Sind drei einer zu viel? - Helen Marie Rosenits - E-Book

Sind drei einer zu viel? E-Book

Helen Marie Rosenits

0,0

Beschreibung

Hannas Geschichte Teil 2: Mit ihrem Manuskript macht sie sich auf den Weg, einen Verlag zu finden. Nachsichtig von ihrem Mann Bernhard auf ihrem Selbstfindungstrip unterstützt, wird Hanna zum Aushängeschild eines jungen, auf Best Ager fokussierten Verlages. Paul Santner, ein weiterer Autor der Edition, nimmt sich der Newcomerin an. Als Hanna für den Erfolg ihres Romans als Geschenk eine Einladung zu einer Reise erhält, beginnt das Karussell des Schicksals sich erneut zu drehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 365

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Hannas Geschichte Teil 2: Mit ihrem Manuskript macht sie sich auf den Weg, einen Verlag zu finden. Nachsichtig von ihrem Mann Bernhard auf ihrem Selbstfindungstrip unterstützt, wird Hanna zum Aushängeschild eines jungen, auf Best Ager fokussierten Verlages. Paul Santner, ein weiterer Autor der Edition, nimmt sich der Newcomerin an. Als Hanna für den Erfolg ihres Romans als Geschenk eine Einladung zu einer Reise erhält, beginnt das Karussell des Schicksals sich erneut zu drehen.

Widmung

Ich widme dieses Buch dem Leben, das so viele Facetten beinhaltet und Inspirationen liefert. Das Leben, das einen formt, herausfordert, prügelt, liebt, motiviert, lobt, ermahnt, auf Flügeln trägt, in Abgründe stürzt, Hoffnung gibt, demütig macht, lachen und weinen lässt. Und das so endlich ist, obwohl wir uns verhalten, als ob es unendlich wäre.

Inhalt

Buch

Widmung

Erklärung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Zur Autorin

Hinweis

Liebe Leserschaft

Danksagung

Quellenangaben

Weitere Bücher der Autorin

Erklärung

Artikel in Zeitungen, Berichte in Illustrierten, Erzählungen von Familie und Freunden, Erlebnisse von Bekannten und eigene Erfahrungen sowie Beobachtungen – alles vermischt, durch Fantasie in einem neuen Puzzle zusammengefügt, in Worte gekleidet und als Roman niedergeschrieben.

Alle Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Namen, Charaktere und Geschehnisse entspringen der Vorstellungskraft der Autorin oder wurden in einen fiktiven Kontext gesetzt und bilden nicht die Wirklichkeit ab. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, tatsächlichen Ereignissen oder Organisationen ist rein zufällig.

Kapitel 1

Z um offenen Fenster strömte warm die Spätsommerluft herein, vom nächstgelegenen Dach hörte man das Gurren von Tauben und irgendwo in der Nähe bellte ein Hund, ausnahmsweise einmal nicht ihrer. Durch den Ausschnitt, den das Glas frei gab, sah Hanna kleine Wölkchen am Himmel dahinziehen und unzählige Schwalben, die sich für den Rückflug in wärmere Gebiete formierten. Wie fast jeden Tag seit seiner Pensionierung waren Hanna und ihr Mann Bernhard nach dem gemeinsamen Frühstück in ihre Tageszeitungslektüre vertieft. Sie hatten sich der Bequemlichkeit halber aufs Doppelbett gelegt.

Nach einer Weile ließ Hanna die Blätter sinken. Sie war frustriert über die immer gleichen, deprimierenden Meldungen oder verstörenden Bilder. Gedankenverloren starrte sie vor sich hin, registrierte die Verschmutzung durch die Fliegen auf dem Ahornholzplafond. Pflichtbewusst dachte sie sofort an die notwendige Reinigung und dass wohl auch von den Kästen der Staub wieder einmal heruntergewischt gehörte. Hanna gestattete sich einen kaum hörbaren Seufzer und kehrte mit ihren Gedanken zu ihrem ursprünglichen Problem zurück. Doch dabei wurde sie abrupt unterbrochen.

Tuck, tuck, brrr, klapp, aufmerksames Bellen. Tuck, tuck, brrr, klapp. Warnendes Bellen. Das war eindeutig der Briefträger auf seinem Moped. Und das gleichmäßige Geräusch seiner Tätigkeit der städtebaulichen Regelmäßigkeit geschuldet, wo die Häuser in diesen Gassen den gleichen Abstand wahrten. Tuck, tuck, brrr, klapp. Wütendes Bellen. Klappern von Zaunlatten.

„Kann man denn nicht einmal fünf Minuten lang in Ruhe lesen?“, fragte Bernhard genervt.

„Doch“, seufzte Hanna, „ich gehe ja schon“, und schwang die Beine über den Bettrand, die schiefergrünen Augen kurz aufblitzend und Missmut im Gesicht. „Burgi, sei still, ich komme.“ Damit stand sie auf, um zum Briefkasten zu gehen und ihren Hund zu besänftigen.

Bernhards Blick streifte sie noch flüchtig, ihre kleine Gestalt mit den schlanken, durchtrainierten Beinen, der kaum vorhandenen Taille und den breiten Schultern. Für einen Moment wanderte er weiter zu ihrem mit zweifarbigen Strähnen durchzogenen Haar, das sie mit dem neuen Kurzschnitt jünger wirken ließ als mit den klein geringelten Locken zuvor.

Irgendwie erinnert sie mich an einen Straßenköter, dem fast nichts entgeht und der trotz aller Freundlichkeit immer kampfbereit ist, murmelte er unhörbar vor sich hin. Na ja, räumte er in Gedanken noch ein, das ist wohl ein wenig schmeichelhafter Vergleich, aber trotzdem zutreffend.

Während sie das Zimmer verließ, setzte er erleichtert die Lektüre seiner Zeitung fort. Zufrieden hörte er sie die Stufen hinuntergehen und dann die Eingangstüre aufschließen.

„Sei brav, Burgi. Warum regst du dich denn immer so auf? Jetzt kennst du den Postler eh schon.“

Dabei tätschelte Hanna ihrer Hündin den Kopf und ging die paar Schritte bis zum Briefkasten, öffnete ihn. Doch nichts als Werbeflyer fielen ihr entgegen. Sie betrachtete die bunten Blätter, ohne Emotion. So sehnsüchtig hatte sie wochenlang zumindest ein Kuvert irgendeines Verlages erwartet, hatte hoffnungsvoll jeden Absender überflogen und den Tag in die Zeit vor und nach dem Postboten eingeteilt. Aber inzwischen hatte sie sich sogar das Gefühl der Enttäuschung abgewöhnt.

Eine biografische Erzählung hatte sie geschrieben und diese voller Enthusiasmus an vorerst einmal fünfzehn Verlage zur Begutachtung geschickt. Von sehr vielen war bald eine Absage eingetroffen. Die Geschichte würde nicht ins Programm passen, Biografien verlege man grundsätzlich nicht oder der Text sei zu langweilig, kaum reißerisch, wenig niveauvoll oder leseraffin. Hanna kannte mittlerweile fast alle einschlägigen Ausreden, um sich unerwünschte Zusendungen von unbekannten Autoren vom Hals zu halten.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob denn niemand mehr ein kaufmännisches Risiko eingehen wollte, um einem Neuling der Schreibzunft eine Chance zu geben. War es vernünftig, ambitionierte Schriftsteller ins Self-Publishing zu treiben? Nun, die Zukunft würde die Antwort bringen. Und vermutlich den elektronischen Medien auch in diesem Bereich ein immer größerer Marktanteil eingeräumt werden müssen. Aber diese Überlegung half ihr momentan überhaupt nicht weiter.

Hannas anfängliche Zuversicht war mit jeder negativen Mitteilung gesunken. Sie hatte ihr Herzblut in den Text gegeben, wollte die zukünftigen Leser mit ihren Worten berühren, sie zum Nachdenken anregen.

Warum wollte niemand das Stille im heute oft viel zu Lauten entdecken? Jede Schlagzeile sprang einen an. Opferzahlen, Horrorberichte, Negativmeldungen – alles überdimensional aufbereitet. Doch nach dem einzelnen Schicksal fragte niemand, weil die Nachrichten bereits in der darauffolgenden Minute im World Wide Web nicht mehr aktuell waren und selbst in den Printmedien am nächsten Tag weiterrasten. Unermüdlich, wie ein Karussell des Schreckens. Keiner, der noch das Bedürfnis hatte, den Vorhang zu heben. Und das Flüstern, die stille Qual oder den stummen Schrei dahinter wahrzunehmen.

Wieso musste man Buch-Inhalte mit Aktion und Konfrontation vollstopfen, wenn das Leben in Hannas Erzählung schon von sich aus ein Drama war? Wozu stets Spieler und Gegenspieler, Gut und Böse? Bloß um Lehrinhalte eines Germanistikstudiums zu bestätigen? Oder irgendeine Schule des Schreibens nachzuäffen? Jedes Schicksal war ein Kaleidoskop, genau so wie ihr biografischer Text.

Die Bandbreite reichte vom Mobbing in der Kindheit über den Krebstod der Großeltern, die unglückliche erste Liebe bis zur Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter. Das Leben hatte gleich einem Künstler eine Palette an Farben erstellt und das Schicksal die Nuancen gemalt. Darüber hatte sie geschrieben, über nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Monatelang hatte Hanna jeden Tag mit Ungeduld auf den Briefträger gewartet, ob dieser vielleicht von einem Verlag eine Zusage oder zumindest die Bitte um Übermittlung des gesamten Manuskripts bringen würde. Daneben hatte sie immer wieder in gespannter Erwartung auch ihren E-Mail-Eingang geöffnet. Doch die restlichen Verlage hatten – selbst nach einem halben Jahr – nicht einmal eine Antwort geschickt, weder auf Papier noch elektronisch. So hatte sie die grobe Unhöflichkeit, die ungeduldige Hast und die schnelle Lüge der modernen Zeit hassen gelernt und ihre Hoffnung war mit jeder Woche, jedem Monat gesunken.

Schließlich hatte sie sich als letzten Strohhalm an einen Professor ihrer Gymnasialzeit gewandt und ihm ihr Manuskript übermittelt.

Mit einer resignierten Handbewegung streichelte Hanna dem Vierbeiner über seine breite Brust, nahm die Werbebroschüren und ging zu ihrem Mann zurück. Sie legte sich wieder hin, blätterte gedankenverloren durch die diversen Angebote. Dann konnte sie ihre Worte nicht mehr zurückhalten und musste ihren Mann beim Lesen stören.

„Sag, glaubst du, er antwortet mir bald? Ich bin schon so neugierig.“

Bernhard konnte sich nur mühsam von seinem Journalartikel lösen, versuchte sich auf die Frage seiner Frau zu konzentrieren.

„Hanna“, meinte er jovial, „du musst deinem Bekannten zum Lesen Zeit lassen. Er hat eine große Familie, viele Freunde, der hat noch anderes zu tun, als sich nur deine Ergüsse reinzuziehen.“

„Aber glaubst du, dass es ihm gefallen wird?“

„Keine Ahnung, Mausi, ich weiß es nicht. Du hast ihn um seine Meinung gebeten, weil alle Absagen der Verlage mehr oder minder ohne Begründung waren. Du wolltest ein Feedback von jemandem, der sich in dieser Materie auskennt. Er hat Germanistik studiert, sich stets in diesem Metier bewegt. Da kannst du eine ehrliche Rückmeldung erwarten.“

Bernhard wusste, wie wichtig Hanna diese Biografie war, wie sehr ihr die Geschichte am Herzen lag. Ja, ihre Worte berührten, zogen einen in die Erzählung hinein, doch er konnte die Anforderungen oder Bedürfnisse des Marktes nicht einschätzen.

„Ich möchte einmal im Leben hinter dem Vorhang hervortreten und wahrgenommen werden. Vielleicht sogar Anerkennung für etwas erhalten, das ich ganz allein geschaffen habe. Etwas Greifbares präsentieren, das nicht so flüchtig ist wie Putzen, Kochen oder Gartenarbeit.“

Fast flehentlich hatte es Hanna hervorgestoßen. Bernhard fühlte sich in diesem Moment hilflos.

Er versuchte, sich in Hannas Situation hineinzudenken. Doch er verstand nicht, wieso sie sich minderwertig und unbeachtet empfand, warum sie so ein Bedürfnis nach Publikation hatte. Sicher, sie hatte sich ihrer Vergangenheit gestellt, alles Aufgestaute an Erfahrungen und Emotionen in der Protagonistin ihrer Erzählung aufgearbeitet. Ihr hatte das Schreiben Spaß gemacht, Befriedigung gebracht, war vielleicht so etwas wie eine Therapie gewesen. Aber mussten es deswegen auch andere lesen? Er versuchte sich zu konzentrieren.

„Deshalb willst du deine Geschichte der Öffentlichkeit präsentieren?“

„Ich weiß, du glaubst, dass ich das Prädikat der Nur-Hausfrau damit abschütteln will“, entgegnete sie. „Na ja, das vermutlich ebenso. Aber ich möchte die Leser auch aufrütteln, die eigene Gesundheit mehr im Auge zu haben. Sie dafür sensibilisieren, was zum Beispiel erste Anzeichen einer Demenz sein können. Sie mitleiden lassen, mitfühlen. Sie sollen sich am Ende der Lektüre denken: ‚Gott sei Dank, das Geschilderte ist mir alles nicht zugestoßen.‘ Oder, sollten sie ähnliche Erfahrungen besitzen, dann zuletzt anmerken: ‚Der Protagonistin ist so viel Schlimmes passiert, aber sie ist stets wieder aufgestanden und weitergegangen. Das kann ich auch.‘ Wenn ich das erreichen könnte, dann wäre ich zufrieden.“

Bernhard seufzte. Hanna war viel zu nachdenklich, hinterfragte alles. Sie hatte einen scharfen Verstand, dabei aber zu viel Gefühl. Und sie hatte noch Träume. Etwas, das ihm bereits verloren gegangen war, verschwunden in beruflichen Anforderungen, nüchterner Realität und zynisch anmutenden Schicksalsschlägen. – „Hab doch ein wenig Geduld. Du wirst schon noch die Beurteilung durch deinen Bekannten bekommen.“

Er spürte ihre Verlorenheit, ihre Verzagtheit. Zögernd beugte er sich wie pflichtschuldig zu ihr hinüber, küsste sie flüchtig auf die Stirn und deutete dabei eine Umarmung an. Dann griff er wieder nach seiner Zeitung, um seine unterbrochene Lektüre fortzusetzen.

Doch Bernhard nahm die Buchstaben nur verschwommen wahr. Das Gespräch hatte seine Erinnerung in Gang gesetzt.

Meine Güte, jetzt bin ich schon fast dreißig Jahre mit Hanna, meinem Mausi, verheiratet, schoss es ihm durch den Kopf.

Er hatte seinen Beruf als Beamter in der Justizverwaltung zwar nicht mit Begeisterung, aber doch mit einer gewissen Befriedigung ausgeübt. In der Gerichtsabteilung, die er für einige Jahre betreut hatte, waren die Rechtspraktikanten ein und aus gegangen. Eines Tages war ihm wieder einmal eine junge „Dr. iur.“, nämlich Hanna, zugeteilt worden.

Er sah sie in Gedanken noch vor sich. Sie hatte irgendwie hilflos gewirkt, so ganz anders als die jungen Frauen davor. Nach wenigen Tagen hatte er erkannt, dass sie viel zu behütet vom Elternhaus aufgewachsen war. Sie war weltfremd gewesen, naiv und mit ihrer Art eine leichte Beute für jedermann, für Spott oder für Ausnutzung, ohne dass sie es bemerkt oder sich zu wehren gewusst hätte.

Das hatte in ihm den Beschützerinstinkt geweckt.

Hanna war damals gerade erst aus der Freiheit des Studiums entlassen worden und acht Stunden Konzentration waren manchmal eine Herausforderung für sie gewesen. So hatte er sie nicht nur mit Tipps zur Aktenführung unterstützt, sondern ihr auch zuweilen stärkenden Kaffee gebracht. Zudem hatte er versucht, ihr Hintergrundwissen über Richter und Rechtsanwälte zu vermitteln und gewisse Strategien für sie erkennbar zu machen.

„Aber ist das gesetzesmäßig gedeckt?“, hatte sie ihn einmal mit großen Augen gefragt.

Und es war ein Stück Schwerarbeit gewesen, ihr die Wirklichkeit zu erklären, die sich so gänzlich von ihren hehren Vorstellungen unterschied. Er hatte sich unbehaglich gefühlt, ihr die rosarote Brille der Ehrlichkeit, Anständigkeit und Gutgläubigkeit herunterzureißen. Schlimmer noch, er war sich wie ein Schuft vorgekommen. Besser ich als ein anderer, der es nicht gut mit ihr meint, hatte er sich trotzig zur Rechtfertigung gesagt.

Mit mulmigem Gefühl hatte er daraufhin den Tag erwartet, an dem Hanna dann am Amtstag auf die hilfesuchende Bevölkerung losgelassen wurde. Doch sie hatte wider Erwarten sichtlich Spaß dabei gezeigt. Es hatte ihr gefallen, wenn sie ihrem Gerechtigkeitsgefühl die entsprechende Gesetzesstelle zuordnen konnte.

Sie ist doch nicht so hilflos, wenn es darauf ankommt, hatte er sich gedacht und war dennoch zusammengezuckt, als sie eines Tages kopflos, fast hysterisch, die Türe aufriss und ratlos zu seinem Schreibtisch gestürzt kam.

„Was soll ich machen? Vorerbe, Nacherbe, irgendwelche Bedingungen“, atemlos hatte sie sich vor ihm eingebremst.

Offenbar war ihr in dem Moment rein nichts zu dem präsentierten, kniffligen Erbschaftsproblem eingefallen. Er hatte von seiner Arbeit aufgeblickt, innerlich geseufzt und sich gedacht, dass es lächerlich war, ihr immer zu Hilfe zu kommen, einfach Blödsinn. Was ging ihn ihr Fall an?

Und doch war er nach kurzem Zögern aufgestanden, hatte ihr eine kommentierte Gesetzesausgabe des Richters in die Hand gedrückt, die Partei mit Nachfragen abgelenkt und ihr damit die nötige Verschnaufpause gegeben, um passende Lösungsvorschläge zu unterbreiten.

Nach dieser Episode hatte er sich vorsichtshalber stets im Voraus bei jedem Vorsprechenden über die Art seines Problems erkundigt und Hanna diese Information weitergegeben. Er hatte aufgebracht Wirkende beruhigt oder sie einfach zu einem Notar oder Rechtsanwalt weitergeschickt, wenn das Gericht nicht konkret weiterhelfen konnte.

So war er, der Lehrer-Sohn aus dem Dorf, zum unauffälligen Helfer der Frau Doktor, zu ihrem Ritter geworden. Selbst heute noch musste er bei dem Vergleich still in sich hineinlachen.

Bernhard schüttelte unmerklich den Kopf.

Ehrenmann, ha, er, den so viele in diesem biederen Berufszweig wegen seines unkonventionellen Aussehens – mit Vollbart und schulterlangen Haaren – schief angesehen hatten. Gut nur, dass Kollegen und Vorgesetzte von seinen Erlebnissen beim Trampen oder seinen Erfahrungen beim Pfuschen im Baugewerbe nichts wussten.

Nun, heute hatte sich auch das erwünschte Erscheinungsbild relativiert, wie so viele Dinge. Anstand und Moral verkamen viel zu oft zur Nebensache, weil ein Graubereich toleriert wurde.

Seine Gedanken kehrten zu seiner Frau zurück.

Ritter? Alles, nur das nicht, dachte er nun amüsiert an seine kaum ehrenhaften Überlegungen von damals.

Hanna hatte ihm sofort gefallen. Sie war mollig gewesen und hatte hervorragend in sein bevorzugtes Beuteschema der fülligen Frauen gepasst. Für ihn als Mann hatte sich nur die Frage gestellt, ob er sich trauen sollte, eine Akademikerin zu erobern. Er war einem Abenteuer nicht abgeneigt gewesen, hatte das Spiel mit dem Feuer nicht gescheut.

Ja, früher wirklich nicht, seufzte er wehmütig in sich hinein und weigerte sich, genauer darüber nachzudenken, was aus ihm geworden war, wie brav und bieder er sich heute zeigte.

Bernhard warf einen Seitenblick auf seine Frau. Sicher, ihre Rundlichkeit war stets ein heikler Punkt. Sie war deswegen in ihrer Kindheit verspottet worden und hatte sich den Hänseleien hilflos ausgeliefert gefühlt, eine Erfahrung, die auch er als dicker Bub gemacht hatte. Doch er hatte sich notfalls mit Hieben zur Wehr gesetzt.

Er war ein Einzelkind, wie sie, hatte in einem kleinen Dorf inmitten einer wilden Bubenschar seine Kindheit verbracht. Hanna hingegen war sehr naturverbunden in der Stadt aufgewachsen. Stolz hatte sie ihm berichtet, dass ihre Großeltern einen Hasenstall und ein Hühnergehege sowie einen reinen Nutzgarten gehabt hätten und sie keineswegs eine naturferne Stadtpflanze wäre. Begeisterung war in ihrer Stimme mitgeschwungen und auch das Leuchten ihrer Augen hatte er nicht vergessen.

Durch seine Hilfsbereitschaft hatte Hanna schnell Vertrauen zu ihm gefasst und so hatten sie sich stundenlang Begebenheiten aus ihrer Vergangenheit erzählt. Kartoffeln ausgraben und im Feuer braten, Glühwürmchen nachjagen oder über morgentaufeuchtes Gras gehen. Fröhliches Freundeslachen ins Gesicht und hämische Worte hinterrücks. So viel an Erfahrungen und auch Verletzungen hatte sich gedeckt. – Nie würde er die Geschichte aus ihrer frühen Kindheit vergessen, die sie noch heute Schuld empfinden ließ.

„Weißt du, Bernhard, meine Großeltern haben die kleinen Hühnchen in so einem Geviert gehalten. Das war nach oben mit einem Metallgitter abgesichert. Einmal hat es einige gelbe und ein einziges schwarzes Küken gegeben. Ich habe immer ein wenig mit ihnen spielen und sie streicheln dürfen. Aber Oma hat mir streng verboten, eines allein herauszuholen. – Doch eines Tages hat niemand Zeit für meinen Wunsch gehabt. Ich habe geglaubt, ich sei stark und könnte die eiserne Abdeckung in die Höhe heben, um eines von den kleinen Flaumbällchen herauszunehmen. – Nur ich habe meine Kraft überschätzt und das Gitter fallen gelassen.“

Hanna hatte in ihrem Bericht damals inne gehalten, geschluckt und mit belegter Stimme weitergesprochen.

„Alle waren rechtzeitig in eine Ecke geflohen. Nur das eine schwarze Federbüschel war bewegungslos dagelegen. Es war getroffen worden. Ich hab’s nicht verstanden. Gerade hatte es noch gepiepst und jetzt rührte es sich nicht mehr.“

Die Panik und das Entsetzen der Vergangenheit waren in Hannas Stimme zu hören gewesen. Und ihr Blick hatte ihm gesagt, dass sie in dem Atemzug des hämmernden Nichtverstehens den Begriff ‚tot‘ in seiner tragischen Dimension erkannt hatte.

Dieser winzige Augenblick hatte sich ihr für immer greifbar im Gedächtnis eingegraben – als das Verhängnis seinen Lauf genommen und sie Schuld auf sich geladen hatte.

Schuld, ein junges, entzückendes Lebewesen getötet zu haben.

Er hatte sie in diesem Moment wegen ihrer Empfindsamkeit nicht ausgelacht, obwohl ihm so viel Gefühlsaufwallung wegen eines Huhns selbst heute noch völlig fremd war. Aber er hatte sie als verzagtes Kind vor sich gesehen und sie deshalb verstanden und getröstet.

Es waren schließlich so viele Übereinstimmungen gewesen, die Nähe zwischen ihnen geschaffen und seine Verführungsphantasien vertrieben hatten sowie letztendlich Freundschaft entstehen ließen.

Und eines Tages auch mehr, viel mehr, als er sich je vorgestellt hätte, wie er sich in einem Anflug aus Wärme und Wehmut erinnerte.

Kapitel 2

I ch schau mir noch meine E-Mails an“, murmelte Hanna neben Bernhard. Sie konnte nicht mehr liegen bleiben, weil sie viel zu unruhig war. Mit einem Satz war sie aus dem Bett und auf dem Weg in ihr Arbeitszimmer.

Dort startete sie den Computer und öffnete ihren Posteingang. Ihre Augen überflogen hastig die Kopfzeilen und starrten plötzlich wie hypnotisiert auf den Namen ihres Bekannten. Ihr Finger zögerte für einen Moment, dann klickte sie fast widerwillig auf ‚Gesamte Nachricht herunterladen‘.

Mit schnellem Blick überflog Hanna den Inhalt, stieß die angehaltene Luft aus und wagte erst dann weiter zu atmen, als sie leise murmelnd die Sätze las.

„Liebe Frau Doktor, der Text Ihrer Erzählung hat mich über weite Strecken sehr berührt. Ich wurde in die Geschichte hineingezogen und wollte immer mehr über die Biografie der Protagonistin wissen.

Wie viele der Schilderungen haben Sie wohl Ihrem eigenen Leben entnommen? – Das bleibt vermutlich das Geheimnis der Autorin. Aber ich bewundere Ihren Mut, letztlich Ihre persönliche Gefühls- und Gedankenwelt in die Worte hineinzulegen und dem Leser zu eröffnen.

Ich habe Ihre Erzählung einer befreundeten Lektorin weitergeleitet. Sie hat kürzlich zu einem neu gegründeten Verlag gewechselt.

Es ist die Edition ‚No Age Limit‘, die sich die Entdeckung und Veröffentlichung von neuen, nicht mehr ganz jungen Autoren zum Ziel genommen hat. Dieses mit Investorengeld gegründete Start-up-Unternehmen sieht in den geburtenstarken Jahrgängen eine kaufkräftige Klientel. Weil diese jetzt im Alter um die Fünfzig sind, richtet man auch das Programm auf diese Gruppe aus.

Es soll ein breites Spektrum an Themen, vom humorvollen Gesundheitsratgeber, über lebhafte und mitreißende Reisebeschreibungen, leichtfüßige sowie humorvolle Wissensvermittlung, niveauvolle und lebensnahe Romane bis hin zu interessanten Biografien abdecken.

Ich glaube, dort wären Sie gut aufgehoben. Frau Lore Engel, die Leiterin des Lektorats, wird sich bei Ihnen melden.

Für Ihre schriftstellerische Zukunft wünsche ich Ihnen alles Gute.“

Der Rest der höflichen Grußworte ging in Hannas wirbelnden Gedanken unter. Sie sprang auf, stürmte zu Bernhard und berichtete ihm freudestrahlend von der möglichen Perspektive.

Die Sätze sprudelten aus ihr so schnell hervor, dass er ihren Worten kaum folgen konnte. Hanna wirkte wie neu belebt. Nichts an ihr erinnerte Bernhard mehr an die schüchterne Rechtspraktikantin von früher, bemerkte er erstaunt.

Sie hatte die Hürde, keinen Job als Juristin zu bekommen, hinter sich gelassen. Der Krebstod ihrer geliebten Großeltern oder das Mitleiden beim Alzheimer-Drama ihrer Mutter hatten sie gebeugt. Doch erst ihr Herzinfarkt hat sie beinahe zu Fall gebracht, gestand er sich ein. Aber sie war immer wieder aufgestanden und weitergegangen. Woher nur hat sie diese Kraft, fragte er sich nicht zum ersten Mal.

Er hatte registriert, dass Hanna das Niederschreiben ihrer Erlebnisse und Erfahrungen gut tat, weshalb es wohl auch so mancher Psychologe zur Seelenhygiene empfahl. – Doch das kostete sie Zeit. So hatte er einen wesentlichen Teil der Hausarbeit übernommen, gekocht, geputzt und den vierbeinigen Liebling versorgt. Er tat es ohne Murren, zumeist jedenfalls. Und insgeheim musste er sich eingestehen, dass ihm die Beschäftigung sogar Freude machte und bei gutem Gelingen, eines besonderen Rezeptes etwa, sogar eine gewisse Befriedigung brachte. Dabei konnte er herrlich Musik der 60-er Jahre hören, an seine Reisen nach England oder Frankreich zurückdenken und einfach in seiner Vergangenheit spazieren gehen.

Ob Hanna wohl seine Hilfe zu schätzen wusste?

Mit einem Anflug von Enttäuschung gestand er sich ein, dass sie es wohl kaum als einen Akt der Liebe auffassen würde. Aber genau das ist es, in meinen Augen, dachte er, und nicht die beteuerten, von ihr vielleicht erwarteten Worte einer Herzensempfindung.

Seine Zuneigung, seine Liebe war für ihn etwas Selbstverständliches, das man nicht bereden brauchte. Für ihn war dieses Gefühl da, das musste genügen, auch ohne gestammelte Liebesschwüre.

Hanna hatte ihren Bericht über das E-Mail ihres Bekannten beendet. Beinahe atemlos vor Aufregung stand sie vor Bernhard und beugte sich nun zu ihm, um eine graue Haarsträhne aus seiner Stirn zu streichen.

Dabei streifte ihr Blick den Vollbart, der sein ovales Gesicht bedeckte. Die Farbe war mittlerweile von einem rötlichen Braun zu einem überwiegenden Grauweiß mutiert. Der gerundete Bauch und der insgesamt etwas fülliger gewordene Oberkörper zeugten von den fünfzehn Kilo mehr an Gewicht, die er seit ihrem Kennenlernen zugelegt hatte.

Meine Güte, sie sah ihn noch vor sich, wie er damals mit dem Sträußchen aus Blausternchen, Traubenhyazinthen und Schneeglöckchen vor ihr gestanden hatte, um ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren. Wärme war ihr in die Wangen gekrochen, begleitet von einer stillen Freude. Die in ein nasses Tuch eingeschlagenen Blumenstängel waren noch mit Folie umwickelt gewesen. So viel an Sorgfalt hatte sie gerührt. Und seine stete Hilfsbereitschaft hatte sie in einen Mantel des Vertrauens gehüllt. Ihre Zuneigung war stetig gewachsen und unmerklich aus Sympathie Freundschaft geworden.

Im Jahr darauf war er mit ihr auf eine Anhöhe oberhalb ihrer Heimatstadt gefahren und hatte sehr geheimnisvoll getan. Er war ausgestiegen und hatte sie eine Minute später zu sich gerufen, um ihr wegen des Windes die selbst gebackene Torte mit den brennenden Kerzen im Kofferraum seines Autos zu überreichen.

Wie hätte sie sich da nicht in ihn verlieben sollen?

Auf leisen Pfoten und nicht wie eine Urgewalt war die Liebe herangeschlichen und hatte sich nachhaltig festgesetzt.

Zu Beginn hatte er ihr kurze Briefe geschrieben, die manchmal konfus gewirkt, aber seine Gedanken geoffenbart und seine Hinwendung zu ihr dokumentiert hatten.

Noch heute konnte Hanna sein Lachen von früher hören, seine sonore Stimme, die ihr sofort aufgefallen war, genauso wie seine schmalen Hände mit den langen Fingern.

Ja, wenn er ansetzte, sie zu ärgern oder mit Worten aufzuziehen, dann veränderte er leicht den Tonfall, selbst heute noch. Sie hatte gelernt, darauf zu achten, um nicht in seine Fallen zu tappen. Denn anfangs hatte es ihm diebischen Spaß gemacht, ihre aufgebrachte Reaktion in Form eines Wortschwalls oder fliegenden Gegenstandes zu beobachten. Damals hatte er ihr Temperament, ihren Überschwang und selbst ihre ihn in seiner Gemächlichkeit aufstörende Lebhaftigkeit gemocht.

Hanna seufzte tonlos und dachte weiter an dieses gewisse Timbre, leise und lockend, wenn seine Gefühle sich gezeigt hatten und sein zart geäußertes Begehren. Nein, er war kein heranstürmender Torero gewesen, wie sie wegen seiner Frauengeschichten hätte vermuten können, sondern eher ein zurückgenommener Minnesänger. Erstaunt hatte sie seine verhaltene Art registriert und sich nur gewundert, wenn sie an die ungenierten Erzählungen anderer Frauen über Männer als Draufgänger dachte. Doch sie hatte keine Vergleichsmöglichkeit gehabt und sich mit den Gegebenheiten abgefunden.

Wie sehr ich sein Verlangen vermisse, viel zu viele Jahre schon, gestand sie sich nun ein und auch, dass sie es verdrängt hatte. Zum Schweigen gebracht die Stimme ihres Frauseins, die Beachtung wünschte. Gewaltsam unterdrückt diese Sehnsucht nach überströmender Zärtlichkeit und körperlicher Erfüllung. – Diese Empfindung quälte sie, wollte sich vehement in Erinnerung rufen und wurde von Hanna abrupt in die Verbannung geschickt.

Nun ja, die Anforderungen von Bernhards Berufsposition, die Anstrengungen bei der Renovierung ihres Hauses, die Hilfe bei der Betreuung seiner kränkelnden Mutter und zuletzt sein Schlaganfall mit nur 43 Jahren, – so vieles war wichtiger geworden als Gedanken an Leidenschaft, lebenswichtig sogar, und hatte sich in den Vordergrund gedrängt, sodass ihrer beider Gefühlsebene in der nackten Angst ums Überleben in die Höhe getrieben worden war, um dann in den Mühen des Alltags abzustumpfen.

Sie hatten sich beide des Schweigens schuldig gemacht – erschöpft und ausgelaugt vom Leben. Hatten sie wirklich keine Chance mehr, etwas zu bewahren oder zu retten?

Hanna fragte es sich still und konstatierte erstaunt, dass sie nie gelernt hatte, eigene Bedürfnisse des Herzens und des Körpers zu äußern und durchzusetzen. Und Bernhard hatte irgendwann vergessen, ihr seine Gedanken zu offenbaren. Er war im Laufe der Jahre stumm geworden und müde, unaussprechlich müde.

Doch seit ihrem Herzinfarkt wollte sie schreien. Sie hätte tot sein können, ohne je ihre aufgestauten Worte ausgesprochen zu haben.

Warum? Warum sie, fragte sie sich.

Sie hatte seit über zwanzig Jahren auf Urlaube verzichtet, gerackert ‚wie eine Gestörte‘ beim Hausumbau, hatte bei der Betreuung ihrer Mutter und Schwiegermutter geholfen, nie Freundinnen gehabt.

Wieso durfte sie nicht hie und da ins Weite fliegen? Die Batterien aufladen in grünen Tälern mit sanften Hügeln und Meeresrauschen an zerklüfteten Felsen, tiefhängende Wolken über ihr und einen Mann an ihrer Seite, der sie wortlos verstand und ihr überströmende Zärtlichkeit schenkte?

Von klein auf hatte sie immer allen alles recht machen wollen. Hatte die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen versucht, manchmal mit mehr Anstrengung als je jemandem aufgefallen war, vermerkte sie verbittert. Und doch wollte sie nur eines – geliebt werden, ohne Wenn und Aber. Streichelnde Hände auf ihrer Haut spüren und Leidenschaft, die ihrem Körper Erfüllung bringen würde.

Doch ihr innerer Aufschrei war mittlerweile verstummt, Resignation zurückgekehrt.

Wehmut lag nun in ihrem Blick, als sie ihren Finger weiter zart über Bernhards linke Wange gleiten ließ, um zuletzt flüchtig seine Lippen zu streifen.

Wo waren die Schmetterlinge oder zarten Libellen, die sie einst doch flatternd in sich verspürt hatte, hingeflogen?

Waren sie wirklich gestorben in kalten Winternächten oder doch irgendwo versteckt in glashauswarmen Pflanzen?

Brauchte sie vielleicht nur die Hand auszustrecken, um sie zu bergen und aus Asche zartes Feuer anzufachen?

Sie bemerkte die Irritation in Bernhards Augen, die unausgesprochene Frage und zugleich deren Ablehnung. Da wandte sie sich ratlos ab und zwang die Verzagtheit beiseite.

Kapitel 3

E ine Woche später fand Hanna ein DIN A4-Kuvert mit dem Aufdruck Edition ‚No Age Limit‘ im Postkasten. Mit zittrigen Fingern öffnete sie den Brief, eine einzelne und einige zusammengeheftete Seiten fielen heraus. Sie griff nach dem losen Blatt und begann zu lesen:

Sehr geehrte Frau Doktor, wir haben Ihr Manuskript aufmerksam gelesen und sind gemeinsam zu dem Entschluss gelangt, es in unser Herbstprogramm aufzunehmen. Ob wir Ihren Arbeitstitel übernehmen, ist noch ungewiss. ‚Was auch immer Liebe ist‘ klingt zwar nicht aufregend, doch lässt es Neugierde entstehen, was wohl dahinter stecken könnte und was die Autorin gemeint hat.

Nun, darüber können wir uns ja noch unterhalten, auch über die eine oder andere Korrektur bzw. Ergänzung oder eventuell auch Streichung. Was Interpunktion, Rechtschreibung und Grammatik betrifft, haben Sie uns einen fehlerlosen Text vorgelegt, was bereits eine große Erleichterung und Vereinfachung darstellt.

Im Anhang übermitteln wir Ihnen den Verlagsvertrag.

Wir möchten Sie gerne persönlich kennenlernen. Würde Montag kommender Woche um 10 Uhr in Ihren Terminkalender passen?

Wenn ja, dann erwarten wir Sie, inklusive dem unterzeichneten Kontrakt. Sollte es ungünstig für Sie sein, so erbitten wir ein kurzes E-Mail an obige Adresse.

Mit besten Grüßen, Lore Engel, Leiterin des Lektorats

Nach dem letzten wahrgenommenen Wort stieß Hanna einen Jubelschrei aus.

DEN hat man jetzt vermutlich kilometerweit hören können, lachte sie laut und ihr zeitgleiches Herumspringen erinnerte frappant ans Rumpelstilzchen.

Am liebsten hätte sie die Welt umarmt, einen Baum oder besser noch ihren Schutzengel.

Nun, mit 50plus sollte sie sich wohl gesitteter benehmen, fuhr es Hanna durch den Sinn.

So gestattete sie sich letzten Endes nur eine stürmische Umhalsung ihres Hundes, die dieser mit einem Seufzen quittierte. Und später einen überschwänglichen Kuss an Bernhard, der ihr prompt einen irritierten Blick voll unbehaglicher Überraschung schenkte.

Am vereinbarten Tag bestieg Hanna den Zug Richtung Hauptstadt. Sie war voll gespannter Erwartung, konnte ihre Nervosität kaum in den Griff bekommen. Die Fingerspitzen fühlten sich eiskalt an, und doch standen Schweißperlen auf ihrer Stirn.

Sie tastete nach der Mappe mit dem Vertrag. Neugierig hatte sie sich in den übersandten Kontrakttext eingearbeitet und ihn mit dem online abrufbaren Normvertrag verglichen.

Wozu hatte sie schließlich Jus studiert? Sie würde sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Sie brauchte nur die Verschlechterungen herauszustreichen und den restlichen Text der Vorlage anzupassen. Dann hatte sie die Bindungsdauer auf zwei Jahre begrenzt und die Ablieferung eines Romans jeweils fürs Herbstprogramm sowie die Unterstützung von Werbemaßnahmen akzeptiert. Die Tantiemen setzte sie bei 10% des Nettoladenpreises fürs Hardcover, 5 % für die Taschenbuchausgabe und 25% für das E-Book vom Nettoverlagserlös an.

Nach meinen Recherchen liege ich damit beim Durchschnitt der Autorenforderungen, hatte sie sich zufrieden gedacht und den neu formulierten Text zur Kontrolle an die Edition gemailt.

Der abgeänderte Vertragsentwurf wurde vom Verlag anstandslos akzeptiert, was ihr bewies, dass beinahe alles verhandelbar war, und eine geistige Leistung nichts anderes darstellte als beispielsweise ein Auto, bei dem man auch um Prozente, Nachlässe oder Zusatzangebote feilschte.

Hanna lehnte sich im Sitz des Waggonabteils zurück und entspannte sich ein wenig. Die Landschaft, Orte und Straßen zogen wie wesenlos an ihr vorüber. Zu bekannt war ihr das Bild von ihren jahrelangen Fahrten zur Universität.

Ein gewisses Gefühl von Zufriedenheit bemächtigte sich nun ihrer.

Hatten Bernhard und sie zusammen in ihrer Ehe nicht unheimlich viel geschafft? Ja, doch, sie hatten ihr ererbtes Haus von Grund auf renoviert, mit einem neuen Dach, Isolierglasfenstern und einer umweltfreundlichen Pellets-Zentralheizung ausgestattet.

Ihre Gedanken zuckten in die Vergangenheit und die Erinnerung an die arbeitsreichen Jahre stand wieder greifbar vor ihr.

„Ich kann nicht mehr. Die Hände sind bereits voller Blasen, trotz der Arbeitshandschuhe, und der Steinbohrer ist so furchtbar schwer. Wie die Schultern schon zittern, weil diese depperte Maschine dermaßen prellt. Ach, und das Kreuz tut so weh, weil die 38-er Ziegel kaum zu schleppen sind. Vorher mit Gewichten zu trainieren, wäre eine gute Idee gewesen. Du liebe Güte, zwischen meinen Zähnen knirscht der Ziegelstaub und die Wimpern sind von Schweiß und Dreck verklebt. Und wahrscheinlich bin ich jetzt rothaarig und sehe aus wie eine Hexe. Wie lange halte ich das noch aus? Jetzt stolpere ich sogar schon und verflixt, nun ist auch noch ein Knie aufgeschunden und brennt höllisch. Verschwindet, weg mit den Tränen, die sich so blöd vordrängen. Ich gebe nicht auf. – Nein, ich will ein schöneres Zuhause, das muss mich aufrecht halten.“

Immer wieder hatte sie ähnliche Sätze vor sich hingemurmelt, zur Erleichterung, aus Frust oder als Aufmunterung. Jedes Wort in Endlosschleife – wie der Schmutz und Dreck um sie herum.

Erstaunlicherweise war sie, oft nicht so leicht, aber letztendlich doch, über unerwartete Schwierigkeiten hinweggeklettert, hatte koordiniert, das nötige Geld bei der Bank aufgestellt und war jahrelang an ihre Grenzen gegangen – und darüber hinaus.

Doch letzten Endes hatte sie ein anheimelndes Zuhause geschaffen und das Interieur nach ihrem Geschmack gestaltet: Birken- und Ahornmöbel, verschiedene Gelbtöne an den Wänden, eine Sitzlandschaft im Ethno-Style und ein Hauch Orient bei den Teppichen sowie mediterrane Akzente bei der Dekoration.

Ich habe ausgemalt, tapeziert, mit der Bohrmaschine umgehen gelernt, mich sogar an die Verlegung einfacher elektrischer Leitungen herangewagt, dachte sie nun äußerst befriedigt. Den Zustand von 360 m2Fläche optimiert und trotzdem nicht perfekt und nie vollendet, ergänzte sie nun frustriert.

Da Bernhard und sie das meiste an Arbeiten fremdfinanzieren mussten, schränkten die notwendigen Rückzahlungen ihren Spielraum erheblich ein. Das Schlagwort von der kreativen Buchführung hätte von ihr stammen können. Oder der Wunsch nach dem Goldesel im Keller. Hanna seufzte, denn gerne hätte sie bei diesen Gedanken gelacht, wenn ihr die Vergangenheit nicht jede Erheiterung diesbezüglich vertrieben hätte.

War sie übermütig gewesen oder größenwahnsinnig?

Denn ungeachtet aller Verbindlichkeiten hatte sie darauf gedrängt, bei günstiger Gelegenheit die beiden anschließenden, kleinen Grundstücke zu ihrem eigenen Garten hinzuzukaufen. Sie hatte daraus ein naturnahes Grün mit Biotop und vielen Bäumen gemacht, wobei Bernhard ihren Traum tatkräftig und nur manchmal fluchend stets unterstützt hatte.

Dass ihre Kleinstadt im sogenannten Steinfeld lag, erklärte schließlich, warum das Setzen sämtlicher Pflanzen dann derart mühsam war. So war der Garten zwar ihr Hobby geworden, aber auch ihre Herausforderung.

Warum bildete sie sich ausgerechnet englische Rosen ein? – Ja, weil diese sie so mit ihren gefüllten Blüten und dem oft berauschenden Duft faszinierten. Und es waren nicht ein paar, sondern an die neunzig gewesen, die sie mühsam im Schweiße ihres Angesichtes gesetzt hatte, um sie danach wahrhaft zu verhätscheln. Nur um in den meisten anderen Gärten zu beobachten, wie dort die Königin der Blumen nahezu mühelos und in üppiger Schönheit blühte. Sie war hartnäckig, doch es war sehr oft frustrierend.

Der blöde Ratschlag vom Betonieren und grün streichen kam ihr in den Sinn. Manchmal wäre das wirklich die billigere und weniger anstrengende Variante gewesen. Aber ihr Hund hatte seine Freude beim Herumtollen und sie selbst genossen ihr kleines, grünes Paradies. Die unberechenbare Natur und Hannas immer neue Gestaltungsideen sorgten dennoch dafür, dass nie alles vollständig war und ihnen somit keine Langeweile drohte. – Doch mehr an Abwechslung bot sich Bernhard und ihr dann auch wieder nicht. Wegen der angespannten Finanzsituation hatten sie sich die letzten beiden Jahrzehnte nur Tagesausflüge gegönnt.

Ja, Ferien – das war etwas, das ihr wirklich fehlte. Bildersequenzen zogen vor ihren Augen vorbei; von den vielen Reisen, die ihre Eltern mit ihr durch Europa und einmal sogar vier Wochen durch zehn amerikanische Bundesstaaten unternommen hatten.

Dieses Verlangen nach der Ferne erfasste sie auch heute noch, diese innere Unruhe, die sie weglocken wollte – irgendwohin, nur weg. Begleitet von dieser leisen Stimme in ihr, die so lockend fragte, ob das Bisherige alles im Leben gewesen war. Und die eine Sehnsucht sacht nährte – nach einem Mehr. Mehr Freiheit, mehr Liebe, mehr Leben.

Auf einem Felsen balancieren, hinter sich hereinbrechende Wellen hören, erfrischende Gischttropfen im Gesicht spüren, mit den Füßen über Sandflächen gleiten oder Zehen in weiche Moospolster vergraben. Prickelnden Morgentau in kleinen Rinnsalen auf den Fußrücken fühlen, tief hängende Wolken fast mit den Händen greifen können und sich dann in ausgebreitete, liebevolle Arme fallen lassen. – Lautlos flüsterte sie ihren Traum und hatte die Augen geschlossen, glaubte das Salz des Meeres zu riechen und ein herbes männliches Parfum.

Die Bremsen des Zuges quietschten und sie öffnete die Augen, wieder brutal in der Wirklichkeit gelandet. Es waren bloß grenzenlose Tagträume, die die Flamme der Hoffnung am Glimmen hielten.

Sie seufzte, verdrängte all die quälenden Gedanken. – Bernhard und sie hatten ihr Leben trotz der vielen schweren Herausforderungen gemeistert, es hatte sie zusammengeschweißt, am Ende stärker gemacht, aber auch müde.

Sie hatten nie aufgegeben, waren immer gemeinsam weiter gegangen. Wenn auch sie zumeist voran, wie sich Hanna ehrlich eingestehen musste.

In der Jugend hatte sie Gedichte geschrieben oder kleine Geschichten. Doch die Ausbildung und dann die harten, arbeitsreichen Jahre ihrer Ehe hatten ihr die Energie zum Schreiben genommen. Nur im Kopf waren unendlich viele Ideen geboren worden; skurrile oder humorvolle Erzählungen, bevölkert von Typen, die ihr im Alltag über ihren Weg liefen. Die ausgedachten Dialoge oder pointierten Beschreibungen hatte sie manchmal vor sich hingemurmelt und daraus oftmals die Kraft zum Durchhalten geschöpft. – So hatte sie jahrelang das Bedürfnis, ihr Sprachtalent auszuleben, unterdrückt. Jetzt kam ihr das wie ein Vergehen an sich selbst vor. Doch nach ihrem Herzinfarkt hatte ihr Bernhard die Zeit zum Formulieren ihres Textes geschenkt. Und jetzt war sie auf dem Weg, die Publikation ihrer biografischen Erzählung zu vereinbaren.

Der Zug hielt mit einem Ruck und Hanna erblickte zum ersten Mal den neuen Hauptbahnhof. Sie nahm die U-Bahn in Richtung der angegebenen Adresse der Edition ‚No Age Limit‘.

Kapitel 4

G egen ihre sonstige Angewohnheit, die Bernhard regelmäßig auf die Palme brachte, war Hanna tatsächlich pünktlich vor dem Gebäude eingetroffen. Schnell musterte sie noch ihr Spiegelbild in der Auslagenscheibe des danebenliegenden Geschäfts. Sie hatte ihre anthrazitgraue Jean, eine hellgraue Bluse und den weinrotgemusterten Blazer ausgewählt.

Das ist nun mal mein Stil, der sogenannte casual look, sagte sie entschieden zu ihrem eigenen Gegenüber. Ich will mich nicht verkleiden oder in eine Business-Uniform zwängen.

Nein, sie war kein Chanel-Kostüm-Typ, in den ihre Mutter sie immer so gern verwandelt hätte. Ach, dieser war vorgeschwebt, ihre Tochter sollte eine richtige Dame sein, aber sie war alles andere als das geworden, nicht einmal eine falsche.

Sie war keine Kopie von irgendwem, sie war einfach Hanna.

Mit einem Seufzer und ihrem gläsernen Abbild zunickend, wandte sie sich ab und stieß die Eingangstüre auf. Dann betrat sie den Flur, ließ kurz ihren Blick zur Orientierung umherschweifen und klopfte schließlich an die Tür mit dem Verlagslogo.

Nach kurzem Zögern betrat sie das Büro, wo sie sich unvermittelt einer Frau ihres Alters, offenbar der Sekretärin, gegenüber fand. Hanna nannte ihren Namen, überreichte ihre – auch mit dem erworbenen akademischen Grad, Dr. iur., bedruckte – Visitenkarte und fügte noch an, dass sie einen Termin vereinbart hätte und erwartet würde.

Der Kopf mit den grauen Haaren vor ihr nickte und meinte freundlich: „Bitte nehmen Sie doch Platz.“

Mit einem kurz erwiderten „Danke“ setzte sich Hanna auf einen der mit braunem Kunstleder bezogenen Sessel. Ihr Herzschlag ließ sich – trotz ihrer sich selbst zugesprochenen, stillen Ermahnung – nur marginal beruhigen.

Sie hatte kaum durchgeatmet, als sie bereits weitergebeten wurde.

Nur am Rande registrierte sie das Zimmer, vermutlich der Konferenzraum, mit dem großen Tisch und mehreren Sesseln, den Regalen voller Bücher, Aktenordner und Ablagekörben. Ihre Konzentration galt allein der mittelgroßen, aschblonden Frau mit schwarzumrandeter Brille und hagerer Figur, die ihr die Hand entgegenstreckte.

„Guten Tag, Frau Dr. Holzbacher. Ich bin Lore Engel, die Lektoratsleiterin.“

Hellblaue Augen glitten unauffällig musternd über Hanna und der leicht verhärmt wirkende Mund hatte ein kleines Lächeln aufgesetzt, während die freie Hand auf eine andere Frau von untersetzter Statur wies.

„Das ist Ihre Lektorin und persönliche Betreuerin, Frau Daniela Beermann. Mit ihr werden Sie hauptsächlich zu tun haben und alle Ihre Fragen, Anliegen usw. besprechen können.“

Hanna folgte ihrer Handbewegung. Dabei streifte ihr Blick einen beim Fenster stehenden, hochgewachsenen Mann, der ins Lesen eines Textes vertieft war. Sie nahm flüchtig seine sportlich trainierte Figur mit den langen Beinen in der eng sitzenden Jean und seine männlich-breiten Schultern im braun gemusterten Tweed-Sakko wahr. Kurz war sie irritiert, dann jedoch wandte sie ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer künftigen Ansprechpartnerin zu und reichte ihr gleichfalls die Hand.

Ihr Gegenüber hatte Hannas Größe, war jedoch mollig und trug das braune Haar in ungezwungenen Locken, die mit jeder etwas heftigeren Bewegung des Kopfes mitzuspringen schienen. Die kleinen Lachfältchen um die Augen bezeugten das Bemühen, dem Leben möglichst die heiteren Seiten abzugewinnen und nichts zu schwer zu nehmen, schon gar nicht die Unwägbarkeiten ihres Berufs.

Warme, braune Augen richteten sich auf Hanna und ein freundliches, wie um Vertrauen bittendes Lächeln nahm ihr die Unsicherheit.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Dr. Holzbacher. Kommen Sie, wir gehen in mein Zimmer, dort ist es gemütlicher, um alles zu besprechen.“

Eine einladende Geste unterstrich ihre Worte.

„Und du, Paul, kommst auch mit“, wandte sie sich an den abseits stehenden Mann.

„Übrigens, das ist Dr. Santner, einer unserer Autoren, der auch den Internet-Auftritt unseres Verlages betreut“, bemerkte sie im Vorausgehen über die Schulter, „und bei Ihnen eine ganz spezielle Funktion ausüben wird.“

Beinahe widerwillig unterbrach der Angesprochene seine Lektüre, drehte sich zu Hanna. Sie streckte ihm fast gehemmt die Hand entgegen, weil ein Lächeln mit dem Hauch von Überheblichkeit über seine ansonsten ausdruckslose Miene huschte. Er hatte ihr Zögern bemerkt, was seine hellgrauen Augen kurz amüsiert aufblitzen ließ.

In Daniela Beermanns Zimmer nahmen sie Platz.

„Zuerst einmal, haben Sie den unterschriebenen Vertrag mit, Frau Dr. Holzbacher?“

„Ja, sicher.“

Hanna reichte ihrer Lektorin das Schriftstück und erinnerte sich gleichermaßen an ihr Unbehagen wie ihr Zögern kurz vor ihrer Unterschrift.

War sie dazu verurteilt, eine lebende Rendite zu sein? Sie hatte es sich voll Beklommenheit gefragt, die Überlegung jedoch erfolgreich verdrängt. Ich bin Juristin, werde mich in jedem Fall – trotz Vertragsbindung – zu wehren wissen. Fast trotzig hatte sie es vor sich hingemurmelt. Und das Schlimmste, das sie treffen konnte, war das rasche Wieder-Verschwinden in der absoluten Anonymität – dachte sie zumindest.

Hanna konnte sich nicht vorstellen, dass sich im Leben manchmal die Parameter so veränderten, dass nichts mehr wie früher sein würde. – Doch sie hätte es besser wissen müssen, denn bereits ihr Herzinfarkt hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt, wo sie ganz plötzlich in ein Korsett aus Gewichtsstabilität, Bewegungsprogramm, gesunder Ernährung und Blutzuckerkontrolle gezwängt worden war.

Nun stand sie wie ein kleines Kind vor einem fremden Tor, wusste nicht, ob sie es öffnen und hindurch gehen sollte, voller Angst, was sich wohl dahinter verbergen würde. Sie hatte eine Entscheidung zu treffen, wie oft in einem Menschenleben.

Reich oder bekannt zu werden, nein, das erwartete sie nicht. Doch sie wollte endlich ihr eigenes Buch in Händen halten, Lesern ihre Geschichte näher bringen und Menschen aus ihrer Erzählung vorlesen. So hatte sie letztlich den Vertrag unterschrieben.

Angetrieben von einer Mischung aus Neugier, angespannter Erwartung und Eroberungslust, mit einem Hauch Wagemut beschloss sie einfach, Schritt für Schritt weiterzugehen und sich vom Leben, wenn auch nicht gänzlich ohne Angst, überraschen zu lassen.

Daniela Beermanns Stimme forderte wieder ihre Aufmerksamkeit.

„Wissen Sie, ich habe Ihre Haltung sehr mutig gefunden. Als Neo-Autorin einen angebotenen Vertrag abzuändern, ist bemerkenswert. Zumeist ist das Bestreben nach Publikation größer als der Verhandlungswille.“ – Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. – „Darum will ich Ihnen auch die Wahrheit verraten: Unser Chef, Dr. Stefan Hochhalm, möchte noch Investoren für unser Start-up-Unternehmen gewinnen. Deshalb hat er Sie als eine Art Vorzeigeprojekt für den Verlag auserkoren.“

Mit einer unbewussten Geste griff sie nach einem Bleistift, drehte ihn zwischen den Fingern und sprach weiter: „Er fand, dass Ihre Erzählung fast die gesamte Palette eines möglichen Lebensinhaltes umfasst, mit dem Mobbing in der Schule, dem Zweifel am eigenen Körper, den Schwierigkeiten eines Berufseinstiegs, den Liebeswirrnissen und den Beschreibungen über Krebs, Demenz, Schlaganfall sowie Herzinfarkt.“

Nun machte sie eine kurze Pause, atmete durch und sah Hanna an: „Das würde, seiner Einschätzung nach, perfekt zu unserer angestrebten Leserschaft der Best-Ager passen, die mit ihrer Lebenserfahrung den Stoff ihres Buches zu schätzen wissen wird. Zudem sind Sie als schriftstellerische Neuentdeckung der Präzedenzfall, dass in jedem Alter, selbst bei 50plus, noch ein mutiger Schritt zu neuem oder weiterem Erfolg möglich ist.“