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Namibia im Juni 1995. Im Fish River Canyon wird ein Geschichtsprofessor vermißt, der auf der Suche nach dem Tagebuch des Schutztruppen-Leutnants Thilo von Trotha war. In dem einsamen Canyon-Grab des 1905 gefallenen Kolonialoffiziers sollen sich brisante Informationen über den damaligen Hereroaufstand befinden. Die Windhoeker Polizeiermittler Erwin Kandetu und Carl Barnard, begleitet von einem Fährtenleser der San, werden in die menschenfeindliche Schlucht beordert, um den Verschollenen aufzuspüren. Hitze, Wassermangel und Wildnis fordern ihnen alles ab. Als das Trio nach drei Tagen Fußmarsch das Grab erreicht, überschlagen sich die Ereignisse … Die gedruckte Ausgabe erscheint am 10. November 2024.
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Inhaltsverzeichnis
Die Schlucht
Kai Althoetmar
Kriminalroman
Impressum:
Titel des Romans: „Die Schlucht. Kriminalroman“.
Erscheinungsjahr: 2024.
Inhaltlich Verantwortlicher:
Murder Mystery Press
Kai Althoetmar
Am Heiden Weyher 2
53902 Bad Münstereifel
Deutschland
Text: © Kai Althoetmar.
Cover/Illustrationen: © Stella Althoetmar.
Hinweise:
Verlag und Autor folgen der bis 1996 allgemeingültigen und bewährten deutschen Rechtschreibung.
Die Recherchen zu diesem Roman erfolgten ohne Zuwendungen oder Vergünstigungen Dritter.
Roman und Illustrationen wurden ohne den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) erstellt.
Die Zitate aus dem Reisebericht „Die verlorene Welt der Kalahari“ („The Lost World of the Kalahari“) von Laurens van der Post geben die Übersetzung von Leonharda Gescher wieder, erschienen im Diogenes Verlag, Zürich, 1994.
Die Schlucht
Kriminalroman
Wie jeden Donnerstagabend hatte es Hühnchen mit Süßkartoffelbrei gegeben. Erwin las John aus „Serengeti Shall Not Die“ vor, den Tierabenteuern, die Bernhard Grzimek und sein Sohn Michael in den fünfziger Jahren in Ostafrika erlebt hatten. Carl Barnard, Erwins Partner bei der Serious Crime Unit im Windhoeker Polizeihauptquartier, hatte das Buch bei „Peter's Antiques“ in Swakopmund entdeckt und es John zu Weihnachten geschenkt. Der Vierjährige wollte sich nicht gedulden, bis er im Kindergarten Englisch gelernt haben würde. So mußte Erwin Abend für Abend Geschichten von beschlagnahmten Elefantenstoßzähnen und Zebraherden, die aus dem Flugzeug gezählt wurden, vorlesen und sie anschließend auf Otjiherero zusammenfassen.
Gendrede, Erwins Frau, lobte die frühkindlichen Englischlektionen, während sie in der engen Küche des betongrauen Häuschens in der Dorp Street, das sie nach Johns Geburt in Katutura auf Abzahlung gekauft hatten, mit Töpfen und Tellern klapperte. An anderen Tagen stellte sie ihr Bügelbrett vor dem Sofa auf, auf dem Vater und Sohn einträchtig saßen, und plättete die weißen Hemden und schwarzen Popelinehosen, die Erwin im Dienst trug. Sie tat, als interessiere sie das Ranger- und Zoologenlatein nicht die Bohne, um dann doch Erwin beim Frühstück mit Nachfragen zu löchern.
John war bald zu Bett und träumte von Löwen und Giraffen, von Abenteuern, wie er und sein Vater mit Cessna und Land Rover die Wüstenlöwen und Wüstenelefanten der namibischen Skelettküste vor Wilderern schützen und Wasserlöcher graben würden, damit kein Tier verdursten müsse. „Kommt Carl dann mit?“ hatte er noch wissen wollen, und Erwin hatte es ihm versichert – mit der Einschränkung „Aber nur zum Schlangenfangen!“
Erwin fläzte sich auf dem blauen Sofa und blickte auf das Radio. Er hatte den deutschen Dienst der Namibian Broadcasting Corporation eingestellt. Weil Gendrede - anders als Erwin, der als „Ossi-Kid“ mit Schwester und Mutter seine Jugend in der DDR verbracht hatte - kein Deutsch verstand, schaltete er das deutschsprachige NBC-Programm nur selten an. Aber diesen Abend mußte es sein. Eine neue Sendereihe startete. Sie widmete sich ungelösten Kriminalfällen aus der Zeit vor 1990, dem Jahr der Unabhängigkeit. Jetzt, fünf Jahre später, war es noch nicht zu spät, jeden ungeklärten Fall aus der Endphase der südafrikanischen Ära abzuschreiben. Aber die Regierung, allen voran das Innenministerium, hatte wenig Interesse an diesem Erbe der Apartheidzeit. „Wir haben genug neue Fälle!“ hieß es. Wenn sich ein Verbrechensopfer oder ein Angehöriger zu energisch beschwerte, zischte der Staatssekretär, man möge doch einen Privatdetektiv einschalten. Die junge Republik könne nicht für alles aufkommen, was die Südafrikaner hinterlassen hätten!
Es war Punkt 20.00 Uhr, als ein Jingle die Nachrichten ankündigte. „Sie hören das deutschsprachige Hörfunkprogramm der Namibian Broadcasting Corporation“, verkündete eine ruhige und ernste Stimme. Nachrichtensprecher Helmut Breuninger verlas Weltnachrichten und lokale Meldungen. Im Süden Rußlands hatte ein Kommando bewaffneter Tschetschenen in einem Krankenhaus hunderte Geiseln genommen. Frankreichs Präsident Chirac wurde von Bill Clinton dafür kritisiert, im Südpazifik wieder Atombomben testen zu wollen. In Windhoek hatte der Stadtrat beschlossen, die Tarife für Strom, Wasser und Busdienste zu verteuern. „Scheiße!“ fluchte Erwin kaum vernehmlich. Er wollte Gendrede, die sich ständig den Kopf über ihre Finanzen zerbrach, nicht mit dem Thema behelligen. Dann verabschiedete sich der Sprecher: „Im Anschluß an eine kurze Musik hören Sie unsere neue Gesprächsreihe ‘Die Stunde des Verbrechens’ - ungelöste Kriminalfälle aus der Zeit vor der Unabhängigkeit.“
Während aus dem Kofferradio Glenn Miller tönte, ging Erwin zum Kühlschrank und nahm sich eine Colabüchse, die er zischend öffnete. „Bier oder Cola?“ fragte er mit dunkler Stimme seine Frau, die nur abwinkte. Unter sich sprachen sie nur Otjiherero. Im Windhoeker Schwarzenviertel Katutura hatte sich eine Kakophonie von Sprachen der Häuser, Geschäfte, Büros und Straßen bemächtigt, dominiert von Oshiwambo, der Sprache der politisch und demographisch tonangebenden Owambo. Die Burensprache Afrikaans hatte in dem jungen Vielvölkerstaat als Amtssprache abgedankt, blieb als Lingua franca aber unverzichtbar. Mit der neuen Amtssprache Englisch taten sich viele, die im alten Südwestafrika aufgewachsen waren, schwer. So redete jeder in seiner Muttersprache. Kam bei einem Gespräch ein Angehöriger einer anderen Ethnie hinzu, redeten die Jüngeren englisch und die Älteren afrikaans.
Nur mit Carl und Erwin, dem ungleichen Ermittlerteam, war es anders. Sie sprachen miteinander deutsch – der Herero Erwin Kandetu, weil er als Sohn eines SWAPO-Kämpfers zwölf Jahre in der DDR im Exil gelebt hatte, sein Deputy, der dreizehn Jahre ältere Carl Barnard, da seine Mutter Südwesterdeutsche gewesen war.
„Herzlich willkommen, liebe Hörerinnen und Hörer, bei unserer ersten Folge von ‘Die Stunde des Verbrechens’, hier aus dem Funkhaus in der Pettenkoferstraße. Mein Name ist Erdmuthe Gass. In der Technik sitzt Pieter van Zyl. Wir beschäftigen uns heute mit ungelösten Kriminalfällen aus der Zeit bis März 1990. Im Studio begrüße ich Carl Barnard, Assistant Chief Inspector bei der Serious Crime Unit hier in Windhoek. Inspector Barnard ist seit 1980 im Polizeidienst und bearbeitet seit vielen Jahren die ganz schweren Fälle im Crime Investigation Directorate. Schön'n Abend, Carl Barnard!“
„Guten Abend, Frau Gass!“
„Sie werden uns fortan in lockerer Folge Fälle vorstellen, die die Polizeibehörde schon zu den Akten gelegt hat. Viele Menschen im Lande, gerade unter unseren Zuhörern, können sich nicht damit abfinden, daß diese Verbrechen ungesühnt bleiben. Manche Zuhörer, die Satellitenfernsehen haben, kennen die Sendung ‘Aktenzeichen XY’ aus dem deutschen Fernsehen, die ungelöste Kriminalfälle aufrollt. Studios in Wien und Zürich haben wir nicht, dafür aber Sie, unsere rege Zuhörerschaft in Windhoek, Swakopmund, Lüderitzbucht, Keetmanshoop, Otjiwarongo und Tsumeb, auf den Farmen und wo auch immer. Rufen Sie uns an unter der bekannten Nummer 061-291 2330 …“
Während die Chefredakteurin zweimal die Nummer des Hörertelefons durchgab, blickte Gendrede Erwin irritiert an. „Das ist ja Carl! Was macht der denn im Radio?“
Erwin setzte sich auf und schloß das Wohnzimmerfenster, durch das der Verkehrslärm der benachbarten Hans-Dietrich Genscher Street, das Mülltonnengeklapper eines Nachbarn und die wechselseitigen Beleidigungen eines angetrunkenen Pärchens hereindrangen. „Das ist Carls neuer Nebenjob“, antwortete Erwin. „Er kann die Zuzahlung für Emmies Heimplatz kaum noch bezahlen. Zumal nach der Degradierung vorletztes Jahr …“
Gendrede setzte sich auf einen abgewetzten Sessel der Sofagarnitur, die sie in einem Second-Hand-Laden in Katutura gekauft hatten, und schüttelte den Kopf. Die Situation Carls und seiner Emmie empörte sie. „Die Frau wird vergewaltigt, ist völlig traumatisiert, sitzt seit zehn Jahren im Heim, die Täter werden nie gefaßt, der Fall geschlossen – und jetzt muß er Nebenjobs annehmen, um ihren Platz in Okahandja zu bezahlen?“
Gendrede, deren Halbtagsjob beim Philatelieservice der Hauptpost auf der Independence Avenue wenig Grund zur Aufregung bot, machte Anstalten, sich in Rage zu reden, als Erwin einen Finger auf die Lippen legte.
Im Radio entrollte Carl den Fall, um den es ging. Er handelte von einem Mord, der sich 1985 am Fuße des Waterbergs im Hereroland ereignet hatte. Opfer war ein Politikredakteur der Allgemeinen Zeitung, der ältesten, seit 1916 erscheinenden Tageszeitung Namibias, zugleich der einzigen deutschsprachigen Tageszeitung Afrikas. Der Ermordete hieß Hans Warendorf, war ein nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Eltern eingewanderter Westfale, der für die Namibische Wissenschaftliche Gesellschaft an einem Buch über zivile deutsche Opfer des Hereroaufstandes 1904 gearbeitet hatte. Warendorf war am 16. Juni 1988, einem Donnerstag, in seinem alten weinroten Mercedes 200 D der Baureihe W114 beim deutschen Soldatenfriedhof am Waterberg erschossen aufgefunden worden. Die zwei Schüsse in seinen Kopf waren aus einer sowjetischen Makarow aus kürzester Distanz abgefeuert worden. Weder der Wagen noch seine Brieftasche mit über 3.000 Rand waren geraubt worden. Bekannt war, daß Warendorf am frühen Abend einen Informanten hatte treffen wollen, der ihm gegen Geld historisch brisantes Material liefern sollte. Mehr hatte er vor dem Treffen gegenüber seiner Frau und Kollegen der AZ nicht verlauten lassen. Später machten Gerüchte die Runde, der Ermordete habe seit langem dem südafrikanischen Militärgeheimdienst zugearbeitet und Berichte über Operationen der PLAN, des bewaffneten Arms der SWAPO, geliefert.
Carl Barnard selbst war es, der die Ermittlungen der südwestafrikanischen Polizei im Fall „Waterberg“ geführt hatte. Alle Recherchen waren seinerzeit im Sande verlaufen. Es konnte nie die Identität des Informanten geklärt werden. Aus dem Material, das der AZ-Redakteur bis zu seinem Tod zusammengetragen hatte, ergaben sich zwar Hinweise, welche Hererohäuptlinge in den Jahren 1904 bis 1907 in Überfälle auf deutsche Farmen verwickelt waren. Da die Täter aber schon seit Jahrzehnten tot waren und die südafrikanische Verwaltung nach Übernahme des Völkerbund-Mandats 1920 kein Interesse gehabt hatte, den Hereroaufstand und seine Niederschlagung in irgendeiner Form aufzuarbeiten, hatten Warendorfs Erkenntnisse nur historischen Wert. Die Geheimdienstspur war frischer und vielversprechender als die der Massaker aus Kaisers Zeiten. Sollte Warendorf für die South African Defense Force gegen den bewaffneten Flügel der SWAPO in der Region Waterberg spioniert haben und aufgeflogen sein, dann war er in eine Falle gelaufen. Carl hatte sich entschieden, den Fall in der NBC vorzutragen, weil er hoffte, daß es irgendeinen Mitwisser unter der afrikaansen oder südwesterdeutschen Bevölkerung geben würde, vielleicht einen Armee- oder Geheimdienstmitarbeiter, oder daß irgendein Nachfahre der betroffenen Farmerfamilien noch Puzzlestücke beisteuern könne.
Während Erdmuthe Gass nach Carls Fallschilderung die Hörerschaft aufrief, sich telefonisch oder schriftlich – notfalls auch anonym – im Funkhaus zu melden, und ein Musikintermezzo einspielen ließ, platzte Gendrede mit der Frage heraus, was Carl für „die Krimi-Show“, wie sie es nannte, an Geld bekomme.
„Offiziell nichts“, entgegnete Erwin, der über den neuen Nebenjob seines Kollegen im Bilde war. „Inoffiziell gibt es einen Geldtopf. Gefüllt von einer Hörerinitiative.“
„Eine Art Fanclub des deutschsprachigen NBC-Programms?“
„Du sagst es.“
„Und wissen Mata oder Embanga davon, was Carl hier macht?“ hakte sie nach. Denn der Leiter der Serious Crime Unit, Commissioner Joseph Embanga, und Polizeichef Mcheni Mata duldeten in ihrer Truppe keine Nebenjobs.
Erwin strich sich durch sein kurzes, krauses Haar, um eine diplomatische Floskel ringend, deren Weitergabe auf den Fluren des Hauptpostamtes keinerlei Schaden anrichten konnte. Aber ihm fiel nichts ein. So bläffte er seine Frau mit den Worten an: „Betrachte es als Carls Hobby!“ Dann schob er genervt nach: „Ja, Embanga weiß davon. Er hatte nichts dagegen. Nur von Honoraren weiß er nichts. Und du auch nicht! Und jetzt sei still!“
Die Moderatorin hatte ihren Studiogast gerade gefragt, was für ein Mensch Hans Warendorf gewesen sei.
„Hm“, raunte der Assistant Chief Inspector, dem die menschelnde Frage deplaziert vorkam. Die Südwester-Community hatte den streitlustigen AZ-Redakteur noch in bester Erinnerung, und über Tote hieß es: De mortuis nihil nisi bene. So hatte es sein Vater oft gesagt.Nur Gutes über die Toten reden … Dann überwand sich Carl, Klartext zu sprechen. „Warendorf war sehr konfliktfreudig. Er hatte immer eine starke Meinung. Und er war ein Feierbiest.“
„Soll heißen: Er trank gern?“ fragte Gass nach.
„Ja. Es gab ein Alkoholproblem. Finanzielle Probleme.“
„Nun, wer hat die hier nicht? Wie stand er denn politisch?“
„Wie die meisten hier. Welcher Weiße hat schon die Machtübernahme der SWAPO ersehnt?“
Die Chefredakteurin, die ihren Posten erst ein Jahr innehatte, schwieg geflissentlich.
Carl nahm den Faden wieder auf und gab selbst die Antwort auf seine rhetorische Frage. „Außer einem Anton Lubowski und ein paar anderen doch niemand. Warendorf stand fest auf der Seite der Südafrikaner. ‘Keinen Zentimeter den Kommunisten!’ war seine Devise. Wir erinnern uns an seine Kommentare in der Zeitung. Und manche wurden auch hier im staatlichen Rundfunk verbreitet - seit …“
„… seit 1979 senden wir“, ergänzte Gass.
In den nächsten Minuten meldeten sich über die Hotline ein paar Wichtigtuer. Zwei waren Farmersfrauen, die regelmäßig bei der Quizsendung „Köpfchen, Köpfchen“ anriefen, die mittwochabends auf dem Zwanzig-Uhr-Sendeplatz lief. Eine verdächtigte im Brustton der Überzeugung einen Staatssekretär mit Buschkriegvergangenheit, Hans Warendorf beseitigt zu haben, woraufhin Gass reaktionsschnell von „spannender These“ sprach und mit der Bemerkung abschloß, „daß da etwas mehr Butter bei die Fische muß“, ehe man so etwas im staatlichen Rundfunk zu Tatsachen erheben könne.
Die andere Farmersfrau, der Redaktion ebenfalls als Stammhörerin bekannt, äußerte die Vermutung, die Staatssicherheit der DDR habe den Mord verübt, um die Veröffentlichung des Buches zu torpedieren. „Damit das Machwerk von diesem Drechsler nicht widerlegt wird!“ sagte sie erbost. Daß sie auf die einflußreiche marxistische Forschungsarbeit eines umstrittenen DDR-Historikers zum Thema Hererokrieg anspielte, begriffen weder die Moderatorin noch das Gros der Zuhörer. Man wisse mittlerweile, fuhr sie fort, wie Erich Mielke auch im Ausland mißliebige Leute habe umbringen lassen, zum Beispiel in Westdeutschland, warum also nicht in Südwestafrika. Die DDR habe Waffen an die PLAN geliefert und „diese SWAPO-Flüchtlingskinder bei sich aufgenommen, um sie zu indoktorieren“, echauffierte sie sich.
„Indoktrinieren, Frau Gehrmann“, korrigierte die Moderatorin sie. „Aber bitte weiter …“
„Und dann wurden diese Ossi-Kids vor fünf Jahren zurück nach Namibia eingeschleust. Wie die Gruppe Ulbricht unter Lenin!“
„Sie meinen wohl Stalin.“
„So ist es doch. Jetzt wollen sie uns enteignen, die Comrades. Uns die Farmen wegnehmen.“
„Danke, Frau Gehrmann. Aber das ist jetzt gar nicht unser Thema. Rufen Sie doch wieder an, wenn nächsten Mittwoch wieder ‘Köpfchen, Köpfchen’ läuft. Dann gibt es auch wieder ein Taschenradio zu gewinnen – für die fixesten Anrufer. Schönen Abend noch!“
Während Erwin an seiner Cola süffelte, referierte Carl nach einer Musikeinspielung weitere Details aus der Akte „Waterberg“. Bevor Gass die Sendung abmoderierte, äußerten sie und ihr Studiogast die Hoffnung, daß auf dem Postweg noch Informationen einträfen, die einen neuen Ermittlungsansatz böten.
In der Dorp Street in Katutura schaute Gendrede Erwin erwartungsvoll an. „Und? Wie war es?“
„Da ist noch Luft nach oben. Bei den Informanten, meine ich.“
„Alles andere hätte mich auch gewundert“, bemerkte Gendrede spitz und griff nach der Flickwäsche, die noch zu erledigen war.
Erwin schaute sie mit bedauerndem Blick an. „Ach, übrigens, Princess“ - so nannte er sie, seitdem sie sich 1990 kennengelernt hatten - „morgen früh haben Carl und ich ein Gespräch bei Embanga.“
Sofort war Gendrede klar, daß das Bedauern in seiner Mimik ihm selbst galt.
„Die Sache mit dem Verschollenen im Fish River Canyon … Ich hatte dir doch erzählt.“
Gendrede blickte von ihrem Flickwerk auf. „Haben die den Mann immer noch nicht gefunden?“
„Nein. Embanga vermutet, daß der Vermißte irgendwo tot im Canyon liegt.“
Assistant Chief Inspector Carl Barnard stieg in seinen königsblauen VW Variant 1600 Kombi, setzte ihn vom Hof auf die Schubertstraße und zog das metallene Einfahrtstor zu. War er daheim, ließ er es offen. Das signalisierte jedem Dieb oder Einbrecher, daß sein Bungalow nicht unbeaufsichtigt war. Fuhr er weg, verrammelte er alles, denn im Gegensatz zu den Nachbarn hielt er keinen Hund, der aufpaßte. An der Einfahrt zum Technikon-Campus bog er Richtung Mozartstraße und nahm die B 1 Richtung Norden. Über die John Meinert Street gelangte er ins Stadtzentrum und parkte vor der Central Police Station in der Bahnhofstraße. Am Eingang des schmucklosen Altbaus prangte die Aufschrift „Namibian Police. Regional Headquarter Khomas. Windhoek Police Station“.
Vor der Tür war eine Schlange von Leuten. Die meisten standen wegen Führerscheinsachen, Verkehrsdelikten, Kautionsgeschichten oder irgendwelcher Beschwerden an. Die Schlange führte nach rechts in einen Vorraum mit der Bezeichnung „Charge Office. Complaints“. Hinter dem Schalter hockten zwei Beamte der Stadtpolizei, gesichert von Metallgittern, als wäre das Office der Hauptschalter einer US-Bank in der Zeit des Wilden Westens.
Im Vorbeigehen bekam Carl mit, wie sich ein bulliger Schwarzer beim Officer entrüstete, daß seine Frau durch die Führerscheinprüfung gefallen war. Hätte das namibische Staatsfernsehen Sinn für Humor, dachte Carl, könnte es jeden Tag beim Charge Officer eine neue Seifenoper drehen. Das Drehbuch wurde kostenlos geliefert – von unfreiwillig komischen Laiendarstellern. Erst Tage zuvor hatte der Assistant Chief Inspector mit seinem Kollegen Uetuuru Ndengu mitverfolgt, wie eine Owambofrau eine Nachbarin anzeigen wollte, weil sie sie verdächtigte, ihre Fitness-Leggings von der Leine gestohlen zu haben. Außerdem habe sie eine Bananenschale in eine fremde Mülltonne gestopft!
Carl nahm die braunrote Treppe, an deren Zugang ein Schild den Weg zur „Criminal Investigation Unit“ wies. Einen Aufzug gab es nicht. Als das Gebäude nach der Unabhängigkeit aufgestockt worden war, hatte dafür das Geld gefehlt.
Es war zwei Minuten vor neun. Carl mußte sich beeilen, den von Commissioner Joseph Embanga anberaumten Termin einzuhalten. Gehetzt kam er mit seiner Lederumhängetasche in dessen Büro im zweiten Obergeschoß an. Vor dem klobigen weißen Schreibtisch saßen bereits Erwin, Ndengu, der das Mädchen für alles war, und die junge Student Constable Mary Kuugongelwa, die als einzige Polizeiuniform trug. Selbst im Büro setzte sie ihre schwarze Melone, den steif abgerundeten Polizeihut, nicht ab.
Embanga, ein athletischer, hoch aufgeschossener Owambo und früherer Kommandeur der PLAN, der People's Liberation Army of Namibia, war durch politische Patronage in die Position des Leiters der Serious Crime Unit gelangt und betrachtete die weißen Detectives, die schon unter den Südafrikanern Dienst getan hatten, mit Skepsis. Stets bedachte er sie mit einem Malus. Doch im Laufe der fünf Jahre, die die Republik nun auf eigenen Beinen stand, hatte er gelernt, daß die „alten weißen Spürhunde“, wie er sie nannte, noch über gute Näschen verfügten.
Carl nuschelte „Entschuldigung“ und nahm auf dem noch freien Klappstuhl Platz. Die Plastiksitze waren akkurat vor dem Schreibtisch aufgereiht. In einem Bücherregal reihten sich dicke Wälzer über Polizeiarbeit, Standardwerke, wie sie die Polizei in den USA von New York bis Los Angeles verwendete. Die Fachliteratur war ein Geschenk der US-Botschaft zum fünften Jahrestag der Unabhängigkeit gewesen. Wißbegierig hatte Embanga, der seine fachlichen Defizite abzubauen trachtete, sie in den vergangenen Monaten durchgeackert, vor allem die Kapitel über Verhörtechniken und Observation. Speziell die Aufsätze über Observation hatten den Kollateralnutzen, daß er sich ein Bild davon machen konnte, was seine Untergebenen während der Arbeitszeit so trieben. Denn bei einigen hatte er den Eindruck, sie gingen drinnen wie draußen Beschäftigungen nach, von denen der Arbeitsvertrag nichts erwähnte, waren es Einkäufe, die private Lektüre von Zeitungen, das Plazieren von Wetten oder private Dauertelefonate mit der Ehefrau, dem Versicherungsagenten oder der Oma in Omaruru. Einen jungen Mitarbeiter verdächtigte er sogar der Lektüre, besser gesagt der eindringlichen Betrachtung reich bebilderter Hefte, die sich vornehmlich der Zurschaustellung nackten weiblichen Fleisches widmeten.
Neben Embangas prallvollem Bücherregal hing ein Poster, das New Orleans während des Mardi Gras zeigte. Einmal das French Quarter der kreolisch geprägten Hafenstadt am Mississippi zu besuchen, das war der Traum des fünfundvierzigjährigen Owambo. Auf dem Schreibtisch des Commissioners, der auf einer katholischen Missionsschule groß geworden war, lagen Akten, Zettel und Schreibkram herum. Das Telefon stand auf einem Eisenscherenarm, der zusammengedrückt neben dem Röhrenmonitor in der Luft hing, und an eine zusammengerollte und angriffsbereite Schlange erinnerte.
Tatsächlich empfand Embanga jedes Schrillen dieses heimtückischen Apparates, den er fast vierzig Jahre hatte entbehren können und der wie von Geisterhand weit entfernte Stimmen in sein Büro zauberte, als Angriff auf seine Nerven. Denn Joseph Embanga unterhielt sich lieber direkt von Mensch zu Mensch und nicht durch einen ominösen Draht oder eine kunststoffummantelte Schnur. Und kurz angebunden war er nie. Deshalb mußte Zeit mitbringen, wer mit ihm ein kriminalistisches Problem erörtern wollte. Oder von ihm dazu einbestellt wurde.
Über allem wachte eine im Owamboland von Meisterhand geschnitzte Holzfigur des heiligen Antonius, jenes ägyptischen Wüstenmönchs und Einsiedlers, der allen Versuchungen widerstanden hatte. Den zeitgenössischen irdischen Lüsten war auch Embanga abhold. Von der Erziehung portugiesischer Patres steckte noch allerhand in ihm. Zigarettten, Alkohol, Vielweiberei, dazu die aufkeimende Korruption und Vetternwirtschaft im frisch befreiten Namibia – das waren ihm Greuel. Und die Sanduhr auf seinem Schreibtisch sollte jeden daran erinnern, daß die Zeit ablief, ein besserer Mensch zu werden. Oder daran, wenigstens die wichtigsten Fälle zu lösen. Die Zeit verrann schnell. Gerade noch mitten im Leben, konnte es im Nu vorbei sein. Wer sollte das besser wissen als der leitende Mordermittler einer afrikanischen Hauptstadt?
Embanga schaute seine vier Untergebenen gestreng an. Nicht alle blickten ernst zurück, am ehesten noch der Chief Inspector, aber der guckte immer so. Während der pummelige Ndengu das in Alufolie halb eingeschlagene panierte Schnitzel auf dem Schreibtisch anstarrte, fuhr sich der Commissioner mit Daumen und Zeigefinger über sein glattes Kinn, schürzte die Lippen und verkündete im Dozententon auf englisch: „Was ich letzte Woche den Kollegen Kandetu und Barnard schon angedeutet habe … Es steht uns eine schwierige Suche ins Haus. Keine Fahndung. Eine Suche. Eine sehr strapaziöse Suche. Die Suche nach einem Vermißten …“
Während Mary erst an ihrer Melone, dann an ihrem Silberkettchen mit dem Marienmedaillon herumspielte, stieß Carl Erwin mit dem Ellenbogen an, um seine Aufmerksamkeit zu erheischen. Mit wackelnden Fäusten imitierte er einen Trommelwirbel, andeutend, Embanga mache es wieder besonders spannend, ehe er zum Höhepunkt der Audienz komme. Erwin verzog nur das Gesicht, derweil der Commissioner Carls ironische Geste sofort bemerkt hatte und fragte: „Haben Sie Parkinson, Assistant Chief Inspector?“
„Bislang nicht“, verneinte Carl und fügte hinzu: „Aber Sie können doch langsam mit der Sprache herausrücken, daß ich und Erwin durch den Fischflußcanyon kriechen sollen.“
Embanga nickte gütig. „Ja, Barnard. So ist es. Es gibt einen Vermißten im Fish River Canyon“, setzte der Commissioner mit sonorer Stimme an. „Und wir reden hier nicht von irgendeinem vertrottelten Touristen aus Europa, der seine Wandergruppe verloren hat. Denn diese Typen tauchen meist ein, zwei Tage nach ihrer Truppe in Ai-Ais auf. In unserem Fall haben schon Ranger des Nationalparks gesucht. Sogar ein Hubschrauber hat den Grund des Canyons abgeflogen.“ Embanga machte eine Kunstpause, dann sagte er bedeutungsvoll: „Nichts!“
„Eine wichtige Information fehlt noch …“, unterbrach Carl die aufkommende Stille.
Embanga hatte den spöttelnden Unterton bemerkt, ließ sich aber nichts anmerken. „Bei dem Vermißten“, sprach er seelenruhig weiter, „handelt es sich um einen Geschichtsprofessor der UNAM, einen …“ Der Commissioner mußte den Namen ablesen. „… Ulrich von Trotha.“ Den Vornamen sprach er wie „Ullrick“ aus, das „o“ im Nachnamen hörte sich aus dem Mund des Owambo kurz und dunkel an.
„Deutscher oder Südwester?“ fragte Carl.
„Namibier“, beschied der Commissioner, seinen Ansichten vom nun geeinten Vielvölkerstaat Ausdruck verleihend.
„Dieser von Trotha ist beim Wandern verlorengegangen?“ vergewisserte sich Ndengu.
Embanga bejahte.
„Und warum soll die Serious Crime Unit zuständig sein?“ hakte der Sergeant nach.
Embanga lehnte sich in seinen drehbaren Chefsessel aus Lederimitat zurück und machte eine Kunstpause. „Gegen den Mann hatte es immer wieder Morddrohungen gegeben.“
„Ein Mord im Fish River Canyon?“ fragte Mary Kuugongelwa, die sich als einzige Notizen machte, ungläubig. Mit achtzehn Jahren war die junge Owambofrau, die in Windhoek in einem Kinderheim aufgewachsen war, nachdem ihre alleinerziehende Mutter an Tuberkulose gestorben war, das Nesthäkchen im Ermittlerteam. Das Leben hatte sie früh mißtrauisch gemacht. Motive und Absichten ihrer Mitmenschen, Verstellung und Maskerade durchschaute sie schneller als viele ihrer älteren Mitstreiter.
Embanga zog sie bereits zu besonders heiklen Ermittlungen hinzu. Mit ihrem gespielt naiven Auftreten als adrettes, unbekümmertes Mädchen mit lustigem Polizeihut verstand sie es, Zeugen und Verdächtigen ein Gefühl falscher Sicherheit zu geben und sie zum Reden zu bringen. Mary war binnen eines halben Jahres auf ihre Art zu einer Geheimwaffe geworden. Notfalls entschuldigte der Commissioner sie persönlich beim Leiter des Police Training College, wenn MissCadet Constable dort Unterricht hatte, aber im Präsidium gebraucht wurde.
Auch in den Augen Erwins, der als Herero und „DDR-Kid“ mit seiner drögen Art für viele in keine Schublade paßte, war Mary ein Rohdiamant, der geschliffen werden mußte und einen unschätzbaren Wert hatte – während Gendrede sie mit Argusblicken bedachte, wann immer sie die hübsche Frau zu Gesicht bekam. Und das war oft, denn die junge StuCon, wie manche Kollegen sie riefen, wohnte nur einen Steinwurf vom Haus der Kandetus entfernt, allein und ohne Partner. Daß sie lesbisch war, wußte in der Polizei niemand. Nur Carl ahnte es.
„Ich war gestern bei der Frau des Vermißten, einer Else von Trotha“, raunte Embanga. „Die Universitätsleitung hatte bei Mata darum gebeten. Darum habe ich das selbst erledigt.“ Der Commissioner beugte sich zu den vier Kollegen vor, die auf ihren Klappstühlen wie die Hühner auf der Stange saßen. Mit einem Kugelschreiber stocherte er in der Luft herum, fuhr dann mit dem Schreibgerät wie ein herabstürzender Raubvogel auf einen kleinen Stoß Blätter, die er an der Kante des Schreibtischs abgelegt hatte.
Carl, der als ehemaliger Fallschirmspringer und Aufklärungssoldat der South African Defence Force und der South West African Territorial Force den am besten geschulten Blick hatte, erkannte sofort, daß es sich bei dem obersten Schreiben um einen unbeholfen auf Schreibmaschine getippten und auf afrikaans verfaßten Kurzbrief handelte.
„Das hier“, erklärte Embanga mit Pathos, „das sind Drohbriefe gegen den Professor von Trotha.“ Der Commissioner sprach den Namen jetzt wie „trout“ - Forelle – aus, obwohl der Name durch den verblichenen Kommandeur der Kaiserlichen Deutschen Schutztruppe, den preußischen Infanteriegeneral Lothar von Trotha, im Land hinreichend bekannt war.
Ndengu griff sich den obersten Schrieb. Kurz schien es, als wolle er sich Embangas paniertes Schnitzel schnappen, das aus Nancy Nanubs Kellerkantine stammen mußte, denn Embangas Frau Grace tat als Direktorin der Namibian Art Gallery einen Teufel, ihrem Mann morgens Schweineschnitzel in Paniermehl zu wälzen und in Öl zu brutzeln – während der Commissioner es tunlichst vermied, sich im verrauchten Kantinenkeller unter das gemeine Polizeivolk zu mischen.
Halb stockend, halb entgeistert las Sergeant Ndengu den anderen die Worte aus dem abkopierten Drohbrief vor: „Jou swak dronk! 1985 is nie verby nie. Die tien jaar is verby!“
„‘Miese Säufer’ - die haben wir hier genug“, bemerkte Carl, auf den grassierenden Alkoholismus im Lande anspielend. „Was soll das? ‘1985 ist nie vorbei. Die zehn Jahre sind um!’?“
Ndengu las stillschweigend weitere Exemplare der Schmäh- und Drohbriefe. Dann sagte er stirnrunzelnd: „Komisch. Forderungen stehen da keine. Anscheinend keine Erpressung!“
Embanga nahm die Kopien wieder an sich und nuschelte etwas von „kommt in die neue Akte“. Dann setzte er zu einer Zusammenfassung des Falls an.
Die Drohbriefe, die sich über einen Zeitraum von acht Jahren erstreckten, waren schon lange aktenkundig. Ulrich von Trotha hatte 1987 Anzeige gegen Unbekannt erstattet. Die Ermittlungen waren im Sande verlaufen, obwohl es Vermutungen gegeben hatte, wer der Urheber der Schreiben war. Verwertbare Fingerabdrücke gab es nicht. Spucke war an den Briefmarken nicht auszumachen, Befragungen des Verdächtigen hatten zu nichts geführt, denn der hatte alles abgestritten. Eine Hausdurchsuchung hatte zu keinen Ergebnissen geführt. Die Schreibmaschine, auf der die Briefe getippt worden waren und die leichte Unregelmäßigkeiten bei der Schriftzeichenlage aufgewiesen hatte, war nie gefunden worden.
Der Tatverdächtige war ein Herero, der bei einem Autounfall im Januar 1985 auf tragische Weise seinen jüngsten Sohn verloren hatte, den damals zehn Jahre alten Brendan Kukuri. Die Mutter war in der Folge aus Kummer zur Alkoholikerin geworden. Der Verursacher des Unfalls war Ulrich von Trotha. Der Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Kolonialgeschichte hatte den Jungen nachts auf einer Gravelpad, einer unbefestigten Zufahrtsstraße einer Großfarm, bei Grünau im Süden des Landes überfahren. Das Kind war kurz darauf im Krankenhaus seinen schweren inneren Verletzungen erlegen.
Laut den Prozeßakten war das Opfer vom Rand der Pad plötzlich dem Bakkie entgegengesprungen – um eine Mitfahrgelegenheit in die nächstgelegene Ortschaft, die Siedlung Grünau, zu erzwingen, wie von Trotha später gegenüber der Polizei mutmaßte. Die nach dem Unfall von einem Farmertelefon herbeigerufene Polizei ließ sofort einen Krankenwagen kommen und untersuchte die Unfallstelle. Einen Alkoholtest führten die beiden weißen Beamten, die aus Karasburg gekommen waren, nicht durch, obwohl von Trotha nach eigenen Worten auf dem Weg zu einem Bottle Store gewesen war.
Ein Zeuge, der mit Handschellen im Fond des Polizeiwagens, eines Toyota Hilux, saß, hatte beobachtet, daß von Trotha bei der Vernehmung leicht getorkelt war, als er zwischenzeitlich zum Urinieren hatte austreten müssen. Von Trothas Art zu reden beschrieb der Zeuge später im Prozeß als „lallend“ und „angeschwipst“. Hinzu kam als belastendes Indiz, daß es keine Bremsspuren gab.
Der Professor wurde schließlich vor dem Magistrates' Court in Karasburg wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Im Prozeß schenkte das Gericht dem Zeugen aus dem Fond des Polizeiwagens keinen Glauben. Der Mann, ein arbeitsloser alleinstehender Nama, war wegen Diebstahls vorbestraft. In der Tatnacht war er von den Polizisten aufgegriffen worden, weil er an einer Tankstelle eine farbige Frau mit anzüglichen Sprüchen belästigt hatte. Die beiden Polizisten, beide Afrikaaner und von ihren Vorgesetzten mit den besten Leumundszeugnissen ausgestattet, schworen bei der Beweisaufnahme Stein und Bein, daß der Unglücksfahrer in der Tatnacht keine Anzeichen von Trunkenheit aufgewiesen hatte. Ulrich von Trotha wurde freigesprochen. Die Kukuris waren bei der Urteilsverkündung am Boden zerstört. Als Nebenkläger in das Verfahren einzutreten, hatten sie sich nicht leisten können.
Erwin, dem Ranghöchsten in dem Klappstuhl-Quartett, blieb es nach Embangas Bericht vorbehalten zu fragen: „Was macht der Vater heute? Und wo lebt er?“
„Das ist es ja eben …“, sagte Embanga. „Kenneth Kukuri arbeitet in Hobas. Als Fahrer bei der Nationalparkverwaltung.“
Den vier Ermittlern fiel förmlich die Kinnlade herunter.
„Das heißt, wir haben hier eine klitzekleine örtliche Koinzidenz“, warf Carl ein, mit hochgezogener Stirn zu beiden Seiten blickend.
Erwin wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, da es bisher nur einen Vermißten und keinen Toten gab. Er fragte, ob Kukuri zu dem Verschwinden des Professors schon befragt worden sei.
„Nein!“ entgegnete der Commissioner barsch. „Es gibt ja noch gar kein Verbrechen.“ Embanga schien einen Moment einem Gedanken nachzuhängen, dann fügte er hinzu: „Theoretisch könnten wir ihn überwachen. Praktisch ist das kaum möglich. Wir würden nur schlafende Hunde wecken.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte Mary.
„Einen richterlichen Beschluß, die Telefone im Hobas-Camp abzuhören, bekommen wir in der jetzigen Situation nicht. Also was dann? Sollen wir ihm auf seinen Touren mit einem Auto hinterherfahren?“
„Was für Touren?“ fragte Ndengu nach.
Embanga erklärte ihm, daß Kukuri und ein Kollege die Privatautos der Canyonwanderer von Hobas, das nahe dem Einstiegspunkt der Schlucht lag, nach Ai-Ais fahren, dem Ziel der Wanderer. Einer fahre den Wagen der Wanderer, der andere Ranger ein Auto der Parkverwaltung. Von Ai-Ais fahren beide gemeinsam zurück. Bei umfangreicheren Wandergruppen müsse das mehrmals wiederholt werden. Die Wanderer zahlten für den Service – der alternativlos sei, denn von Ai-Ais komme man ohne Auto nicht weg.
„Ndengu, wollen Sie den Rangern jeden Tag hinterherfahren, um zu schauen, ob Kukuri vielleicht irgendwo anhält, den Kofferraum öffnet und eine Leiche in den Canyon wirft? Mal abgesehen davon, daß eine Beschattung mit Auto in einer Halbwüstengegend, wo Sie nur alle halbe Stunde ein anderes Auto sehen, selbst ein Dreamteam aus CIA, KGB und Mossad vor Probleme stellen dürfte … Und davon abgesehen: Von Trotha ist im Canyon verschwunden – wo kein Auto hinkommt!“
Ndengu blickte bedröppelt zu Boden.
„Anderes Thema …“, setzte Erwin an. „Was ist denn mit dieser Wandergruppe? Wer sind diese Leute? Wann sind sie aufgebrochen? Seit wann sind sie zurück? Wann und wo wurde der Professor zuletzt gesehen?“
„Sehr gut, Kandetu!“ lobte Embanga seinen Chief Inspector. „Alles wichtige Fragen!“
Der Commissioner nannte seinen Ermittlern die Daten. Am 31. Mai 1995, einem Mittwoch, war die fünfzehnköpfige Truppe aufgebrochen. Ranger hatten sie vom Hobas-Camp zur Panoramaaussicht, dem Einstiegspunkt der Schlucht, gefahren. Die Gruppe hatte die Nacht zuvor in eigenen Zelten am Bürogebäude der Parkverwaltung in Hobas übernachtet. Ein Mitarbeiter von Namibia Wíldlife Resorts hatte am späten Morgen die schon vor Wochen in Windhoek ausgestellten Permits und die ärztlichen Atteste kontrolliert, die jeder beibringen mußte, der den „Fish“, wie Wanderfreunde den Canyon nannten, in Angriff nehmen wollte.
Die Regeln waren streng: Kindern unter zwölf Jahren war das Mitwandern verboten. Jede Gruppe durfte nicht kleiner als drei und nicht größer als dreißig Personen sein. Jeder Wanderer hatte ein medizinisches Eignungsattest vorzulegen, das nicht älter als vierzig Tage sein durfte. Für Ausrüstung und Proviant war selbst zu sorgen. Kein Müll durfte zurückgelassen werden. Hilfe im Notfall versprachen nur zwei steile Notausstiege bei Kilometer 14 und Kilometer 50.
„Von Trotha wurde zuletzt am Freitag, dem 2. Juni, gesehen“, setzte der Commissioner seinen Bericht fort. „Die Gruppe hatte die zweite Nacht im Canyon bei der Stelle Sand Against Slope verbracht. Die vorherige war beim ersten Notausstieg. Bis zu der Sandverwehung sind es gut dreißig Kilometer – vom Start am Canyongrund aus gemessen. Von dort sind es fünfzehn Kilometer bis zur Abkürzung am Four Finger Rock.“
„Woher wissen Sie das so genau?“ fragte Sergeant Ndengu.
Der Commissioner zog eine Schublade auf, nahm eine Landkarte heraus und legte sie auf den Schreibtisch. „The Fish River Canyon Backpacking Trail“ stand auf der Faltkarte. „Die gibt es bei Namibia Wildlife Resorts kostenlos. Was die Zeitangaben anbetrifft …“ Embanga machte wieder eine seiner gekünstelten Pausen, denen er stets eine eminent wichtige Information oder dramatische Schilderung folgen ließ. „Es gibt bei jeder Tour einen Anmelder. Und der heißt in unserem Fall Bernhard von Trotha.“
Die vier Ermittler zogen die Stirn kraus oder guckten verdutzt.
„In welcher Beziehung steht der zu Ulrich von Trotha?“ fragte Carl.
„Der ist Literaturprofessor an der UNAM“, warf Erwin ein.
„Woher weißt du das denn?“ fragte Carl irritiert auf deutsch, als hätte er ein Monopol auf Bekanntschaften mit südwesterdeutschen Akademikern.
„Er ist ein Kollege von Constance Peters“, antwortete Erwin knapp.
„Und wer ist das bitte?“ mischte sich die Student Constable ein.
„Eine Dozentin für afrikanische Literatur, die ich gut kenne.“
Mary Kuugongelwa wußte nicht, daß Erwin in seiner Freizeit Bücher afrikanischer Schriftsteller las, und zwar immer die, die seine aus England stammende Bekannte mit ihren Studenten an der University of Namibia durchnahm. Nach dem Kulturschock, den er 1990 bei seiner Rückkehr von Deutschland nach Namibia erlebt hatte, war ihm die Idee gekommen, die afrikanische Seele, das Werden ihrer Kulturen und Gesellschaften aus den Erzählungen Schwarzafrikas zu ergründen – ein Unterfangen, das die meisten seiner Freunde und Verwandten müde belächelten.
„Was liest denn der Kurs gerade?“ fragte Carl eher neugierig als daran interessiert, Erwin vorzuführen.
„‘The Lost World of the Kalahari’ von Laurens van der Post“, antwortete Erwin leise mit gesenktem Kopf.
„Der ist aber ein weißer Südafrikaner. Kommst du da nicht auf die schiefe Bahn, Erwin?“ stichelte Carl.
„Van der Post war ein strammer Gegner der Apartheid. Und keiner hat die Buschleute so erforscht wie er“, erklärte Erwin seelenruhig.
„Ist mir alles geläufig. Weitere Titel von dem kannst du dir bei mir ausleihen!“
Im gleichen Moment fuhr der Commissioner dazwischen: „Könnten wir uns jetzt mal auf diese Ermittlung vorbereiten statt Lesetips auszutauschen?“
Die vier Polizisten schwiegen auf der Stelle.
Bernhard von Trotha sei der Bruder des Vermißten, fuhr Embanga fort. „Die anderen Teilnehmer dieses …“ - der Commissioner betonte das nächste Wort, um sein Unverständnis für derlei Unternehmungen auszudrücken - „… Abenteuertrips stammen zum Teil aus dem Umfeld der UNAM. Ein paar Dozenten und Studenten. Dazu ein paar andere, alles Weiße, die wir noch nicht zuordnen können, Freunde, Bekannte, Freunde von Freunden, was weiß ich. Zwölf Männer, drei Frauen. Von den vierzehn sind nur zehn im Ziel in Ai-Ais angekommen.“ Der letzte Satz klang so, als habe der Commissioner es schon immer gewußt, nur daß niemand auf ihn gehört habe.
Das Ermittlerquartett zog synchron die Augenbrauen hoch.
Embanga schob eine Erklärung nach. „Diese vier, die es nicht geschafft haben, sind nicht verschollen. Sie haben aufgegeben!“ Es klang wie: Was für Schwächlinge! Hätte doch Joseph Embanga, der ehemalige PLAN-Kommandeur mehrerer Aufklärungstrupps, sie selbst durch die Steinwüste geführt, wie weiland Mose die Israeliten – und nicht so ein Trottel von Bücherwurm aus dem Elfenbeinturm der UNAM. „Wegen Blasen an den Füßen. Erschöpfung. Magen-Darm-Problemen.“ Genüßlich zählte er die Gründe für die Ausfälle auf, deren Quote eher unter dem Durchschnitt lag. „Die vier hat die Frau vom Farmerkiosk bei Kochas Drift eingesammelt und zum Resort nach Ai-Ais gefahren.“ Mehr triumphierend als erwartungsvoll blickte er in die Runde. Von einer Frau gerettet – was für eine Demütigung, wollten Embangas Augen sagen. Aber nur die Student Constable rang sich ein gequältes Lächeln ab.
Embanga zeigte ungerührt mit dem Finger auf die Karte und drehte sie von sich weg. Die vier Ermittler erhoben sich wie die Gemeinde in der Windhoeker St. Mary-Kathedrale zum Glaubensbekenntnis. Emsig studierten sie den Kartenabschnitt.
„Hier irgendwo ist der Farmerkiosk.“ Der Owambo fuchtelte mit einer Bleistiftspitze auf der Karte herum. „Von dort führt eine schmale Schotterpiste vom Kiosk zu einer nahegelegenen Farm. Nur für Allradautos befahrbar. Die Farmerin kommt jeden Nachmittag zum Kiosk und verkauft kalte Getränke an die Wanderer. Aber nur, wenn größere Gruppen angesagt sind.“
„Und woher weiß sie, wie groß die Gruppen sind?“ fragte Ndengu.
„Von der Parkverwaltung in Hobas.“
„Und wo kommt der Strom für den Kiosk her?“
„Generator.“
„Das dürfte ein ziemlich teures Bier sein“, mutmaßte der Sergeant.
„Haben Sie schon mit diesem Bernhard von Trotha gesprochen?“ wollte Erwin wissen.
Embanga bejahte. „Viel hat das nicht ergeben.“
Am Morgen des dritten Tages in der Schlucht sei die Gruppe früh um sieben bei Sandy Slope noch zusammen losgezogen. Die vier Maladen seien noch dabeigewesen, als die Gruppe Four Finger Rock erreicht habe. Dort führe eine Abkürzung, die jede Gruppe nehme, eine Anhöhe hoch. „Das spart vier Kilometer“, erklärte der Commissioner und zeigte auf die gestrichelte Abkürzung, als es an der Bürotür klopfte.
Es war Liane Shivute, die Chefsekretärin der Abteilung, die eintrat und ein Tablett mit Schnittchen hereintrug.
„Das spendiert euch Willem. Der ist heute dreißig Jahre bei uns.“ Ihr Blick war ein wenig mitleidig – nicht weil Willem Beukes es so lange hatte aushalten müssen, sondern weil die Kollegen die kalten Buletten und die Boerewors aus Nancys Kantine längst alle verputzt hatten. Willem Beukes, der Gerichtsmediziner, war noch vor Josh Kronfeld, dem Deputy Commissioner, Liane Shivute und Carl Barnard der dienstälteste Mitarbeiter in der Serious Crime Unit.
Carl schnappte sich die einzigen zwei Käsebrötchen, denn zum Frühstück hatte er nur eine Tasse Kaffee mit ‘Camel ohne Filter’ gehabt. Ndengu griff sich zwei Schinkenbrote und alle Gewürzgurken, während der Commissioner die beiden befremdet anblickte und seine Erläuterungen fortsetzte. Die Disziplinlosigkeiten seines Assistant Chief Inspector Barnard ärgerten ihn besonders. Er wollte sie zum Thema zu machen, sobald die ganze Mannschaft versammelt war.
„Bei dieser Stelle“, setzte der Abteilungsleiter, auf einer Salamistulle kauend, sein Kartenstudium fort, „hat Ulrich von Trotha sich zurückfallen lassen“. Dort gebe es ein paar Namagräber. „Die wollte er sich noch ansehen und beim Farmerkiosk wieder zu den anderen stoßen.“
„Mal eine blöde Frage“, unterbrach Carl seinen Chef. „Hatte von Trotha eine eigene Wanderkarte? Wissen wir das?“
„Wissen wir nicht“.
„War der Vermißte vorher schon mal im Canyon?“ wollte Mary wissen.
„Laut Auskunft seiner Frau und seines Bruders: nein.“
„Und wie ging es weiter?“ fragte Erwin, dem beim Blick auf die Canyonkarte und angesichts der Vorahnungen, die er hatte, ganz schummrig wurde.
Embanga wischte sich die Finger ab und fuhr fort. Ab Four Finger Rock war Ulrich von Trotha vermißt. Die nachfolgende Tagesetappe war für den Rest der Truppe die letzte. Am Morgen des 3. Juni 1995 hatten sich die zehn verbliebenen Wanderer nach einem spartanischen Frühstück bei Kochas Drift in Bewegung gesetzt, um die letzten siebzehn Kilometer zurückzulegen. Sie rechneten damit, daß Ulrich von Trotha ihnen folgen oder sie gar einholen würde. Doch das geschah nicht. Als die Truppe an dem Samstag in Ai-Ais eintraf, machte sich noch niemand Sorgen, obwohl die mit dem Pick-up der Farmerin zuvor eingetroffenen vier Kranken nichts über den Verbleib des Geschichtsprofessors wußten.
„Bis wohin haben die Ranger aus Ai-Ais zu Fuß gesucht?“ fragte Carl.
Selbst darüber war Embanga, der für pedantische und systematische Ermittlungen bekannt war, im Bilde. „Bis zu dem einsamen Soldatengrab. Und dann sind sie noch die Abkürzung bei Four Finger Rock hoch. Von da wieder runter bis zu den Namagräbern.“
„Einsames Soldatengrab?“ fragte Ndengu.
„Ja“, sagte der Commissioner mit wissender Miene. „Und schaut mal auf die Karte! Der Name des toten Soldaten!“
Die vier Polizisten beugten sich wieder über Embangas Schreibtisch, als wären sie Ministranten vor dem Altar.
„Thilo von Trotha?!“ stieß Ndengu aus.
„Exakt“, sagte Embanga. „Und es kommt noch besser …“
„Die sind verwandt“, rief Carl. Es war mehr eine Feststellung als eine Vermutung.
„So ist es“, entgegnete der Commissioner. „Thilo von Trotha war ein Onkel zweiten Grades von Ulrich und Bernhard von Trotha.“
„Das sagen Sie jetzt erst!“ beschwerte sich Carl.
„Ohne ein klein wenig Spannung hört Ihr ja nicht richtig zu“, beschied Embanga.
„Und was heißt das für den Vermißtenfall?“ fragte Mary.
„Was weiß ich! Das müßt Ihr jetzt herausfinden. Mata gibt der Suche höchste Priorität. Wir können hier nicht nichts tun!“
„Und was bitte tut der Generalstab, wenn er hier mit dem Kartenstudium fertig ist?“ fragte Carl.
Embanga sah ihn mit maliziösem Lächeln an, lehnte sich in seinen Drehstuhl und wippte mit der Rückenlehne ein paarmal vor und zurück.
Carl kniff seine Augen halb zusammen. Erwins Mundwinkel fielen vorauseilend herunter.
„Nun, ganz einfach. Wir haben ja einen erfahrenen und gut durchtrainierten Valskerm soldaat der SWATF in unseren Reihen, der auch schon das ein oder andere Mal im Fish River Canyon gewesen ist.“
Carls Augenschlitze verengten sich noch mehr, während Ndengu der Schweiß auf der Stirn auszubrechen begann. Alle vier Ermittler sahen vor ihrem inneren Auge den gestählten PLAN-Kommandeur im namibischen Guerillakrieg, der seine Einheit auf eine gefährliche Patrouille in den Busch schickte – und selbst im sicheren Rückraum blieb, dem wohltemperierten Büro in der Bahnhofstraße im Zentrum von Windhoek, ausgestattet mit Air Conditioning, Schnittchen, panierten Schnitzeln und Sekretärinnenservice.
Mit einem unmißverständlichen Befehl beendete Embanga die gesellige Runde. „Barnard, Sie machen sich morgen auf in den Fischflußcanyon und forschen nach dem Vermißten. Und Sie, Chief Inspector Kandetu, begleiten ihn. Ihre Schußverletzung am Bein haben Sie ja auskuriert. Sonst wären Sie bestimmt nicht im Dienst. Sie, Mary“ - er zeigte mit dem Zeigefinger auf die Student Constable - „dürfen auch mit. So kommen Sie auch mal raus aus der Hauptstadt.“
Die vier Cops erhoben sich und verließen in Reihe Embangas Büro wie Schulkinder, die nach einer Schelte des Klassenlehrers zum Turnunterricht abzogen. Ndengu versäumte es nicht, im Vorbeigehen das letzte Schinkenschnittchen abzugreifen und sich in den Mund zu stopfen.
Embanga nahm den Telefonhörer, wählte eine interne Nummer und wies die Chefsekretärin an, für sein Team die anonymen Drohbriefe und die Vermißtenanzeige viermal zu fotokopieren und eine Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern der Wanderer der von-Trotha-Gruppe zu erstellen. „Aber nicht in Hobas bei der Parkverwaltung anrufen, sondern bei diesem Bernhard von Trotha! Den erreichen Sie an der Uni!“
Das Quartett vereinbarte, sich in einer halben Stunde in Nancys Kellerkantine zu treffen.
Carl verzog sich in sein Büro, das zwei Zimmer von Embangas entfernt war. Hatten sie ihn vor zwei Jahren auch wegen einer alten Geschichte vom Chief Inspector zum Assistant Chief Inspector degradiert, so hatte er sein eigenes Büro doch mit Zähnen und Klauen verteidigt. Wie immer roch es nach kaltem Zigarettenrauch. Auf dem walnußfarbenen Schreibtisch aus DDR-Produktion stapelten sich Zeitungen und Akten ungelöster Fälle. Den übrigen Platz beanspruchten ein Marmoraschenbecher, der sich jederzeit als Mordwaffe eignete, ein Spielplan mit den Partien der laufenden Rugy-Union-Weltmeisterschaft in Südafrika, eine Thermoskanne Kaffee, eine Rolodex-Rollkartei, ein weißes Wählscheibentelefon, ein Abreißkalender, ein Block Notizzettel, andere Büroutensilien und ein auf afrikaans verfaßtes Kompendium der südafrikanischen Polizei, das sich der modernen Kriminalistik widmete.
Nur die sandfarbene Fallschirmspringermütze der südafrikanischen Armee hatte nichts mit seiner aktuellen Berufstätigkeit zu tun, weshalb ihn Embanga ab und an fragte, ob er mit der Mütze vom Dach des Präsidiums springen wolle – oder warum dieses Relikt „aus dunkler Zeit“, wie der Commissioner zu sagen pflegte, auf einem Schreibtisch der namibischen Polizei liege. Carl antwortete jedesmal routiniert, indem er auf das in Messing gerahmte Foto von sich und Emmie wies, das die letzte freie Fläche des Schreibtischs einnahm und ihn mit seiner jungen Frau bei einem Ausflug an der Blutkopje zeigte, und bissig erwiderte: „Lösen Sie erst mal diesen Fall, bevor Sie auf Kleiderordnung pochen.“
Carl spielte damit auf das Drama an, das sich 1977 in der Namib ereignet hatte, als Emmie und Beth, die Frau seines Freundes Dan, von einer Gang unbekannter Schwarzer in ihren Zelten vergewaltigt worden waren, während Carl und Dan eine Wanderung unternommen hatten. Emmie, der ihre Eltern nach der Hochzeit mit Carl das Haus in der Schubertstraße übertragen hatten, hatte die Schändung so traumatisiert, daß sie nie wieder sprach, während Beth sich wieder erholt hatte. Durch die Vergewaltigung war Emmie zudem schwanger geworden, was ihr mit Carl nicht beschieden gewesen war. Sie hatte das ungeborene Kind aber am Ende verloren. Neun Jahre hatte Carl sie, unterstützt von Eltern, Schwiegereltern, Freunden, Nachbarn und Kollegen, gepflegt, sie schließlich, nachdem seine Eltern 1985 bei einem Verkehrsunfall umgekommen waren, aber in die Obhut des Pflegeheims des Okahandja Hospitals überantworten müssen.
Der Fall „Blutkopje“ war nie aufgeklärt worden, obwohl die Polizei unter der südafrikanischen Verwaltung alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um die Täter zu fassen. Doch vergebens. Während die Kriminalistik im Laufe der Jahre immer größere Fortschritte machte, Spuren und Asservate auszuwerten, und die Verbrecherdatenbanken mit neuen Namen von Tätern und einschlägigen Verdächtigen gefüttert wurden, machten Mata und Embanga im Fall „Emmie Barnard/Beth Wilcox“ keine Ausnahme von der Direktive, daß in den Fällen aus der Zeit vor dem 21. März 1990 nicht mehr aktiv ermittelt werde.
Carl nahm eine filterlose Zigarette aus dem Softpack, das ein Dromedar vor einer ägyptischen Pyramide zeigte, zündete sie an und begann, an der Rollkartei zu drehen. Die Plastikachse klickte vor sich hin, die eingehängten Karteikarten fielen beim Drehen jählings nach unten. Beim Buchstaben I stoppte der Assistant Chief Inspector den Drehknopf. „Intu Afrika“ stand auf der Visitenkarte, die er mit Klebefilm befestigt hatte, darunter der Name der Managerin: Liss Mahoney.
Carl war Ende 1994 auf der Gästefarm gewesen, die zugleich ein privates Wildreservat war. Auf dem weitläufigen Areal bei Kalkrand siedelte eine Gruppe von San, die – so gut es ging – ihr traditionelles Leben als Buschleute wieder aufgenommen hatte und in das Besuchsprogramm der Touristen eingebettet war.
Ein elfjähriges San-Mädchen war damals in der Wildnis der Kalahari spurlos verschwunden, weshalb Carl und Erwin zu der Farm geschickt worden waren. Die beiden Detectives fanden keinen Hinweis auf ein Verbrechen. Zusammen mit einem San-Fährtenleser namens Alex, der frühmorgens Gäste in das Lesen von Spuren einwies und damit für seine Community Geld verdiente, stapften Carl und Erwin zwei Tage durch das Wildreservat. Spuren des Mädchens, die sich am Ende in einem Rivier, einem ausgetrockneten, steinigen Flußbett, verloren, fanden sie – aber das Kind selber nicht. Frustriert stellten sie die Suche ein.
Wochen später fand sich die Leiche des halbwüchsigen Mädchens, nachdem ein Schakal mit einem halb bekleideten Arm des Mädchens in der Nähe der Lodge aufgetaucht war. Den Rest des Leichnams entdeckten andere San-Männer Tage später in zehn Kilometer Entfernung. Das Mädchen war Opfer eines Schlangenbisses geworden. Warum es die Farm verlassen hatte, wußte niemand.
„Liss Mahoney, Intu Afrika“, meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
„Carl Barnard, Serious Crime Unit, Windhoek. Miss Mahoney, do you remember?“ Das Gespräch führten sie auf englisch. „Wir hatten vor einem halben Jahr miteinander zu tun. Das verschwundene Mädchen …“
„Oh, Sie! Ja, ich erinnere mich gut. Eine traurige Geschichte. Aber sie war doch geklärt … Oder wollen Sie bei uns Urlaub machen?“
„Bei Ihren Preisen und meinem Gehalt – sehr witzig!“
„Ich komme Ihnen entgegen“, erklärte die Managerin geschäftstüchtig, während im Hintergrund Instrumentalmusik lief, die sich wie Fahrstuhl-Easy-Listening mit tibetischer Klangschale anhörte.
Carl nahm einen tiefen Zug Nikotin, dann kam er zur Sache. „Wir haben wieder einen Vermißtenfall in tiefster Wildnis. Die Person ist halbwegs prominent …“
„Wer?“ unterbrach ihn Mahoney.
„Kann ich nicht sagen. Die Medien sind noch nicht informiert. Jedenfalls ist die Person seit zwei Wochen im Fish River Canyon verschollen.“
„Das wird allmählich eng mit den Überlebenschancen. Es sei denn, man ist Survivalexperte. Oder ein San.“
„Eben. Wir rechnen schon damit, daß …“ Carl führte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen kam er direkt auf den Punkt. „Ich brauche Ihren Alex für eine Suchmission im Canyon.“
Am anderen Ende der Leitung gab es nur Schweigen und Easy-Buddha-Geklimper. Carl ließ sich nicht irritieren. Er legte nach. „Der Mann, den wir suchen, ist ein bekannter Professor. Wir müssen womöglich den ganzen Canyon zwischen Hiker's View Site und dem Ai-Ais-Resort absuchen.“
Liss Mahoney, routiniert im Gesprächspoker, schwieg noch immer. Nur ein tiefes Atmen und die psychedelische Musik waren durch den Hörer zu vernehmen.
„Ich kenne die Wanderroute im Canyon zwar gut“, fuhr der Assistant Chief Inspector fort, „aber ich bin kein Spurenleser …“
„Sie wollen meinen besten Spurenleser.“ Endlich regte sich die Stimme am anderen Leitungsende. „Für wie lange?“
Carl atmete auf. Tiefstapelnd antwortete er: „Nur für ein paar Tage. Wir holen ihn ab, übernehmen alle Kosten und bringen ihn zurück.“
„Kosten? Was sollen denn da für Kosten anfallen außer Proviant? Die Kosten habe ich. Meine Gäste haben dann niemanden, der sie morgens durch das Gelände führt. Die Leute haben das gebucht! Und wir sind ein Privatunternehmen!“
Carl spürte, wie vergrätzt die Mangagerin war. Ausfallzahlungen konnte er nicht anbieten. Erstens hatte die Polizeibehörde dafür kein Geld und schlug entsprechende Anfragen regelmäßig nieder. Zweitens hatte Carl für die Aktion keine Erlaubnis beim Commissioner eingeholt und verspürte auch keinerlei Drang, dies nachzuholen. Denn Embanga hätte einem derartigen Vorschlag nie zugestimmt – niemals zustimmen dürfen, da die auf „Intu Afrika“ angesiedelten San keine Mitarbeiter der Namibian Police Force waren, ihre Aussagen unter diesen Umständen schwer gerichtsverwertbar waren und das Risiko, daß ihnen im Canyon etwas zustoßen würde, viel zu hoch war.
Carl scherte es nicht. Er sah es anders. Bislang hatte er nicht einmal Erwin eingeweiht, der formal – weil ranghöher - sein Vorgesetzter war, in den meisten Fällen aber nichts gegen Carls eigenwillige Ermittlungsmethoden einzuwenden hatte. Denn die Ermittlungsresultate hatten seine unkonventionelle Arbeitsweise fast immer gerechtfertigt. Und die Dienstaufsicht in der jungen Republik war so zahnlos wie einst ein San-Methusalem, den seine Sippe auf der Wanderung zum nächsten Streifgebiet in einer Grashütte zum Sterben zurückließ.
‘Die Kosten, die Kosten, die meckernden Gäste, der Verdienstausfall!’ Carl konnte es nicht mehr hören. So ging es ständig mit den weißen Unternehmern im Land, wenn die Polizei um etwas bat. In der Tourismusbranche war es am schlimmsten. Wurde aber irgendeinem Safari-Trottel die Kamera aus dem Leihwagen gestohlen, sollte NAMPOL sofort eine Großrazzia auslösen, am besten mit Sperrung aller Grenzen.
„Misses Mahoney“, preßte der Assistant Chief Inspector zwischen den Zähnen hervor, wissend, daß ihr Gatte und Co-Geschäftsführer genauso ein Gewinnmaximierer war. „Zur Erinnerung: Wir waren mit zwei Leuten zwei Tage bei Ihnen, als Ihr San-Mädchen vermißt war. Sie haben für Ihre Steuer-Dollar durchaus etwas bekommen!“
Carl spürte, daß er sie gleich herumgekriegt hatte. Dann setzte er den finalen Stoß. „Madam! Ich muß ständig alles geben! Ich riskiere im Dienst für dieses Land ununterbrochen mein Leben. Mein Kollege Erwin wurde vor kurzem bei einer Fahndung angeschossen. Und hier geht es um Leben und Tod!“
Einen Moment schwieg Mahoney noch, dann gab sie sich geschlagen. „Okay. Ich sehe es ein. Ich frage Alex. Er wird es bestimmt machen. Es ist ja auch eine Ehre für ihn. Und eine Abwechslung. Den halben Tag Straußeneierschalen aufzufädeln und Flitzebögen für unsere Gäste zu schnitzen, ist auf die Dauer ein bißchen monoton. Wenn er nicht mitkommen will, gebe ich heute noch Bescheid.“
Carl gab ihr seine Dienstnummer und seine private Rufnummer. Sie verständigten sich darauf, daß er morgen gegen Mittag mit zwei Kollegen vorbeikommen würde. Bei der Proviantierung würden sie den Fährtenleser einkalkulieren. Die Worte „Biltong“ und „Müsliriegel“ sprach er nicht aus. Dann legte er auf.
Es war kurz vor zwölf, als Carl zu den Kollegen stieß, die sich in der verqualmten Imbißstube im Keller des Polizeihauptquartiers versammelt hatten. Die Betreiberin der Kantine, Nancy Nanub, war eine Damara von Anfang Sechzig, die einen Mann im Rollstuhl mitzuversorgen hatte. Ein paar weiße Kneipengänger hatten ihn 1986 im Suff auf der Straße zum Krüppel geprügelt. Sie waren zwar zu kurzen Haftstrafen verurteilt worden, aber mit den Folgen der Tat mußte Nancy Nanub allein fertig werden. Irgendwie schaffte sie es dennoch, für gute Stimmung unter den Polizeibeamten zu sorgen. Immer hatte sie ein freundliches Wort für ihre Gäste, ganz gleich welcher Hautfarbe oder Ethnie sie waren. Ausgenommen war die Chefetage – denn die ließ sich, wo Fish & Chips, Boerewors, Cola und Bier auf den angejahrten Resopaltischen landeten, grundsätzlich nie sehen, was nicht hieß, daß sie sich nichts aufs Büro kommen ließen. Gaben Mata oder seine Commissioner mal einen Empfang, so fand das im Großraumbüro statt, und fürs Servieren waren die Chefsekretärinnen und die „Sergeants für alles“ wie Uetuuru Ndengu zuständig, die es mit afrikanischem Gleichmut erledigten.
Carl war hungrig. Er bestellte sich Boerewors mit fettiger Pommes und ein kühles „Windhoek Lager“. Weil sich die Vorgesetzten bei Nancy nie zeigten, war auch niemand da, der sich am Alkoholgenuß während des Dienstes störte. Denunzianten gab es unter den niedrigeren Rängen nie. Kein Ermittler war Kind solchen Geistes, und niemand hätte eine solche Unkollegialität sozial überlebt.
Die anderen drei saßen bei ihren Getränken an einer Packliste. Erwin, in Outdooraktivitäten ungeübt, notierte, was Ndengu und Mary einfiel: Zelt, Isomatten, Flüssiggaskocher, Campinggeschirr, Erste-Hilfe-Koffer, Schlangenseren, Malariatabletten, Transistorradio, Sonnencreme, Kopfbedeckung, …
„Sonnenbrille!“ fiel Mary ein.
Carl nahm den Zettel an sich und überflog ihn. „Schwachsinn!“ rief er.
Die anderen schauten verwirrt.
„Wer soll das alles schleppen? Zelt, Isomatte, …. Wir legen uns in den Sand und rollen uns in eine Decke!“
Erwin strich die Position aus der Liste, während Carl sein Bier bekam.
„Gaskocher! Das ist Ballast! Campinggeschirr genauso. Eine Blechtasse reicht.“
Wieder strich Erwin zwei Wörter aus.
„Schlangenseren?“ hob Carl an. „Schöne Theorie! Wer will denn den Kühlschrank tragen? Mal davon abgesehen, daß ein Serum hundert Dollar kostet. US-Dollar!“
Erwin und Mary atmeten tief durch. Ndengu, den Bürohengst im Backoffice, amüsierte es, wie Carl die Packliste sezierte. Die Kopfwäsche für die drei Asphaltbullen war noch längst nicht zu Ende. „Malaria? Hat der Herr Chief Inspector die Himmelsrichtungen verwechselt?“
Erwin schaute verärgert und rechtfertigte sich: „Ich dachte … wegen des stehenden Wassers im Fluß … Das zieht doch Mücken an.“
„Davon kannst du ausgehen. Mückenspray ja, aber die Mossies dort übertragen keine Malaria. Dafür müßten wir in den Norden reisen, mindestens nach Etoscha.“ Der Assistant Chief Inspector legte nach: „Vermutlich erwartet Ihr auch Hippos und Krokodile im Canyon!“
Mary blickte desorientiert in die Runde, als habe sie tatsächlich die ein oder andere Nilpferdpopulation in der Schlucht erwartet.
„Hoffentlich gibt es dort keine Schwarzen Mambas“, bemerkte Erwin kaum vernehmlich, auf eine gefährliche Begegnung mit einem stattlichen Exemplar dieser Spezie anspielend, die er zwei Wochen zuvor am Okawango erlebt hatte.
Während Nancy Boerewors & Chipsservierte, einigten sich Carl und Erwin darauf, was sie an Proviant kaufen wollten. Viel mehr als Trockenobst, Tütensuppen, Biltong, Müsliriegel, Traubenzucker, frische Äpfel und einige Liter Flüssigkeit – wobei Carl sich nicht allein auf Wasser festlegen wollte – kam nicht zusammen.
In Nancys Kassettenradio lief unterdessen ein Mixed-Tape von Songs der sechziger und siebziger Jahre. Die Texte der meisten Lieder kannte die Wirtin auswendig. Manchmal sang sie den ein oder anderen Titel mit Carl oder Willem Beukes im Duett, oft auch mit Mary, begleitet von einer informellen Polizeiband, die Gitarre, E-Gitarre und Schlagzeug vereinte, wenn in der Kellerkneipe ein Geburtstag oder Dienstjubiläum gefeiert wurde.
„River Deep - Mountain High“, ein früher SongTina Turners schallte durch die Kantine. Mary, die für ihr Leben gern tanzte, wippte mit den Füßen und bewegte Kopf und Oberkörper hin und her, den Text mitsummend. „When I was a little girl, I had a rag doll, only doll I've ever owned …“
Tina Turner, die sich wie sie im Leben hatte durchkämpfen müssen, war ihr Star, der Stern, den sie anhimmelte. Die Soulstimme, das geglättete schwarze Haar, die Hüftwackler und die tänzerisch nach außen gestellten Füße, die selbstbewußt vor die Brust geschlagenen Arme, der aufreizende Gang in die Knie, der ungestüm in den Nacken geworfene Kopf, das Schütteln der Haare – die lebenshungrige Polizeischülerin ahmte die junge Rhythm- & Bluessängerin der sechziger Jahre nach, wenn sie sang und tanzte. Sie fühlte sich in Seele und Gedanken mit ihr eins. Sie sehnte sich selbst nach der Bühne, auf der sie darbieten konnte, was sie in ihrer kleinen Wohnung in Katutura an einsamen Abenden an Liedtexten verfaßt hatte. Jede CD ihres Idols kaufte sie sich, jeden Fanartikel, den sie in die Finger bekam.
Leise summte Mary den Text mit. „Well, I'm gonna be as faithful as that puppy. No, I'll never let you down. 'Cause it goes on and on, like a river flows …“
„Du würdest wohl gern mit in den river, was?“ fragte Carl.
Mary schwieg.
Carl und Erwin redeten sich die Köpfe über die Frage heiß, von wo sie den Weg starten sollten. Am Ende der Wanderroute in Ai-Ais, was eine viel kürzere Distanz zum Four Finger Rock bedeuten würde, wo Ulrich von Trotha zuletzt gesehen worden war? Das war eine Möglichkeit. Die andere war, wie alle Wanderer am Einstiegspunkt bei Hiker's View Site die fast fünfhundert Höhenmeter in die Schlucht hinabzusteigen und dann die fünfzig Kilometer von Norden kommend bis Four Finger Rock zu wandern.
Erwin plädierte für die kürzere Route, sein Assistant widersprach. „Wir laufen sonst anderen Wandergruppen in die Arme. Die stellen dumme Fragen“, begründete Carl seinen Standpunkt. „Außerdem ist es verboten, von Ai-Ais aus in den Canyon zu laufen. Wir können Rangern begegnen.“
„Was ist daran so schlimm?“ wunderte sich Erwin, während aus dem Lautsprecher des Rekorders Tina Turner ihre Stimmbänder erzittern ließ, als wolle sie Vinyl schmelzen. „If I lost you, would I cry …“
„Dieser Kukuri gehört zur Parkverwaltung und sollte nichts von unserer Mission erfahren. Bislang hat es nur die Suche durch die Ranger gegeben, wie sie öfters vorkommt, wenn ein Wanderer verlorengeht.“
„Und?“
„Ich befürchte, daß ein Verbrechen geschehen ist“, sagte Carl. „Und das wollen wir erst mal unauffällig abklären. Nenn es meinetwegen Undercover.“
Carl spielte mit halb verdeckten Karten, denn er wollte zum jetztigen Zeitpunkt nicht damit herausrücken, daß sie bei Kalkrand noch einen Spurenleser in den Wagen laden würden. Ein San mit Ziegenfell-Kluft und Schildkrötenpanzer als Hut war nicht die ideale Voraussetzung, um Aufsehen zu vermeiden. Außerdem hatte Carl die vage Hoffnung, bereits auf den ersten fünfzig Kilometern verwertbare Spuren zu finden.
Ndengu sollte in der Zwischenzeit die zurückgekehrten Wanderer der von-Trotha-Gruppe abtelefonieren und verschiedene Erkundigungen einziehen. Auch Else von Trotha, die Frau des Verschwundenen, sollte er in Klein-Windhoek aufsuchen, sie nach weiteren Motiven eines möglichen Verbrechens befragen und sich von ihr und Bernhard von Trotha über die berufliche Arbeit des Vermißten ins Bild setzen lassen. Telefonisch sollte er mit Mary in Ai-Ais in Kontakt bleiben. Dort gebe es ein Kartentelefon, versicherte Carl, der den „Fish“ zuletzt vor zwei Jahren mit seinem Freund Dan, dessen Frau Beth und deren Söhnen David und Paul durchquert hatte.
Am nächsten Morgen wollten sie zeitig um acht starten. Mary sollte bis dahin die Einkäufe tätigen. Notfalls konnten sie Fehlendes auf dem Weg zukaufen.
Während die anderen ihre Getränke bezahlten und gingen, ließ sich Carl mit dem Essen Zeit. Er dachte darüber nach, was mit von Trotha geschehen sein konnte. Daß der sechzigjährige Geschichtsprofessor zwei Wochen nach seinem Verschwinden im Canyon noch am Leben war, glaubte er kaum. Die Vorstellung, seine Leiche zu entdecken, lag ihm aber fern.
Vielleicht, dachte er, hatte von Trotha auch einen Grund, sein Verschwinden vorzutäuschen. Der Canyon hatte auf der begehbaren Neunzig-Kilometer-Route zwei Notausstiege, der erste hinter den „Mauern von Jericho“, der zweite bei Kochas Drift. Über diese steilen Wege ließ sich innerhalb weniger Stunden die nach Süden abgehende Nebenstraße der D 601 erreichen. Als Anhalter konnte man es so zur C 12 oder C 10 und von dort nach Keetmanshoop oder Grünau schaffen.
Carl aß auf und zündete sich eine Zigarette an. Er zahlte und erkundigte sich bei Nancy nach ihrem Mann. Die beiden verband ein für Außenstehende kaum nachvollziehbares Interesse für Rugby. Die Weltmeisterschaft in Südafrika hatte mittlerweile die Viertelfinals gesehen. Südafrika gegen Frankreich und England gegen Neuseeland lauteten die Halbfinals. Das südafrikanische Team unter Kapitän Francois Pienaar war noch ungeschlagen. Der haushohe Favorit aber war Neuseeland. Für den Abend wollte Carl seinen Kumpel Dan auf ein Bier in die Schubertstraße einladen. Auf Video wollten sie sich die aufgezeichnete Viertelfinalpartie der „Springboks“ gegen West-Samoa anschauen, die er wegen eines anderen Termins verpaßt hatte. Das Ergebnis kannten sie längst, aber sehen mußten sie es. Und der 42:14-Sieg im Ellis Park Stadium mußte begossen werden.
Vielleicht, dachte Carl, hatte Dan auch eine Einschätzung zu dem Vermißtenfall. „Zweite Meinung“ nannten sie das, und Dan Wilcox, der es zu einer eigenen Rechtsanwaltskanzlei in Windhoek-Eros gebracht hatte, verstand es, Diskretion zu wahren. Daß Carl gegen Vorschriften verstieß und Dienstgeheimnisse weitergab, war beiden gleich. Dan schwieg wie ein Grab. Carl interessierte an den Fällen der Serious Crime Unit nur eins: sie aufzuklären. Regeln und Ermittlungsmethoden bog er sich zurecht.
Ohne Eile nahm er die Treppe hinauf zu seinem Büro. Dort legte er die Beine auf den Schreibtisch und studierte die Rugby-Berichte im Republikein, den er sich am Morgen bei einem Zeitungsjungen gekauft hatte. Bei Liane Shivute besorgte er sich eine Tasse Kaffee und tat einen Rand in die Kaffekasse. Dann holte er sich aus Embangas verwaistem Büro die Karte des Fish River Canyons, die noch auf dem Tisch lag.