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Siegesgewiss bricht die goharische Armee ins Zentrum Inagis auf, um die gefürchteten Drachen endlich zu vernichten – nicht ahnend, dass Kanhiro zur selben Zeit die Inagiri zur Rebellion aufstachelt. Die Kämpfe gegen die Echsen fordern immer höheren Blutzoll. Ishira, die gezwungen wird, ihre Gabe für die Gohari einzusetzen, bangt um das Leben ihres Bruders. Doch nicht nur um seines, denn ihr Herz beginnt sich gegen ihren Willen Yaren zuzuwenden. Eine schockierende Entdeckung lässt Ishira an sich selbst verzweifeln und zu allem Überfluss droht ihr auch noch die Kontrolle über ihre Kräfte zu entgleiten. "Liest sich atemberaubend gut runter." A.I.S. "Ein wundervolles Fantasy-Werk, das in keinem (virtuellen oder realen) Bücherregal fehlen sollte." Karoline Degasperi auf amazon.de "[...] diese Reihe ist wie die richtig guten alten Fantasybücher geschrieben, bei denen es noch nicht nur um Romanze ohne Plot geht." Anna-Lena Spies auf amazon.de Qindie steht für qualitativ hochwertige Indie-Publikationen. Achten Sie also künftig auf das Qindie-Siegel! Für weitere Informationen, News und Veranstaltungen besuchen Sie unsere Website: qindie.de/
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Patricia Strunk
Kristallblut
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Inhaltsverzeichnis
Titel
KAPITEL I – Fluchtpläne
KAPITEL II – Er kann lachen
KAPITEL III – Von Drachen und Steinen
KAPITEL IV – Auf und davon
KAPITEL V – Jäger und Gejagte
KAPITEL VI – Die Steine kommen ins Rollen
KAPITEL VII – Ein Fleisch gewordener Alptraum
KAPITEL VIII – Der Sturm bricht los
KAPITEL IX – Drachenblut
KAPITEL X – Vater und Tochter
KAPITEL XI – (Bluts)bande
KAPITEL XII – Feuer und Verzweiflung
KAPITEL XIII – Überrascht
KAPITEL XIV – Keine Geheimnisse mehr
KAPITEL XV – Oshue
KAPITEL XVI – Das Licht des Kristalls
KAPITEL XVII – Die blauen Teiche
KAPITEL XIII – Den Tod vor Augen
KAPITEL XIX – Verbotene Gefühle
KAPITEL XX – Spuren der Vergangenheit
KAPITEL XXI – Ozamis Geständnis
KAPITEL XXII – Abschied
PERSONEN
GLOSSAR
DANKSAGUNG
ZUM SCHLUSS
Impressum neobooks
INAGI
KRISTALLBLUT
Patricia Strunk
***
In Erinnerung an
meinen Onkel Erhard Lamché,
der die Veröffentlichung dieses Werkes
nicht mehr erlebt hat.
Dein Optimismus
wird mir immer Ansporn sein.
„What lies behind us and what lies before us are tiny matters compared to what lies within us.” – Henry Stanley Haskins
Wie eine gepanzerte Schlange wand sich die goharische Armee durch den Wald, eine Schneise aus umgehauenen Bambusstangen und zerfurchter Erde hinter sich zurücklassend.
Solange sie auf den Straßen unterwegs gewesen waren, die Inuyara mit den Minensiedlungen im Nordosten verbanden, hatten sie keine großen Schwierigkeiten gehabt sich fortzubewegen. Doch jetzt, da sie das besiedelte Gebiet hinter sich gelassen hatten, gab es nur noch vereinzelte Jägerpfade und Wildwechsel, die das Heer nicht benutzen konnte, und so blieb den Kireshi nichts anderes übrig, als sich entlang der Talsohle quer durch den Wald zu schlagen.
Nun, genau genommen waren es nicht die Kireshi, die Äxte und Schwerter schwangen: Es war keine Frage gewesen, dass den Söldnern die Aufgabe zukam, der Armee den Weg zu bahnen. Überhaupt hatten die Raikari bisher für alle schweren Arbeiten herhalten müssen, so dass in Ishira bald der Verdacht keimte, dass ihnen in den Augen der Gohari kein wesentlich höherer Stellenwert zukam als Sklaven. Doch falls die Söldner sich ungerecht behandelt fühlten, ließen sie es sich nicht anmerken. Ohne zu murren taten sie, was die Befehlshaber ihnen auftrugen, und blieben ansonsten unter sich.
Kiresh Yaren war mit den Kundschaftern zu einem Erkundungsritt aufgebrochen und hatte Ishira in der Obhut Mebilors gelassen. Zwischendurch hatte sie immer wieder ein paar Worte mit dem Heiler gewechselt, doch seit geraumer Weile unterhielt er sich mit Rohin. Ishira hatte nur mitbekommen, dass es um die Wirkstoffe irgendwelcher Substanzen ging, aber da dieses Thema sie nicht sonderlich interessierte und sie die Hälfte davon ohnehin nicht verstand, war ihre Aufmerksamkeit rasch erlahmt. Doch sobald ihre Gedanken auf nichts Bestimmtes gerichtet waren, brach sich sofort wieder die Angst Bahn. Angst, sich auf einer Reise ohne Wiederkehr zu befinden. Um ihren Geist zu beschäftigen, ließ Ishira ihren Blick über die Landschaft schweifen und versuchte, die kuriosen Formen der Felsen zu deuten, die vereinzelt aus den Bambusstauden aufragten. Schräg vor ihr standen zwei Frauen mit Kiepen auf dem Rücken und stritten miteinander, die Hände gestikulierend erhoben. Ein Stück weiter erinnerte eine bemooste Formation an die Ruinen einer Festung mit einem halb eingestürzten Turm.
Nachdenklich fuhr Ishira mit der Zunge die Innenflächen ihrer Zähne entlang. Möglicherweise hatten ihre Vorfahren einst tatsächlich hier gesiedelt. Vorausgesetzt, sie waren dabei den Amanori nicht in die Quere gekommen. Zwar hatten die Echsen die Menschen früher nicht angegriffen, aber sie hätten wohl kaum ein Eindringen in ihren Lebensbereich toleriert.
Beim Gedanken an die Amanori wanderte Ishiras Blick nach oben, schätzungsweise zum hundertsten Mal in den letzten Tagen – als hätte Kiresh Yaren sie mit seiner zwanghaften Beobachtung des Himmels angesteckt. Der Ausschnitt, den sie zwischen den sich im Wind wiegenden Bambusstangen sehen konnte, war wie all die Male zuvor grau und leer. Seit ihrem Aufbruch hatte sich noch kein einziger Amanori gezeigt, aber Ishira fiel es schwer zu glauben, dass die Echsen sie noch nicht entdeckt hatten.
„Eigentlich ist es ein Wunder, dass unsere Gegner uns nicht schon längst empfangen haben, so wie wir uns durch den Wald wälzen“, sprach Mebilor ihre Gedanken aus. „Eine Horde wildgewordener Umasus könnte keine auffälligere Spur hinterlassen.“
Rohin zuckte zusammen. „Wollt Ihr sagen, die Drachen könnten schon ganz in unserer Nähe sein?“
Ishira wusste, dass der junge Gelehrte sich außerhalb der Stadtmauern Inuyaras ungefähr so wohl fühlte wie ein Keiko, den man aus seiner Behausung gezerrt hatte. Sie hatte keine Ahnung, inwieweit er freiwillig hier war, um den Einsatz der von ihm entwickelten Geschütze zu koordinieren, aber sie glaubte aus einigen seiner Äußerungen herausgehört zu haben, dass der Statthalter auch auf ihn Druck ausgeübt hatte. „Sie sind jedenfalls nicht so nahe, dass ich ihre Aura wahrnehmen könnte“, beruhigte sie ihn.
Rohin entspannte sich sichtlich. Rührte sein Vertrauen in sie daher, weil sie ihm damals in Noroko geholfen hatte? Oder weil er wusste, dass die Gohari sie in der Hand hatten?
Ishira wandte sich im Sattel um, aber von ihrer Position aus konnte sie ihren Bruder, der neben dem Kutscher auf einem der Munitionswagen mitfuhr, nicht sehen. Doch sie wusste auch so, dass er Handfesseln trug und scharf bewacht wurde. Die Gohari kannten seinen Wert: Kenjin war das Pfand, um sie gefügig zu machen. Ishiras Finger schlossen sich fester um die Zügel ihrer Stute. Sie würde nicht zulassen, dass ihr kleiner Bruder von den Gohari misshandelt wurde, nur weil er das Pech hatte, sie zur Schwester zu haben. Aber ihr Plan, mit ihm zu fliehen, hatte sich bisher als undurchführbar erwiesen. Obwohl die letzte menschliche Ansiedlung bereits fünf Tagesreisen hinter ihnen lag, hatten die Gohari ihre Vorsichtsmaßnahmen nicht gelockert. Keine Chance, Kenjin zu befreien. Dabei standen ihre Aussichten, heil aus den Bergen herauszukommen, schon jetzt alles andere als gut und mit jedem Schritt, den sie noch tiefer in die Wildnis vordrangen, sanken sie weiter. Langsam lief ihr die Zeit davon.
Dachte Ishira allerdings daran, was sie erwartete, falls ihr Plan fehlschlug, war es vielleicht besser, es gar nicht erst zu versuchen. Aber selbst im Falle einer erfolgreichen Flucht würden ihre Schwierigkeiten danach erst richtig anfangen. Nach Hause war es zu Fuß eine Reise von vielen Tagen. Ishira war nicht einmal sicher, ob sie den Weg nach Soshime finden würde. Es wäre schon schwierig genug gewesen, wenn sie sich auf den Handelsstraßen hätten fortbewegen können, aber natürlich kam das nicht infrage. Sie würden sich ständig verbergen müssen, weil die Gohari sie mit Sicherheit verfolgen würden. Das hieß, Kenjin und sie würden vielleicht einen ganzen Mondlauf benötigen, um ihr Heimatdorf zu erreichen.
Wovon sollten sie sich unterwegs ernähren? Vom Jagen oder Fallenstellen hatten weder Kenjin noch sie Ahnung und allzu viele essbare Pflanzen kannte sie auch nicht. Den Minensiedlungen konnten sie sich nicht nähern ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Die Kireshi in der Garnison würden ohne zu zögern die Hunde auf sie hetzen. Ein Schauder lief Ishiras Schultern entlang, als sie an die riesigen Bluthunde dachte. Wäre Kiresh Yaren nicht gewesen, hätten einer von ihnen ihr damals in Ebosagi den Garaus gemacht. Doch selbst wenn Kenjin und sie es allen Widrigkeiten zum Trotz bis nach Hause schafften: Was würde sie dort erwarten? Würde Kanhiro überhaupt noch da sein?
Der Gedanke an ihren Freund weckte die leise Traurigkeit, die in den vergangenen Wochen ein vertrauter Begleiter geworden war. Noch nie war sie so weit und so lange von ihm getrennt gewesen oder war es so ungewiss gewesen, wann sie ihn wiedersehen würde. Seit Kiresh Yaren sie vor beinahe zwei Mondläufen ins goharische Feldlager geschleppt hatte, hatte sie jeden Tag die Ankunft eines Boten gefürchtet, der die Nachricht überbrachte, dass die Inagiri sich erhoben hatten, und die Kireshi zu den Waffen rief. Den Ahnen sei Dank, war kein Bote gekommen und die Armee war wie geplant ausgerückt. Obwohl diese Tatsache Ishira hätte beruhigen sollen, war dies nur zum Teil der Fall. Sie zweifelte nicht daran, dass es Kanhiro gelungen war, die Dorfbewohner von seinen Plänen zu überzeugen. Wahrscheinlicher war, dass er von dem Feldzug erfahren hatte und deshalb abwartete. Ishira biss sich auf die Lippen. Nichts konnte den Sturm noch verhindern. Nur wo würde sie sein, wenn er losbrach?
Mebilor beugte sich zu ihr herüber, so dass die Krempe seines breitrandigen Strohhuts, den er sich zum Schutz gegen die Sonne auf das schüttere Haupthaar gesetzt hatte, beinahe gegen ihre Stirn stieß. „So tief in Gedanken? Machst du dir Sorgen um deinen Bruder?“
Ishira fuhr zusammen. Sie musste sich besser in der Gewalt haben! Wenn sich ihre Gefühle so deutlich in ihrem Gesicht spiegelten, konnte sie ihre Pläne gleich laut verkünden.
„Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, Yaren und ich könnten die Kommandanten dazu bewegen, deinem Bruder ein wenig mehr Bewegungsfreiheit zu gewähren“, fuhr der Heiler leise fort, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Aber ich war wohl ein wenig zu blauäugig. Insbesondere der Bashohon hat sich dagegen ausgesprochen, den Druck auf dich zu mindern. Er traut dir nicht weiter, als er dich werfen kann, um seine eigenen Worte zu bemühen. Helon ist ein wenig zugänglicher, aber letztlich ist er für die Sicherheit all dieser Männer hier verantwortlich. Er muss zuerst an ihr Wohlergehen denken.“
Ishira erwiderte seinen Blick überrascht. Er und Kiresh Yaren hatten sich für ihren Bruder eingesetzt? Dann war vielleicht doch noch nicht alles verloren.
Der winzige Hoffnungsschimmer erlosch jedoch so schnell, wie er aufgeflackert war. Auch wenn die beiden Gohari einen gewissen Einfluss besaßen, glaubte Ishira nicht daran, dass die Heerführer ihre Meinung ändern würden. Sie selbst würde jemandem, von dem sie genau wusste, dass er ihr lediglich aus Zwang half, auch nicht mehr vertrauen als der Bashohon.
Die Reiter vor ihr zügelten ihre Pferde. Als Ishira den Hals reckte, um an den Heerführern vorbei zu spähen, sah sie ihren Begleiter mit den beiden anderen Kundschaftern auf dem Weg warten. Irgendwo plätscherte es leise. In der Nähe musste sich ein Wasserlauf befinden.
„Von jetzt an wird das Gelände schwieriger“, ließ der Kiresh die Befehlshaber wissen, obwohl es dieses Hinweises kaum bedurft hätte. Jeder konnte sehen, dass der Bambuswald einige Pferdelängen vor ihnen in Zedernwald überging. Auch wenn die Bäume nicht besonders eng beisammen standen, war der Boden dicht mit Farnen bewachsen, die streckenweise mannshoch wucherten. „Weiter vorn schneidet einen Fluss unseren Weg“, fuhr Kiresh Yaren fort und wies hinter sich. „Das Wasser ist zwar nicht tief, aber das Ufer ziemlich abschüssig. Wir werden für die Gespanne Rampen bauen müssen. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Können wir das Gewässer nicht an einer anderen Stelle überqueren?“ erkundigte sich der Shohon.
Ishiras Begleiter schüttelte den Kopf. „Im Westen endet das Seitental nach wenigen Pferdelängen an einem Wasserfall und im Osten ist das Gelände zu unwegsam.“
„Dann werden wir wohl zunächst einmal Bäume fällen müssen.“ Der Erste Heerführer gab seinem Adjutanten einen Wink. „Richte dem Kouran der Raikari aus, dass er ein paar von seinen Männern mit Kiresh Yaren vorausschicken möge. Sie sollen Äxte mitbringen.“ Der Mann nickte und wendete sein Pferd.
Ishiras Begleiter lenkte seinen Braunen neben das Reittier des Shohon. „Es wird bald dunkel. Heute werden wir mit den Rampen nicht mehr fertig.“
Helon warf einen Blick nach oben, als wollte er abschätzen, wie lange sich das Tageslicht noch halten würde, bevor er sich im Sattel umwandte. „Absitzen!“ rief er über die Reihen der Kireshi hinweg. „Wir schlagen hier unser Lager auf!“
Ishira hörte, wie sein Befehl nach hinten weitergegeben wurde. Neben ihr seufzte Mebilor erleichtert und dehnte seine Schultern. „Preis den Göttern! Ich bin schon ganz steif. Ein wärmendes Feuer und ein kräftiges Abendessen sind jetzt genau das Richtige.“
Auch Ishira war froh, endlich aus dem Sattel zu kommen. An ihren Waden strich kühle Luft entlang und ließ sie frösteln. Ohne Sonnenschein war es in den Bergen selbst jetzt im Frühling ungemütlich kalt, seit die Kristalladern immer weniger Wärme spendeten. Nachts rückten die Kireshi dicht an die Feuer heran und für die Zelte wurden in der Glut Steine erhitzt, von denen es in dieser Gegend reichlich gab. Ishira ließ sich zu Boden gleiten und klopfte Leshas Hals, woraufhin ihre Stute den Kopf wandte und ihr freundschaftlich ins Ohr schnaubte. Ishira kicherte, weil sie der warme Atem kitzelte. „Du freust dich wohl auch, dass wir rasten, was?“
Sie langte zu ihren Satteltaschen hinauf, um die Gurte zu lösen, mit denen ihr Zelt verzurrt war. Die tragbaren Zelte waren ausgeklügelte Konstruktionen aus fünf Bambusstäben. Vier davon waren am unteren Ende zugespitzt, so dass sie sich leichter in den Boden drehen ließen. Jeweils zwei wurden an den beiden Enden der fünften Stange in die dafür vorgesehenen Löcher gesteckt, so dass der Aufbau insgesamt ein langgestrecktes Dreieck ergab. Alle Stangen bestanden aus zwei ineinander steckenden Stäben, die man je nach Bedarf ausziehen konnte, um die Breite oder Länge des Zeltes zu variieren, so dass bis zu vier Personen darin Platz fanden. Kleine Zapfen verhinderten, dass die Stangen ineinander rutschten. Das fertige Gerüst wurde mit einer regendichten Plane aus geöltem Stoff abgedeckt, deren Enden mit Schnüren und Pflöcken am Boden fixiert wurden. Die Zelte waren verhältnismäßig leicht zu transportieren und ließen sich zu zweit ohne großen Zeitaufwand zusammenbauen. Die Sache allein zu bewerkstelligen, würde sich etwas schwieriger gestalten, aber auf Kiresh Yaren warteten heute andere Pflichten. Ishira hievte das schwere Bündel von Leshas Rücken und sah sich nach einem geeigneten Platz um. Sie entschied sich für eine Stelle mit weichem Moos und schleppte Satteltaschen und Zeltgestänge dorthin.
Dass sie mit ihrem Begleiter im selben Zelt schlief, hatte bei den Kireshi für unerschöpfliche neidische und anzügliche Kommentare gesorgt, aber nachdem Kiresh Yaren den ersten Spöttern angedroht hatte, sie Bekanntschaft mit seinem Kesh machen zu lassen, hatten die Sprüche schlagartig nachgelassen. Ishira war mit der Situation auch nicht glücklicher als er, aber mit wem außer ihm hätte sie sonst ein Zelt teilen sollen? Andere Frauen gab es nicht und allein schlafen ließen die Heerführer sie nicht. Leider erschwerte dieses Arrangement auch ihre Fluchtpläne noch zusätzlich, denn Kiresh Yaren hatte einen leichten Schlaf.
Ishira war gerade dabei, die erste Bambusstange in die Erde zu drehen, als unerwartet Rohin neben ihr auftauchte. „Warte, ich helfe dir. Unsere Zelte stellen die Kireshi mit auf und dann stehe ich denen wenigstens nicht im Weg.“
Ishira lächelte dankbar. Bei Rohin ließ sich leicht vergessen, dass er ein Gohari war. „Sie wüssten Eure Hilfe sicher ebenso zu schätzen wie ich. Wenn sich einer mit dem Zusammenbau von etwas auskennt, dann Ihr. Immerhin habt Ihr die ‚Drachentöter‘ erfunden.“
Rohin grinste schalkhaft, während er ihr zwei der Stangen abnahm. „Erfunden ja, gebaut nein.“
Als das Gerüst zur Hälfte stand, gesellte sich Mebilor zu ihnen. Seine Hilfe beschränkte sich allerdings darauf, zweifelhafte Ratschläge zu erteilen, wie sie dieses oder jenes Teil halten sollten. Die bedeutungsvolle Miene, die er dabei aufsetzte, brachte Ishira zum Lachen, so dass es ihr erst im dritten Anlauf gelang, die Firststange richtig aufzustecken. Als sie zurücktrat, um ihr Werk zu begutachten, stieß sie mit der Schulter gegen einen der Söldner, die, mit Äxten ausgerüstet, auf dem Weg zum Fluss waren, um den Befehl des Shohon auszuführen. Beim Anblick der rotglänzenden Maske, die das Gesicht des Mannes blutüberströmt erscheinen ließ, blieb ihr die Entschuldigung im Hals stecken. Die schwarzen Augenhöhlen starrten einen endlosen Moment auf sie herab, bevor der Söldner wortlos weiterlief. Schaudernd strich Ishira über ihre Arme, auf denen sich die Härchen aufgestellt hatten.
„Diese Raikari sind schon ein seltsames Kraut“, murmelte Mebilor. „Ihr Heiler hat mir erzählt, ihre Religion verbiete es, vor Andersgläubigen nackte Haut zu zeigen.“
Rohin hob die Brauen. „Ach so? Und ich dachte, sie wollten mit dieser Aufmachung den Feind einschüchtern und uns gleich mit.“
„Aber ihr Anführer hat seine Maske doch abgenommen, als sie damals im Lager angekommen sind“, warf Ishira ein.
„Wahrscheinlich wollte er damit den Heerführern Respekt zollen“, entgegnete der Heiler, „und natürlich dem Marenash. Abgesehen davon ist Ralan bel Arrak ein Gohari. Er muss nicht zwangsläufig zum Glauben seiner Männer übergetreten sein.“
Rohin reichte Ishira eine Ecke der Zeltplane. Gemeinsam warfen sie den Stoff über die Bambusstangen. „Das wundert mich eigentlich am meisten“, sagte er. „Wie kommt ein Gohari offensichtlich adliger Abstammung dazu, Anführer einer Söldnertruppe zu werden?“
„Warum fragt Ihr ihn nicht einfach?“ schlug Mebilor vor.
„Vielleicht werde ich das, wenn sich die Gelegenheit bietet.“ Rohin zurrte die letzte Leine fest. „Fertig.“ Er rüttelte an dem Gestell. „Über dem Kopf zusammenbrechen wird es dir heute Nacht jedenfalls nicht.“
Ishira erwiderte sein Lächeln. „Beruhigend zu wissen. – Danke für Eure Hilfe, Deiro.“
Der Telan winkte ab. „Keine Ursache.“
„Schön.“ Mebilor strich etwas Erde von seiner Robe. „Dann lasst uns sehen, was sich die Köche für heute haben einfallen lassen.“
„Lasst mich raten“, erwiderte Rohin mit gespieltem Ernst. „Dasselbe wie gestern und vorgestern und alle Tage davor?“
Der Heiler verzog das Gesicht. „Ich fürchte, mit Eurer Vermutung liegt Ihr richtig. Außerordentlich bedauerlich.“
Ishira lächelte in sich hinein. Sie selbst war es gewohnt, tagein tagaus das Gleiche zu essen, aber für einen Mann wie Mebilor musste die Feldküche die reinste Zumutung sein. „Vielleicht überraschen sie Euch heute.“
Der Heiler schmunzelte. „Willst du mich beunruhigen?“ Dann maß er Ishira mit einem nachdenklichen Blick. „Ich weiß zwar nicht, ob es hilfreich ist oder nicht, wenn ich dich zum Feuer der Kommandanten mitnehme, aber einen Versuch ist es wert. Mir kam vorhin die Idee, dass du uns den Abend mit deiner Musik versüßen könntest.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Manchmal vermag die Musik, was Worte nicht schaffen.“
Ishira verstand sofort, worauf Mebilor anspielte. Rasch holte sie das Rehime, das ihr Kanhiros Vater im vergangenen Jahr geschenkt hatte und das sie hütete wie einen Familienschatz, aus ihrer Satteltasche, bevor sie Mebilor zum vordersten Lagerfeuer folgte. Beim Anblick der hochlodernden Flammen schoss ihr durch den Kopf, dass sie den Amanori nicht deutlicher zeigen könnten, wo sie zu finden waren. Hatten die Echsen sie wirklich noch nicht entdeckt? Oder beobachteten sie die Armee aus sicherer Entfernung und versuchten, ihren Gegner einzuschätzen? Einen Moment lang vermeinte Ishira förmlich die goldenen Augen auf der Haut zu spüren, doch sie schüttelte das Gefühl rasch ab. Wenn sie echtes nicht mehr von eingebildetem Empfinden unterscheiden konnte, war sie niemandem eine Hilfe.
Die Befehlshaber teilten ihr Lagerfeuer mit den Telani. Am Feuer dahinter hatten sich die Koshagi versammelt, die Paladine des Statthalters, und schräg gegenüber die Raikari. Doch während an den anderen Feuern gescherzt und gelacht wurde, saßen die maskierten Söldner schweigend beisammen. Offenbar war auch dies ein Teil ihrer Regeln.
Der Shohon musterte Ishira irritiert, als sie hinter Mebilor und Rohin in den Flammenschein trat. Der Blick seines Stellvertreters war noch deutlich weniger freundlich. Beruks rechter Mundwinkel verzog sich griesgrämig. „Ist das Eure neue Strategie, um uns weichzuklopfen, Telan? Oder wollt Ihr die Sklavin in Kiresh Yarens Abwesenheit selbst im Auge behalten?“
Eine von Mebilors eindrucksvollen Brauen rutschte in die Höhe. „Ihre Gesellschaft ist der sicherste Ort im Lager“, gab er zurück.
Beruk sah einen Moment lang verblüfft aus, dann lachte er dröhnend. „Der geht an Euch, Heiler! An Eurer Stelle würde ich dem Mädchen allerdings nicht zu sehr vertrauen.“
„Ich lasse es darauf ankommen.“ Mebilor wies auf das Rehime. „Aber Spaß beiseite: tatsächlich gingen meine Überlegungen dahin, dass Ishira uns nach dem Essen das Herz mit ein wenig Musik erwärmen könnte.“
In den Augen des Bashohon glomm Spott auf. „Haltet Ihr dies hier für eine Eurer gelehrten Zusammenkünfte?“
Der Heiler sah ihn liebenswürdig an. „Soll ich aus Eurer Bemerkung schließen, dass ein Feldlager ein Ort für kulturlose Wilde ist?“
Einem der Telani entwich ein erheitertes Schnauben, das er vergeblich in ein Räuspern umzuwandeln versuchte. Auf Beruks Wangen erschienen rote Flecke, doch bevor er auffahren konnte, hob der Shohon die Hand. „Was mich betrifft, wäre mir ein wenig Zerstreuung durchaus willkommen, und wenn ich in die Runde schaue, erkenne ich bei den meisten der Anwesenden Zustimmung. Also mag das Mädchen später für uns spielen.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln zuckte um seine Lippen. „Wir wollen schließlich keinen unzivilisierten Eindruck erwecken.“
Beruks mürrische Miene verriet, dass er mit der Entscheidung seines Kommandanten nicht einverstanden war, doch er fügte sich. Der Duft des dampfenden Eintopfes, den die Köche in diesem Moment in Schalen füllten und herumreichten, tat ein Übriges, ihn zu besänftigen. Anders als Mebilor schien er sich an der mangelnden Abwechslung im Speiseplan nicht zu stören.
Während des Schlagabtausches zwischen Mebilor und dem Bashohon hatte Ishira Kenjin entdeckt. Er saß nicht weit entfernt auf dem nackten Boden, die gefesselten Hände auf die Knie gelegt. Neben ihm stand ein Kiresh Wache. Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich ein Herz fasste. „Darf ich meinem Bruder etwas zu essen bringen, Deiro?“ bat sie den Shohon mit einer demütigen Verbeugung.
Beruk wollte erneut etwas einwenden, doch ein Blick Helons ließ ihn schweigen. „Du hast meine Erlaubnis.“
„Ich danke Euch.“ Ishira stand auf und trug die Schale, die Mebilor ihr reichte, zu Kenjin hinüber.
Ihr Bruder blickte erst auf, als sie vor ihm in die Hocke ging. „Nira!“
Sie strich ihm über die Wange. „Wie geht’s dir, Ken?“ Es war das erste Mal, dass sie mit ihm sprechen konnte.
„Gut. Gut“, wiederholte er, als müsste er sich selbst davon überzeugen.
„Hast du Hunger? Ich habe dir Eintopf gebracht.“
Kenjins Augen leuchteten auf. „Ich hab‘ Hunger wie ein Erubuko.“
„Der würde am liebsten dich fressen“, murmelte Ishira, während sie ihm den Löffel reichte.
Ihr Bruder sah sie verständnislos an. „Was?“
Sie nickte in Richtung des Feuers. „Den Bashohon, Beruk, nennen sie ‚Erubuko‘. Entweder wegen seiner Statur oder weil er genauso leicht reizbar ist wie sein Namensvetter. Seinetwegen hockst du hier. Der Shohon wäre vielleicht geneigt, dir ein wenig mehr Freiheit zu gewähren, aber offenbar hört er in dieser Sache auf seinen Stellvertreter.“
„Verstehe.“ Kenjin linste zu den Befehlshabern hinüber, während er mit seinen zusammengebundenen Händen ungeschickt etwas Eintopf aus der Schale löffelte, die Ishira ihm hinhielt. „Was ich nicht verstehe ist, was du für die Gohari tun sollst, Nira“, sagte er mit vollem Mund. „Was hat dieser Mann im Zeltlager damit gemeint, dass du die Gohari vor den Amanori warnen sollst?“
Ishira seufzte. „Genau das, was er gesagt hat. Ich kann die Gegenwart der Echsen spüren. Sie besitzen eine Art Aura aus Energie. So ähnlich wie die Kristalladern.“ Kenjins Mund klappte auf, aber kein Ton verließ seine Lippen. „Mebilor – der ältere Heiler dort drüben, der keinen kahlrasierten Schädel hat; ich hab‘ dir und Hiro von ihm erzählt, erinnerst du dich? – glaubt, das käme daher, weil die Amanori die Energie irgendwie in sich aufnehmen. Aus ihr beziehen sie wahrscheinlich ihre Fähigkeit, Blitze zu produzieren.“
Kenjin sah sie an, als hätte sie in einer fremden Sprache geredet. „Aha“, war alles, was er herausbrachte. Still löffelte er seine Suppe. Auf einmal ließ er den Löffel sinken. Der Blick seiner schwarzen Augen wurde eindringlich. „Du darfst ihnen nicht helfen, Nira. Es ist mir egal, was sie mit mir machen, aber hilf den Gohari nicht dabei, auch noch den Rest unserer Heimat zu erobern. Ich will nicht, dass du meinetwegen unser Volk verrätst.“
Ishira lächelte traurig. „Ich könnte niemals etwas tun, das dich in Gefahr bringt, das weißt du doch. Aber wahrscheinlich wird mein Zutun sowieso nicht viel ändern.“ Sich das einzureden, war am einfachsten und würde es hoffentlich auch für Kenjin leichter machen.
„Bei den Feuern Kaddors, gebt Euch einen Ruck, Shohon, und lasst dem Jungen wenigstens zum Essen die Fesseln abnehmen!“ drang in diesem Moment Mebilors Stimme zu ihnen und hinderte Kenjin daran, etwas zu erwidern. „Die beiden werden kaum Hand in Hand aus dem Lager laufen, während ihnen die gesamte Armee dabei zusieht.“
„Seid Ihr wirklich so naiv, Mebilor?“ schnarrte Beruk an Stelle des Shohon. „Erst nehmen wir dem Jungen die Fesseln ab, dann lassen wir ihn frei im Lager herumlaufen und bei der nächstbesten Gelegenheit macht sich seine Schwester mit ihm auf und davon. Ich sage, wir können gar nicht vorsichtig genug sein. Wir wären dumm, unseren einzigen Trumpf zu verspielen – falls diese Sklavin wirklich zu dem in der Lage ist, weshalb wir sie mitgenommen haben. Bewiesen hat sie es bisher nicht.“
„Ihr solltet dankbar sein, dass sich die Drachen noch nicht gezeigt haben“, meldete sich eine leicht rauchige Stimme zu Wort.
Ishira wandte sich um. Kiresh Yaren war zurückgekehrt.
„Wie weit sind die Raikari gekommen?“ erkundigte sich Helon.
„Sie haben auf dieser Seite des Flusses ein halbes Dutzend Bäume gefällt und angefangen, sie zu entasten. Den Rest erledigen wir morgen bei Anbruch des Tages.“
„Sehr gut“, sagte der Shohon zufrieden. Er machte eine einladende Geste. „Setzt Euch zu uns. Eure Schutzbefohlene wird später für uns musizieren.“
Kiresh Yaren schoss Mebilor einen undefinierbaren Blick zu. Der Heiler hob zur Antwort nur vielsagend die Brauen. Mit ergeben wirkender Miene nahm der Kiresh neben ihm Platz. „Übrigens teile ich Telan Mebilors Ansicht, dass es keinen Schaden anrichtet, dem Bruder meiner Schutzbefohlenen für eine Weile die Fesseln abzunehmen“, sagte er beiläufig, während er eine Schale mit Eintopf entgegennahm. „Das würde ihr Spiel sicherlich beflügeln.“
Also hatte Mebilor es nicht nur so dahingesagt, dass auch ihr Begleiter versuchte, Kenjin zu helfen. In seinem Fall fand Ishira es umso erstaunlicher. Immerhin war er dafür verantwortlich, dass sie und ihr Bruder überhaupt hier waren. Hätte er den Marenash nicht von ihrer Fähigkeit und ihren Visionen unterrichtet, wäre dieser niemals auf die Idee gekommen, sie auf diesen Feldzug mitzuschicken. Plagte den Kiresh deswegen etwa das schlechte Gewissen?
Ishira fiel es schwer, ihren Begleiter einzuschätzen. Hin und wieder ließ er sich ihr gegenüber zu einer freundlichen Geste hinreißen, nur war sie sich nie schlüssig, was ihn dazu antrieb. Er war jemand, der für das einstand, woran er glaubte. Davon abgesehen war er alles andere als ein einfacher Charakter. Ihn als in sich gekehrt zu beschreiben, wäre geschmeichelt gewesen. Er war ungesellig bis an die Grenze zur Unhöflichkeit und ihr gegenüber die meiste Zeit so kurzangebunden, wie man es von einem Angehörigen des herrschenden Volkes erwarten konnte. Doch ein Gutteil seiner Distanziertheit war auf den tragischen Vorfall in Hakkon zurückzuführen, bei dem Rondars Kinder den Tod gefunden hatten, und an dem er sich selbst die Schuld gab. Wenn er seinen Schutzschild ausnahmsweise sinken ließ, konnte er unerwartet weich sein. Ishira ertappte sich dabei, dass sie gern glauben wollte, dass er Kenjin aus Anteilnahme half und nicht aus Berechnung.
Der Shohon lachte. „Ich bewundere Eure Hartnäckigkeit. Also gut, soll der Junge ohne Fesseln essen.“
Auf einen Wink trat Kenjins Bewacher einen Schritt näher, beugte sich herab und band die Fesseln los. Ishira wagte ihr Glück kaum zu fassen. Doch das Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht auszubreiten begann, als die Lederstreifen zu Boden fielen, erstarb umgehend, als sie die roten Striemen sah, die die Fesseln hinterlassen hatten. Abwesend rieb ihr Bruder seine Handgelenke. „Warum setzt dein Kettenhund sich für uns ein?“ fragte er misstrauisch.
Sie zuckte mit den Schultern. Instinktiv wusste sie, dass es Kenjin nicht gefallen würde, wenn sie ihrem Begleiter gute Absichten unterstellte. „Das weiß ich nicht, aber ich bin froh, dass wir mit ihm und Telan Mebilor überhaupt Fürsprecher haben.“
Still aßen sie ihren Eintopf, dessen Geschmack diesmal durch die Zugabe frischer Wildkräuter, die die Köche unterwegs gefunden haben mussten, abgewandelt wurde.
„He, Mädchen!“ rief der Bashohon zu ihnen herüber. „Komm wieder her und unterhalte uns!“
Ishiras Mund verzog sich bitter. Als ob er ihre Musik hören wollte! Er versuchte doch lediglich, jede weitere Unterhaltung zwischen ihr und Kenjin zu unterbinden. Widerstrebend richtete sie sich auf – und plötzlich wusste sie, was sie tun konnte. Sie umschloss die Hände ihres Bruders mit ihren. „Ich werde mich ein wenig dankbar erweisen.“
Kenjins Gesicht ließ deutlich seinen Widerwillen erkennen, dass seine Schwester sich ihm zuliebe bei den Gohari anbiederte, aber bei ihrem Tonfall horchte er auf. „Was hast du vor?“
Ishira lächelte flüchtig. „Warte es ab.“
Sie kehrte ans Feuer der Heerführer zurück. „Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit, Deiro“, sagte sie mit einer erneuten Verbeugung an den Shohon gewandt. „Wünscht Ihr, dass ich jetzt spiele?“
Als Helon nickte, ließ sie sich zwischen Mebilor und Rohin nieder, die einladend zur Seite gerückt waren, und schlug den Stoff zurück, der das Rehime schützte. Liebevoll ließ sie ihre Finger über das glattpolierte Holz wandern, bevor sie den Bogen zur Hand nahm. Nachdem sie das Instrument gestimmt hatte, spielte sie einige einfache Melodien, um ihre Finger geschmeidig zu machen. Die Töne schwangen sich auf wie unsichtbare Vögel und schraubten sich höher und höher in den abendlichen Himmel, ließen ihn mit ihrem Klang erstrahlen. Beiläufig registrierte Ishira, dass die Gespräche um sie herum nach und nach verebbten. Der Shohon saß entspannt da, eine Schale mit Mishuo im Schoß, und blickte versonnen vor sich hin. Beruk schaute zwar immer noch brummig drein, doch selbst er war still geworden. Mebilor wiegte seinen Kopf im Takt der Musik leicht hin und her und lächelte Ishira beifällig zu. Der einzige, dem sie anmerkte, dass er am liebsten aufgestanden und gegangen wäre, war Kiresh Yaren, auch wenn er sich bemühte, dies nicht allzu deutlich zu zeigen. Er hatte den Ellbogen in die Hand gestützt, die Finger an der Nasenwurzel, den Blick gesenkt. Ein uneingeweihter Betrachter hätte diese Geste vielleicht als Müdigkeit interpretiert, doch Ishira kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er litt. Er war kein großer Musikliebhaber – zumindest nicht ihrer Musik. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was ihm daran so missfiel. Obwohl es ihr eigentlich gleichgültig sein konnte, hätte sie ihn gern einmal zum Lächeln gebracht. Wie er mit heiterer Miene wohl aussehen würde?
Gütige Ahnen, welche Gedanken hatten sich da bloß in ihren Kopf verirrt? Energisch schloss sie die Lider und vertiefte sich in ihr Spiel, bis sie die Vorstellung eines lächelnden Kiresh aus ihrem Geist verbannt hatte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Idee, die ihr kurz zuvor gekommen war, und überschlug im Geiste deren Erfolgsaussichten. Wenn sie vorgab, die Aura eines Amanori zu spüren und dadurch bewies, dass sie ihr Wort hielt, konnte sie die Gohari vielleicht dazu bringen, ihr mehr Vertrauen zu schenken. Mit etwas Glück würden die Heerführer Kenjin die Fesseln nicht wieder anlegen lassen und ihm erlauben, sich frei zu bewegen. Andererseits war es nicht unbedingt ratsam, die Gohari grundlos in Alarmbereitschaft zu versetzen. Eine solche Fehlinformation konnte sie schnell ihre Glaubwürdigkeit kosten. Aber hatten sie und Kenjin überhaupt noch etwas zu verlieren?
Plötzlich spürte Ishira im Magen eine leichte Vibration – wie eine innere Resonanz. War etwa tatsächlich eine der Echsen in der Nähe? Nein, es fühlte sich anders an. Eher wie die Energieströme innerhalb des Kristalls. Eine der Kristalladern musste ganz in der Nähe verlaufen, vielleicht sogar irgendwo unter ihnen.
Nach und nach mischte sich in das Vibrieren der Energie ein anderes Wispern. Schwächer, dafür aber vielschichtiger – und irgendwie vertrauter. Oder sollte sie sagen: weniger fremdartig? Wie Stimmen unterschiedlicher Tonlagen. Sie glichen sich dem Fluss der Melodie an, bis sie mit ihm verschmolzen waren. Als hätten sich einzelne Fäden zu einem neuen, dickeren versponnen.
„Was ist denn mit den Raikari los?“ raunte jemand.
Irritiert öffnete sie die Augen. Einige der Söldner waren aufgestanden und starrten zu ihr herüber. Ein eigenartiges Gefühl der Zusammengehörigkeit überschwemmte Ishira, als hätte die Musik in ihr und diesen Männern etwas wachgerufen, das tief in ihnen geschlummert hatte. Mit derselben unerklärlichen Gewissheit erkannte sie in einem der Stehenden den Raikar wieder, den sie früher am Abend versehentlich angerempelt hatte, obwohl sie weder vorhin noch jetzt sein Gesicht sehen konnte.
„Jetzt erzähl‘ mir einer, diese schwarzen Kerle haben etwas für Musik übrig“, brummte Beruk. „Als ob sie sich nicht auch so schon seltsam genug aufführen würden.“
„Was ist so seltsam daran, Gefallen an Musik zu finden?“ gab Mebilor zurück.
Der Bashohon schnaubte. „Aus Eurer Sicht vermutlich nichts. Aber seht sie Euch doch an, wie sie da stehen: so ein Verhalten ist doch nicht normal.“
Der Heiler zuckte mit den Schultern. „Darüber, was für einen Krieger ‚normal‘ ist, möchte ich mir kein Urteil anmaßen.“
Um Rohins Mundwinkel und die einiger anderer Telani zuckte es bereits wieder verdächtig. Augenscheinlich genossen sie die Wortgefechte zwischen Mebilor und dem Bashohon. Ishira war hingegen alles andere als nach Lachen zumute. Was war das gerade gewesen? Kälte kroch ihr Rückgrat entlang und ließ sie unbewusst die Schultern hochziehen. Bevor das Zittern ihre Hände erreichte, ließ sie den Bogen sinken – und zerschnitt damit das unsichtbare Gespinst zwischen ihr und den Raikari. Die fünf Söldner standen noch einen Augenblick reglos da, bevor sie sich wieder setzten. Ishira entspannte sich etwas. War die Aufmerksamkeit der Männer doch nur ihrer Musik geschuldet gewesen? Hatte sie sich den Rest eingebildet?
Erst als sich die Heerführer für die Nacht zurückzogen, erinnerte Ishira sich wieder an ihren Plan. Die Raikari hatten ihn gründlich durchkreuzt.
In aller Frühestand Yaren auf, um den Bau der Rampen zu beaufsichtigen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er noch früher aufstehen können. In letzter Zeit schlief er nicht besonders gut, obwohl er nicht mehr so oft von Alpträumen heimgesucht wurde wie früher. Dafür tauchte in seinen Träumen immer häufiger seine Schutzbefohlene auf. Es beunruhigte ihn, dass sie solchen Einfluss auf ihn ausübte.
Leise griff er nach seinen Sachen, um Ishira nicht zu wecken. Durch den Stoff, der ihre beiden Schlafstellen voneinander trennte, zeichnete sich schwach ihre schlafende Silhouette ab. Sofort spürte Yaren wieder das leichte Ziehen in den Lenden, das ihn schon gestern Abend erfasst hatte. Er atmete tief durch. Warum um alles in der Welt hatte er sich von Helon dazu überreden lassen, das Zelt auch unterwegs mit ihr zu teilen? Wie hatte er die Situation dermaßen unterschätzen können? Obwohl er mit seiner Schutzbefohlenen zahllose Nächte unter freiem Himmel verbracht hatte, war es im Zelt etwas gänzlich anderes. Vielleicht war es die Intimität des umschlossenen Raumes, die das aufgezwungene Beisammensein immer stärker zur quälenden Versuchung werden ließ. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er sich verändert hatte. Tief in seinem Innern war etwas in Aufruhr geraten.
Als er gerade dabei war, seine Waffen in den Gürtel zu schieben, hörte er, wie hinter ihm der Vorhang zurückgeschlagen wurde. Langsam drehte er sich um. Ishira lugte schüchtern zu ihm herüber und wünschte ihm einen guten Morgen. Ihre leicht schräg stehenden blauen Mandelaugen, die den Verstand eines Mannes verwirren konnten, waren noch verschleiert vom Schlaf. „Ihr habt gestern von einem Wasserfall gesprochen, Deiro“, sagte sie. „Bestünde unter Umständen die Möglichkeit, dort zu baden?“
Ungewollt wanderte sein Blick von ihren Augen zu ihrem schwarzen Haar, das ihr schwer über die Schultern fiel. Es hatte in den vergangenen Tagen immer mehr von seinem seidigen Glanz verloren und war jetzt stumpf und strähnig. Der kleine Zuber, den er ihr, wenn sich die Gelegenheit bot, ins Zelt stellte, war augenscheinlich nicht geeignet, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Daher konnte er verstehen, warum sie baden wollte. Dennoch sprachen diverse Gründe dagegen. Zum einen sollte er Helons Einverständnis einholen, zum anderen wollte er sich nicht mit Ishira belasten, zumal er nicht einschätzen konnte, wie die Raikari auf ihre Gegenwart reagieren würden. Doch anstatt ihren Wunsch abzuschlagen, hörte er sich sagen: „Wenn du mitkommen willst, beeil dich.“
Ishira sprang so eifrig auf, dass sie sich den Kopf beinahe an der niedrigen Firststange stieß. „Ich bin fertig.“
Yaren fuhr sich resigniert durch die Haare und merkte dabei, dass er vergessen hatte, sie aufzustecken. Götter, dieses Mädchen würde ihn noch seinen Ruf kosten!
Die Lagerfeuer waren zu glimmenden Haufen heruntergebrannt und die kühle Morgenluft roch nach Asche und Zedernholz. Während Yaren mit seiner Schutzbefohlenen im Schlepptau durch das stille Lager stapfte, verfluchte er sich selbst für seine Nachgiebigkeit. Hatte er noch nicht genug am Hals, dass er sich hatte breitschlagen lassen, sich auch noch um Ishira zu kümmern? Säuerlich fragte er sich, wie er eigentlich zu seiner neuen Aufgabe gekommen war, Aufpasser für die Raikari zu spielen. Das fiel nicht unbedingt in seinen Zuständigkeitsbereich als Berater und Kundschafter. Aber immerhin war es ein Zeichen, dass der Shohon ihm zutraute, alles im Griff zu haben.
Vor sich hörte er Schnauben und Hufscharren. Aus dem Zwielicht schälten sich die Umrisse der Pferde. Ein Stück weiter hinten waren die Umasus zu erahnen. Für die Nacht wurden die Tiere zusammengetrieben und angepflockt, damit sie nicht weglaufen konnten oder nachtaktive Raubtiere anlockten. „Du brauchst deine Stute nicht zu satteln“, sagte er zu Ishira. „Bis zum Ufer kannst du laufen.“ Ohne Pferd würde sie nicht weit kommen, falls sie vorhatte, sich aus dem Staub zu machen, obwohl er nicht glaubte, dass sie ohne ihren Bruder fliehen würde. Aber warum ein Risiko eingehen? Die paar Schritte zu Fuß würden ihr nicht schaden. Natürlich hätte er sie auch hinter sich auf Bokan reiten lassen können, aber er wollte dem dummen Gerede der Kireshi keine neue Nahrung liefern.
„Guten Morgen, Yaren“, grüßte ihn eine vertraute Gestalt. Etan war heute zur Wache eingeteilt. „Du bist früh auf. Wieder ein Erkundungsritt?“ Dann fiel sein Blick auf Ishira. „Nein, wohl nicht.“
In seine Stimme hatte sich ein Unterton geschlichen, der Yaren missfiel, aber da er ihn nicht recht einordnen konnte, beschloss er, ihn fürs erste zu ignorieren. „Ich soll dafür sorgen, dass die Raikari möglichst schnell die Rampen fertigbauen, damit wir weiterziehen können.“
Sein Waffengefährte verzog mitleidig das Gesicht. „Um diese Aufgabe beneide ich dich nicht. Ich bin ehrlich gesagt froh, wenn ich nicht in ihrer Nähe sein muss. Sie sind mir nicht geheuer. Ich weiß gern, woran ich bin, und die Raikari kann ich beim besten Willen nicht einschätzen. Ich habe versucht, etwas aus ihrem Kouran herauszubekommen, aber das war verlorene Liebesmüh. Der ist so verschlossen wie eine Jungfrau. Und seine Leute scheinen ja überhaupt nicht mit uns reden zu wollen.“
Tatsächlich waren die Raikari wortkarge Gesellen, was Yaren allerdings nicht störte. Was gab es schon zu sagen? Er zuckte mit den Schultern, während er seinem Braunen das Zaumzeug anlegte. „Hauptsache, sie tun ihre Pflicht.“ Wenn sie wirklich so gute Krieger waren, wie der Marenash behauptet hatte, waren sie ihm willkommen. Sie würden jeden Mann brauchen, wenn sie auf die Drachen trafen. Darüber hinaus war ihm das Verhalten der Söldner gleichgültig, solange sie sich an die Regeln hielten. Doch Etan war schon als Junge neugierig gewesen und besaß zudem ein gewisses Talent dafür, sich die Informationen zu beschaffen, die er haben wollte. Kein Wunder, wenn es ihn wurmte, dass seine Versuche diesmal ins Leere gelaufen waren.
„War es Helons Idee, das Mädchen mitzunehmen, oder deine?“ erkundigte Etan sich, als Yaren gerade den Sattel festzurrte.
„Weder noch“, gab er kurz angebunden zurück. Er verspürte nicht die geringste Neigung, seinem Waffengefährten irgendetwas zu erklären. Entschlossen griff er nach dem Zaumzeug, bevor Etan weitere Fragen stellen konnte.
Gerade als er seinen Fuß in den Steigbügel setzen wollte, hielt ihn eine kultivierte Stimme zurück. „Kiresh Yaren? Erlaubt, dass ich Euch begleite.“
Wer wollte ihn denn noch alles begleiten? Konsterniert wandte Yaren sich nach dem Sprecher um und war nicht besonders überrascht, den Kouran der Raikari zu sehen. Wenn man vom Dämon sprach… Wie üblich war das Gesicht des Söldnerführers hinter der ledernen Maske verborgen. „Ihr wollt die Arbeiten persönlich überwachen?“ erkundigte Yaren sich.
Ralan bel Arraks Blick ruhte auf der Inagiri, kehrte jedoch bei Yarens Frage zu dessen Gesicht zurück. „Eigentlich möchte ich mit Euch sprechen. Oder sagen wir, beides. Ich habe meine Männer bereits vorausgeschickt.“
Yaren nickte und wartete höflich, bis der Kommandant sein Pferd gesattelt hatte, bevor er aufsaß. Seite an Seite verließen sie das Lager in Richtung Fluss. Kurz bevor sie in den Wald eintauchten, warf Yaren einen Blick zurück. Ishira folgte ihnen in geringem Abstand. Da sie nur langsam ritten, hatte sie keine Schwierigkeiten, mit den Pferden Schritt zu halten.
Neben ihnen ragten die mächtigen Stämme der Zedern auf, deren rotbraune Färbung an Rost erinnerte. Viele von ihnen waren auf der Schattenseite bemoost. In den Zweigen sangen Vögel und die Luft trug den Duft von Harz und frischem Grün. Es war geradezu lächerlich friedlich dafür, dass jederzeit die Drachen angreifen konnten.
Falls Yaren geglaubt hatte, Ralan würde sofort auf den Punkt kommen, hatte er sich geirrt; der Befehlshaber der Raikari machte keine Anstalten, das Gespräch zu eröffnen. Oder vielleicht wollte er auch nicht sprechen, solange das Mädchen in Hörweite war. Yaren musterte den Mann unauffällig von der Seite. Ralan war etwa so groß wie er selbst und besaß die durchtrainierte Statur eines Kämpfers. Zugleich hatte er etwas Aristokratisches an sich. Selbst wenn Yaren seinen Namen nicht gewusst hätte, hätten Stimme und Haltung eine adlige Herkunft nahegelegt. Gewiss wurde kein Aristokrat ohne triftigen Grund zum Söldner. Bel Arrak – Ralans Familienname sagte Yaren nichts, aber es gab in Gohar zu viele Adelsfamilien – die meisten von niederem Rang –, um sie alle zu kennen. Dennoch war ihm etwas an den Zügen des Kouran vage vertraut vorgekommen, obwohl er sicher war, dass er den Mann vor seiner Ankunft im Feldlager nie getroffen hatte. Aber vielleicht täuschte er sich auch; schließlich hatte er Ralans Gesicht nur einen kurzen Moment lang gesehen.
Vor ihnen hörte Yaren das Rauschen und Gluckern des Flusses. Er maß nur gut zwei Wagenlängen in der Breite, doch die Strömung war stark. Es würde nicht ganz ungefährlich sein, ihn mit den Wagen zu durchqueren, da das Wasser in der Mitte schätzungsweise bis zu den Radnaben reichte. Aber wenn sie die Rampen so weit wie möglich ins Wasser hineinzogen, hatten die Wagen nur ein kurzes Stück durchs Bachbett zu fahren.
Die frischen Schnittstellen der Baumstümpfe stachen wie Narben aus dem grünen Untergrund hervor. Darum herum lagen abgeschlagene Äste und abgeschälte Rinde auf dem Boden. Wie Ralan gesagt hatte, waren seine Leute bereits an Ort und Stelle und warteten inmitten der gefällten Bäume auf Anweisungen. Yaren war erstaunt, wie still die Söldner sich verhielten. Die Gohari hätten sich zwanglos im Gelände verteilt und miteinander geplaudert oder sich aus Spaß einen Kampf geliefert, um die Zeit totzuschlagen. Nicht so die Raikari. Sie standen bewegungslos in Reih und Glied wie die Ehrenwache vor dem Palast des Marenash. Als sie den Hufschlag der Pferde hörten, wandten alle wie auf Kommando den Kopf. Yaren erklärte Ralan, was er vorhatte. „Ich schätze, es ist besser, wenn Ihr Euren Leuten selbst sagt, was sie tun sollen“, schloss er.
Ralan nickte und befahl einem Teil seiner Männer, die Stämme der bereits gefällten Bäume glatt zu schlagen, zum Fluss zu rollen und so miteinander zu vertäuen, dass sie eine Rampe bildeten, die das Gewicht der schweren Geschützwagen zu tragen imstande war. Die andere Hälfte der Raikari schickte er zum gegenüberliegenden Ufer, um dort die zweite Rampe zu bauen.
Yaren wandte seinen Blick nach links. Etwa fünfzig Schritte entfernt stürzte das Wasser in mehreren nebeneinander liegenden Fällen über die steile, bemooste Felswand in ein flaches Becken, dessen Steine so glatt geschliffen waren wie ein gemauertes Bad. Auf schmalen Vorsprüngen wucherte Farn. Auf einer Seite des Beckens formte eine Handvoll dichter Büsche einen natürlichen Sichtschutz. Yaren musterte das Ufer. Als er sicher war, dass kein wildes Tier im Unterholz lauerte, drehte er sich zu seiner Schutzbefohlenen um, die geduldig hinter ihm wartete. „Du kannst Baden gehen. Ich werde aufpassen, dass sich dir keiner der Raikari nähert. Aber sei trotzdem vorsichtig. Es könnte hier Schwarzvipern und anderes giftiges Getier geben.“
„Ich werde achtgeben“, versprach sie.
Yaren beobachtete, wie sie hinter den Büschen verschwand. Bevor sich eine unsittliche Vorstellung in seinen Geist schleichen konnte, lenkte er Bokan zu Ralan zurück. Der Söldnerführer hatte sich eine Stelle gesucht, von wo aus er seine Männer auf beiden Seiten des Flusses im Blick hatte. Eine Weile sah Yaren den Raikari ebenfalls zu. Die Söldner scheuten sich nicht vor harter Arbeit, so viel stand fest. Und sie verfügten über bemerkenswerte Körperkräfte. Scheinbar mühelos rollten sie die Stämme zu zweit oder dritt ans Ufer, ohne Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Was Yaren jedoch beinahe noch mehr beeindruckte, war der ungewöhnliche Einklang, mit dem die Männer agierten. Ihre Bewegungen gingen Hand in Hand, wobei ihre Verständigung untereinander keiner Worte bedurfte. Jeder schien auch so zu wissen, was von ihm erwartet wurde. Aber diese stumme Übereinstimmung hatte auch etwas Unheimliches. Das erinnerte Yaren an etwas. „Eure Leute haben gestern Abend für Aufsehen gesorgt“, ergriff er die Initiative.
Ralan wandte den Kopf. „Da Ihr es ansprecht: Das ist genau der Grund, aus dem ich mit Euch reden wollte. Ich würde gern mehr über das inagische Mädchen erfahren.“
Das hatte Yaren nicht erwartet. Etwas in ihm ging in Abwehrhaltung. Bislang hatten die Raikari Ishira keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und er wollte, dass das so blieb. „Weshalb? Weil ein Teil Eurer Leute von ihrer Musik buchstäblich ergriffen war?“
„Unter anderem. Von wem hat sie gelernt, so zu spielen?“
Yaren zuckte mit den Schultern. „Das kann ich Euch nicht sagen.“
„Ihr seid nicht gerade mitteilsam.“
„Gilt das nicht ebenso für Euch selbst?“
Es kam ihm so vor, als würde Ralan hinter seiner Maske lächeln. „Was wollt Ihr denn wissen?“
„Zum Beispiel, wie ein Adliger zum Anführer einer Gruppe von Söldnern wird.“
Ralan schwieg einen Moment. „Das war ich nicht immer, wie Ihr Euch denken könnt. Als junger Mann diente ich wie Ihr in der goharischen Armee, hier auf Inagi.“
Ralan stammte von Inagi? Das könnte erklären, weshalb er dessen Familie nicht kannte. Yaren versuchte sich daran zu erinnern, wie alt der Söldnerführer war. Irgendetwas zwischen Vierzig und Fünfzig. „Was ist passiert?“
Sein Gesprächspartner schwieg erneut, als würde er abwägen, wie viel er preisgeben konnte. „Gewisse Umstände zwangen mich dazu, den Dienst zu quittieren und mich neu zu orientieren.“
Aus dieser nebulösen Erklärung schloss Yaren, dass Ralan vor Jahren in Ungnade gefallen war und die Insel hatte verlassen müssen. Erstaunlich, dass der Marenash ihn jetzt zurückgeholt hatte. Seine Truppe musste sich wirklich durch außerordentliche Kampffertigkeiten auszeichnen. Was mochte Ashak dem Söldnerführer im Gegenzug geboten haben? Begnadigung? Es war allerdings merkwürdig, dass keiner der Kireshi schon einmal von den Raikari gehört hatte. Gewöhnlich rankten sich um außergewöhnliche Kämpfer schnell Legenden, zumal wenn sie so auffällige Erscheinungen waren wie Ralans Männer.
„Ich habe Eure Frage beantwortet, soweit es mir möglich war“, sagte dieser einen Augenblick später. „Würdet Ihr jetzt die meine beantworten?“
„Ich kann Euch nicht viel über das Mädchen sagen, außer dass sie eine Waise ist. Über ihre Eltern ist nichts bekannt. Wie Ihr sehen könnt, fließt in ihren Adern sowohl inagisches als auch goharisches Blut, aber woher ihre besondere Verbindung zur Kristallenergie rührt, weiß niemand.“
„Eine recht geheimnisvolle Verbündete also.“
Yaren schnaubte. „Sagt der Richtige.“
Ralan gab ein dumpfes Lachen von sich, das allerdings nicht besonders heiter klang. „Nun, ich schätze, jeder hat seine Geheimnisse. Ihr habt sicher auch Eure Gründe, weshalb Ihr die Drachen jagt“, meinte er mit einem Nicken in Richtung der Trophäensammlung um Yarens Hals.
Yaren strich über die langen, gelblichen Zähne, die mit leisem Klacken gegeneinander schlugen. „Was ist mit Euren Männern?“ fragte er anstelle einer Antwort. „Ich schätze, sie kommen alle vom Festland. Wissen sie überhaupt, worauf sie sich eingelassen haben?“
„Weiß das überhaupt einer von uns?“ gab Ralan zurück. „Aber Ihr zielt vermutlich darauf ab, ob meine Männer schon einmal gegen Drachen gekämpft haben. – Wenn es Euch beruhigt: ja, das haben sie.“
Jetzt war Yaren wirklich erstaunt. „Also seid Ihr schon länger auf Inagi?“
„Schon eine geraume Weile. Der Kampf gegen die Drachen lässt sich nur hier trainieren.“
„Wohl wahr.“ Wie es aussah, hatte der Marenash nichts dem Zufall überlassen wollen. Er musste Ralan sofort, nachdem er den Feldzug beschlossen hatte, kontaktiert haben. Nur wie hatten die Söldner ihre Anwesenheit auf Inagi die ganze Zeit über geheim halten können? Sie mussten bei Nacht und Nebel an einem einsamen Küstenabschnitt angelandet und von dort aus abseits der Hauptstraßen in die Berge aufgebrochen sein. Auf keinen Fall hatten sie in einer der Hafenstädte Anker geworfen. Dort verbreiteten sich Gerüchte schneller als ein Feuersturm. Aber aus welchem Grund hatten die Raikari sich verborgen gehalten? Hatte Ashak Sorge gehabt, der Baishar in Gohar könnte argwöhnen, sein Vasall plane einen Aufstand? Die ganze Angelegenheit wurde immer mysteriöser.
***
Ishira vergewisserte sich noch einmal, dass keiner der Raikari sie sehen konnte, bevor sie ihr Kleid abstreifte und über einen niedrighängenden Ast legte. Aus dem kleinen Beutel an ihrem Gürtel holte sie das Stück Seife, das Mebilor ihr vor ihrem Aufbruch aus Inuyara geschenkt hatte. Mit verschmitztem Lächeln hatte er gemeint, dass man selbst in einem Feldlager nicht auf ein Mindestmaß an Annehmlichkeit verzichten könne. Vorsichtig streckte sie ihren Fuß ins Wasser. Es war schneidend kalt, aber die Aussicht, sich endlich wieder richtig waschen zu können, entschädigte dafür mehr als genug. Ishira stieg bis zu den Knien in das Felsbecken und holte Luft, um sich für die Kälte zu wappnen. Dennoch schauderte sie zusammen, als sie in die Hocke ging und das Wasser gegen ihre Brüste schwappte. Rasch rieb sie die bläuliche Seife zwischen den Fingern, bis diese zu schäumen begann. Ishira massierte etwas von dem duftenden Schaum in ihre Haare und verteilte den Rest auf der Haut. Rasch tauchte sie unter, um ihn abzuspülen. Als sie schließlich ans Ufer zurückwatete, war ihr ganzer Körper von einer Gänsehaut überzogen und sie zitterte heftig, aber sie kam sich vor wie neu geboren.
Wasser rann ihr in die Augen. Sie wischte sich die Tropfen mit einer Hand aus dem Gesicht und tastete mit der anderen blind nach ihrem Untergewand. Ihre Finger berührten etwas Pelziges. Mit einem Aufschrei zog sie ihre Hand weg und sprang zurück. Klatschend landete ihr rechter Fuß im Wasser, was sie fast das Gleichgewicht kostete.
Vor ihr erklang ein Keckern. Große blaugraue Augen starrten in ihre. Auf dem Ast, auf dem sie ihre Kleidung deponiert hatte, hockte ein Ipori und hielt ihr Kleid in den Pfoten. Offenbar hatte die leuchtende Farbe des Stoffes ihn angelockt. Das Fell auf seinem buschigen, blau-beige geringelten Schwanz hatte sich aufgestellt wie eine Bürste. Aufgeschreckt machte er Anstalten, mit ihrer Kleidung zu entschwinden. Ohne nachzudenken, fasste Ishira zu und erwischte gerade noch einen Zipfel des Stoffes. „Das könnte dir so passen, du kleines Biest!“ schimpfte sie. „Wirst du wohl meine Sachen los lassen!“
Der freche Waldbewohner fauchte sie an und entblößte dabei kleine spitze Eckzähne. Verbissen zerrte Ishira an ihrem Kleidungsstück, doch der Ipori hatte seine Hinterbeine in die Baumrinde gekrallt und dachte gar nicht daran, seine Beute herzugeben.
In diesem Moment brach Kiresh Yaren durch die Büsche, sein Kesh kampfbereit in der erhobenen Hand. „Was ist pass…?“ Der Rest des Satzes endete in einem eigentümlichen Zischlaut, als hätte ihr Begleiter den Atem durch die Zähne entweichen lassen. Das bizarre Ringen hatte ihm buchstäblich die Sprache verschlagen. Einen langen Augenblick stand er einfach nur da und schaute Ishira und den Ipori entgeistert an, bevor seine Arme langsam herabsanken. Um seine Lippen zuckte es. Erst zog sich ein Mundwinkel nach oben, dann der andere. Unvermittelt begann der Kiresh zu glucksen, dann zu prusten und schließlich brach er in Gelächter aus. Es klang ein wenig rau und schwergängig, als wäre es durch langen Nichtgebrauch eingerostet, aber es war unverkennbar ein Lachen.
Der Ipori hatte genug. Zeternd sprang er den Baum hinauf und verschwand zwischen den Ästen. Ishira merkte es kaum. Ihre Augen hingen an ihrem Begleiter, der sich gerade eine Lachträne von der Wange wischte. Er konnte lachen! Nicht nur lächeln, sondern von Herzen lachen! Der warme Klang ließ Ishiras Atem stocken. Um sie herum schien es heller zu werden, als würde die Sonne durch die Wolken brechen. Die düstere Aura, die den Kiresh gewöhnlich umgab, löste sich auf wie Morgennebel. Mit einem Mal stand dort der Junge, den noch kein tragisches Schicksal verbittert hatte. Nie war Ishira sein Gesicht so anziehend erschienen. Seine grünen Augen sprühten förmlich vor Lebendigkeit. Einer dieser Funken sprang auf Ishira über und entfachte ein Feuer in ihrem Innern. „Ihr solltet das öfter tun“, entfuhr es ihr.
„Was?“ fragte er immer noch erheitert.
„Lachen. Das steht Euch gut zu Gesicht.“ Sie hatte bisher nie bemerkt, wie fein geschwungen seine Lippen waren, wenn er sie ausnahmsweise nicht zusammenkniff.
Ausgerechnet in diesem Moment ging ihr auf, dass sie nackt war. Das Feuer stieg ihr in die Wangen und ließ sie aufflammen. Verspätet bemühte sie sich, ihre Blöße mit dem Stoff ihres Kleides zu bedecken. Das amüsierte Funkeln verschwand aus den Augen des Kiresh und machte einem Ausdruck Platz, dessen Intensität das Feuer in ihrem Innern noch höher lodern ließ. Ihr Begleiter steckte sein Kesh ein und kam auf sie zu. Dabei wichen seine Augen keinen Wimpernschlag von ihr. Einen halben Schritt vor ihr blieb er stehen. Ein herber Duft nach Leder und Wald stieg Ishira in die Nase. Ihr Herz begann zu hüpfen, als würde der Ipori damit Ball spielen. Obwohl Kiresh Yaren sie nicht berührte, vibrierte ihr Inneres wie eine angeschlagene Saite. Alles in ihr schien sich ihm entgegenzustrecken. Das unversehens aufwallende Verlangen, die letzten beiden Handbreit Luft zwischen ihnen zu überbrücken und seinen Körper unter ihren Fingern zu spüren, erschreckte sie. Woher kam auf einmal dieses starke Empfinden?
Der Kiresh hob zögernd eine Hand, als würde ihn derselbe Wunsch leiten. Ishira hielt den Atem an, während sie beobachtete, wie sich seine Hand ihrem Gesicht näherte. Doch bevor seine Finger ihre Wange fanden, zuckte er zusammen, als würde er aus einem Traum erwachen, und wich hastig einige Schritte zurück. Von einem Moment zum nächsten wechselte die Farbe seiner Iris zurück zu ihrem üblichen regengrau. Ishira war verwirrt, dass sie deswegen so etwas wie Enttäuschung verspürte. Hatte sie etwa gehofft, dass er sie berühren würde?
Was ist los mit mir? Er ist ein Gohari, bei allen Göttern! Außerdem war ihr Herz längst vergeben.
Mit einer verloren wirkenden Geste fuhr ihr Begleiter sich über den Nacken. „Wir sollten zurückgehen“, sagte er eine Spur zu rau. Bevor er sich umdrehte, erhaschte Ishira einen Blick auf den plötzlich gequälten Ausdruck in seinem Gesicht. Sie hörte, wie er Luft holte. „Ich warte bei Kouran Ralan“, schickte er hinterher, ehe er mit langen Schritten davon strebte.
***
Nach wenigen Schritten blieb Yaren stehen und lehnte sich gegen einen Baum. So aufgewühlt wollte er dem Kouran und dessen Männern nicht unter die Augen treten. Als er sich über das Gesicht fuhr, merkte er, dass seine Hand bebte. Hatte er eben wirklich gelacht? Es musste Jahre her sein, seit ihm zuletzt der Sinn danach gestanden hatte. Bevor Larika und Peron gestorben waren. Der Laut hatte in seinen eigenen Ohren fremd geklungen, als wäre es nicht er selbst gewesen, der sich diesem unerwarteten Heiterkeitsausbruch hingegeben hatte, sondern jemand anders. Das Lachen hatte etwas unvorstellbar Befreiendes an sich gehabt. Nur hätte es ihn beinahe auch seine Selbstbeherrschung gekostet: Er hatte kaum gemerkt, dass er sich auf Ishira zubewegt hatte, bis er direkt vor ihr gestanden hatte. Der Anblick ihres nackten Körpers, auf dem Wassertropfen glitzerten wie winzige Kristallsplitter, hatte ihn mehr berauscht als jeder Alkohol. Götter, sie war schön wie die Sünde! Er hatte nur noch daran denken können, sie in seinen Armen zu halten und ihre Haut zu streicheln. Ein Verlangen, von dem er geglaubt hatte, dass es zusammen mit Larika gestorben war, und das besser für immer erloschen geblieben wäre, war neu entzündet worden. Yaren atmete zitternd aus in dem vergeblichen Bemühen, seinen Herzschlag zu beruhigen. Er fürchtete sich vor diesem beinahe vergessenen Gefühl, weil er es niemals mehr zulassen konnte. Niemals mehr zulassen durfte. Er krallte die Hand um seine Kehle und schluckte hart. Er musste dagegen ankämpfen! Auf keinen Fall durfte er sein Begehren noch weiter an die Oberfläche steigen lassen!
Als er seine Hand wegzog, ließ er sie in der Luft vor seinem Gesicht schweben und starrte sie an wie ein fremdes Wesen. Langsam, beinahe widerwillig, strich er mit der anderen Hand über seinen Handrücken. Zum ersten Mal rief die ledrige Haut unter seinen Fingern ein bitteres Gefühl hervor. Noch vor wenigen Monden hatte er sich Mebilor gegenüber gebrüstet, dass es an seiner Entscheidung nichts zu bereuen gab, weil er davon überzeugt gewesen war, dass er nach Larikas Tod niemals wieder etwas für eine Frau würde empfinden können.
Wie sehr er sich geirrt hatte!
Es wurde früher Vormittag, bis die Rampen fertig waren und die Armee aufbrechen konnte. Nachdem die Gohari die Feuer ausgetreten, ihr Gepäck verzurrt und die Wagen angespannt hatten, setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Ishira ritt zwischen Kiresh Yaren und Mebilor. Seit der Begebenheit am Wasserfall hatte sie mit ihrem Begleiter kein Wort mehr gewechselt. Obwohl sich ihr innerer Aufruhr inzwischen etwas gelegt hatte, konnte sie den Kiresh nicht ansehen, ohne dass ihr Herz zu flattern begann, und so heftete sie ihren Blick auf Leshas Mähne und begann damit, Strähnen der borstigen Haare zusammenzudrehen. Eine Gefühlsregung dieser Art war ihr bislang völlig unbekannt gewesen. Nicht einmal zu Kanhiro hatte sie sich jemals auf ähnlich starke Weise hingezogen gefühlt.
Der Gedanke an ihren Freund rief in Ishiras Magengegend ein unbehagliches Ziehen hervor. Wie konnte ein anderer Mann ein solches Verlangen in ihr wachrufen? Ein Mann, der sich die meiste Zeit über alle erdenkliche Mühe gab, sich im schlechtesten Licht zu präsentieren. Seit ihrer allerersten Begegnung hatte der Kiresh trotz seiner offensichtlichen Gleichgültigkeit beinahe allem und jedem gegenüber eine unerklärliche Faszination auf sie ausgeübt, auch wenn sie ihn lange Zeit nicht hatte ausstehen können. Bis sie seine sanfte Seite entdeckt hatte. Und heute hatte sie eine weitere Seite an ihm kennengelernt. Eine Seite, die ihrem Seelenfrieden weitaus gefährlicher werden konnte.
„Interessante Beschäftigung“, bemerkte Mebilor. „Du kommst mir schon den ganzen Morgen etwas abwesend vor.“
Peinlich berührt, weil der Heiler den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, sah Ishira auf und stellte fest, dass Leshas Mähne auf bestem Wege war, sich in einen Stachelkamm zu verwandeln. Mit fahrigen Bewegungen strich sie über die verdrehten Strähnen, um sie wieder zu entwirren. „Ich bin ein bisschen nervös“, gab sie zu. Das war nicht gelogen, nur war der Grund ein gänzlich anderer, als Mebilor erwarten würde. Der Heiler musterte sie auf eine Weise, die Ishiras Wangen zum Brennen brachte. Ihre Gedanken standen ihr doch hoffentlich nicht schon wieder ins Gesicht geschrieben? Zum Glück zügelten die Befehlshaber in diesem Moment ihre Pferde, um das Werk der Raikari zu begutachten, und ersparten ihr dadurch weitere Verlegenheit.
Die Söldner hatten die entasteten Baumstämme zu Rampen von etwas mehr als einer Wagenbreite zusammengebunden. Dabei hatten sie so gewissenhaft gearbeitet, dass zwischen die Stämme kaum eine Klinge gepasst hätte. Die Enden waren abgeschrägt, so dass sich ein beinahe glatter Übergang zum Boden ergab. Der Shohon nickte beifällig und lenkte sein Pferd als erster auf die Stämme. Kiresh Yaren folgte hinter Beruk. Sein Hengst zögerte einen Moment, bevor er seinen Huf auf die abschüssige Rampe setzte. Er klopfte dem Braunen aufmunternd den Hals und trieb ihn sanft vorwärts. Ishiras Stute trottete wie üblich willig hinter Bokan her. Der Kiresh wandte kurz den Kopf, als wollte er sich vergewissern, dass sie zurechtkam, doch er vermied es, sie direkt anzusehen.
Schritt für Schritt arbeitete Lesha sich voran. Das Wasser gurgelte um ihre Fesseln und spritzte im steinigen Bachbett bis an Ishiras nackte Füße hoch, bevor die Stute die zweite Rampe erreichte. Am jenseitigen Ufer angekommen, lenkte Ishira sie auf Kiresh Yarens Wink hin an seine Seite. Auch Beruk hatte angehalten, während der Shohon die Telani und die übrigen Kireshi weiter in den Wald hinein führte. Ishira erwartete, dass die Koshagi ihnen folgen würden, doch sie verteilten sich entlang des Ufers. Offenbar sollten sie sicherstellen, dass alle Fahrzeuge sicher über den Fluss kamen.
Als der erste Geschützwagen auf die Rampe fuhr, verfolgte Ishira gespannt, wie das Gespann und sein Lenker die Aufgabe bewältigen würden. Die Räder des fahrbaren Untersatzes waren ringsum mit einander überlappenden, etwa fußgroßen Lederplatten besetzt. Am Anfang hatte Ishira sich gefragt, wozu das gut sein sollte, doch schnell hatte sie festgestellt, dass die Räder sich auf diese Weise nicht so leicht in den Schlamm mahlen und steckenbleiben konnten. Auch jetzt leistete der Lederbesatz gute Dienste, denn er verhinderte, dass die Räder sich zu schnell drehten und das Gefährt zu viel Schwung bekam. Zur Sicherheit gingen zwei Raikari seitlich neben dem Wagen und stemmten sich gegen die Speichen. Vorsichtig setzten die beiden Umasus einen Huf vor den anderen. Sobald der Geschützwagen das Flussbett erreichte, veränderten die Söldner ihre Position und schoben hinten mit an, um das Gespann zu entlasten.