Kurzgeschichten - Elias J. Connor - E-Book
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Elias J. Connor

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Beschreibung

Ein Reporter besucht ein chinesisches Dorf und stößt dabei auf ein schlimmes Geheimnis. Ein Bettler verliert seinen einzigen Freund, seinen Hund, und macht sich auf eine nervenaufreibende Suche nach ihm. Ein kleines Mädchen wünscht sich von ihrem Vater nichts sehnlicher als ein Puppenhaus zu Weihnachten – aber er hat zu wenig Geld, um es sich leisten zu können. Eine junge Frau bekommt ein sonderbares Geschenk und landet in einer seltsamen Welt. Diese und andere Geschichten befinden sich in diesem Buch. Eine Sammlung von Kurzgeschichten, phantastisch, authentisch oder wahr – sie alle haben eine Botschaft: Glaubt an euch selbst. Glaubt an das Gute, dann wird es euch widerfahren.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Elias J. Connor

Kurzgeschichten

Inhaltsverzeichnis

KURZGESCHICHTEN VON ELIAS J. CONNOR

Das Dorf der verlassenen Kinder

Der Traumfänger

Das Haus am Rande der Stadt

Lina

Ivy in der Spiegelwelt

Beste Freundin

Pascal

Weil ich hier leben muss

Avalonie

Deep Forest

Der Flügelschlag des Schmetterlings

Impressum

KURZGESCHICHTEN VON ELIAS J. CONNOR

Dies ist eine Sammlung der Kurzgeschichten (Drama/Fantasy) von Elias J. Connor. Emotional, voll Fantasie oder einfach wirklich. Nachdenklich, phantastisch, echt. Und all diese Geschichten haben eine Botschaft: Glaubt an euch selbst. Glaubt an das Gute, denn es wird euch widerfahren, wenn ihr es sehen und fühlen könnt.

Ich widme dieses Buch meinen beiden Musen Nadja und Jana, die mich mit ihren Ideen und ihrer Art, mir Mut zu machen, stets unterstützen.

(Elias J. Connor)

Das Dorf der verlassenen Kinder

Es war noch recht früh, als der Hotelwecker mich aus dem Schlaf holte. Ich hatte nach dem anstrengenden gestrigen Tag auch nicht viel Zeit, also machte ich mich schnell fertig, um dann gleich in die Hotellobby zum Frühstücken zu gehen.

„Wer ist das Gesicht, das mich aus dem Badezimmerspiegel so müde anstarrt?“, stellte ich mir selbst die Frage, während ich mich rasierte. Ich war 38 und sah heute irgendwie aus wie 56. Nicht einfach, dieser Job als Reporter eines bekannten deutschen Fernsehsenders, erst recht, wenn man in einem Land mit so vielen Kontroversen und Gegensätzen wie diesem arbeiten musste.

Wir hatten gestern einen schwierigen Dreh. In dem riesigen Konzern – und das war wirklich so – hatten wir nach ewigem Hin und Her dann doch eine Drehgenehmigung bekommen. Und als wir dort waren, bekamen wir nichts zu sehen. Gerade das, worüber wir eigentlich berichten wollten, verwährten sie uns.

Aber für ein Land wie China wunderte es mich nicht. Nicht mehr, nach allem, was wir hier bereits erlebt haben.

Nach außen hin der große Stolz, die große Wirtschaftsmacht. Sich dem Westen öffnend, mit neuen Möglichkeiten sämtlicher Geldgeschäfte. Aber wie sah es im Land selbst aus? Was verbarg sich hinter der Kulisse Chinas? Darüber ging unser Bericht, den wir seit mehreren Wochen schon dabei waren zu drehen.

Viel Material haben wir allerdings noch nicht wirklich eingefangen.

„Lukas“, begrüßten mich gleich mein Kameramann mit seiner Kamera und der Dolmetscher. „Gut geschlafen?“

„Nee“, sagte ich. „Lass mal.“

„Was steht heute an?“ Der Kameramann holte einen Block heraus und notierte sich irgendwas.

„Wir sind in einer Schule mit ein paar Kindern verabredet“, erklärte ich. „Wir wollen da kein großes Aufhebens machen, sie sollen sehr ängstlich sein.“

„Hast du eine Ahnung, warum, oder um was es geht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass wir nicht mit der kompletten Technik und allen anrücken sollen. Nur wir – Kameramann und Dolmetscher, und ich. Ob sie uns wirklich drehen lasen, weiß ich nicht. Nicht nach dem, was wir gestern erlebt haben.“

„Also, mir gefällt dieses Land immer weniger“, stimmte dann auch der Dolmetscher zu. „Internetsperre, überall Kontrolle und Spionage, Konzerne, die Einblicke verweigern…“

„Wem sagst du das?“, meinte ich.

„Und was drehen wir heute?“, fragte der Kameramann. „Ich habe noch kein Skript bekommen.“

Ich schaute ihn verwundert an. „Ein Skript haben wir hier nicht“, sagte ich. „Es geht um eine Familie. Vier Kinder, genauer gesagt. Die Älteste soll Hay-Jing heißen, und sie will uns heute in einem abgelegenen Dorf zeigen, wie sie dort mit ihren Geschwistern lebt.“

„Na, dann gehen wir mal“, meinte der Dolmetscher, als ich mein Frühstück beendet hatte.

Die Schule sah von weitem schon heruntergekommen aus. Nach einer Stunde Fahrt stellten wir unseren Wagen dann vor dem Gebäude ab und liefen auf die Eingangstüre zu. Mehrere Kinder spielten draußen oder beschäftigten sich einfach miteinander. Kaum eines von ihnen registrierte überhaupt, dass wir kamen.

Kurz darauf kam dann eine Lehrerin auf uns zu.

„Guten Tag“, sagte ich höflich, was mein Dolmetscher mir dann ins Chinesische übersetzte. „Ich bin auf der Suche nach Hay-Jing. Wir sind vom deutschen Fernsehen. Ich glaube, wir haben telefoniert.“

„Ja“, sagte die Lehrerin. „Ja, ich erinnere mich.“

„Wo ist sie?“, wollte ich wissen.

„Sie kommt sicher gleich raus“, sagte die Lehrerin.

„Können Sie mir etwas über Hay-Jing sagen? Wie lange geht sie schon hier zur Schule?“

Ich setzte mich mit der Lehrerin auf eine Bank im Schulhof, während die anderen Kinder schon teilweise nach Hause gingen.

Die Lehrerin schnaufte und sagte irgendetwas Unverständliches.

„Wo leben die Kinder, die hier zur Schule gehen?“, hakte ich nach.

„Alle aus dem gleichen Dorf“, antwortete die Lehrerin. „Es soll nicht nach außen dringen, aber es gibt wahrscheinlich tausend solcher Dörfer. Sie können froh sein, dass es hier eine Schule gibt, sonst wären sie ganz verloren.“

In diesem Moment kam ein etwa 12-jähriges Mädchen mit langen, dunklen Haaren, die es zu einem Zopf geflochten hatte, an. An seiner Hand hatte es drei sehr viel jüngere Kinder, vielleicht sieben oder acht. Zwei Mädchen und einen Jungen. Der Junge mochte nicht älter als fünf sein.

„Hallo“, grüßte ich das Mädchen. „Bist du Hay-Jing?“

Schüchtern nickte sie.

„Mein Name ist Lukas“, stellte ich mich dann vor. „Wir sind verabredet.“

Der Junge musterte unsere Kamera genau, während der Filmtechniker ihm zulächelte.

„Du musst keine Angst haben“, sagte ich schließlich. „Nur wir drei sind hier – der Dolmetscher, der Kameramann und ich.“

Hay-Jing sah mir ernst in die Augen.

„Wollt ihr uns mal euer Zuhause zeigen?“, fragte ich.

Hay-Jing nickte.

Die Wohngegend war nicht weit von der Schule weg. Kaum zu glauben, ich sah auf der Straße kaum einen Erwachsenen herum laufen. Wie konnte das sein? Wo waren diejenigen, die auf die Kinder achten sollten?

„Wir wohnen dritter Stock“, erklärte Hay-Jing, als wir an ihrem Haus ankamen.

Lehmbauten, und dazu noch nicht mal besonders stabil. Manche der Häuser sahen aus, als wären sie regelrecht in den Berg hineingebaut worden, der sich hinter dem Dorf erstreckte, mit seinem lehmigen Abhang. Es sah nicht ungefährlich aus, hier zu wohnen.

Wir liefen die Treppen hoch.

„Es stimmt also“, stellte ich in die Kamera schauend fest. „Sie leben alleine. Es soll tausend Dörfer wie dieses geben, in denen die Kinder alleine leben. Ich komme mir gerade so vor wie in einem Film, mit einem traurigen und schlechten Drehbuch. Aber das ist die Realität.“

Hay-Jing führte mich dann in die offene Wohnung hinein. Ihre drei kleinen Geschwister schienen mittlerweile aufgeweckter zu sein als sie selbst. Die beiden Jüngsten krabbelten mir an den Beinen herum und wollten mich gar nicht mehr loslassen.

„Entschuldigung“, sagte Hay-Jing höflich. „Sie haben nur außer unserer Lehrerin lange keine Erwachsenen mehr gesehen. Und sie haben so lange nicht mehr gespielt. Weißt du, wir haben keine Zeit zum Spielen.“

Wir setzten uns auf das Sofa, und zugleich begann Hay-Jing, ihrer jüngeren Schwester die Haare zu kämmen.

„Wer passt auf euch auf?“, fragte ich dann. Eigentlich wollte ich versuchen, sachlich zu bleiben, aber ich war momentan so tief bewegt und fassungslos, dass ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.

„Niemand“, antwortete das Mädchen. „Ich. Unser Onkel schaut ab und zu mal vorbei.“

„Hay-Jing, wie alt bist du denn?“, wollte ich schließlich wissen.

Hay-Jing zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“

„Kaum zu glauben“, sagte ich in die Kamera. „Sie weiß nicht mal, wie alt sie ist.“

Der Kameramann und der Dolmetscher schienen ebenso sichtlich bewegt.

„Wie sieht denn euer Tag aus?“, stellte ich dann die Frage.

Und dann sah mich Hay-Jing an und schnaufte. „Ich wecke die Kleinen morgens, damit wir rechtzeitig zur Schule kommen.“ Sie lächelte. „Die Schule ist eine willkommene Abwechslung.“

„Eine Abwechslung?“

„Wir dürfen dort lernen“, berichtete Hay-Jing. „Mit anderen Kindern zusammen. Hier muss ich immer auf alles achten.“

„Worauf achten?“, stieß es aus mir hervor. Meine Stimme bebte.

„Auf meine Geschwister“, antwortete Hay-Jing. „Nachmittags, wenn wir nach Hause kommen, mache ich ihnen Essen. Dann muss ich das Haus putzen, die Wäsche waschen und Ordnung machen. Und abends muss ich schauen, dass sie sich pünktlich zur Ruhe legen, denn der nächste Tag wartet auf uns.“

„Das machst du alles ganz alleine?“, fragte ich.

„Ja“, sagte sie leise.

„Wie lange schon?“, wollte ich wissen. „Seit wann musst du das alles hier alleine machen?“

„So vier Jahre“, sagte sie dann.

Wir schwiegen uns eine Weile an, während die kleineren Geschwister von Hay-Jing begannen, auf meinen Schuhen auf und ab zu hüpfen.

„Wo sind denn deine Eltern?“ Ich schüttelte mit dem Kopf.

„Seit vier Jahren sind sie Wanderarbeiter“, erklärte mir Hay-Jing. „Papa schickt ab und zu etwas Geld, aber wir müssen uns alleine durchkämpfen.“

„Unglaublich“, sagte ich in die Kamera. „Ich glaube gerade, ich bin in einem ganz schrecklichen Film. Das kommt mir alles gar nicht echt vor – aber es ist echt. Sie haben ihre Eltern seit vier Jahren nicht gesehen.“

Hay-Jing lächelte mir zu. „Komm, ich zeige dir den Rest der Wohnung“, sagte sie dann.

Und irgendwie spürte ich, dass sie lockerer wurde. Sie schien plötzlich aufgewärmter zu sein, nicht mehr so schüchtern.

Schließlich zeigte sie mir stolz die Küche, in der sie zugleich einige Nudeln in einen Topf steckte, der mit Wasser gefüllt war. Anschließend machte sie den Kohleherd an und stellte den Topf darauf.

„Essen machen“, erklärte sie.

Dann nahm sie meine Hand und führte mich in das heruntergekommene Badezimmer. Ein Eimer, der an der Decke hing, diente als Dusche, und ein alter, großer Waschtrog als Wanne.

Schließlich zeigte Hay-Jing mir die Ecke, in der vier Matratzen aufgebaut waren.

„Das ist unsere Schlafnische“, sagte sie stolz. „Wir schlafen nie getrennt.“

„Hay-Jing“, fragte ich dann nach Minuten. „Vermisst du deine Eltern?“

Sie nickte.

Die drei anderen Geschwister kamen dann an. Der Junge hielt einen Ball in der Hand. Er warf ihn mir zu, und ich warf ihn ihm dann zurück.

„Ball spielen“, rief Hay-Jing.

Und in diesem Moment sah ich ein Strahlen in ihren Augen, was mir mehr sagte als tausend Worte. Hay-Jing wollte jetzt, heute, wo jemand da war, einfach mal wieder Kind sein. Etwas, das sie sich immer wünschte, und das sie nie konnte.

Wir spielten bestimmt eine Stunde mit dem Ball. Schließlich entdeckte Hay-Jing den Block unseres Dolmetschers, und dann gab ich ihr Stifte, und sie malte ein wunderschönes Bild, was sie mir dann überreichte.

„Als Erinnerung“, sagte sie schließlich.

Und wieder turnten die jüngeren Geschwister lachend auf meinen Knien herum, als wir dann wieder am alten Sofa Platz genommen hatten.

Schließlich machten wir ein Klatsch-Spiel, was ich ihnen beibrachte, ein Spiel, das normale Kinder spielten.

Normale Kinder.

Nein, das waren Hay-Jing und ihre Geschwister nicht. So auf sich selbst gestellt, reif sein müssen wie Erwachsene, nie Kind sein dürfen – die Vier taten mir so Leid.

„Es wird Zeit zu gehen“, musste ich dann nach vier Stunden schweren Herzens verkünden.

Die drei jüngeren Geschwister von Hay-Jing umklammerten meine Knie, als ich aufstand, und wollten mich gar nicht mehr loslassen.

Irgendwie musste ich mich dann zur Türe kämpfen.

„Ich kann es nicht fassen“, sagte ich in die Kamera. „Wie sie leben, was sie alles tun müssen, und niemand, der ihnen dabei hilft. Sie müssen alles alleine machen und tragen die ganze Verantwortung, die man kaum einem Kind zumuten würde. Hay-Jing muss sich um ihre kleine Geschwister kümmern wie eine Mutter. Sie kann nie Kind sein. Was für ein Moment muss es für sie gewesen sein, dass sie es heute mal durfte.“

Ich schluckte.

„Es tut mir so in der Seele Weh, und ich würde sie am Liebsten alle mitnehmen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass ich sie hier zurück lassen muss.“

„Lukas, was sagst du da in die Kamera?“, wollte Hay-Jing wissen.

Und der Dolmetscher übersetzte den ungefähren Sinn meiner Worte.

Hay-Jing lächelte mir noch mal zu, dann umarmte sie mich, und wir mussten schließlich wieder runter zu unserem Auto gehen.

Von unten sahen wir die vier Kinder oben stehen und uns zuwinken. Mit einem Lachen im Gesicht, das sie vermutlich nur an ganz wenigen Tagen – wenn überhaupt – mal hatten. Erfüllt von Dankbarkeit.

Sie konnten so dankbar sein.

Aber wofür? Ich musste sie hier zurücklassen, und schon morgen würden sie ihren traurigen Alltag wieder aufnehmen müssen.

China. Welt-Industrieland. Führende Nation in Sachen Wirtschaft und Technik. Großstädte mit Millionen von Einwohnern, die alle in ihrem Glanz stolz erstrahlen.

Dieses Dorf – und davon gibt es anscheinend Tausende – war kein Einzelfall. Die Dörfer der verlassenen Kinder. Dörfer, in denen die Kinder ohne Eltern groß werden, ganz alleine groß werden müssen und auf sich selbst gestellt sind. Dörfer, in denen die Kinder nicht behütet aufwuchsen, wie es eigentlich sein sollte. Wo sie nicht Kind sein dürfen, nicht spielen oder einfach Spaß haben dürfen, so wie es Kinder sollten.

Warum gab es in einem Land wie China solche verlassenen Dörfer? Warum unternahm keiner etwas dagegen?

Auf der Rückfahrt ins Hotel ging mir die traurige Szene mit den vier alleine gelassenen Kindern nicht mehr aus dem Kopf. Ich war noch immer fassungslos und konnte nicht glauben, dass es so etwas wie hier wirklich gab. So schwer zu glauben, dass dies die Wirklichkeit war und nicht ein schlechter Film mit einem schlechten Drehbuch.

Die Kehrseite. Und davon sollte nach Möglichkeit nichts nach außen dringen. China wollte sich der Welt präsentieren, aber nicht damit.

Schon am nächsten Morgen hatten wir den nächsten Dreh. Ich glaube, es ging um den Schönheitswahn der reichen Frauen Chinas, also so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was wir gestern drehten.

Aber ich war nicht ganz bei der Sache. Ich bemühte mich zwar und interessierte mich auch, aber es ging nicht recht gut.

Ich konnte die armen Kinder von gestern einfach nicht vergessen. Dieses traurige Schicksal, das sie erdulden müssen, ohne Eltern aufzuwachsen, ganz auf sich alleine gestellt.

Für Hay-Jing mochte heute der Alltag wieder losgehen. Sie würde ihre Geschwister morgens wieder aus dem Bett holen, sie für die Schule fertig machen, dann würde sie mit ihnen in die Schule gehen, und nachmittags, nachdem sie ihnen Essen gekocht hatte, würde sie die Wohnung aufräumen und putzen, würde ihren jüngeren Geschwistern bei den Hausaufgaben helfen und sie abends zu Bett bringen. Vielleicht würde sie ihnen noch eine Gutenachtgeschichte erzählen, so wie sie es oft schon tat.

Hay-Jing, die nicht mal wusste, wie alt sie war, konnte nie Kind sein und hat es auch nie gelernt.

Aber gestern durften sie und ihre Geschwister für ein paar Stunden mal vergessen, dass sie im Dorf der verlassenen Kinder wohnten.

Der Traumfänger

Sie zitterte. Das merkte fast keiner, aber innerlich war sie sehr ängstlich, und das obwohl es jeden Morgen das gleiche Spiel, der gleiche Weg zur Arbeit war. Diese vielen Menschen in der Straßenbahn – das konnte sie kaum aushalten, und sie war froh, dass in wenigen Minuten ihre Station erreicht war.

Als die Türen sich nach eineinhalb Minuten wieder öffneten, hechtete sie schnell hinaus und stolperte.

„Kein Grund zur Panik“, flüsterte sie sich selbst zu.

Das etwa 18-jährige Mädchen lief schnell zur Überdachung, unter der sich auch eine Sitzbank befand. Dort setzte sie sich erst einmal hin und atmete die winterliche Luft tief ein. Gott sei Dank hatte es jetzt im November noch nicht geschneit, denn das machte ihr noch mehr Angst.

Aber das versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen. Dass sie so voller Furcht in der Öffentlichkeit war, das wusste nur sie.

Als sich ein junger Mann mit dunklen Haaren und einer Lederjacke neben sie setzte, schien sie das erst nicht zu bemerken. Erst, als er sie leicht anstupste, spürte sie, dass sie nicht alleine auf der Bank saß.

„Entschuldigung“, sagte der Mann höflich. „Ich glaube, Sie haben etwas aus ihrer Tasche verloren.“

Er gab ihr etwas, das sie nicht auf Anhieb erkannte. Verwundert und tief in Gedanken nahm sie dieses Etwas, was er ihr gab, entgegen und sah es an.

„Das gehört mir nicht, Sie müssen sich irren“, stammelte sie. Jedoch als sie sich umdrehte und ihm das seltsame Objekt wiedergeben wollte, war der junge Mann nicht mehr da. Verwundert blickte sie durch die Gegend. Auch am nächsten Unterstand war er nicht. Er musste wohl ohne etwas zu sagen die Bahnstation verlassen haben.

Das Mädchen schnaufte aus.

„Hallo?“, fragte sie leise.

Aber anscheinend war plötzlich niemand mehr hier. Die Menschen, die eben mit ihr ausstiegen, waren offenbar schon weitergegangen, und die Station schien verlassen zu sein.

Das Mädchen sah sich das Objekt genauer an. Es war aus Bast und kreisrund. Dazwischen waren Wollfäden gesponnen, und am unteren Ende hingen zwei Federn. Jetzt erkannte sie, was es war.

Es war ein Traumfänger. Sie hatte solche schon auf Bildern gesehen. Sie hatte ihn auch schon in diversen Geschäften gesehen, aber gekauft hatte sie sich nie einen.

Und jetzt kam ein fremder Mann und gab ihr einen Traumfänger? Warum?

Sie überlegte nicht weiter. Vorsichtig steckte sie den Traumfänger in ihre Tasche und legte sie sich anschließend wieder um die Schulter. Dann lief sie los in Richtung ihrer Firma, die hier ganz in der Nähe war.

An der Eingangstüre der großen Firma, in der das Mädchen offenbar arbeitete, wartete bereits ein Kollege im mittleren Alter.

„Hey, Julie“, sagte er lächelnd. „Dachte schon, du kommst nicht mehr.“

Julie stolperte erneut, aber ihr Kollege konnte sie am Arm halten, so dass sie nicht fiel.

„Bisschen durcheinander heute?“, wollte er wissen.

„Ich hab’ wieder mega Stress“, erklärte Julie. „Josh, ich bin seit Wochen so genervt zu Hause. Meine Familie lässt mich einfach nicht in Ruhe.“

„Was haben sie gemacht?“, fragte Josh.

„Ständig kommen sie in mein Zimmer“, antwortete Julie. „Ich bin achtzehn, wann kapieren die das.“

Josh überlegte. „Vielleicht haben sie einfach Angst.“

„Echt, Mann“, fluchte Julie daraufhin. „Nur weil ich ängstlich bin und mich nicht in Menschenmassen bewegen kann, machen die so einen Aufstand.“ Sie streifte sich eine Strähne aus ihrem Haar. „Dass sie mich alleine arbeiten gehen lassen, ist schon ein Wunder.“

„Du bist jetzt schon seit zwei Jahren bei uns“, stellte Josh fest. „Deine Ausbildung läuft 1 a.“

„Ja“, meinte Julie. „Aber wenn mein Defizit irgendwann heraus kommt… was dann?“

„Deine Chefin weiß es“, versuchte Josh sie zu beruhigen. „Du leistest mehr als die Anderen, auch wenn du unter Angstzuständen leidest.“

Julie schnaufte aus.

Plötzlich sah sie etwas am Himmel und zuckte zusammen.

„Fesselballon“, stammelte sie nur.

Josh wusste, was sie hatte. Sie hatte ihm schon mal gesagt, dass sie Angst vor diesen großen Ballons hatte und dieses Geräusch, das diese machten, nicht ertragen konnte.

„Er kann dir nichts tun“, beruhigte Josh sie. „Er ist weit weg.“

„Komm, gehen wir rein“, sagte sie schließlich.

In der Firma wurden alle möglichen Montagesachen kommissioniert, hauptsächlich für Dachhalterungen von Funkantennen, Satellitenschüsseln und Ähnliches. Julie begann vor zwei Jahren eine Ausbildung hier, und Josh kam vor einigen Monaten als Quereinsteiger in die Firma. Von allen Kollegen war Josh der Einzige, zu dem sie ein bisschen mehr Vertrauen fasste. Er kannte als guter Freund ihre Probleme und machte ihr oft Mut, dass sie sich von ihrer Angst nicht beeinflussen lassen sollte. Sie solle sich mehr trauen, sagte er immer.

Josh arbeitete in einer anderen Abteilung als sie, aber in den Pausen trafen sie sich meist in der Kantine. Und in diesen Momenten konnte Julie ab und an ihre Angst ganz vergessen, wenn sie so da saßen und Kaffee tranken oder über alles Mögliche quatschten.

Auch in dieser Mittagspause kam Julie wieder zu Josh an den Tisch. Er hatte sein Brot bereits gegessen und trank einen heißen Kaffee. Da die meisten Kollegen später Pause machten, war die Kantine um diese Zeit nicht sehr voll.

„Na, hast du dich etwas beruhigt?“, meinte Josh zu ihr. Dabei sah er nicht auf, und seine dunklen Haare verdeckten seine Augen.

Julie nickte. Als sie merkte, dass er sie nicht ansah, winkte sie vor seinem Gesicht mit ihrer Hand, und daraufhin sah er lächelnd auf.

„Entschuldigung“, sagte er. „Ich habe gerade noch etwas in meinem Handy geguckt.“

„Du mit deinem Handy immer“, lächelte Julie. „Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?“

„Ich spiele ein Fantasy-Spiel“, sagte Josh. „Ist so eine neue App, aber ich bin noch nicht ganz durchgestiegen, wie es funktioniert.“

Er legte sein Handy zurück in seine Hosentasche und nippte an seiner Tasse.

„Hast du eigentlich dein Englischbuch dabei?“, wollte Josh wissen. „Wir wollten ja ein bisschen üben.“

„Ja, habe ich.“ Julie öffnete zugleich ihre Tasche… und dann kam wieder dieses seltsame Objekt zum Vorschein, das sie beinahe schon vergessen hatte. Vorsichtig holte sie es raus.

„Was ist das?“, wollte Josh wissen. Als er es erkannte, lachte er. „Ein Traumfänger. Woher hast du den?“

Julie überlegte. „Ich weiß nicht genau“, antwortete sie. „Das habe ich dir ja noch gar nicht erzählt. Mir ist heute Morgen etwas ganz Eigenartiges passiert. Da war plötzlich ein fremder junger Mann. Er gab mir diesen Traumfänger und behauptete, ich hätte ihn verloren. Ich kann mich aber nicht erinnern, je so was besessen zu haben.“

„Na, jetzt hast du einen“, sagte Josh lächelnd. „Der fängt nicht nur deine Träume auf, sondern auch deine Ängste.“

„Wirklich?“, meinte Julie nachdenklich. „Glaube ich nicht.“

„Vielleicht doch“, sagte Josh.

„Ich muss los“, meinte Julie dann schließlich. „Pause vorbei.“

Josh nickte. Dann stand er auf und ging vor, weil er sein Tablett noch auf die Ablage stellen wollte. Als er daraufhin zur Türe hinausging, die in den großen Flur vor der Werkhalle führte, hechtete Julie hinter ihm her.

„Warte doch“, meinte sie. „Du bist immer so schnell weg.“

Julie öffnete die Türe und trat in den großen Flur… aber Josh war nicht da.

„Josh?“, fragte Julie.

Vorsichtig sah sie zum einen Ende des Flurs. Aber da war Josh nicht. Am anderen Ende war er ebenfalls nicht, und Julie blickte in die matte Beleuchtung an der Decke, die diesen Raum steril und abstrakt erschienen ließen.

Langsam lief sie weiter… und dann merkte sie es auf einmal.

Es war totenstill hier. Die Belüftung, die man sonst hier im fensterlosen Flur hörte, war aus.

---ENDE DER LESEPROBE---