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Hannas Geschichte Teil 1: Wie alles beginnt. Behütete Kindheit, zwiespältige Jugend, erste große Liebe, Pflichtbewusstsein, Auflehnung und eigener Weg, Herausforderungen und Schicksalsschläge. Bis ein Herzinfarkt das gewohnte Leben abrupt zum Stillstand bringt und Hanna zum Nachdenken zwingt. Sie arbeitet ihre Vergangenheit schreibend auf und findet sich plötzlich erst recht neuen Ereignissen gegenüber.
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Seitenzahl: 278
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Hannas Geschichte Teil 1: Wie alles beginnt. – Behütete Kindheit, zwiespältige Jugend, erste große Liebe, Pflichtbewusstsein, Auflehnung und eigener Weg, Herausforderungen und Schicksalsschläge. – Bis ein Herzinfarkt das gewohnte Leben abrupt zum Stillstand bringt und Hanna zum Nachdenken zwingt. Sie arbeitet ihre Vergangenheit schreibend auf und findet sich plötzlich erst recht neuen Ereignissen gegenüber.
Ich widme dieses Buch dem Leben, das so viele Facetten beinhaltet und Inspirationen liefert. Das Leben, das einen formt, herausfordert, prügelt, liebt, motiviert, lobt, ermahnt, auf Flügeln trägt, in Abgründe stürzt, Hoffnung gibt, demütig macht, lachen und weinen lässt. Und das so endlich ist, obwohl wir uns verhalten, als ob es unendlich wäre.
Buch
Widmung
Erklärung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog
Hinweis
Zur Autorin
Liebe Leserschaft
Danksagung
Quellenangaben
Weitere Bücher der Autorin
Artikel in Zeitungen, Berichte in Illustrierten, Erzählungen von Familie und Freunden, Erlebnisse von Bekannten und eigene Erfahrungen sowie Beobachtungen – alles vermischt, durch Fantasie in einem neuen Puzzle zusammengefügt, in Worte gekleidet und als Roman niedergeschrieben.
Alle Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Namen, Charaktere und Geschehnisse entspringen der Vorstellungskraft der Autorin oder wurden in einen fiktiven Kontext gesetzt und bilden nicht die Wirklichkeit ab. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Ereignissen oder Organisationen ist rein zufällig.
,,G eschafft, hurra, juhu, jippie!“ – So oder so ähnlich hallten die Worte über den Vorgarten des Gymnasiums.
Bei über dreißig weiblichen Stimmen, aus denen Erlösung, Übermut und Lebensfreude klangen, waren konkrete Silben kaum mehr auszumachen. Sopran, Mezzosopran, Alt, Gekreische, Geschreie, Lachen – ein Durcheinander an Tönen und Klangfarben, getragen von einer riesengroßen Erleichterung.
Hanna und ihre Klassenkolleginnen stürmten mit unüberhörbarer Begeisterung ins Freie. 35 lachende, schnatternde Mädchen hatten voller Übermut knapp zuvor in der Direktion die weiße Stoffrolle gekapert.
Doch wie es sich auch in einer Schulhierarchie gehörte, durfte die Klassensprecherin als Erste gemeinsam mit ihrer Stellvertreterin die weiße Fahne auf der Stange in die Höhe ziehen.
Jene Flagge, die bedeutete, dass sie alle die Matura mit Erfolg abgelegt hatten.
Sie standen im Halbkreis da, stolz über ihr erreichtes Ziel, fast euphorisch, und mit dem Bewusstsein, etwas unheimlich Wichtiges geschafft zu haben. Eine Schar Teenager hatte genau in diesem Moment die feste Überzeugung, die ganze Welt würde ihnen offen stehen und nur darauf warten, von ihnen erobert zu werden.
Der Optimismus der Jugend sah das meiste überwiegend positiv, vielleicht sogar nach Wunsch noch veränderbar. Es war diese gewisse – ja – Unschuld einer weitestgehend behüteten Kindheit, der die vielen schlechten Erfahrungen und schlimmen Erkenntnisse des Daseins noch fremd waren, zumindest den meisten von ihnen.
Nach dieser strukturierten, in Zwänge getauchten Zeit, nur dem Ziel des Bestehens der Reifeprüfung gewidmet, sollte es jetzt hinausgehen in etwas, das man Leben, berufliche Zukunft nannte.
„Was macht Ihr denn jetzt so?“
Die Frage des Klassenvorstandes ging ein paar Stunden später reihum. Sie saßen im Restaurant in einem großen Kreis und schnell kam von einigen die Antwort.
„Medizin, Jus, Lehramt.“ Einige seufzten „Keine Ahnung“ und manche murmelte verlegen „Ich weiß es nicht“. Und eine sagte: „Ich heirate in drei Wochen und bekomme ein Baby.“
Diese Mitteilung löste eine Lawine an Fragen aus, sodass Hannas voller Unbehagen geflüsterte Worte „Ich bin noch unschlüssig“ vollkommen untergingen.
Nun, es würde sie nicht stören, wenn niemand ihre Antwort zur Kenntnis nahm. Sie war es nicht anders gewohnt, als in dem Riesenhaufen an Schulkolleginnen nicht ernsthaft wahrgenommen zu werden oder zumindest nicht positiv und wohlwollend.
Lächeln, den anderen zuhören, schweigen – ihre bevorzugte Strategie. Was hinter der Fassade war, wollte sowieso keiner wissen, gestand sie sich mit einem Blick in die seit Jahren so vertrauten Gesichter ein und fühlte sich plötzlich viel älter als die anderen. Und so allein.
Nein, sie hatte keine beste Freundin oder zumindest eine Brieffreundin wie die meisten ihrer Altersgenossinnen, sondern nur eine engste Vertraute als Imagination.
Eine Herzensschwester als Wunschvorstellung.
Ein weibliches Phantom für ihre Erzählungen.
Eine Illusion, um ihre Gefühle, Träume und Sehnsüchte zu transportieren.
Was soll ich wirklich in Zukunft machen, dachte Hanna zum wiederholten Male. Sie war ratlos. Keine Ahnung, wo meine Stärken sind. Hab ich überhaupt Begabungen? – Die Fragen, gedreht, gewendet, vor sich hergeschoben. Niemand hatte je etwas speziell an ihr gelobt oder für bemerkenswert gehalten. Die Erwartungen hatte sie erfüllt, ja doch, zumindest hatte sie es versucht. Doch sonst?
Wo war sie selbst geblieben? Wer war sie, außerhalb des ausgefüllten Korsetts, das andere ihr angepasst hatten?
Ihr Spiegelbild war ihr oft so fremd, in ihren Augen hässlich und unzulänglich. Dabei wäre sie so gerne hübsch und schlank gewesen, beliebt, gemocht. – Sinnlose Wünsche, bloßes Kopf-Kino. Sie war nur eine Außenseiterin, geduldet von den anderen, in deren Mitte und doch wie durch eine Glaswand von ihnen getrennt.
‚Quäl dich nicht mit Gedanken, die zu nichts führen‘, rief ihre innere Stimme Hanna zur Ordnung und ergänzte, dass sie bestenfalls nur Durchschnitt wäre – in allen Bereichen.
Durchschnitt, nur Durchschnitt hallte es in ihr wider und sie unterdrückte krampfhaft die quälende Sehnsucht, in irgendetwas im Leben gut, besonders oder womöglich einzigartig zu sein. Doch jeglicher Berufsgedanke, der ihr irgendwie in den Sinn kam, würde keiner ihrer Vorstellungen nahe kommen.
Professorin für Geschichte und Französisch war die erste Option. Flüchtig konnte Hanna sich mit dieser Idee anfreunden und äußerte den Wunsch vor einigen Wochen gegenüber den Eltern.
„Das sind überlaufene Fächer“, meinte ihr Vater.
„Wer weiß, wo du einen Posten bekommst“, ergänzte ihre Mutter, „womöglich weit weg von zu Hause so wie ich in meiner Junglehrer-Zeit.“
„Dir ist ja bekannt wie das hierzulande läuft, ohne das passende Parteibuch geht’s einfach nicht“, entwarf das Familienoberhaupt dazu ein desillusionierendes Sittenbild. „Man braucht eben die entsprechenden Beziehungen.“
Spätestens da hatte sie sich unsichtbar die Ohren zugehalten und den Rest der geäußerten Überlegungen irgendwann ausgeblendet. Hatte die kurz aufgezuckte Idee begraben, weil sie sich nicht so sehr für dieses Ziel brennen fühlte, um sich den Argumenten zu verschließen.
Der Lärm der Mädels an ihrem Tisch umhüllte Hanna, packte sie ein in einen Kokon aus Worten, gemischt, durcheinander, ohne Deutlichkeit. Ein Geräuschpegel wie eine Woge, die Gedanken fluten ließ und sie zu ihrer zweiten Option brachte, dem Medizin-Studium. Mit einem vagen Lächeln gab sie vor, den Gesprächen der anderen zuzuhören, doch ihr Denken hatte sich von der Gegenwart befreit.
„Geh und mach deine Hausaufgaben!“ – Im Befehlston schickte ihre Mutter Hanna auf ihr Zimmer. Sie erwiderte nichts, entfernte sich – folgsam wie stets, doch Missmut und Trotz flammten kurz in ihren Augen auf.
Als sie unauffällig beim geöffneten Fenster hineinsah, erblickte sie den langjährigen, vertrauten Hausarzt, der den Befund und das Röntgenbild des Facharztes in Händen hielt. Er zeigte auf die von Metastasen zerfressenen Knochen, gestreut von dem zu spät erkannten Prostatakrebs, und schleuderte das Bild in einem Anfall von Wut auf den Boden. Als er sich umdrehte, bemerkte Hanna in den Augen des stets so stattlich und souverän wirkenden Mannes ein feuchtes Schimmern, hervorgezaubert vom Bewusstsein seiner Machtlosigkeit.
Im Weggehen bohrten sich die Wortfetzen ‚nichts zu machen‘ und ‚Morphium spritzen gegen die Schmerzen‘ in ihre Seele.
Warum durfte sie die Wahrheit nicht hören? Weshalb versuchte man krampfhaft, so etwas Schwerwiegendes vor ihr geheim zu halten?
Verdammt, hatten sie noch immer nicht begriffen, dass sie – bereits von klein auf – viel mehr mitbekam, als es andere Gleichaltrige taten?
Sie war überall dabei, wurde in einer Ecke, auf einem Sofa oder einem Sessel deponiert, mit Spielen oder Büchern versorgt und der Ermahnung, ruhig und brav zu sein, doch daneben hatte sie immer alles im Blickfeld gehabt, jeden Satz gehört, analysiert und sich gemerkt. – Wenn sie etwas nicht sofort verstanden hatte, setzte sich irgendwann das Rätsel zu einem verständlichen Ganzen zusammen. Vor allem aber hatte sie die Menschen anhand ihrer Stimmen, Mienen und Gesten einzuschätzen gelernt.
Ja, sie war eine gute Beobachterin und dank der Nuancen, die sie spürte, auch eine akzeptable Menschenkennerin. Doch das war ihrer Umgebung offenbar verborgen geblieben. – Besser unterschätzt als skeptisch beäugt, sagte sie sich, denn das würde ihr mehr Spielraum einräumen, vermutlich in den meisten Lebenslagen
Wochen später hatte sie sich zum Sterbebett ihres Opas gestohlen, der so verloren dagelegen war, der Atem röchelnd schwer aus seinem Brustkorb entweichend, nur unterbrochen von den in Wellen kommenden Schmerzen und dem darauffolgenden lauten Stöhnen.
Bis dahin hatte sie jede Veränderung erfasst – das mühsame Gehen an Krücken, dann die Unmöglichkeit der Bewegung bis hin zum reglosen Daliegen auf dem Krankenlager.
Betroffene Gesichter, mitleidsvolle Sätze, resigniertes Seufzen – sie hatte es registriert, nachvollziehen können. Doch in ihr war darüber hinaus der Schmerz ihres Großvaters gespiegelt. Er war in sie hineingekrochen, hatte sich bis in ihr Herz ausgebreitet, es zerdrückt.
Sie hatte das geliebte Gesicht so nah vor sich gesehen und die ganz leise aus den Augenwinkeln rinnenden Tränen, die sich ihren Weg bahnten, eine nasse Spur bis zum Kissen hinterlassend.
Hilflos waren ihre Finger eine Weile über seine Hände, sein Gesicht, sein schütteres Haar geglitten und ihre Kehle hatte sich immer mehr wie zugeschnürt angefühlt. Sie hatte kaum mehr ein Wort hervorgebracht und nach einer Weile, die eine Ewigkeit hätte sein können, seine Stirn geküsst und geflüstert: „Leb wohl, gute Nacht und passe von drüben auf mich auf, bitte.“
Dann war sie unendlich müde, mit hängenden Schultern und einem tränennassen Gesicht wieder in ihr Zimmer geschlichen. Etwas Schwerwiegendes hatte sich in ihrem Leben verändert, die letzte Kindlichkeit hinweggeweht, ersetzt durch Risse voller Schmerz und Gräben, gefüllt mit Trauer.
Doch die Frage nach dem Warum hatte sie nicht verlassen, bis heute nicht.
Am offenen Grab stehend und in dieses widerliche Schwarz gekleidet, hatte sie sich in die Idee hineingesteigert, unbedingt helfen und heilen zu wollen. – ‚Meinen Opa kann ich nicht mehr retten, aber vielleicht andere Menschen‘, hatte ihre innere Stimme gerufen und sie zu der Idee des Medizin-Studiums gebracht.
Durch das plötzliche Lachen neben sich aufgeschreckt, blickte Hanna hoch und klinkte sich wieder in das Geschehen ein.
Ach so, bloß eine Anekdote aus einem der letzten Schuljahre. Pflichtschuldig schmunzelte sie und versuchte, sich auf die Erzählungen zu konzentrieren. Mit einem Aufseufzen ließ sie sich schließlich in die letzten Stunden des vollzähligen Zusammenseins mit ihren Matura-Kolleginnen fallen.
Erst knapp vor dem Einschlafen dachte sie noch flüchtig an ihre Verabredung mit ihrer Großkusine in zwei Tagen, die sie zu Übungen in die Anatomie mitnehmen wollte, um sie hautnah in dieses Studienfach hineinschnuppern zu lassen.
Meine Güte, welch grässlicher Geruch, der einem richtiggehend den Atem raubt! Hätte ich bloß nichts gefrühstückt. Nur nicht brechen müssen, sie wollte doch keine Lachnummer abgeben. Nichts anmerken lassen, unbekümmert und interessiert scheinen. Denk an was Schönes, vielleicht die Rosen im Garten. Oh Gott!
Hanna schluckte krampfhaft und versuchte, möglichst unbeteiligt neben ihrer Großkusine Elisabeth zu wirken.
Dann zog sie einen weißen Kittel an und heftete sich folgsam an Liesls Fersen. Die holte vollkommen ungerührt das Präparat herbei, an dem sie zuletzt gearbeitet hatte.
Lateinische Ausdrücke fielen, betrafen Knochen und Knöchelchen, denen Erklärungen über Strukturen und Schichten folgten. Hanna hörte zu, nickte, fragte nach und schaltete sich auf Autopilot, ließ zwischen sich und der Realität eine unsichtbare Wand wachsen, im verzweifelten Bestreben, dem wachsenden Unbehagen und der eigenen Unfähigkeit zu entkommen.
Wie nebenbei registrierte sie noch die Berge an Büchern, ja Wälzern, die sie für die vielen Prüfungen inhalieren müsste.
‚Das schaffe ich nie, solche Massen zum Auswendiglernen‘, schoss es ihr durch den Kopf. Träge und langsam verschwammen alle Informationen in ihr, bloß der Drang, einfach nur mehr weg zu wollen, blieb.
Erst zu Hause in ihrem Zimmer war sie wieder eins mit sich, holte einen Briefbogen heraus und schrieb. Nein, ihr Stift flog regelrecht über das Papier.
Liebe Aislinn, der Geruch vom Anatomie-Institut liegt noch immer in meiner Nase und die Bilder bekomme ich nicht aus dem Kopf.
Alle Details sind an mir vorbeigezogen, meine Konzentration war weg. Ich konnte immer nur denken, wie alt die Frau wohl gewesen ist, denn dass es eine weibliche Hand war, stand außer Zweifel.
Was hat sie in ihrem Leben alles angefasst? Wen mit ihren Fingern zärtlich gestreichelt? Oder sich tatkräftig zur Wehr gesetzt? Wie viel musste sie arbeiten und wie hart sich ihr Geld verdienen? Gehörte diese Hand zu einer kleinen oder großen Frau? Zu einem freundlichen Lächeln oder einer verbitterten Miene? Hat sie langes oder kurzes Haar gekämmt, blondes oder braunes oder sogar weiß-graues? Strich sie verlockend über den dazugehörigen Körper oder hat sie wahre Liebe nie kennengelernt?
Ein Kreisel an Gedanken setzte sich in mir in Bewegung und auf einmal wusste ich, dass ich Medizin nicht studieren kann. Zu viel Nachdenklichkeit ist in mir und zu viel Mitleid. Ich würde mit jedem Patienten mitfühlen und letztlich mitsterben.
Es ist schlimm, wenn ein idealistisches Ziel vom eigenen Empfinden torpediert wird. Nun bin ich genau so ratlos wie zu Beginn.
Ich möchte auf die Uni und kann keine Richtung erkennen. Oder welche andere Möglichkeit hätte ich sonst noch? Ich weiß es einfach nicht.
Ein Hochschul-Abschluss sollte mich zumindest in einem Beruf ernähren können, denn irgendein Orchideen-Studium kann ich sowieso nicht wählen, weil meine Eltern es nicht finanzieren würden. – Tja, Beruf und Berufung werden sich bei mir nicht decken, das wird mir immer klarer.
Wahrscheinlich wird es ein Kompromiss werden und ich werde brav den Weg gehen, auf den man mich drängt. Halt mir die Daumen, meine Liebe, dass er nicht zu dornig sein möge.
Liebe Grüße, Deine Hanna
Eine Skandinavien-Reise zum Nordkap, zusammen mit den Eltern, war Hannas Matura-Geschenk. Sie genoss die Zeit, nahm viele Eindrücke mit und hörte sich die unzähligen Ratschläge der mitreisenden Erwachsenen an.
Hie und da dachte sie an einige ihrer Schulkolleginnen, die gemeinsam Salzburg und Umgebung unsicher machten. Und einmal mehr fehlte ihr eine Clique, ein Kreis Gleichgesinnter oder vielleicht sogar ein Freund, der sie verstehen, akzeptieren und mit Zärtlichkeit verwöhnen würde.
Der September nahte und damit die Entscheidung. „Alea iacta est“, der Würfel war gefallen, wenn die Lateinkenntnisse nicht ganz trogen. Das Ziel hieß Jurisprudenz bzw. Rechtswissenschaft.
Hoffe, das Richtige zu tun, mit Jus. Im ersten Abschnitt, dem rechtshistorischen, angeblich viel Geschichte, die mich so interessiert. Und der Rest? Keine Ahnung, lasse mich halt überraschen. Papa ist irgendwie stolz, dass ich das Gleiche studiere wie er. Erzählt mir immer wieder von dieser verdammten letzten Prüfung, an der er gescheitert ist. Deshalb hat er keinen Doktor-Titel. Der Frust sitzt tief bei ihm und die Wut über diesen strengen, ungerechten Professor.
Soll jetzt ich statt ihm dieses Ziel erreichen?
Auch egal, weg mit dem Verzagen.
Steht am Ende ein Job, der nicht nur Einkommen, sondern auch gewisse Befriedigung bringt? Vielleicht sogar Anerkennung?
Woher nur kommt dieses Unbehagen? – Verschwinde, lass mich in Frieden.
H anna eilte die Stufen zur ältesten bestehenden, von Herzog Rudolf IV. gegründeten Universität im deutschen Sprachraum hinauf, durch die Eingangshalle und dann zum linken Stiegenaufgang.
Die Straßenbahn war im Verkehr wieder zu langsam vorwärts gekommen, weswegen sie heute keinen Blick an das von Heinrich Ferstel im Stil der Spätrenaissance erbaute Gebäude verschwendete, ein Bauwerk, das noch immer Altehrwürdigkeit ausstrahlte und in seinem Arkadenhof kontemplative Ruhe vermittelte. Nach der Renovierung leuchteten die Mauern wieder in schönem Sandsteingelb, wobei die markant vorspringende Säulenhalle den Blickfang an der Ringstraße bildete. Den Giebel zierte ein Relief, das die Geburt der Minerva, der Göttin der Weisheit, darstellte.
Doch auf diese Details richtete sie momentan keine Aufmerksamkeit, nur auf die Zeiger ihrer Uhr, die unerbittlich weiterrückten. Im ersten Stock bremste sie sich vor einem der Hörsäle ein und wunderte sich, dass so viele Kollegen noch auf dem Gang standen. Erst dann fiel ihr Blick auf einen Zettel, der den rechten Flügel der Türe zierte.
„Die heutigen Übungen in Privatrecht anhand von Fallbeispielen entfallen.“
Eine lapidare Ankündigung, auf DIN A 4 gekritzelt und mit Highlighter umrahmt, die zu Diskussionen und Bemerkungen führte. „Mist, da hätte ich gleich ins Wochenende starten können.“ „Genau, verdammt guter Wind fürs Surfen oder Kiten auf dem Neusiedler See.“
Die Kommentare zum vergeblichen Erscheinen am frühen Freitag-Vormittag eines herrlichen Oktobertages ähnelten einander in frappanter Weise. Die zu dem Projekt Angemeldeten verliefen sich nach und nach, zu anderen Veranstaltungen oder gleich Richtung Ausgang.
Die Sommerhitze der letzten Wochen hatte die dicken Mauern der Alma Mater Rudolphina nicht so durchdrungen, deshalb war es in den Innenräumen nicht unerträglich warm. Trotzdem sorgten einige geöffnete Fenster für die nötige Frischluft in Gängen und Sälen, die sich bei Beginn des Wintersemesters jetzt mit mehr oder weniger willigen Studiosi zu füllen begannen. Viele besuchten von Anfang an eifrig Vorlesungen und Übungen, andere zitterten Prüfungen entgegen, manche harrten auf Entscheidungen und etliche genossen in einem lässigen Studentengehabe, nonchalant und manchmal überheblich, noch den Spätsommer und fügten sich nur mit verdrießlicher Miene wieder in den Uni-Alltag.
Unschlüssig stand Hanna da. In Gedanken gab sie ihren Kollegen Recht. Verflixt, die Teilnahme an den Übungen war ihr einziger Fixpunkt des Tages.
‚Eigentlich könnte ich sofort zum Bahnhof fahren, um nach Hause zu gelangen, nach meiner kranken Oma zu sehen und ein wenig im Haushalt zu helfen‘, sagte sie sich. Könnte, ja, aber – und dabei streifte ihr Blick sehnsüchtig den blitzblauen, wolkenlosen Himmel hinter ihr und das warme, herbstlich weiche Sonnenlicht, das durch die Scheiben auf dem Steinfußboden tanzte. Zitternde, hellgelbe Streifen, über denen Staubpartikel wirbelten und fortlocken wollten und plötzlich von einem Paar brauner Schuhe durchbrochen wurden.
„Hast du dich auch vergebens herbemüht? Ich habe deswegen extra mit einem Kollegen Dienst getauscht, einfach frustrierend.“
Irritiert verfolgte Hannas Blick den Weg vom Boden zwei Hosenbeine entlang, über einen durchtrainierten Rumpf und immer weiter bis zu einem freundlichen Lächeln in einem männlichmarkanten Gesicht. Verwirrt, weil sie unsanft aus ihren Überlegungen geholt wurde, verarbeitete Hanna die an sie gerichtete und in ein angenehm tiefes Timbre gehüllte Frage.
„Ja, ich bin nur wegen diesen Übungen hier“, kam zögernd ihre Antwort.
Ihr Gegenüber hatte sie offenbar schon einige Minuten beobachtet und es war ihm das verlangende Aufflackern ihrer Augen nicht entgangenen.
Als ob er ihre Gedanken fortspinnen wollte, sprach er weiter: „Eigentlich ein viel zu schöner Tag, um ihn hinter dicken Mauern bei trockenen Themen zu verbringen oder sich den üblichen Pflichten zu widmen.“
Er machte eine Pause, um ihr für eine Erwiderung Zeit zu geben. Doch Hanna war so unsicher, dass ihr nur ein leichtes Nicken der Zustimmung gelang.
Dennoch hatte er es bemerkt und rang sich zu einer unverfänglichen Feststellung durch: „Da würde man gerne einen Ausflug machen“, meinte er und zögerte für einen Moment. Nach einem tiefen Atemzug fügte er „Würdest du mitkommen?“ an und ein verlegenes Lächeln schien gleichzeitig um Entschuldigung zu bitten.
Doch kaum war ihm die Frage entschlüpft, zog das Erschrecken wegen seines Mutes über seine Miene und sein Gesicht spiegelte die Unsicherheit, ob ein fremdes, junges Mädchen seine Worte nicht entrüstet würde zurückweisen. Deshalb fügte er ein schnelles „Roland Marin“ mit einer knappen Verbeugung an. „Und du bist Hanna?“
Sie stand da, hilflos vor Überraschung. In Sekundenbruchteilen kam ihr die Erinnerung an diesen Mann, der ihr bereits im Sekretariat des Rechtskurse-Instituts aufgefallen war. Sehr groß, elastische Figur, schmale Hände mit langen Fingern, ein wenig älter, offensichtlich ein neben dem Beruf Studierender und auf eine unaufdringliche Art fesch. Hanna hatte ihn damals gedanklich abgehakt, denn diese Sorte von Mann würde nie an so einem unscheinbaren Etwas wie ihr Interesse zeigen.
Doch sie hatte sich scheinbar getäuscht. Oder nicht? Sie überlegte kurz, doch die Versuchung war einfach zu groß, und zu verlockend die Aussicht, diesen Kollegen näher kennenzulernen.
Ein leises Rot der Erwartung stahl sich in ihr Gesicht. Sie wollte es mit einem tiefen Durchatmen vertreiben und hatte keine Ahnung, wie anziehend es auf einen Mann wirken konnte. Während es ganz warm vom Bauch in ihre Wangen aufstieg, hoben sich zaghaft ihre Mundwinkel und leise entrang sich die Antwort ihren Lippen.
„Ja, das bin ich und sicher, gerne.“ Und ein kaum wahrnehmbares Blinzeln aus bloß 160 cm Größe stieg empor zu einem Gesicht, das über einen Kopf höher lag als ihres.
Zwei Blicke tauchten ineinander, vorsichtig und tastend, und die Zeit stand still. Unausgesprochene Fragen, zögerlich gedachte Antworten, Sympathie, überbordend zu einem ungewissen Mehr und ein neues Gefühl, das den Körper überrollte und jede Vernunft verbannen wollte. Sekunden, die über ein ganzes Leben entscheiden könnten.
Diese blaugrauen Augen zogen Hanna an, hielten sie fest und erfassten etwas in ihr, das ihr bis jetzt fremd und unbekannt war, wie eine lockende Melodie, ohne Chance, sich dagegen wehren zu können.
Ein zitternder Atemzug durchbrach die Magie des Moments und brachte beide wieder zu Naheliegendem.
„Na, dann schnell zu meinem Auto“, forderte Roland Hanna auf. „Ich hatte Glück und hab gleich hinter der Uni eine Lücke gefunden.“
Erleichterung eroberte seine Züge und vertrieb diese Befangenheit, die sich breitgemacht hatte.
Sie verließen das Gebäude – vorbei am Audi Max – durch den Hinterausgang und gingen zu einem kleinen, weinroten Stadtflitzer, der etwa dreißig Meter weiter wartete. Ganz Gentleman, öffnete er ihr die Türe, ließ sie einsteigen und verstaute mit Schwung sowohl Aktenkoffer als auch Mappen mit Lernunterlagen auf der Rückbank.
Nach einer Weile siegte Hannas Neugier: „Und, wohin fahren wir?“
Roland überlegte kurz, ob er ihre Frage beantworten sollte, dann jedoch huschte ein spitzbübisches Grinsen über sein Gesicht und ein stoisches „Lass dich überraschen“ war alles, was er sich entlocken ließ.
Verflixt, Geheimniskrämerei konnte sie nicht ausstehen. Was hatte er nur vor? Na gut, sie wollte ihn nicht nerven. Aber würde sie nicht doch irgendeinen Anhaltspunkt finden? Es ging ostwärts, so viel war ihr bald klar. Langsam näherten sie sich dem Stadtrand, immer weiter Richtung Ungarn.
Während sie übers Studium plauderten, durchwanderte Hannas Denken die Festplatte ihrer Informationen nach möglichen Ausflugszielen. Erst nach etlichen Kilometern und einigen Wegweiser-Tafeln hatte sie eine Vermutung. Würde sie sein Vorhaben erraten?
„Carnuntum?“, fragte sie ihn unvermittelt.
Schweigen, dem ein leises, verhaltenes Lachen folgte.
„Du bist besser als die Müllerstochter im Rumpelstilzchen, du brauchtest nur einen Rätselversuch.“
Damit hatte er ihr märchenverliebtes Gemüt beeindruckt, genauso wie mit seiner Stimme, die sich wohltuend, lockend in ihr Inneres schlich.
Zuerst fuhr er sie zum Heidentor, dann zum Amphitheater und zuletzt zum Freilichtmuseum. Dort betraten sie das Ausgrabungsgelände, lasen mit Interesse die vielen Informationstafeln und schlenderten durch das vor so vielen Jahrhunderten von den Römern bewohnte Gebiet.
Bei manchen freigelegten Texten prüfte Roland wie spielerisch ihre Lateinkenntnisse, was bei den Zahlen kein Problem war, wohl aber bei den wie zufällig aneinandergereihten Buchstaben.
Sie starrte verzagt auf folgende Inschrift:
Q SEPTI / MIUS Q F NI / GER CO ANTIO / MIL XV AP AN / XXLV STIP XI / H S E H P
„Meine Güte, du verlangst zu viel von mir“, stöhnte Hanna. „Das sind doch teilweise Abkürzungen. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber wahrscheinlich haben wir das in der Schule gar nicht gelernt“, versuchte sie sich zu verteidigen, um ihre Ahnungslosigkeit zu bemänteln.
„Aber ich schon“, klärte Roland sie mit einem verschmitzten Schmunzeln auf, las und übersetzte die fraglichen Zeilen.
„Q(uintus) Septi/mius Q(uinti) f(ilius) Ni/ger Co(llina) Antio(chia) / mil(es) l(egionis) XV Ap(ollinaris) an(norum) / XXLV stip(endiorum) XI / h(ic) s(itus) e(st) h(eres) p(osuit)“
„Quintus Septimius Niger, der Sohn des Quintus, aus der Tribus Collina, aus Antiochia, Soldat in der 15. Legion Apollinaris, gestorben im Alter von 35 Jahren, mit 11 Jahren Wehrdienst, ist hier begraben. Der Erbe hat diesen Grabstein aufgestellt.“
Hannas Staunen offenbarten ihre hochgezogenen Augenbrauen und wirkten zugleich wie ein wortloses Fragezeichen.
„Da ich fürs Studium das Latinum nachmachen musste“, kam deswegen seine Antwort fast entschuldigend, „habe ich Latein noch ziemlich frisch im Gedächtnis und der Professor in der Abendschule hatte ein Faible für Grabinschriften, Gedenksteine und Monumentbeschriftungen.“
„Ach so“, schnaubte Hanna erleichtert und war insgeheim froh, dass Roland doch keine Wissensbestie war, sondern nur ein männliches, wenn auch subtiles Imponiergehabe an den Tag legte.
Na, dann wollte sie mal nicht so sein und schenkte ihm ein anerkennendes, fast bewunderndes Lächeln. Angeregt plaudernd marschierten sie über das Gelände, tauschten etliche Schulerlebnisse und einige Anekdoten aus, ohne eine Minute des Unbehagens oder des Suchens nach Bezugspunkten.
Doch eine Frage ging ihr bereits den ganzen Tag durch den Kopf, schließlich vermochte sie diese nicht mehr zurückzuhalten: „Warum studierst du eigentlich Jus? Du hast doch eine Arbeit, oder?“
„Ja, sicher“, bestätigte Roland, „aber bei uns im Amt gibt es jetzt die Möglichkeit, mit dem Erreichen des Mag. iur. auch eine höhere Stelle bekleiden zu können, etwa die Position eines Abteilungsleiters, was auch finanziell wesentlich mehr einbringt.“
„Aha“, murmelte Hanna und traute sich nicht, noch weiter in ihn zu dringen. Wenn er ihr nicht mehr verraten wollte, sie konnte doch schwer einfach so nachfragen.
Meine Güte, meine Wohlerzogenheit ist stets ein Handicap, und meine Schüchternheit wie ein Felsbrocken an meinem Hals, schlichtweg hinderlich. Warum konnte sie nicht frech sein? Oder wild drauflos flirten?
Doch ihr Gegenüber schien ihre Gedanken antizipieren zu können, holte kurz Luft und fuhr im Weitergehen fort: „Mein Vater hat darauf bestanden, dass ich gleich nach der Matura bei der Post zu arbeiten beginne. Ich machte meine Ausbildung zum Techniker. Dieses Fachgebiet gefiel mir so, dass ich schließlich an der Technischen Universität inskribiert habe. Doch war das Studium nebenberuflich letztlich nicht zu schaffen. Ich musste nach dem ersten Abschnitt aufgeben. Dann kam die derzeitige Chance. Die will ich nutzen, so habe ich das Latinum nachgemacht. Im Realgymnasium hatte ich zwar Geometrisches Zeichnen, aber kein Latein. Nun, und so bin ich auf der juridischen Fakultät gelandet.“
Hanna hörte ihm aufmerksam zu, ließ ihre Blicke über seine Gestalt wandern. Sie spürte die milde Herbstsonne, die den Himmel in einem intensiven, tiefen Blau aufstrahlen ließ. Eine Farbe, die die Iris seiner Augen in ihrem faszinierenden Leuchten unterstützte, blitzend, anziehend und beinahe verschlingend.
‚Meine Güte, wie wirkt dieser Mann so heiter, entspannt und in seinem ganzen Wesen einnehmend‘, schoss es ihr durch den Sinn. Doch dann machte sich in ihrem Kopf eine irritierende Leere breit und irgendwie verabschiedete sich ihr sonst so strukturiertes Denken. Sie meinte, nur mehr aus Fühlen zu bestehen.
Rolands leises Lachen streichelte ihre Haut und seine wohlklingende Stimme vibrierte in ihrer Brust. Überwach und doch wie verzaubert, ging Hanna neben ihm, ein verträumtes Lächeln im Gesicht. Sie fühlte sich immer leichter, fast schwerelos und – nicht nur von den Sonnenstrahlen – bis ins Innerste erwärmt, von einer Hitze, die ihr das Blut schneller durch die Adern trieb. Sie schwebte und hätte sie auf ihrem Rücken Flügel entdeckt, sie wäre nicht verwundert gewesen.
Jeder Moment dieses Tages fühlte sich wie in Gold getaucht an, unbeschreiblich und sich in jeder Hirnwindung einbrennend.
„Ich habe eine Idee“, meinte Roland kryptisch, nahm Hanna an der Hand und zog sie zum Auto. „Hoffentlich finde ich noch hin“, murmelte er und fuhr los.
Bei einem Lebensmittelgeschäft hielt er dann kurz an, stürzte hinein und kam wenig später, mit einem Einkaufssack bepackt, wieder heraus. Dann ging es weiter über die Donaubrücke, Nebenstraßen und Feldwege entlang. Schließlich blieb er stehen, half ihr aus dem Wagen, nahm den Einkauf, eine Decke und schritt ihr über einen Ackertrampelpfad voran.
Nach einer Biegung entfaltete sich dann ein bezauberndes Bild, der Zusammenfluss der dunkleren March und der helleren Donau. Die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, brach sich in leichten, von vorbeifahrenden Schiffen ausgelösten Wellen und lief, sich wie in tausende Diamanten zersplitternd, am Ufer auf den Steinen aus. Im seichten Wasser balancierte ein Reiher auf einem Bein, wie eine auf der Lauer liegende Statue. Es war ein so schöner Anblick, der sich Hanna bot, dass es ihr die Sprache verschlug und sie stumm machte für diesen Moment wie ein Wunder.
Roland nahm ihre Begeisterung wahr und schwieg, genauso entzückt von dem Panorama, wobei seine Augen auch Hannas Gestalt miteinbezogen. Sie fühlte es, ohne ihn ansehen zu müssen, und spürte, wie vor Verlegenheit aufsteigende Wärme ihren Körper flutete. Oder war es Erwartung, angesiedelt zwischen Angst und Verlangen?
Wortlos breitete er die Decke am Ufer aus und holte das Essen aus dem Sackerl – ein improvisiertes, spontanes Picknick. Eines, das sie nie mehr vergessen sollte.
Sie redeten und redeten, in dem rastlosen Bestreben, möglichst viel von sich dem andern offenzulegen. Erzählten von ihren Eltern, ihren Familien. Erstaunt bemerkten sie, dass sie beide Einzelkinder waren, wobei Rolands Großvater mütterlicherseits sogar ein Herr Baron war, noch im Gotha zu finden. Und seine Tante, die Schwester seiner Mutter, war eine in Deutschland tätige Schauspielerin und Autorin.
„Sie nimmt mich hie und da auf ihre Reisen mit“, berichtete Roland, „über die sie dann mit viel Humor, Begeisterung und einem großen Zwinkern in den Augen wortgewandt kleine Bücher verfasst. Ein paar Mal durfte ich sogar ihr Coautor sein. Da konnte ich meiner Formulierungsfreude und meinem bevorzugten Spiel mit Worten nachgeben.“
Der Stolz, seinen Namen auf dem Buchcover wiedergefunden zu haben, war unübersehbar.
Da zuckte in Hanna die Enttäuschung auf, ihrem Drang zu schreiben nicht nachkommen zu können. Sie dachte an ihre teils schwärmerischen, teils schwermütigen Gedichte, an die zwei, drei Märchen, die sie skizziert hatte und an die vielen Geschichten, die sich nur in Fragmenten in ihrem wohlgehüteten Geheimversteck fanden.
Denn ihren Wunsch nach der Schriftstellerei hätte niemand verstanden, hätte sicher jeder als absurd abgetan. Das maliziöse Nachfragen, ob sie von ihrer Idee zu leben gedenke, und die Feststellung, sie solle keine Luftschlösser bauen, wollte sie gar nicht riskieren. Dieser Traum konnte nicht in Erfüllung gehen, dafür irgendein anderer vielleicht?
„Weißt du, Hanna“, gestand Roland jetzt, „das wäre ja mein geheimster Wunsch gewesen, Autor und Reisejournalist.“ – Nun lachte er verhalten. – „Vermutlich kommt da die schöngeistige Seite meines Großvaters durch. Aber es wäre höchstwahrscheinlich, zumindest am Anfang, eine ziemlich brotlose Kunst gewesen.“ – Ungehalten wischte er ein paar Brösel von seiner Hose. – „Mein Vater hätte mir das niemals erlaubt. Er hält nichts von solchen windigen, nicht so recht greifbaren Berufen. Ich hätte mich seinem manchmal despotischen Willen nicht zu widersetzen getraut.“
Ein klägliches Lächeln des Bedauerns über eine nie erhaltene Chance huschte über sein Gesicht. Hanna fühlte die Mischung aus Wehmut und Bitterkeit, die durch seine Worte geklungen war.
Sie verstand ihn und erzählte ihm nun von ihrem vergeblichen Bemühen, sich ins Medizinstudium zu stürzen und warum dann Jus als Kompromiss zustande kam.
Eine Haarsträhne verfing sich in Hannas Brille und Roland griff vorsichtig danach, um sie hinter ihr Ohr zu streifen.
„So habe ich die Chance erhalten, dich kennenzulernen“, murmelte er und zog seine Hand wieder langsam zurück.
Zögerlich und unsicher, ob er sich traute, wozu es ihn insgeheim so machtvoll trieb. Dass er wie zufällig Hannas Lippen berührte, wagte er dann als einziges. Die leichte Irritation in ihren Augen war ihm nicht entgangen.
Nach einem bangen Moment des Schweigens sprachen sie wieder weiter, über alles, was ihnen in den Sinn kam, allein beseelt von dem Wunsch, sich dem anderen zu öffnen. Doch dazwischen lagen auch Augenblicke der Stille, des sprachlosen Einvernehmens. Eine zart beginnende Nähe, geknüpft wie feine, im Morgentau schimmernde Spinnweben.
Dazu das leise Plätschern des Wassers, durch zarten Windhauch durcheinander gewürfelte, bunte Blätter und verschiedene Vogelstimmen als Begleitung für ihr Zusammensein. Es waren unvergessliche Stunden, die sich wie eine Magie tief in die Erinnerung eingruben. Sie würden immer einen Kokon der Wärme um sie weben, egal wie ihr Alltag aussehen würde.
Nach einem erschrockenen Blick auf die Uhr sah Hanna Roland an.
„Um Himmels Willen, schon so spät. Kannst du mich vielleicht zum Südbahnhof bringen?“, fragte sie vorsichtig, „damit ich noch rechtzeitig meinen Zug erreiche? Mein Vater holt mich sicher ab. Wenn ich nicht komme, machen sich meine Eltern sonst gleich wieder Sorgen.“
Mit einem schweren Seufzen stand sie auf und verschwieg, dass dies nicht der einzige Grund wäre. Sie müsste ihnen das Zusammensein mit ihrem Kollegen erklären. Das konnte sie nicht, wollte sich keinem hochnotpeinlichen Verhör oder ungerechtfertigten Vorwürfen aussetzen.
Roland spürte ihre aufkeimende Unruhe, fragte nicht weiter nach und packte alle Sachen zusammen.
Den Weg zum Südbahnhof legten sie schweigend zurück, trotzdem liefen beredte Schwingungen zwischen ihnen, mit einem Hauch Wehmut.
Indem Roland Hanna ihre Sachen aus dem Auto reichte, umschlossen seine langen, schlanken Finger ihre kleine, breite Hand. Tief sah er ihr in die Augen und flüsterte: „Danke für diesen wunderschönen Tag.“
Rau und innig kam es über seine Lippen, die gleich darauf flüchtig zart ihre Stirn küssten.
Hanna verharrte still, schloss sekundenlang die Lider. „Danke, auch“, wisperte sie, fast erstickt an aufkeimender Emotion.
Mit einem „Bis zum Kurs am Dienstag“ riss sie sich schließlich gewaltsam los, stürmte, von Pflichtgefühl getrieben, die Stufen zum Bahnsteig hinauf, obwohl ihre Beine bei ihm stehen bleiben wollten und sich ihrem Bewegungsbefehl am liebsten verweigert hätten. Und ihr weibliches Ich nichts mehr ersehnte, als sich in seine Arme zu werfen, an ihn zu schmiegen und die Welt um sich zu vergessen.
Doch so blieben nur ihre Gedanken bei ihm zurück, denn die Vernunft trieb sie weiter Richtung Zug. Ohne sich noch einmal umzudrehen, spürte sie seine brennenden Blicke wie Nadelstiche in ihrem Rücken.
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