Leben, auf Sand gebaut - Helen Marie Rosenits - E-Book

Leben, auf Sand gebaut E-Book

Helen Marie Rosenits

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Beschreibung

Marie ist das einzige Kind der Familie, streng erzogen und doch die verwöhnte Prinzessin, bis ein tiefgreifendes Ereignis ihr ganzes Leben verändert. Alexander ist Primar, Honorar-Professor und mit eigener Facharztpraxis Teil des Establishments. Sein Vermögen hilft ihm, die süßen Seiten des Daseins zu genießen. Ein Unfall verknüpft das Leben der beiden und wirbelt es durcheinander. Der Alltag beginnt zu bröckeln und die eigenen Wurzeln werden hinterfragt. Ist alles auf Sand gebaut? Kann in dieser Zeit des Wandels die Liebe der Anker sein?

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Buch

Marie ist das einzige Kind der Familie, streng erzogen und doch die verwöhnte Prinzessin, – bis ein tiefgreifendes Ereignis ihr ganzes Leben verändert.

Alexander ist Primar, Honorar-Professor und mit eigener Facharztpraxis Teil des Establishments. Sein Vermögen hilft ihm, die süßen Seiten des Daseins zu genießen. – Ein Unfall verknüpft das Leben der beiden und wirbelt es durcheinander. – Der Alltag beginnt zu bröckeln und die eigenen Wurzeln werden hinterfragt. Ist alles auf Sand gebaut? Kann in dieser Zeit des Wandels die Liebe der Anker sein?

Widmung

Ich widme dieses Buch dem Leben, das so viele Facetten beinhaltet und Inspirationen liefert. Das Leben, das einen formt, herausfordert, prügelt, liebt, motiviert, lobt, ermahnt, auf Flügeln trägt, in Abgründe stürzt, Hoffnung gibt, demütig macht, lachen und weinen lässt. Und das so endlich ist, obwohl wir uns verhalten, als ob es unendlich wäre.

Inhalt

Buch

Widmung

Zur Autorin

Erklärung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Liebe Leserschaft

Danksagung

Quellenangaben

Weitere Bücher der Autorin

Über die Autorin

Helen Marie Rosenits studierte Jus an den Universitäten Wien und Salzburg, promovierte an der Paris-Lodron-Universität. Sie arbeitete in verschiedenen Bereichen, betreute ihre Blogs und verfasste Artikel für die Zeitung ihres Hundevereines, bis sie ihrer Leidenschaft nachgab, und auch Romane zu schreiben begann. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Niederösterreich.

www.helenmarierosenits.at

http://helenmarierosenits.blogspot.com

https://www.facebook.com/profile.php?id=100010622282861/

https://www.instagram.com/helen_marie_rosenits

Erklärung

Artikel in Zeitungen, Berichte in Illustrierten, Erzählungen von Familie und Freunden, Erlebnisse von Bekannten und eigene Erfahrungen sowie Beobachtungen – alles vermischt, durch Fantasie in einem neuen Puzzle zusammengefügt, in Worte gekleidet und als Roman niedergeschrieben.

Alle Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Namen, Charaktere und Geschehnisse entspringen der Vorstellungskraft der Autorin oder wurden in einen fiktiven Kontext gesetzt und bilden nicht die Wirklichkeit ab. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Ereignissen oder Organisationen ist rein zufällig.

Kapitel 1

M arie legt ihre Hände auf die kühle Scheibe, blickt hinaus in die sternenklare Nacht. Sie liebt diese Tage nach Weihnachten, wenn der Stress mit dem akribischen Putzen ihres Hauses wegen des obligaten Besuches ihres Vaters, Mag. Ludwig Sturm, und seiner Fifi, pardon Lebensgefährtin Rieke, vorbei ist.

Wenn die Grübelei über die festliche Menüfolge – nur Huhn, Pute oder Fisch, saisonales Gemüse, nicht zu fett, zu süß oder zu gewürzt, nichts aus der Tiefkühltruhe und nichts in der Mikrowelle Erwärmtes – geschafft ist.

Wenn die Hektik des Besorgens und Erledigens hinter ihr liegt.

Wenn sich die Türe nach Stunden der Vorsicht und des Abwägens jedes Gesprächsthemas sowie jedes Wortes hinter der familiären Visite endlich schließt.

Wenn sie das festgezurrte Lächeln und die elegante Kleidung ablegen kann.

Wenn sie beinahe faul und nachlässig sein darf.

Diese Tage, wenn das alte Jahr sich müde zu seinem Ende dahinschleppt und Gedanken träge, aber umfassend Resümee ziehen.

Diese Stunden, wo vage, vielleicht sogar ambitionierte Pläne entstehen, motiviert Vorsätze formuliert werden oder sich bloß stille Wünsche, ja beinahe irreale Hoffnungen im Gemüt verankern.

Diese Zeit liebt sie – eigentlich.

Doch heuer ist alles anders, wie in Schwebe, und sie fühlt sich wie ein im Sturm getriebenes Blatt.

Nichts von alledem musste sie dieses Jahr machen, denn ihr Vater erkrankte knapp vor seinem 90. Geburtstag Ende November.

Sie sieht den Raketen nach, die explodieren und bunte Kaskaden oder Sternenbälle produzieren. Das alte Jahr davonzuschießen bringt nichts, wenn das neue weder jubelnd noch mit Optimismus begrüßt werden kann. Fast ist sie versucht, Glückwünsche abzuwehren, weil sie weiß, dass kein Grund dafür besteht, liegt ihr Vater doch seit seinem ‚Runden‘ im Bett. Zwar stets beteuernd, dass es ihm bald besser ginge und er mit Hilfe des Sozialdienstes demnächst zu Kräften und wieder auf die Beine käme, aber etwas zu memorieren, wieder und wieder, macht es nicht wahrscheinlicher, eher im Gegenteil.

Sein Verhalten gemahnt sie an den Vogel Strauß, der seinen Kopf im Sand vergräbt, um die Realität nicht zu sehen.

Oder ist es sein nächster Versuch, sich die Wahrheit zurecht zu biegen und sich in den Sack zu lügen? Ein Gebaren, das er, laut ihrer Mutter, mit Regelmäßigkeit zeit seines Lebens an den Tag legte. Sich in einer Fiktion festkrallen, Fiktion im Sinne von falscher Annahme der Wirklichkeit war seine Spezialität.

Überfreundliches Grüßen „Habe die Ehre, Herr Hofrat!“ bei Höhergestellten oder übertriebenes „Küss die Hand, Gnädigste!“ bei den ärgsten Schabracken haben ihm nichts gebracht.

Nicht den begehrten Posten des Bankdirektors, nicht mehr Ansehen oder einen Job für seine Tochter. Im Gegenteil, Marie wurde hinterrücks der Kommentar – „Um Himmels willen, ein Sturm genügt uns! Wer braucht da noch seine Tochter dazu?“ – überbracht.

Nein, Marie hat keine unrichtige Vorstellung der Realität. Sie vermag es nicht, zu drängend ist dieses tief in ihr vergrabene Gefühl, das kommende Geschehnisse heranziehen spürt. Und noch nie hat sie diese Ahnung getrogen, sondern ihr nur den Atem vor Entsetzen geraubt und ihr Herz in schwere, dumpfe Schläge gezwungen.

Trotzdem oder gerade deswegen fährt sie jeden zweiten Tag zu ihrem Vater, bringt ihm kleine Geschenke, Blumen oder eine Süßigkeit, von der sie hofft, er würde sie genießen können. Es ist ein hilfloses Gebaren, wie ein Kind, sie weiß es. Ein stilles Flehen der Tochter um die Liebe des einen Menschen, der noch durch Blutsbande mit ihr verbunden ist.

Doch neben ihr schwebt ständig der dräuende Schatten von Rieke, dieser egoistischen, von Eifersucht zerfressenen Frau. Jenes Weib, das besitzergreifend ihre Arme um ihren Vater schlingt, ihn demonstrativ vor aller Augen abküsst und schmachtend „Mein Liebling, mein Schatzi!“ von sich gibt. Zum Kotzen!

Einem Bodyguard gleich lässt sie ihren Ludwig nicht aus den Augen und Vater und Tochter nie allein. Was auch immer Marie zu ihrem Papa sagt, keifend kommt eine Bemerkung, Ergänzung oder ein Widerspruch von Fifi. – Dieser Bosheit, dem latenten Hass und der scheinheiligen Freundlichkeit in Gegenwart des Erkrankten hat Marie nichts entgegen zu setzen. Sie kann nur schweigen, brutal ehrlich sein oder vor Wut explodieren, einen diplomatischen Mittelweg wüsste sie nicht. Mit der Kraft ihrer Erinnerungen klammert sie sich an die Tatsache, dass sie Papas Liebling war, sein Mausi.

‚War und nicht ist‘, flüstert die mahnende Stimme in ihrem Kopf und quält damit ihr Herz, das die Vermutung weder glauben kann noch will.

Sie möchte doch nur bedingungslos geliebt werden, ein Leben lang schon, und die Sehnsucht nach diesem Gefühl macht sie schier verrückt, aber auch absolut verletzlich.

„Ich will, dass du morgen mit Reinhard zu mir kommst. Das Nähere besprechen wir dann. Nun gute Nacht!“

Ein unmissverständlicher Befehl nach einigen Floskeln der Neujahrswünsche am Telefon, denn ein gemeinsames Feiern des Jahreswechsels verweigerte ihr Vater schon seit Jahren, und Marie rätselt vergebens die nächsten Stunden nach dem Grund.

Doch Widerspruch oder Nachfragen würde sie angesichts des patriarchalischen Gehabens nie wagen.

„Du gehst in den Safe der Bank und räumst den Inhalt komplett aus. Ich habe beim Filialleiter den Mietvertrag bereits gekündigt. Du brauchst das unterschriebene Formular nur mitzunehmen und ihm zu überreichen. Dann packst du die Münzen und vor allem die Sparbücher ein und kommst wieder zurück. Rieke gibt dir die Safe-Schlüssel und zwei Körbe mit.“

Total baff gehorcht Marie, trabt los wie ein gut abgerichteter Hund. Doch kaum im Freien, beginnen ihre Rädchen im Kopf zu laufen.

„Wie kann er sich die vielen Sparbücher im Haus wünschen, wenn er doch solche Panik vor fremden Menschen und ihren eventuellen Machinationen hat?“, fragt sie ihren Mann.

„Das Losungswort mit Mamas Rufnamen ist doch wirklich nicht schwer zu erraten! Da muss ich ihn schützen! Vielleicht kann ich dies abändern.“

„Wenn du meinst“, erwidert Reinhard gedehnt und ist im Kopf längst wieder zu Hause, bei seiner Zeitung, einem Krimi oder vor dem Fernseher.

Eine halbe Stunde später stehen insgesamt drei große Plastik-Einkaufstaschen zu Maries Füßen und sie unterschreibt die Abänderung der Losungsworte für alle vorliegenden Sparbücher. Ihre geäußerten Bedenken weist der Bankberater nicht von sich, sondern versichert sich bei seiner Rechtsabteilung über die Korrektheit der Vorgehensweise und veranlasst nach deren Okay das Gewünschte.

Marie ist unglaublich erleichtert und dennoch nagt ihr Gewissen. Spontan ruft sie einen Studienkollegen an und schildert ihm schnell das Vorgefallene.

„Beruhige dich, du hast nichts falsch gemacht, aber wenn du willst, schreibe ich deinem Vater einen Brief, dessen Erhalt er bestätigen muss, und biete ihm an, die neuen Losungsworte ihm und nur ihm allein mitzuteilen. Dann sieht er, dass du nicht böswillig, sondern nur in Besorgnis um ihn gehandelt hast.“

„Ja, bitte Martin, mach‘ das!“

„Dann brauchst du mir nur eine Vollmacht zu unterschreiben, am besten du kommst in der Kanzlei vorbei. – Verzeih‘, Marie, wenn ich es so direkt sage, aber das riecht nach Komplikationen. Ich schränke die Vollmacht nicht ein, sondern lasse sie allumfassend, damit ich jederzeit dir hilfreich zur Seite stehen kann. Okay?“

„Meine Güte, das ist lieb von dir, danke sehr!“

„Gern geschehen, servus!“

„Servus!“

„Martin ist stets bemüht, freundlich, aber auch beharrlich. Ein guter Anwalt und gewiefter Taktierer“, bemerkt Reinhard neben ihr. Er muss es schließlich wissen, kennt er ihn doch von seinem Beruf in der Justizverwaltung her.

„Hhmmm“, grummelt Marie, bereits darauf konzentriert, die drei bleischweren Einkaufstaschen voller Gold- und Silbermünzen bei ihrem Vater abzuliefern, mitsamt den sechs so unschuldig wie immer aussehenden Sparbüchern.

Umfangen von den unangenehmen Gerüchen nach Krankheit und Pflegemitteln steht Marie vor Vaters Bett, greift mit schweißnassen Fingern nach dem Gitter, Reinhard in ihrem Rücken postiert.

Unbehagen liegt ihr im Magen und ihr Herz schlägt schneller als sonst. ‚Verschweigen bedeutet nicht lügen‘, versichert sie sich lautlos und wartet ab.

Irgendwie mutet die Situation wie in einem Roman an. Der Sterbende ruft seine Familie zusammen, um sein Erbe zu verteilen, und alle umstehen ihn, wagen keinen Mucks, um ihn nicht zu provozieren oder in schlechte Stimmung zu bringen. Bei einem Buch könnte man vorspringen und des Ende lesen, doch hier und heute ist das Ganze ungewiss.

„Hat alles geklappt?“, will der Kranke wissen und wartet nicht einmal eine Antwort ab, zeigt auf die Einkaufstaschen und befiehlt: „Gib sie Rieke!“

Marie gehorcht, wie seit Jahrzehnten gewohnt. Dann meint er, zwischen ihr und seiner Fifi hin- und herblickend: „Das gehört alles dir, Rieke, und das Auto auch! Über die Sparbücher reden wir noch! Hier hast du die Schlüssel für den Safe in der Hauptanstalt“, sagt er nun und drückt Marie diese in die Hand, „wo deine Münzen drin sind, die dir gehören. Du weißt schon, von Oma und Opa, den Tanten und Onkeln und für besondere Leistungen von dir. Am besten du holst sie dir gleich, wenn ihr auf dem Nachhauseweg seid.“

Kurz schwebt Marie jene Belohnungstabelle vor Augen, wo akribisch festgehalten war, welche Münze sie wofür erhielt. Einser auf Schularbeiten oder im Zeugnis, sowohl zum Semester- als auch Jahresschulschluss, eine bestandene Prüfung auf der Uni oder ein vollendeter Studienabschnitt.

Irritiert zuckt sie zusammen, doch ihre ungläubige Miene bewusst übersehend, verabschiedet ihr Vater sich abrupt: „Ich bin müde. Lasst mich allein. Auf Wiedersehen!“

„Und nicht vergessen, am Freitag um 10 Uhr hier sein, damit Ihr Vater nicht allein ist, wenn ich zum Hausarzt fahren muss!“, keift Rieke noch hinterher.

Kapitel 2

S prachlos setzt Marie Schritt für Schritt, voller Unglauben über das soeben Erlebte. Während das elektrisch betriebene Eingangstor sich ratternd schließt, wendet sie sich ihrem Mann zu.

„Bin ich in einem schlechten Film?“, stammelt sie. „Ist das gerade wirklich passiert? Er kann doch dieser Hexe nicht alle Münzen, das Auto und noch die Sparbücher geben? Was bleibt denn dann noch für mich über? Ich muss doch mit meinem Erbe für den Rest meines Lebens auskommen, meine Medikamente, meine Hilfsmittel, meine Wahlarztbesuche, meine eventuelle Pflege eines Tages bezahlen! Und von Urlauben oder Kuraufenthalten, wie die Fifi sie gemeinsam mit ihm auf seine Kosten genossen hat, rede ich nicht einmal!“

Sie verstummt, geschockt und fassungslos.

„Vergiss‘ ihn, das habe ich dir doch immer gesagt“, schnaubt Reinhard.

„Auf ihn ist einfach kein Verlass, aber du musst ihm ja stets von Neuem hinten hineinkriechen und dich beleidigen, enttäuschen und verletzen lassen! Wie blöd kann man sein!“

„Aber er ist doch mein Vater und ich bin sein Mauserl….“, ersterben die Worte auf Maries Lippen, weil ein Schluchzen sie erstickt.

„Hör‘ auf zu weinen“, fährt Reinhard sie an, „das nützt überhaupt nichts. Finde dich damit ab und gräme dich nicht länger. Das ist er nicht wert!“

‚Himmel, er hat leicht reden‘, denkt Marie, ‚so gefühlsreduziert und nüchtern wie er ist. Doch ich bin nicht so! Ich verstehe nicht, wann, wo und wie ich die Liebe meines Vaters verloren habe. Vielleicht nicht verloren, sondern von einer anderen – mit einschmeichelnden, aber falschen Tönen – verdrängt.‘

Doch das Unverständnis, die Zurückweisung, ja Herabsetzung fressen in Maries Seele und verursachen Schmerzen, die sie verbergen muss, um nicht ätzende oder ungehaltene Kommentare zu ernten.

Sie zieht sich in sich selbst zurück, wie die meiste Zeit in ihrem Leben. Eine Reaktion, die ihr so vertraut und selbstverständlich geworden ist. Sich schützen, sogar verstecken – vor der Welt da draußen, die so brutal und verletzend sein kann.

Hinein in ihr Schneckenhaus, ihr selbst gewähltes Gefängnis für Geist, Herz und Seele.

Trotzdem ist sie, wie gewünscht, am Freitag zur Stelle, um für ihren Vater da zu sein, sollte er sie brauchen, versprochen ist versprochen, denn dass sie nicht loyal wäre, könnte niemand von ihr behaupten. Im Gegenteil, ihr Mann schimpft sie für ihre Aufopferung und Hingabe.

Seine Fifi, nervös und hektisch wie immer, wenn etwas vom gewohnten Tagesablauf abweicht, erklärt ihr die Getränke und das Essen, das sie dem Kranken anbieten darf.

Dann entschwebt sie zu ihrem Auto, die Türe wieder einmal sperrangelweit offen hinterlassend.

„Durst“, flüstert prompt in dem Moment ihr Papa und Marie stützt ihn, während er in winzigen Schlucken das mit Fruchtsaft versetzte Wasser trinkt.

Seine Hände sind abgemagert, sein Gesicht hat seine Vollheit komplett verloren und seine Stimme ist teilweise kaum verständlich, heiser und unartikuliert.

Reinhard reicht ihr ein kleines Handtuch, um ihm dem Mund abzuwischen. Dann sieht er sich suchend um, ob er einen Sitzplatz finden könnte. Doch auf dem einzigen Sessel neben dem Pflegebett liegen Riekes Weste und ein aufgeschlagenes Buch. Nicht einmal mit einer Greifzange würde er das anfassen! Und das Sofa ist wie immer mit Zeitungen, Betteinlagen, Handtüchern, einer Decke und Polstern für das Stützen des Rückens und Kopfes vollgeräumt.

Resigniert seufzt er und stellt sich auf ein bis zwei unbequeme Stunden im Stehen ein. Dass sein Schwiegervater ihn unter halb geschlossenen Lidern kritisch mustert, entgeht ihm keineswegs. Genauso wenig wie die tiefe Abneigung, die er ausstrahlt.

Nur Marie wuselt bemüht herum, blind für die unterschwelligen Strömungen um sie herum. Er will dem entkommen und schlendert in das angrenzende Arbeitszimmer, den von der Familie als Kemenate bezeichneten Raum.

Hier gibt es Bücherregale vom Boden bis zur Decke, da würde er sicher Lesestoff finden oder sich auch Maries Fotoalben ansehen können. Seine Laune hebt sich etwas.

Nach einer Weile gesellt sich seine Frau zu ihm und sie blättern in den Alben von ihrer Paris-Reise. Sie erzählt unter anderem von dem Spaziergang auf dem Champ de Mars, gekleidet in ein bunt gemustertes, bodenlanges Nachthemd, das die Hippie-Mode von damals imitierte und ihr etliche bewundernde Blicke über ihr En-vogue-Sein einbrachte. – Jetzt sieht er das dazugehörige Foto zum ersten Mal und lacht über den Anblick orangelila-grün gemusterter Blumenkreise und Maries Dreistigkeit, Nachtwäsche modisch als Tageskleid zweckzuentfremden.

„Hallo“, tönt es plötzlich von der Türschwelle her, sie fahren beide erschrocken zusammen und wenden sich ruckartig um.

„Ich bin Riekes Cousine und soll auf Ihren Herrn Papa aufpassen“, erklärt die Person, während der Kranke im Hintergrund krächzt: „Marie, du kannst jetzt nach Hause fahren. Monika wird da bleiben, bis Rieke zurückkommt.“

Konsterniert stellt sie das Album zurück an seinen Platz, runzelt die Stirn und mustert die Fremde skeptisch. Dann zuckt sie mit den Schultern, greift nach Reinhard und wendet sich zum Gehen. Mühsam unterdrückt sie ihren Unwillen und bringt nur mehr ein „Auf Wiedersehen!“ in ungefährer Richtung zu ihrem Vater heraus.

Sie geht durch den Vorgarten, steigt ins Auto und spricht kein Wort mehr zu Reinhard, bis sie in ihrem Heim ankommen.

„Was möchtest du essen?“, fragt sie gleichmütig und will nur mehr in ihre übliche Haushaltsroutine verfallen.

Will nicht nachdenken, warum sie von ihrem Vater wie ein Dienstbote behandelt und herumkommandiert wird.

Will nicht wissen, was für krude Dinge er sich zusammenreimt oder einbildet.

Langsam, ganz langsam will sie ihn aus ihrem Fokus entlassen, will ihm gegenüber gefühllos werden und abgehärtet, ohne Mitleid. Doch da ist nur Bitterkeit, Traurigkeit und Sehnsucht nach früher.