Lemberger Todestango - Kai Althoetmar - E-Book
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Kai Althoetmar

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Beschreibung

22. Juni 1941. Beginn des Angriffs deutscher Truppen und ihrer Verbündeten auf die Sowjetunion. Acht Tage später nimmt die Wehrmacht Lemberg ein, die Hauptstadt Ostgaliziens. Die Rote Armee ist abgerückt. In den Gefängnissen der Sowjets liegen Tausende Leichen - von Stalins Geheimpolizei unmittelbar vor dem Abzug ermordete Ukrainer, Polen, Juden, deutsche Kriegsgefangene. Die meisten Ukrainer feiern die Deutschen als Befreier. Als Schuldige an dem Massaker gelten der NS-Propaganda und den ukrainischen Nationalisten "jüdische Bolschewisten". Ein antisemitischer ukrainischer Mob, angeleitet von deutscher SS, zieht mordend durch die Stadt. Es ist die Ouvertüre zum Holocaust. In der Stadt harren zwei junge jüdische Männer aus, die den Schrecken der folgenden drei Jahre überleben sollen: Simon Wiesenthal, der spätere "Nazi-Jäger", und Leon Weliczker Wells, dessen Höllenreport "Ein Sohn Hiobs" zu einem der bedeutendsten Schoah-Zeugnisse wird. Beide springen immer wieder dem Tod von der Schippe. Sie überleben - auch dank der Hilfe einzelner mutiger Polen und Deutscher - Lembergs berüchtigtes Janowska-KZ, in dem eine Lagerkapelle zum "Todestango" aufspielt, sie überstehen das Lemberger Ghetto, Gestapo-Haft und die "Sonderkommandos" der SS, Todesmärsche und Partisanenkampf. Zwei Kriegsbiographien, eine Geschichte: vom unbeugsamen Lebenswillen im Angesicht des Abgrunds. Für die Recherchen zu diesem Buch ist der Autor nach Lviv (Lemberg) in die Ukraine gereist und hat die Kriegsschauplätze von damals besucht. - Illustriertes eBook mit zahlreichen Fotos und Karten. Auch als Taschenbuch und als Hardcover erhältlich.

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Inhaltsverzeichnis

Lemberger Todestango

Kai Althoetmar

Lemberger Todestango

30. Juni 1941. Beginn des Holocausts in Ostgalizien

Edition Zeitpunkte

Impressum:

Titel des Buches: „Lemberger Todestango. 30. Juni 1941. Beginn des Holocausts in Ostgalizien“.

Auch als Taschenbuch und Hardcoverausgabe erhältlich.

Erscheinungsjahr: 2019.

Inhaltlich Verantwortlich:

Edition Zeitpunkte

Kai Althoetmar

Am Heiden Weyher 2

53902 Bad Münstereifel

Deutschland

Text: © Kai Althoetmar.

Titelfoto: Zwangsrasur eines Juden bei Lemberg im Juli 1941. Foto: Friedrich Gehrmann, Bundesarchiv.

Verlag und Autor folgen der bis 1996 allgemeingültigen und bewährten deutschen Rechtschreibung.

Die Recherchen zu diesem Buch erfolgten ohne Zuwendungen oder Vergünstigungen Dritter.

1962 erschien im Pariser Verlag Albin Michel unter dem Titel „Pour que la Terre se souvienne“ - zu Deutsch: „Damit die Welt sich erinnert“ - ein Tatsachenbericht über den Holocaust in Ostgalizien. Dem Autor und Schoah-Überlebenden Leon Weliczker Wells, einem polnischen Juden aus Lemberg, war es gelungen, seine Aufzeichnungen vom Leben und Überleben unter den Bedingungen von Krieg, Besatzung, Ghetto und KZ, drei Jahre lang meist heimlich zu führen und über den Krieg zu retten. Die französische Wochenzeitschrift L'Express nannte den 335 Seiten langen Report 1962 ein „einmaliges Dokument in der Geschichte der Menschheit“.1 In den USA erschien das Buch ein Jahr später unter dem Titel „TheJanowska Road“, in Deutschland im gleichen Jahr als „Ein Sohn Hiobs“. Längst ist Wells' Hiobsbericht in Vergessenheit geraten, auf Deutsch wird es nicht einmal mehr verlegt.

Leon Weliczker Wells stammte aus Stojanow, einer Kleinstadt 100 Kilometer nordöstlich von Lemberg. Leon, am 10. März 1925 geboren, war das zweitälteste von sieben Kindern. Bis 1918 war Stojanow ein Vorposten des österreichischen Galizien kurz vor der russischen Grenze. Nach dem Ersten Weltkrieg, als das alte Habsburgerreich zerfiel, wurde es polnisch.

Das stieß auf den Widerstand der Ukrainer. Noch im November 1918 hatten sie in Lemberg, das im k.u.k.-Reich Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien gewesen war, eine kurzlebige Westukrainische Republik ausgerufen. Es kam zum Krieg zwischen Ukrainern und Polen. Die Ukrainer, im Habsburgerreich wie alle Ostslawen auch Ruthenen genannt, kämpften schon immer gegen die Polen, berichtete Alfred Döblin damals. Der deutsch-jüdische Schriftsteller, Nervenarzt in einem Berliner Arbeiterviertel, hatte sich im Herbst 1924 aufgemacht, Polen zu bereisen, das auf der Weltkarte Versailles als Republik wiederauferstanden war. Die Ukrainer, notierte Döblin in „Reise in Polen“, seinem 1925 erschienenen Erkundungsbericht, der ihn bis nach Lemberg führte, „haben am Kriegsende neun Monate vergeblich gegen Polen gekämpft, dann erhielt Polen das Recht von der Friedenskonferenz, das autonome Land vorläufig zu verwalten. Später sollte die Bevölkerung sich selbst entscheiden. Diese Entscheidung ist nicht angerufen worden. Die Botschafterkonferenz hat einfach 1923 Ostgalizien Polen zuerkannt.“2

Das Königreich Galizien und Lodomerien zur k.u.k.-Zeit. Karte: Mariusz Pazdiora, CC BY 3.0.

Im September 1939 dann die nächste Volte der Geschichte: der deutsch-sowjetische Zangengriff. Zwei Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen marschierte Stalins Rote Armee in Polens Ostteil ein und annektierte ihn. Die deutschen Truppen zogen sich aus Lemberg zurück. Im Juni 1941, mit Beginn des „Unternehmens Barbarossa“, kamen die Deutschen zurück. Drei Jahre blieben sie, bis 1944 die Rote Armee Ostgalizien zurückeroberte - und Polens Grenze endgültig nach Westen verschoben wurde. Heute ist Stojanow ukrainisch.

Von den 2.000 Einwohnern in den 1930er Jahren war jeder zweite jüdisch. Die Juden wohnten im Zentrum Stojanows, Ukrainer und Polen am Stadtrand. Industrie gab es nicht, die Menschen lebten vom Wald, hielten Hühner, bauten Kartoffeln, Gemüse und Getreide an.

Die Weliczkers gehörten zu den Chassidim, einer Bewegung frommer Juden, die sich von der Welt abwandten und nach seelischem Gleichmut strebten - gewiß auch eine Reaktion auf antisemitische Pogrome im zaristischen Rußland. Wells' Vater Abraham war Holzhändler, Mitbesitzer von Holzlagern, Wald und einer Sägemühle. Mutter Chana kochte, buk und kaufte ein. Die Familie darbte weniger als andere. „Für die meisten war die Kartoffel das Hauptnahrungsmittel. Ziemlich viele Leute saßen abends im Dunkeln, weil sie sich kein Petroleum für die Lampen leisten konnten“, schreibt Wells in „Ein Sohn Hiobs“3

Jüdische Hochzeit in Galizien - Zeichnung in „Die Gartenlaube“ (1883).

1933 zog die Familie nach Lemberg, in das Zentrum Ostgaliziens. Lemberg, die „Löwenburg“, polnisch Lwów, ukrainisch Lwiw, russisch Lwow, jiddisch Lemberik. Für die sieben Kinder war es eine neue Welt: elektrisches Licht, Straßenbahnen, Aufzüge, Wasserleitungen! Die Schule bescherte Leon, dem ältesten Sohn, eine neue Erfahrung: „Von den nicht-jüdischen Schülern wurde ich oft verhauen, und mancher Lehrer schaute dabei ostentativ weg.“ Und Vater Wells ermahnte seinen Sohn: „Ein Jude schlägt nicht zurück!“4

Es kam der 1. September 1939. Über dem Nachthimmel von Lemberg dröhnten die Motoren der deutschen Luftwaffe und warfen ihre tödliche Fracht ab. Die Menschen versteckten sich in den Kellern. „Häuser und Erde bebten. Wir hatten das Gefühl, als ob alles zusammenstürzte. Eine Frau schrie plötzlich ‘Gas!’. Die Panik war unbeschreiblich.“5 Lemberg brannte, die Familie Weliczker floh auf einem Pferdewagen zurück nach Stojanow, fand bei den Großeltern Unterschlupf und vergrub Silbersachen und Juwelen. Die geschlagenen polnischen Soldaten flohen Richtung Rumänien, während die Juden das fürchteten, was im Russischen „nach dem Donner“ heißt: Pogrome - und zwar vonseiten ihrer Mitbürger. „War die Stadt bei politischen Umwälzungen ohne Gerichtsbarkeit“, schreibt Wells, „so war es stets zu Pogromen und Plünderungen gekommen.“6

Gerüchte waberten durch Ostgalizien. Die Rote Armee werde einmarschieren. Und so kam es Mitte September. Hitler und Stalin hatten die Beute Polen geteilt. Die Weliczkers kehrten nach Lemberg zurück. Die Rotarmisten brachten groben Tabak, kommunistische Broschüren und Bilder Lenins und Stalins. „Da sie ständig auf die Gleichheit aller Menschen hinwiesen, gewannen sie sich sofort die Achtung der Minderheiten.“ So kam es, daß aus dem deutsch besetzten Polen Juden nach Ostgalizien flohen. Für viele war das ein Schritt vom Regen in die Traufe. Im April 1940 hatten im sowjetisch besetzten Ostpolen die nächtlichen Massenverhaftungen der „Volksfeinde“ begonnen. „Während man diese Aktion auf die Familien ausdehnte, wurden auch Flüchtlinge aus Westpolen verhaftet - zu 95 Prozent Juden.“7 Unter denen, die nach Sibirien deportiert werden, waren viele, die ihre bisherige polnische Staatsbürgerschaft nicht gegen einen sowjetischen Paß eintauschen wollen, darunter viele Juden. Viele galten Stalin als „Klassenfeinde“. Wells beschreibt das Gros dieser „Kapitalisten“ als „ärmer als manche Arbeiter“.8 Ein Platz im Viehwaggon nach Nowosibirsk war ihnen dennoch sicher. Erst im September 1941 - die Wehrmacht nahm gerade Kiew - wurde ihre Verbannung auf Druck der Westalliierten aufgehoben, die wehrfähigen Männer „durften“ sich den polnischen Exilstreitkräften anschließen. Den jungen Leon zog es auch nach Osten, zum Studium an die Technische Hochschule in Moskau. Im Juni 1941 gingen die Papiere dorthin, alles nur noch eine Formsache. Aber der Sommer hielt anderes parat: den Beginn des „Unternehmens Barbarossa“.

„Es ist Sonntag, der 22. Juni 1941. Wir schlafen noch. Plötzlich weckt mich Geschützdonner.“ Die Straßen sind mit Panzern, Lastern und Autos blockiert, überall sowjetische Soldaten.

Leon Weliczker Wells als junger Mann. Bild: Creative Commons.

Der 16jährige Leon weiß: „Das ist der Anfang eines neuen Krieges.“9 Radio Moskau meldet, daß die Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschiert ist. Noch am gleichen Tag wird Lemberg von der deutschen Luftwaffe bombardiert. „Die Fensterscheiben zerspringen“, berichtet Wells. „Die Türrahmen werden aus den Mauern gerissen. Auf der Straße direkt vor unserem Haus ist eine Bombe eingeschlagen.“10

Die Sowjets, die an der Grenze zum Deutschen Reich und zu Rumänien zahllose Divisionen stationiert hatten, werden vom Einmarsch der Deutschen und ihrer Verbündeten gleichwohl überrumpelt. Alle Warnungen hatte Moskau in den Wind geschlagen. Im Angesicht der nahenden Wehrmacht ist das Regime in Auflösung. „Am nächsten Tag spricht es sich herum: Die Russen werden sich von Lemberg zurückziehen. In den Straßen formieren sie sich schon zum Abzug.“11

In Lemberg kommt es am 25. und 26. Juni 1941 zu einem Aufstand ukrainischer Nationalisten. Ukrainer schießen auf abziehende Sowjets. Gegen Abend hört Wells Schüsse. „Faschistische Ukrainer haben die zurückweichenden Truppen unter Feuer genommen. Nur sehr wenige Juden versuchen, mit den Sowjets fortzuziehen - es sind die Parteimitglieder. Aber es gelingt fast keinem, denn die Rote Armee wird kaum mit ihrer eigenen Evakuierung fertig.“12

Die Aufständischen versuchen antikommunistische Ukrainer und Polen, die die Sowjets inhaftiert haben, aus Gefängnissen zu befreien. Der Versuch schlägt fehl, die Sowjets machen noch am gleichen Tag kehrt und kommen in die Stadt zurück, um sich zu rächen. Die Aufständischen werden selbst zu Gefangenen. In den NKWD-Gefängnissen sitzen auch Juden ein, Zionisten und Klassenfeinde, außerdem Russen und einige deutsche Kriegsgefangene.

Mit den Deutschen ante portas werden die Karten in Ostgalizien neu gemischt. Es ist die Zeit, in der alte Rechnungen beglichen werden: Ukrainer gegen Russen, Nationalisten gegen Kommunisten, Sowjets gegen „Volksfeinde“, Ukrainer gegen Juden.

Lembergs Bevölkerung war seit Kriegsausbruch von 300.000 auf 350.000 Einwohner angeschwollen. Etwa 160.000 Juden waren in der Stadt. 50.000 von ihnen waren zuvor aus dem deutsch besetzten Polen geflohen, weitere Zehntausende Geflüchtete hatten die Sowjets weiter nach Osten dirigiert. Nur Warschau und Łódź hatten in Polen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges noch größere jüdische Gemeinden als Lemberg gehabt. Ostgalizien hatte neben dem Distrikt Warschau die dichteste jüdische Besiedlung ganz Europas.

„Heim ins Reich“ - SS-Führer Heinrich Himmler begrüßt 1940 einen Volksdeutschen aus Galizien - ein Treck galiziendeutscher Heimkehrer, die ins Deutsche Reich umgesiedelt werden, passiert eine Brücke über den San im heutigen polnisch-ukrainischen Grenzgebiet. Foto: Spahn, Bundesarchiv.

In seinem Bericht schildert Wells, wie Lembergs Juden räsonierten, ob sie bleiben oder fliehen sollten. Evakuierung konnte Deportation nach Sibirien bedeuten. Manche Juden, die sich 1939 vor den Nazis von Westpolen auf die sowjetische Seite geflüchtet hatten, waren 1940 heimlich in das deutsch besetzte Generalgouvernement zurückgekehrt. „Sie argumentierten folgendermaßen: Was ist den Juden in Deutschland schon passiert? Man hat ihre Habe konfisziert und die Männer in Arbeitslager gesteckt. [...] Aber auch unter den Russen wurde einem alles weggenommen.“13 Wells' neunköpfige Familie durfte nur zwei Zimmer ihrer Wohnung behalten. „Jeder war sicher, daß Hitler den Krieg binnen zwei Jahren verlieren würde. [...] Wer zu dieser Zeit von den KZ-Krematorien gesprochen hätte, wäre ausgelacht worden. Die Deutschen galten als das kultivierteste Volk der Welt.“

Am Montag, den 30. Juni 1941, sind sie da. Als erstes erreicht eine ukrainische Einheit die Stadt, das Bataillon „Nachtigall“ unter Führung des deutschen Abwehroffiziers Theodor Oberländer. Die Soldaten tragen deutsche Uniformen mit blau-gelben Paspeln an den Schulterklappen. Die Einheit besteht aus etwa 800 ethnischen Ukrainern, die in Polen und Frankreich gelebt haben - Kriegsgefangene, die die Deutschen bei den Feldzügen in Frankreich und Polen gemacht haben. Noch in der Nacht, Stunden vor der Wehrmacht, erreicht das „Nachtigall“-Bataillon die Stadt. Die Ukrainer besetzen den Radiosender, holen die rote Flagge mit dem Sowjetstern vom Turm des Rathauses herunter, hissen die Hakenkreuzflagge und die blau-gelbe ukrainische Nationalfahne.

Am gleichen Tag ruft Jaroslaw Stezko, einer der Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die Unabhängigkeit der Ukraine aus. Der prodeutsche Flügel der OUN - die OUN-B - bestimmt Stezko zum Präsidenten der Ukraine. Aber schon am Nachmittag machen die Deutschen dem Spuk ein Ende. Stepan Bandera, der Führer der OUN-B, und Stezko werden Tage später von der Gestapo verhaftet. Von einer unabhängingen Ukraine will Hitler nichts wissen. Am 1. August 1941 wird die NS-Führung die Westukraine einschließlich Lemberg formell dem Generalgouvernement zuschlagen.

Palmsonntag 2015, Schlag zwölf. Am Rynokplatz blasen zwei Trompeter die Stadthymne von Lemberg. Touristen sammeln sich für eine Führung durch die Innenstadt. Der Troß stapft am Lubomirski-Palast vorbei, von 1895 an Sitz der Proswita, jener Kulturorganisation namens „Aufklärung“, die das Nationalbewußtsein der Ukrainer einst formte und ein Netz von Bibliotheken und Lesesälen aufbaute. Die Kommunisten schlossen ab 1922 ihre Zweigstellen in der Ukraine und in Rußland oder wandelten sie in „sowjetische“ Proswitas um. In Ostgalizien kam das Verbot 1939 mit dem sowjetischen Einmarsch. Das Inventar wurde zerstört. Die NS-Besatzer ließen die Lesesäle 1941 unter Auflagen wieder öffnen.

Rynokplatz im Zentrum von Lemberg (2015). Foto: Kai Althoetmar.

Heute beherbergt der Rokoko-Palast ein Museum und ein großes Kaffeehaus mit Rösterei. Vor dem k.u.k.-Café stolziert eine Frau in einem goldfarbenen Rokoko-Reifrock mit einem Bauchladen für Süßigkeiten umher. An der Hauswand erinnert eine Tafel an die Geschichte des Palastes. Am 30. Juni 1941 rief Stezko an diesem Platz von einem der beiden Balkone die Unabhängigkeit der Ukraine aus.

Viele Lemberger begrüßen am Morgen des 30. Juni 1941 die deutschen Truppen begeistert, spannen Banner und Girlanden über die Straßen, Frauen stecken den Soldaten Blumen zu. Hitlers „Gardedivision“, die 1. Gebirgs-Division der 17. Armee, Teil der Heeresgruppe Süd, befehligt von Generalmajor Hubert Lanz, Sollstärke 15.000 Mann, marschiert in die Stadt ein. Die Infanteriedivision hat noch eine Scharte auszuwetzen. Im September 1939 war es ihr im Polen-Feldzug nicht gelungen, das befestigte Lemberg einzunehmen. Damals sprang die Rote Armee für die Wehrmacht in die Bresche, als sie Polen von Osten in den Rücken gefallen war. Diesmal trifft Lanz auf keinen Wider-stand. Die Sowjets haben die Stadt geräumt.

Das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) notiert für den 30. Juni 1941: „17. Armee setzte Angriff auf ganzer Front gegen feindliche Nachhuten fort“ Östlich von Lemberg „heftigerer Widerstand“.14

22. Juni 1941: Deutsche Gebirgsjäger beim Vormarsch im Abschnitt Lemberg. Foto: König, Bundesarchiv.

Am 9. Juli 1941 berichtet die Deutsche Wochenschau in der Ausgabe Nummer 566 über die Einnahme von Lemberg: „Lemberg. Die Stadt zeigt Spuren schwersten Kampfes. Bayerische Gebirgsjäger, die gleichen Truppen, die schon im Herbst 1939 heldenhaft um Lemberg gekämpft haben, eroberten auch diesmal wieder die Stadt. Die ukrainische Bevölkerung empfängt unsere Soldaten begeistert als Befreier vom Blutterror des Bolschewismus.“ Die Kamerabilder zeigen einrückende deutsche Truppen und die Menge in den Straßen des Lemberger Zentrums. Manche Einwohner zeigen den Hitler-Gruß, andere klatschen, winken, schwenken Hüte und Mützen oder schauen nur zu.

Viele Lemberger begrüßen die Wehrmacht 1941 als Befreier. Foto: ÖBN, gemeinfrei.

Die Sowjets haben unmittelbar vor ihrem Rückzug, am 27. und 28. Juni 1941, die meisten Insassen der Stadt- und Polizeigefängnisse - des Brigittka-, des Samarstinow- und des Łąckiego-Gefängnisses - erschossen oder erschlagen. Tausende Leichen liegen in den Kellern. Viele der Toten sind verstümmelt. Verübt hat den Massenmord die sowjetische Geheimpolizei GPU, die dem NKWD untersteht, dem Volkskommissariat des Inneren. Unter den Ermordeten sind auch deutsche Kriegsgefangene.

Die genaue Zahl der Toten bleibt unklar. Die Deutschen schätzen die Zahl der Exhumierten auf 3.100 bis 3.500, sowjetische Quellen kommen auf etwa 2.000, polnische Historiker auf etwa 4.000.

Vor einem Schulgebäude in der Samarstyniwska-Straße Nummer 9 ist die Erinnerung in Stein geschlagen. Auf einem altarartigen Steinpodest steht ein meterhohes, innen hohles, bauchiges Kreuz, einem Keltenkreuz gleich. In seinem Innerem hängt eine Skulptur an einem weiteren Kreuz. Die lebensgroße Eisengestalt hat den Kopf gesenkt, die Knie verdreht, ist verfangen im Stacheldraht. Eine zerrissene Hose ist ihr Lendenschurz. Irgendwer hat drei Kunststoffrosen in den Draht geflochten. Die Grate sind fingerlang.

„The Wall of Memory and Grief“ heißt der Gedenkort. Mauer der Erinnerung und Trauer. „From September 1939 to June 1941 49.867 people were murdered in the prisons of Western Ukraine. 1.738.256 were exiled to Siberia.“ Ein in die Wand geschlagener steinerner weißer Engel breitet seine Schwingen über der Szene aus. „In 1941, in the course of 6 days 7.348 prisoners were executed here.“ Gemeint sind die Opfer des NKWD.

Gedenkstätte am ehemaligen NKWD-Gefängnis. Foto: Kai Althoetmar.

Neben dem Kreuz sind die Namen der Toten in die Wand gemeißelt. Die Granitoberfläche verwirbelt Schwarz-, Weiß- und Grautöne - wie ein alter Schwarzweißfernseher bei gestörtem Antennenempfang. Die goldfarbenen Namen der Opfer gehen im Schneegestöber unter. Passanten hasten, Trams rattern vorbei. Im Gebäude, kündigt eine Tafel an, soll bald ein Museum eröffnet werden: „The Ukrainian Calvary“. Das Golgatha der Ukraine.

In der Wochenschau-Folge 566 heißt es weiter: „Die jüdischen Agenten der GPU hatten kurz vor der Räumung der Stadt unzählige wehrlose ukrainische Nationalisten viehisch hingeschlachtet. Tausende unschuldiger Männer und Frauen fielen dabei dem bolschewistischen Blutrausch zum Opfer.“ Die Bilder zeigen eine alte weinende Frau im Gespräch mit einem Wehrmachtssoldaten, als nächstes ein ausgebranntes Gebäude. Sprechertext: „Vor dem Lemberger Untersuchungsgefängnis. Hier verübten diese Bestien in Menschengestalt die grausigsten Mordtaten. Um die Spuren ihrer unbeschreiblichen Verbrechen zu verwischen, steckten sie beim Herannahen der deutschen Truppen das Gefängnis in Brand. Das Feuer wurde jedoch gelöscht. Und so konnte diese ungeheuerliche Untat restlos aufgedeckt werden.“

Die Bilder zeigen Zivilisten, die Leichen aus dem Gebäude tragen. Wochenschau-O-Ton: „Die Opfer dieser bestialischen Mordlust werden zur Identifizierung herausgetragen. Männer und Frauen, Kinder und Greise - nichts entging diesen Ungeheuern in Menschengestalt. Mit Messern, Äxten, Hand-granaten und Maschinengewehren wurden diese unschuldigen Opfer bolschewistischer Mordgier grausam gemartert und hingeschlachtet.“ Die Kamera fährt eine halbe Minute lang, begleitet von getragener Musik, über die auf dem Boden aufgereihten Leichen.

---ENDE DER LESEPROBE---