu beantworten: leider hat sie mir gegenüber etwas Derartiges nie erwähnt.“ Nachdenklich schürzte er die Lippen. „Wenn sie sich außer dir jemandem anvertraut hat, dann höchstens ihrem Bruder – Kenjin, meine ich.“

Als sie am Heck des Lazarettwagens anlangten, schob Mebilor die Plane beiseite und stieg ins Innere. Yaren folgte ihm. Während der Heiler sich daran machte, irgendeinen Trank zusammen zu mischen, ging er hinüber zu Ishiras Bruder, bemüht, keinen der anderen Verwundeten zu wecken. Zuerst glaubte er, auch Kenjin würde schlafen, doch als er neben ihm in die Hocke ging, schlug der Junge die Augen auf. Sofort verfinsterte sich sein Blick, doch Yaren blieb die Angst in den Tiefen seiner Augen nicht verborgen.

„Was wollt Ihr von mir? Geht es um meine Schwester?“

„Ja. Aber um dich zu beruhigen: es ging ihr gut, als ich sie in den Ruinen verlassen habe. Drei der Raikari sind bei ihr.“ Kenjin antwortete nicht, doch seine Züge entspannten sich etwas. Yaren räusperte sich, unsicher, wie er seine Frage formulieren sollte. Schließlich entschied er sich für den direkten Weg. „Hat Ishira mit dir jemals über Geister geredet, die zu ihr sprechen?“

Die Augen des Jungen weiteten sich überrascht. „Woher wisst Ihr davon?“ Dann kehrte der verschlossene Ausdruck zurück. „Wenn meine Schwester mir mehr erzählt hat als Euch, war es offensichtlich nicht für Eure Ohren bestimmt.“

„Wann hat sie dir davon erzählt?“ beharrte Yaren.

Kenjin schwieg einen Moment, bevor er antwortete. „Unmittelbar vor ihrem Aufbruch.“

„Das heißt, sie hatte keine Möglichkeit, mit mir darüber zu reden.“ Warum nur hatte er in den Ruinen nicht richtig zugehört, als Zeit gewesen wäre? „Sag mir, was du weißt, Kenjin, es ist vielleicht wichtig.“

Der Junge zögerte, als würde er abwägen, wie viel er verraten durfte. „Meine Schwester hat nur gesagt, dass sie unbedingt in die Ruinen muss. Dass die Geister ihr dabei helfen könnten, eine Katastrophe zu verhindern.“

„Was für eine Katastrophe?“ Konnte es überhaupt noch schlimmer kommen, als es bereits war?

„Sie war überzeugt davon, dass es falsch ist, die Amanori anzugreifen.“

Yaren runzelte die Stirn. Hatte sie doch geahnt, was die Drachen vorhatten? War sie in Wahrheit aus einem ganz anderen Grund in die Ruinen gekommen, als sie ihn hatte glauben lassen? „Mehr hat sie nicht gesagt?“

Ihr Bruder schüttelte den Kopf. Dann hob er in einer Mischung aus Stolz und Herausforderung das Kinn. „Ihr könnt sie nicht mehr daran hindern, ihrer Bestimmung zu folgen.“

Bevor Yaren etwas erwidern konnte, stand Mebilor neben ihm und reichte ihm eine Schale mit einer klaren honigfarbenen Flüssigkeit, die an Wein erinnerte. „Hier, trink das. Die enthaltenen Kräuter zapfen verborgene Kraftreserven in deinem Körper an und hemmen die Müdigkeit. Die Wirkung tritt erst mit Verzögerung ein, so dass du jetzt noch schlafen kannst. Ich bin grundsätzlich kein Freund solcher Mittel, weil sie meist mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen, aber in diesem Fall ist eine Ausnahme gerechtfertigt. Trotzdem muss ich dich warnen: sobald die Wirkung nachlässt, kommt der unvermeidliche Zusammenbruch, also teile deine Kräfte ein.“

Yaren griff nach dem Gefäß. Der Geruch des Tranks war nicht besonders angenehm. „Ich werde versuchen, Euren Rat zu beherzigen.“ Er leerte die Schale in einem Zug und musste bei dem scharfen und zugleich irgendwie muffigen Geschmack ein Schütteln unterdrücken. Eher Essig als Wein. „Danke.“

Der Heiler machte eine scheuchende Geste. „Schon gut. Such dir lieber einen Platz zum Schlafen.“

Yaren grinste schief und wandte sich zum Gehen, doch aus einem Impuls heraus drehte er sich noch einmal zu Ishiras Bruder um und zog sein Gebo aus dem Gürtel. Der Junge richtete sich erschrocken auf einem Ellbogen auf, als glaubte er, Yaren hätte vor, ihm das Kurzschwert ins Herz zu rammen. Yaren beugte sich zu ihm hinunter und reichte ihm die Waffe. „Hier. Auch wenn ich hoffe, dass du es nicht brauchst.“

Kenjin rührte sich nicht. Ungeduldig schob Yaren das Gebo unter dessen Decken. „Lass es nicht so offen herumliegen. Es würde kein gutes Licht auf mich werfen, wenn jemand sieht, dass ich dir eine Waffe gebe.“

Langsam streckte der Junge die Hand aus und berührte die Klinge. „Habt Ihr keine Angst, dass ich Euch damit die Kehle durchschneide?“

„Wenn es das ist, was du willst, nur zu.“

Mebilor wiegte zweifelnd den Kopf. „Hältst du das für klug?“

„Er ist ihr Bruder. Ich denke, das bin ich ihr schuldig.“

Ihm war zwar bewusst, dass es im Grunde eine leere Geste war, da ein Gebo gegen einen Drachen nichts ausrichten konnte, aber es war alles, was er tun konnte. „Ihr werdet schon aufpassen, dass er keinen Unfug anstellt“, sagte er mit angedeutetem Lächeln, bevor er wieder Kenjin ansah. „Wenn du das Gebo gegen irgendjemand anderen erhebst als gegen einen Drachen, durchbohre ich dich eigenhändig damit. Haben wir uns verstanden?“

Kenjin wandte den Blick ab, als wollte er nicht, dass Yaren seine Gefühle sah. „Ach, geht doch und lasst Euch von den Amanori umbringen!“

Er hob eine Braue. „Ich glaube, deine Schwester wäre über diesen Vorschlag nicht eben glücklich.“

Kenjins Hand umklammerte den Griff des Gebo. Unvermittelt bohrten sich seine Augen in Yarens. „Mir gefällt nicht, wie Ihr meine Schwester für Euch eingenommen habt, Kiresh. Lasst sie in Ruhe, sie braucht Euch nicht. Sie hat sich einem besseren Mann versprochen.“

Yaren war wie vor den Kopf geschlagen. Ishira gehörte einem anderen Mann? „Wem?“ entfuhr es ihm gedankenlos. Die Beleidigung nahm er kaum zur Kenntnis.

„Das geht Euch nichts an!“

Wütend packte er den Jungen am Hemd, doch dann hielt er inne. Weshalb wollte er unbedingt einen Namen? Was änderte das? Plötzlich ernüchtert gab er Kenjin frei und richtete sich auf. Warum hatte Ishira ihm nicht gesagt, dass sie einem anderen versprochen war? Aber hatte er ihr überhaupt Gelegenheit dazu gelassen? Er hatte sie mit seinem Kuss geradezu überfallen.

Aber sie hat ihn erwidert. Oder hatte er sich das nur eingebildet, weil er wollte, dass es so war?

Warum schockiert dich diese Neuigkeit überhaupt so? Du wusstest schon vorher, dass du mit Ishira keine Zukunft haben kannst.

Er brauchte keinen Konkurrenten zu fürchten, weil es nichts gab, worum sie konkurrieren konnten. Genau wie ihm selbst war es Ishira verwehrt, einen Partner zu wählen.

Dennoch fühlte sich Yarens Herz auf einmal an, als hätte jemand eine Zwinge darum gelegt. Er verließ den Wagen ohne ein weiteres Wort.

***

Otaru und Mahati hatten sich vom Schutthaufen am Boden des Turms Steine geholt und schlugen damit auf das Stellrad ein, dass das dicke Rohr mit den dünneren verband. Das Material erwies sich als stabiler als erwartet. Mahati hatte die Lippen fest zusammengepresst. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Ishira beobachtete ihn besorgt. „Was ist mir dir, Mahati?“

„Nichts“, entgegnete er knapp und hieb wie zum Beweis noch kraftvoller auf das Rohr ein. Dennoch entging ihr nicht, dass er nur seine linke Hand benutzte und seine Bewegungen ungewohnt ungelenk waren. Aber genau wie Yaren würden ihre Brüder sich eher die Zunge abbeißen als zuzugeben, dass es ihnen nicht gutging. Diese Angst, Schwäche zu zeigen, war offenbar eine männliche Grundeigenschaft – egal ob menschlich oder echsenblütig.

Endlich waren an den Rohren erste Risse zu erkennen und kurz darauf splitterte ein großes Stück ab. Die Verbindung begann sich zu lösen. Beim nächsten Schlag sog Mahati scharf den Atem ein und ließ seinen Stein fallen. Er sackte gegen das Rohr und umklammerte seine rechte Schulter. Ishira eilte zu ihm. „Mahati? Bist du verletzt?“

„Nein.“ Er wollte sich nach dem Stein bücken.

Sie hielt ihn am Arm fest. „Rede keinen Unsinn. Ich sehe doch, dass du Schmerzen hast.“ Gegen seinen Widerstand drehte sie ihn zu sich herum. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine rechte Schulter in einem unnatürlichen Winkel hing. Sie fasste nach seinem Ellbogen und bewegte die Schulter behutsam. Mahatis Gesicht verzerrte sich, doch er gab keinen Laut von sich. „Ich bin zwar keine Heilerin, aber ich glaube, deine Schulter ist gebrochen. Wir müssen deinen Arm irgendwie ruhigstellen.“ Ihr Blick fiel auf den Gürtel, in dem seine Waffen steckten. „Damit sollte es gehen.“

Ohne auf Mahatis Protest zu achten, zog sie die Schwerter heraus und wickelte das Seidenband von seiner Taille. Sie schlang es mehrfach um seine Schulter und den Oberkörper und band ihm den Arm auf diese Weise am Körper fest. Kritisch besah sie ihr Werk. „Das muss fürs Erste genügen. Wenn wir wieder zurück sind, wird Telan Mebilor deine Schulter richten.“ Sie versuchte nicht daran zu denken, dass sie den Heiler vielleicht nie wieder sehen würde. „Ruh dich aus. Den Rest schaffen Otaru und ich allein.“

Mahati ließ sich auf die Knie sinken. Doch anstatt sich hinzusetzen, senkte er seinen Oberkörper auf den Boden und legte die linke Hand flach neben seinen Kopf. „Verzeih meine Nutzlosigkeit. Ich bin es nicht wert, dir zu dienen.“

Ishira blickte verwirrt auf seinen Hinterkopf. Was war plötzlich in ihn gefahren? „Wovon redest du?“

„Ich habe mich meiner Aufgabe als unwürdig erwiesen. Anstatt dich zu beschützen, wie mein Kommandant mir aufgetragen hat, bin ich zu einer Last für dich geworden.“

„Was redest du denn da? Das ist doch überhaupt nicht wahr!“ Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und hob ihn an, so dass er gezwungen war, sie anzusehen. „Du hast nicht versagt, Mahati. Du hast mich vor den Angriffen der Amanori beschützt. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte der Steinschlag mich getötet. Ich will nie wieder hören, dass du eine Last für mich bist.“

Wie viel Druck auf diesen jungen Männern lasten musste, dass Mahati, nur etwa zwei Jahre älter als Kenjin, glaubte, in der Erfüllung seiner Pflichten versagt zu haben, weil er verletzt worden war. In diesem Augenblick hasste Ishira ihren Vater, obwohl sie wusste, dass letztlich auch er bei der Ausbildung der Drachenkrieger nur seine Befehle befolgt hatte. Er konnte keine Ausnahmen machen, nicht einmal bei seinen eigenen Söhnen.

Sie reichte Mahati ihren Wasserschlauch. „Trink. Und dann ruh dich aus.“

Er gehorchte wortlos, beinahe eingeschüchtert, Verwunderung in den Augen.

Sie hob den Stein auf, den er fallengelassen hatte, und begann, auf das Stellrad einzuhämmern. Einen Moment stand Otaru, der die Szene stumm verfolgt hatte und auf dessen Gesicht sich das gleiche Erstaunen malte wie auf Mahatis, reglos da und beobachtete sie, bevor er seine Arbeit wieder aufnahm. Nach einigen weiteren Schlägen brach das Stellrad ab und riss die dünnen Rohre mit sich. Mit dumpfem Krachen schlug die Konstruktion auf dem Boden auf. Ishira hielt den Atem an, als die austretende Energie über ihren Körper strich, aber sie spürte nicht mehr als ein schwaches Prickeln. Auch ihre Brüder zeigten keine Anzeichen einer Beeinträchtigung. Sie warf den Stein fort und spähte durch die gezackte Öffnung in die Röhre. Am gegenüberliegenden Ende wartete gleißende Helligkeit.

Du hast es beinahe geschafft, wisperten die Geister. Der Ursprung der Energie liegt direkt vor dir.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt würde sich zeigen, ob ihre Hoffnungen mehr waren als Hirngespinste und Wunschvorstellungen. „Ich gehe als erste. Nach mir Mahati und zum Schluss Otaru. Schaffst du es, mit deiner verletzten Schulter durch das Rohr zu kriechen, Mahati?“

Er nickte und kam ungeschickt auf die Füße. Vorsichtig, um sich an den scharfen Kanten nicht zu schneiden, kletterte Ishira in die Öffnung. Gegen das helle Licht kniff sie die Augen zusammen. Der Durchmesser des Rohrs war gerade groß genug, dass sie auf Händen und Knien kriechen konnte, wenn sie den Kopf leicht gesenkt hielt. Schritt für Schritt arbeitete sie sich voran, bis sie unter ihren Fingern die jenseitige Öffnung ertastete. Um sie herum prickelte die Energie und ließ ihre Eingeweide vibrieren wie eine angeschlagene Saite.

Sie öffnete ihre Lider einen Spalt breit. Im ersten Moment hatte sie den Eindruck, direkt in die Sonne zu blicken. Sie legte eine Hand vor die Augen und spähte durch ihre Finger, bis sie sich an das gleißende Licht gewöhnt hatte. Langsam schälten sich Einzelheiten aus ihrer Umgebung. Vor ihr lag eine Höhle gigantischen Ausmaßes. Sie kannte diesen Ort. In ihren Visionen war sie bereits hier gewesen. Sie hielt sich am Rand der Röhre fest und ließ sich auf den unebenen Felsboden hinabgleiten, um sich umzusehen.

In der Höhlenmitte ragte die pulsierende Säule aus Energie auf, die ständiger Veränderung unterworfen war. Überall zweigten fadenartige Gebilde ab und formten sich zu verschlungenen Strängen, die in Boden und Wänden verschwanden, als bestünden diese nicht aus massivem Gestein, sondern wären durchlässig wie Wasser. Auch diese Stränge waren nicht scharf umrissen, sondern verschwammen an den Rändern wie in flirrender Hitze. Um das Zentrum herum schwebten die Lichtkugeln, in denen sich die Geister manifestierten. Ehrfurchtsvoll senkte Ishira den Kopf. An diesem Ort wirkten die alten Götter.

Der Boden war übersät mit Skeletten der Amanori. Das hatten ihre Visionen ihr nicht gezeigt oder sie hatte nicht darauf geachtet. Einige der Skelette waren alt, vielleicht schon Hunderte von Jahren. Bei anderen waren die Knochen noch mit vertrockneten Schuppen überzogen und einige Kadaver sahen so aus, als lägen sie erst wenige Mondläufe dort. Sie dachte wieder an den verwundeten Amanori, der sich von dem Felsüberhang gestürzt hatte. Auch seine Überreste mussten sich irgendwo hier befinden. Ihr Blick wanderte nach oben. Über der Energiequelle war der breite Riss in der Höhlendecke als gezackte Linie zu sehen, hinter der sich dunkel der nächtliche Himmel abzeichnete. Das war die Stelle, durch die die Echsen in die Höhle eindrangen. Die Stelle, an der die Energie entwich.

Sie wandte sich der Röhre zu, um nach ihren Brüdern zu sehen. Gerade tauchte Mahatis Kopf in der Öffnung auf. Als er sich aus dem Rohr schob, streckte sie die Hand aus, um ihm zu helfen, doch im letzten Moment überlegte sie es sich anders. Sie wollte ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. Aber sie hielt sich bereit, ihn im Notfall zu stützen, bis er sicher auf dem Boden stand.

Vielfaches Raunen in ihrem Rücken ließ sie sich wieder zur Energiesäule umdrehen. Die Geister waren auf sie zugeschwebt und tanzten vor ihr auf und ab. Ishira verneigte sich respektvoll.

Keine Zeit für höfliche Floskeln. Bist du bereit?

Sie holte Luft. Endlich würde sie erfahren, weshalb die Geister sie hergeführt hatten. „Ja. Ja, ich bin bereit.“

Die Lichtkugeln entfernten sich ein wenig und verharrten dann, als wollten sie sichergehen, dass Ishira ihnen folgte. Sie wartete, bis auch Otaru aus dem Rohr geklettert war, bevor sie den Lichtern nachlief. Auf halber Strecke zwischen der Röhre und der Energiesäule wiesen die Geister sie an stehenzubleiben.

Die Energie knisterte wie trockenes Holz, das jemand in Brand gesteckt hatte. Ein einzelner Faden ringelte sich aus der Säule und schnellte auf sie zu. Bevor sie schreien oder zurückweichen konnte, hatte er sich um ihre Taille gewickelt.

Hab keine Furcht, Dir geschieht nichts.

Ishiras Sicht verschwamm. Als sich ihr Blick wieder klärte, hatte sie das Gefühl, gleichzeitig in ihrem Körper zu stecken und von außen darauf zu blicken. Otaru und Mahati zogen ihre Waffen, doch im gleichen Augenblick schossen Lichttentakel auch auf sie zu und wanden sich um ihre Arme. Mahati schrie auf und ließ sein Kesh fallen, das er ohnehin nur ungeschickt mit der Linken gehalten hatte. Strauchelnd versuchte er, den Tentakeln auszuweichen, und stürzte schwer auf die Knie. Otaru hingegen umklammerte sein Kesh verbissen und stellte sich vor Ishira, obwohl es nichts gab, wogegen er die Waffe hätte richten können. Sie wollte ihren Brüdern zurufen, die Waffen wegzustecken, doch sie hatte keinen Zugriff auf ihre Stimme. Es war, als sei sie in ihrem eigenen Körper nur Gast.

Ein weiterer Energiestrang schoss auf Otaru zu. Er stöhnte auf. Das Kesh entglitt seinen Fingern und fiel scheppernd auf den Felsboden. Doch obwohl sein Atem keuchend ging und seine Finger zitterten, bückte er sich bereits, um seine Waffe aufzuheben. Auch Mahati versuchte, sich wieder auf die Füße zu kämpfen.

Endlich fand Ishira ihre Stimme wieder. „An diesem Ort braucht ihr mich nicht zu beschützen. Die Energie will uns nichts Böses. Wir müssen es einfach geschehen lassen. Wehrt euch nicht dagegen.“

In Mahatis Blick lag etwas wie Verzweiflung, als hätte er Angst, erneut zu versagen. „Es ist gut“, beruhigte sie ihn. „Ihr habt mir geholfen hierher zu kommen, jetzt liegt es an mir. Was immer passiert: greift auf keinen Fall ein.“

Einen Moment hatte sie Angst, Otaru würde sich ihrer Bitte verweigern, doch dann steckte er sein Kesh ein, bevor er zu seinem Bruder ging und ihm aufhalf. Ishira gelang ein Lächeln – oder zumindest hoffte sie, dass ihre Lippen eines zustande brachten, da ihr die Kontrolle über ihren Körper mehr und mehr entglitt. Sie musste sich auf jedes Wort konzentrieren. „Macht euch keine Sorgen, mir wird nichts geschehen“, wiederholte sie die Worte der Geister.

Die Energie flutete ihre Adern. Wie in ihren Visionen hatte Ishira das Gefühl, ihr Körper würde sich auflösen und mit der Energie verschmelzen, ihre Arme und Beine selbst zu Energiesträngen werden. Sie befand sich inmitten des gleißenden Lichts. Das Summen in ihrem Kopf schwoll an, bis es sie vollständig ausfüllte und es nichts anderes mehr gab als die Energie. Sie wurde ein Teil Inagis und Inagi ein Teil von ihr.

Dann brachen die Bilder über sie herein.

KAPITEL III – Erinnerungen aus ferner Vergangenheit

Sie stand auf einer breiten, gepflasterten Straße. Zu beiden Seiten erhoben sich zwei- und dreigeschossige Gebäude mit aufwändigen Giebelverzierungen und mehrfarbigen Bemalungen. Um sie herum flanierten Menschen in prächtiger, mit Stickereien verzierter Kleidung. Teilweise folgten ihnen schlichter gekleidete Diener, die Körbe und Kisten trugen. Ein paar Kinder rannten an ihr vorbei und versuchten lachend, sich gegenseitig dunkelrote Früchte abzujagen. Zwei von ihnen rempelten dabei versehentlich einen beleibten Mann an, der daraufhin in eine Schimpftirade ausbrach.

Nicht weit entfernt stand ein langgestrecktes Gebäude, dessen Mauern mit bunten Friesen verziert waren. Die Eingänge wurden von Wachen in blau-goldener Uniform flankiert. Ishira benötigte einen Moment, bis sie in dem Bauwerk den Palast wiedererkannte. Das stolze Gebäude, das vor ihr aufragte, hatte kaum Ähnlichkeit mit den verfallenen Mauern, die davon in ihrer Zeit übrig waren.

Als sie an sich hinunterblickte, bemerkte sie verwundert ihren kräftigen Körperbau, Hosen und eine lose Tunika mit einem kostbaren Seidengürtel, in dem ein kurzes Schwert steckte. Sie war in die Erinnerungen eines Mannes eingetaucht.

„Mir gefällt das alles nicht“, sagte jemand neben ihr.

Sie wandte den Kopf. Der Sprecher war ein junger Mann in ähnlicher Kleidung wie sie selbst. Sein volles schwarzes Haar war mit einem blauen Band zusammengebunden, das der Farbe seiner Tunika entsprach.

„Der Prinz ist seit dem Streit spurlos verschwunden“, fuhr er fort. „Das ist jetzt beinahe einen Mondlauf her. Ich sage dir, er führt etwas gegen seinen Bruder im Schilde.“

Der junge Mann, in dessen Körper Ishira steckte, versuchte, die Besorgnis seines Freundes zu zerstreuen. „Was kann der Prinz schon ausrichten? Er bräuchte eine Armee, wenn er uns angreifen wollte, und die hat er nicht.“

„Ich weiß nicht, ich habe irgendwie ein schlechtes Gefühl. Ich habe geträumt, die Stadt würde in Flammen stehen.“

Sie schauderte. „Sag so etwas nicht. Gewiss hat der Traum etwas anderes zu bedeuten. Du solltest einen der Deuter im Tempel aufsuchen.“

Ihr Begleiter nickte nachdenklich. „Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Ich denke, ich werde-“

Den Rest des Satzes erfuhr sie nicht mehr. Um sie her schrien die Leute auf und deuteten zum Himmel. Als Ishira den Blick hob, sah sie über den Bergen mehrere Luftschiffe auftauchen. Was hatte das zu bedeuten? Doch in die Verwirrung des jungen Mannes mischte sich ihre eigene Vorahnung. Sie hatte diese Schiffe schon einmal gesehen: in den Erinnerungen der Hofdame. Es mussten dieselben Schiffe sein. Derselbe Tag.

Der Tag, an dem die Stadt untergegangen war.

Die Schiffe kamen näher. Es waren zehn oder elf. Die Menschen auf den Straßen waren stehen geblieben und verfolgten wie erstarrt, wie ihre Umrisse größer und größer wurden. Auch die Palastwachen beobachteten die Ankunft der Schiffe gebannt. Irgendwo begann ein Gong zu dröhnen, der Ishiras Trommelfell vibrieren ließ. Die ersten Passanten suchten ihr Heil in der Flucht, doch noch stand die Mehrheit gaffend da, als könnten die Menschen nicht glauben, was sie sahen, oder wollten nicht wahrhaben, was es zu bedeuten hatte.

Als die ersten Schiffe die Stadt erreichten, war an der Reling Bewegung zu erkennen. Ishira beobachtete, wie die Männer an Bord etwas abwarfen. Einen Moment später kam es am Stadtrand zu einer Explosion. Dem ohrenbetäubenden Knall folgten die entsetzten Aufschreie der Umstehenden. Die Erschütterungen der Explosion setzten sich bis zu Ishiras Füßen fort.

Die Menschen brachen in Panik aus. Sie rannten wild durcheinander und rempelten in ihrem Bestreben, sich selbst in Sicherheit zu bringen, rücksichtslos gegen Ishira und ihren Begleiter. „Wir werden angegriffen!“ erscholl es überall, als wäre das nicht offensichtlich.

„Ich wusste es“, sagte Ishiras Freund tonlos. „Der Admiral der Luftschiffflotte muss zum Prinzen übergelaufen sein. Unsere eigene Flotte wendet sich gegen uns.“ Er packte sie am Ärmel. „Wir müssen hier weg!“

Sie rannte hinter ihm her, während in ihrem Kopf die Gedanken wild umherwirbelten.

Eine Verschwörung. Yokariyara war einer Verschwörung zum Opfer gefallen.

Es regnete weitere Bomben. Die Stadt wurde zum Tollhaus. Frauen mit schreienden Kindern auf dem Arm flüchteten aus brennenden und einstürzenden Gebäuden auf die Straßen, die immer voller wurden, bis ein Durchkommen fast unmöglich war. Vom Palast her erscholl ein Krachen, das Ishira an die Drachengeschütze erinnerte. Die Garde setzte die Kanonen ein. Eines der Schiffe über ihnen erzitterte, als es von einem Geschoss getroffen wurde. Holz splitterte und in der Flanke tat sich ein großes Loch auf.

In der Ferne rumpelte es, als würde ein Gewitter aufziehen. Aus den Bergen hinter der Stadt stieg gleißender Lichtschein auf. Der Boden unter ihr schwankte so heftig, dass sie taumelte. Vor ihr brach die Straße auf, Steine und Scherben wurden durch die Luft geschleudert.

Heißer Schmerz fraß sich in Ishiras Hals. Sie hörte ihren Begleiter schreien. Dann fühlte sie seine Hände um ihre Schultern. Im nächsten Moment fand sie sich in seinen Armen auf dem Boden wieder. Goldenes Feuer lief über ihren Körper, brannte sich in ihre Haut. Sie rang gurgelnd nach Atem. Doch statt Luft füllte klebrige warme Flüssigkeit ihren Mund. Sie würgte und hustete. Rote Tropfen sprühten von ihren Lippen. Entsetzt tastete sie nach ihrem Hals. Unter ihren Fingern fühlte sie etwas Spitzes, das aus ihrer Haut ragte. Ungläubig blickte sie auf das Blut, das von ihren Fingern tropfte. Ihr Freund sagte etwas, doch seine Worte ergaben keinen Sinn. Seine weit aufgerissenen Augen verschwammen zu dunklen Löchern. Das Verlangen nach Luft wurde unerträglich.

Etwas zog an ihr, sog sie in sich hinein. Von einem Moment auf den anderen wurde es blendend hell. Es kam ihr so vor, als würde sie in einem Strudel aus Licht herumgewirbelt. Unzählige Bilder flammten in ihr auf und sie hörte unzählige Stimmen gleichzeitig schreien. Auch in ihr selbst stieg ein Schrei auf, doch sie besaß keine Kehle mehr, um ihn zu artikulieren. Vage nahm sie wahr, dass sie auf dem felsigen Höhlenboden kniete, bevor sich eine neue Erinnerung in ihren Geist drängte.

Sie befand sich auf einem der Luftschiffe. Wieder war sie ein Mann, ein Soldat diesmal, ein Besatzungsmitglied des Luftschiffs. In seinem Innern brodelte eine merkwürdige Mischung aus Erregung und Scham. Instinktiv erkannte Ishira, dass die Reue eine spätere Empfindung war, ein Teil seiner Erinnerung, nachdem er Jahrhunderte Zeit gehabt hatte, über die Katastrophe und seinen eigenen Beitrag dazu nachzudenken. Damals hatten ihn keine Bedenken zögern lassen.

Das Schiff hatte die Ausläufer der Stadt beinahe erreicht. Vorsichtig hob Ishira eine der Bomben aus dem hölzernen Gestell neben sich und wog die Metallkugel, die aus zwei zusammengefügten Hälften bestand, prüfend in der Hand. Aus der Erinnerung des Soldaten zog sie die Information, dass die Bombe mit Eisensplittern und einem Gemisch gefüllt war, dass bei ausreichender Erschütterung explodierte. Sie hielt die Bombe über die Reling und wartete auf das Zeichen, sie abzuwerfen, als das Schiff unvermittelt von einer Windböe gepackt wurde und wild zu schlingern begann. Ishira wurde gegen die Reling geschleudert. Die Bombe entglitt ihrem Griff und fiel in die Tiefe. Fluchend rappelte sie sich auf und beugte sich über die Reling. Was dann geschah, ging zu schnell, um es mit dem Verstand zu erfassen. Eine Wolke aus Stein und Staub markierte die Stelle, an der die Bombe detonierte. Gleißende Helligkeit schoss aus dem Boden, als hätte die Explosion eine unter der Erde eingesperrte Sonne freigesetzt. Eine Erschütterung lief durch das Schiff, als es von der Druckwelle der Explosion erfasst wurde. Ishira wurde von den Füßen gerissen und stürzte in das Holzgestell mit den Bomben. Etwas kroch über ihre nackten Arme, als wäre eine Armee aus Ameisen über sie hergefallen. Im nächsten Moment verging die Welt in einem ungeheuren Lichtblitz.

Bevor Ishira Zeit hatte, sich von dem Schock ihres neuerlichen Todes zu erholen, stürzte die nächste Erinnerung auf sie ein … und die nächste und wieder die nächste – ganz so, als versuchten die ehemaligen Einwohner der Stadt alle auf einmal, in ihren Geist einzudringen und sich Gehör zu verschaffen. Wieder und wieder wurde sie Zeugin des Angriffs auf Yokariyara, durchlebte die letzten Momente der Opfer in dieser Welt und starb eines schrecklichen Todes. Die Stadt explodierte um sie her, Straßen brachen auf, Rohrleitungen barsten und die freigesetzte Energie ergriff Besitz von Bauten und Lebewesen. Sie wurde von umherfliegenden Splittern zerfetzt, von einstürzenden Bauwerken erschlagen, von einer Erdspalte verschluckt, die sich zu ihren Füßen auftat, und von der austretenden Energie niedergestreckt. Es war zu viel. Die Eindrücke wurden zu verschwommenen Bildfetzen, als würde sie auf die Oberfläche sich beständig kräuselnden Wassers schauen und jede Welle eine Erinnerung auslöschen und die nächste entstehen lassen, bevor die vorherige vollständig ausgebildet war. Entgegengesetzt dazu reicherten sich die Schmerzen der Opfer in ihr an und vervielfältigten sich, bis ihr Geist es nicht länger ertrug und sie in gnädiger Dunkelheit versank.

KAPITEL IV – Die Schlacht

Yaren wurde noch vor dem Gong wach. Die bleierne Müdigkeit, die ihm gestern in den Knochen gesteckt hatte, war verschwunden. Tatsächlich fühlte er sich erstaunlich munter, als hätte er einen ganzen Tag lang geschlafen und nicht nur wenige Stunden. Mebilors Trank schien gewirkt zu haben. Blieb nur zu hoffen, dass die Wirkung nicht zu früh nachließ und ihn mitten im Kampf fällte.

Rasch kleidete er sich an. Beim Anlegen seiner Rüstung ließ er besondere Sorgfalt walten. Gewissenhaft, beinahe schon wie als Teil eines Rituals kontrollierte er, ob Brustpanzer, Arm- und Beinschienen richtig saßen und sicher befestigt waren. Dann zog er sein Kesh aus der Scheide und prüfte es auf seine Schärfe. Die Trossschmiede waren nicht so kunstfertig wie Rohins Vater, dennoch war die Klinge noch immer so scharf, dass ein Tropfen Blut aus seinem Finger quoll, als er sie berührte. Zufrieden polierte er die Waffe ein letztes Mal, bevor er sie zusammen mit seinem Gebo in den Gürtel steckte.

Als er das Zelt verlassen wollte, streifte sein Blick Ishiras Rehime, das neben ihrer verwaisten Schlafstatt am Pfosten hing. Er blieb stehen und strich mit den Fingerspitzen über die Hülle. Wenn alles gut gegangen war, hatte sie den Turm gefunden und es gab von dort aus tatsächlich einen Zugang zur Höhle. War sie jetzt gerade dort? Hatte sie herausgefunden, was sie wissen wollte?

Hatte sie die Höhle überhaupt betreten können? Ein normaler Mensch würde eine so hohe Konzentration der Energie nicht überleben. Selbst sein eigener, durch das Drachenblut veränderter Organismus war dazu nicht in der Lage. Nur die Drachen selbst waren gegen die Energie immun – und ihre Abkömmlinge. Zumindest war es das, was Ishira glaubte.

Und wenn sie sich geirrt hat?

Seine Finger verharrten auf dem rauen Stoff. Dann wäre auch sein Leben vorbei.

Als er aus dem Zelt trat, überzog der Sonnenaufgang den Himmel mit blutigem Rot wie einer Vorahnung des Todes. Nach einem Blick auf das Lager, über dem trotz reger Betriebsamkeit eine unheimliche Ruhe lag, ging Yaren zu den Köchen hinüber, die bereits dabei waren, an eine lange Schlange hungriger Kireshi Reisbrei auszuteilen. Kaum jemand sprach. Die meisten Männer waren zu sehr mit ihren eigenen Gedanken und Ängsten beschäftigt, als dass ihnen der Sinn nach einer Unterhaltung gestanden hätte.

Aus dem Augenwinkel sah er Mebilor herankommen. Gewöhnlich ließ die Vitalität des Heilers vergessen, dass er die Sechzig nicht erst gestern überschritten hatte, doch jetzt verrieten die tiefen Sorgenfurchen in seinem Gesicht sein Alter. Seine Bewegungen waren langsam und schleppend. Nur sein Blick hatte nichts von seiner forschenden Eindringlichkeit verloren.

„Wie fühlst du dich?“ wollte er wissen.

„Ausgeruht. Was immer in Eurem Gebräu war, hat seine Wirkung getan.“

„Freut mich zu hören. Aber übertreib es nicht“, ermahnte Mebilor ihn noch einmal. „Sobald die Wirkung der Kräuter nachlässt, wird die Erschöpfung mit aller Macht zurückkehren. Dieser Trank gaukelt deinem Körper die Erholung lediglich vor.“

Er warf Yaren einen weiteren prüfenden Blick zu, zögerte, als wäre er unsicher, ob er sagen sollte, was zu sagen er im Sinn hatte, und gab sich schließlich einen Ruck. „Du nimmst dir zu Herzen, was der Junge gestern Nacht gesagt hat, nicht wahr?“

Yaren zuckte nichtssagend mit den Schultern. Er wäre dankbar gewesen, wenn der Heiler ihn nicht ausgerechnet jetzt an seinen Nebenbuhler erinnert hätte. Egal, was er sich einzureden versuchte: er war eifersüchtig auf diesen anderen Mann.

„Du solltest mit Ishira sprechen, wenn sie wieder da ist“, riet Mebilor ihm.

„Was sollte das bringen? Ihr wisst so gut wie ich, wie die Dinge stehen.“

„Ja, ich weiß. Aber es gibt immer eine Möglichkeit.“

Diese wenigen Worte genügten, um in Yaren eine irrationale Hoffnung zu wecken. Gespannt wartete er darauf, dass Mebilor weitersprach, doch statt einer Erklärung legte der Heiler ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. „Mögen die Götter uns heute gewogen sein, besonders dir, mein Junge.“

Yaren ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. „Das waren sie selten genug. Falls wir uns nicht wiedersehen, kennt Ihr meine einzige Bitte.“

„Ich werde für Ishira da sein“, versprach der Heiler.

„Yaren, Mebilor.“

Unbemerkt war Rohin hinter sie getreten. Der junge Erfinder der Drachengeschütze musste sich in aller Eile angekleidet haben. Sein Gürtel war unordentlich um die Taille geschlungen und aus seinen aufgesteckten Haaren hing eine Strähne heraus. Auf seinen Wangen lagen dunkle Schatten. Müde wünschte er ihnen einen guten Morgen, was angesichts der bevorstehenden Schlacht wie reiner Hohn klang, während er sich die widerspenstige Strähne hinters Ohr strich. „Heute ist der Tag der Entscheidung.“

Gegen seinen Willen musste Yaren daran denken, was Ishiras Bruder ihm erzählt hatte, bevor dieser ihn damit konfrontiert hatte, dass er nicht der einzige Mann im Leben seiner Schwester war. Wie kam sie darauf, dass die Armee dabei war, einen großen Fehler zu begehen, wenn sie von den Plänen der Drachen, die Energie zum Anstieg zu bringen, angeblich nichts gewusst hatte? Er konnte sich nicht vorstellen, was falsch daran sein sollte, die Drachen zu töten. Trotzdem nagte der Zweifel an ihm wie eine Ratte an totem Fleisch.

„Es ist merkwürdig“, sagte Rohin fast wie zu sich selbst. „Die ganze Zeit über habe ich mich vor diesem Augenblick gefürchtet, doch jetzt, wo er da ist, bin ich beinahe erleichtert.“