Licht und Dunkelheit: Hüterinnen der Elemente - Kerstin Rachfahl - E-Book

Licht und Dunkelheit: Hüterinnen der Elemente E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

»Es ist an der Zeit, Tochter des Wassers, dass du aufhörst, in Selbstmitleid zu zerfließen, also reiße dich zusammen und stelle dich deinem Schmerz!« Eine Heilerin, die nicht Leben rettet, sondern einem kleinen Jungen den Tod bringt. Leonora, Tochter des Elementes Wasser, droht an ihrer Schuld zu zerbrechen. Doch die Göttin Lishar hat ihr ein anderes Schicksal vorher bestimmt. Leonora ist in ihrem Kampf gegen die Dunkelheit nicht allein. Ihre Schwester, ihre besten Freundinnen und auch neue Verbündete stehen ihr bei. Nach und nach müssen die Frauen erkennen, dass der Feind gegen den sie kämpfen, nicht im Außen, sondern in ihrem Innern lauert. Sind sie bereit das größte Opfer zu bringen?

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Licht und Dunkelheit: Hüterinnen der Element

Kerstin Rachfahl

Deutsche Erstausgabe Juli 2017

Copyright © 2017 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

For the Finns. Not only have you inspired me in many ways over the past few years and answered thousands of my never-ending questions, but you also allowed me to use your daughter’s name, Eiméar, for one of the main characters in the book. May your life together be happy and long-lasting.

Big hug and kisses

Kerstin

Inhalt

1. Samin

2. Schwestern

3. Beisetzung

4. Vision

5. Eiméar

6. Kaja

7. Leila

8. Versammlung

9. Marek

10. Erwachen

11. Geheimnisse

12. Jagd

13. Heilerin

14. Grenze

15. Suche

16. Marek

17. Kiesel

18. Wahrheit

19. Ruth

20. Liebe

21. Briefe

22. Wissen

23. Zusammenhänge

24. Treffen

25. Zusammenkunft

26. Kontakt

27. Wiedersehen

28. Ertappt

29. Familienbande

30. Agilus

31. Sitten

32. Aufgabe

33. Opfer

34. Verbindung

35. Wiedersehen

36. Geständnis

37. Widerstand

38. Baumhaus

39. Ältestenrat

40. Schwestern

41. Schreine

42. Erkennen

43. Abstimmung

44. Seele

45. Nevarn

46. Morrigan

47. Suche

48. Erkenntnis

49. Festung

50. Flucht

51. Meer

52. Theona

53. Tochter

54. Baaren

55. Erbe

56. Trennung

57. Tinau

58. Fee

59. Licht

60. Sanira

61. Thelos

62. Larisan

63. Audienz

64. Enkeltochter

65. Forran

66. Lemar

67. Leila

68. Albtraum

69. Erwachen

70. Aufbruch

71. Plan

72. Aufstand

73. Vereint

74. Totenwache

75. Esmeralda

76. Feind

77. Aaron

78. Verlorene Seele

79. Gefangen

80. Vivien

81. Brenne

82. Opfer

83. Erwachen

84. Mintra

Epilog

Figuren aus Band 1

Figuren aus Band 2

Figuren aus Band 3

Figuren aus Band 4

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

1

Samin

Sie schloss die Augen, berührte mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand seinen Hals dort, wo das Leben pulsierte. Mit der anderen umschloss sie fest seine Hand. Sie teilte seinen Schmerz, half ihm so, die letzten Stunden seines Lebens leichter zu ertragen. Trockene Tränen brannten in ihren Augen. Es war nicht das erste Mal, dass sie einem Menschen den Übergang von der einen Welt in die andere erleichterte, aber zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, daran zu zerbrechen.

Wenn eine der Schmerzwellen besonders heftig war, kroch Übelkeit in ihr hoch. Leonora war froh, dass sie ihre letzte Mahlzeit vor über einem Tag eingenommen hatte, sonst hätte sie sich übergeben.

Kein Heiler riss sich um den Dienst, einen Menschen auf seinem letzten Gang zu begleiten. Abgesehen von den oft heftigen Schmerzen, die mit einem langsamen Tod einhergingen, war die Belastung für die eigene Seele immens. Ihr fiel es leichter als den anderen Heilerinnen, damit umzugehen, darum bekam sie von Elija, der obersten Heilerin, ungewöhnlich oft diese Aufgabe zugeteilt. Doch heute stieß sie an ihre Grenzen.

Samin war wie ein Licht, das für alle Mintraner leuchtete, ein Junge von einer grundgütigen Art, die fest in seinem Charakter verwurzelt war. Jeden steckte er mit seiner Fröhlichkeit an, schaffte es, auf die Lippen aller Menschen ein Lächeln zu zaubern. Dabei schien er einen unerschöpflichen Vorrat an tiefgründigen Fragen zu haben, als hätte er in seinem Innern geahnt, dass ihm auf Erden nur wenig Zeit blieb. Wieso holte Gott ausgerechnet dieses Kind, gerade mal zehn Jahre alt, zurück in sein Reich? Leonora wusste, dass sie niemals eine Antwort auf diese Frage bekommen würde. Der Tod gehörte unabänderlich zum Leben, dieses Grundprinzip hatte sie als Heilerin als Erstes fest verinnerlichen müssen. Es war unabänderlich, dass der Körper, ein göttliches Kunstwerk ohnegleichen, nach und nach verfiel. Was blieb, war die Energie – der Wesenskern dessen, was die einzelnen, winzigen Partikel des Körpers über die Zeit seines Lebens zusammenhielt. Vielleicht war die Energie in Samin zu groß gewesen, als dass ein begrenzter Körper ihr ein langes Leben über hätte standhalten können – oder zu schwach.

Eine Hand wurde federleicht auf ihre Schulter gelegt. Dankbar nahm sie die Energie an, die in sanften, weichen Wellen durch ihren Körper zu fließen begann, peinlichst darauf bedacht, sich nie mit der ihren zu verbinden. Eisern schotteten die beiden Heilerinnen ihre Gedanken und Gefühle voneinander ab, ein unüblicher Prozess, da Kaja, die Mutter ihrer besten Freundin Levarda, und sie häufig miteinander arbeiteten.

Es gab nichts, was eine vor der anderen hätte verbergen müssen, obwohl es für Leonora manchmal gar nicht so einfach war, wenn sich Kaja während der Arbeit mal wieder von ihrem Bedürfnis, mit Rai zu schlafen, ablenken ließ. Die beiden führten selbst in ihrem reifen Alter ein aus Leonoras Sicht erstaunlich aktives Liebesleben.

Mit ihrer prüden Denkweise sorgte sie bei Kaja regelmäßig für Heiterkeitsausbrüche. Liebevoll zog Levardas Mutter sie damit auf, dass es auch für sie eines Tages, wenn sie den richtigen Mann träfe, gut wäre, wenigstens eine Vorstellung davon zu haben, was alles möglich war, wenn Mann und Frau sich in Leidenschaft vereinigten, anstatt die Sache nur als Mittel zur Entspannung zu betrachten.

Nein, sie hatte nicht vor, leidenschaftliche Gefühle für einen Mann zu entwickeln. Ihr ganzes Leben galt der Heilkunst und den Menschen in Mintra. Außerdem brauchte Eiméar sie, und das zählte mehr als alles andere. Diese Sache war eines ihrer bestgehüteten Geheimnisse, und nur Kaja kannte die Wahrheit, aber ihr konnte man absolut vertrauen.

Achtsam zog sich die ältere Heilerin zurück, ging zu ihrem Sohn Alvar und zog ihn in ihre Arme. Es erschütterte Leonora, wie der erwachsene Mann schluchzend den Kopf auf die Schulter seiner Mutter legte, die er um Haupteslänge überragte. Seine sehnige, kräftige Gestalt, gramgebeugt, sank noch mehr in sich zusammen. Es zerriss ihr das Herz. Dummerweise machte sie den Fehler, das für sie sichtbare Bild Samin, mit dem sie verbunden war, erkennbar werden zu lassen, anstatt es vor ihm zu verbergen.

Unruhig wand sich der Junge, und die Entspannung, die seinem Gesicht fast ein Lächeln und damit einen engelsgleichen Ausdruck verliehen hatte, verschwand. Ein Schatten legte sich über seine Züge. Rasch holte Leonora das Bild seiner Schwester zurück in ihre Gedanken. Jolanda saß auf der anderen Seite des Bettes und hielt die Hand ihres zwei Jahre älteren Bruders. Auch sie hatte die Veränderung bemerkt. Sie begann, eines seiner Lieblingslieder zu singen, ganz leise und dennoch mit einer unglaublichen, klaren Ausdruckskraft. Es war ein Klang, der einen innehalten und lauschen ließ, ob man es wollte oder nicht.

»Gibt es denn überhaupt nichts, was du tun kannst?«, brachte Alvar hervor.

»Nein«, kam es dumpf und erstickt von Kaja.

Er hatte Kaja und ihr diese Frage in den letzten Tagen, Stunden und Minuten hundertmal gestellt. Sie wusste, er brauchte es, musste diesesNein immer wieder hören, um wenigstens zu versuchen, es zu begreifen. Als hätte nicht Samins Großmutter ihr eigenes Leben geopfert, wenn es ihren Enkel vor dem Tod bewahren würde. Viel schlimmer als die ständige Frage des ernsten Alvar war das schweigende Hin- und Herwiegen von Ruth, die sich weigerte, Jolandas Platz einzunehmen und als Mutter selbst Samins Hand zu halten. Aschfahl war sie im Gesicht, die dunkelgrünen Augen waren verschleiert. Die sonst so fröhlich wirkenden bernsteinfarbenen Sprenkel darin, die immer zu funkeln schienen, wenn sie lachte – was sie oft tat – waren erloschen, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen. Ihr Haar war stumpf und strähnig, ihre Lippen waren trocken und aufgesprungen. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Kaja warf ihr einen Blick zu, und die Sorgen um ihre Schwiegertochter standen ihr ins Gesicht geschrieben. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Mutter über den Tod ihres Kindes den Verstand verlor. Einzig und allein Jolanda besaß die Kraft, ihren eigenen Kummer beiseitezuschieben und für ihren sterbenden Bruder da zu sein.

Eine weitere Schmerzwelle brandete durch Leonoras Körper und ließ ihn erzittern. Lange würde sie es nicht mehr durchhalten. Flach atmend versuchte sie, die Übelkeit zurückzudrängen, aber es gelang ihr nicht, und sie begann, trocken zu würgen.

Sie legte ihre rechte Hand auf den Unterleib des Jungen, wo die heimtückische Krankheit am heftigsten wütete, sandte beruhigende Impulse in diese Region. Als sie glaubte, die Kontrolle über ihre eigenen Kräfte zu verlieren, die mit aller Macht zurück in ihren Körper drängten, damit sie sich selbst schützen könnte, spürte sie eine kleine, warme Hand auf ihrer. Sie öffnete die Augen und schaute in Jolandas Augen, die sie eindringlich anblickten. Das Mädchen hatte die gleichen kastanienbraunen Haare wie ihre Mutter, ihre Augen hingegen waren genau anders herum gefärbt als die von Ruth. Leuchtend bernsteinfarben mit dunkelgrünen Sprenkeln darin, die dem jungen Gesicht eine tiefe Ernsthaftigkeit verliehen, es älter und weiser erscheinen ließen, als es bei einem jungen Menschen sein sollte. Tapfer rang sich Leonora ein Lächeln ab. Sie konnte diese beiden unmöglich im Stich lassen. Während ihr Jolanda oft wie ein Schatten bei der Arbeit folgte, war Samin für sein Leben gern mit Eiméar ausgeritten. Heimlich hatte ihre Zwillingsschwester dem Jungen den Schwertkampf und das Bogenschießen beigebracht.

Sie wusste, dass Eiméar in den Wald geritten war, zu der Stelle, an der sie immer mit Samin trainiert hatte. Leonora hoffte, dass ihre Schwester die Kraft fand, mit ihrem Kummer umzugehen, bis sie wieder für sie da sein konnte.

Lishar, ich flehe dich an, hilf dem kleinen Jungen, zu sterben. Hat er nicht schon genug gelitten? Lass ihn endlich gehen.

Die Stimme erklang in ihrem Kopf. Vor Schreck hätte sie beinahe den Kontakt abgebrochen.

Du bist es, die nicht loslässt. Du bist es, die es beenden kann. Du bist es, die Erlösung bringt oder Schmerz.

Eine kalte Faust schloss sich um Leonoras Herz. Sie wusste, was die Stimme, von der sie nicht wusste, ob es ihre eigene war, meinte. So, wie sie den Körper stärken, Selbstheilungsimpulse senden konnte, so bot sich ihr die Möglichkeit, das Gegenteil zu tun. Bis dahin, ein Herz zum Stillstand zu bringen.

Das Leben von Samin beenden – ihn und seine Seele von den Schmerzen erlösen … Ihr Pulsschlag beschleunigte sich. Wäre es nicht Mord? Als hätte sie die Frage laut gestellt, ließ sie ein intensiver Blick von Kaja die Augen heben. Er war tränenverhangen und enthielt eine stumme Bitte.

Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Nein, das konnte sie nicht. Es bedeutete, ihre Kräfte, mit denen Lishar sie so reichlich gesegnet hatte, einzusetzen, um Leben zu beenden. Ihre Seele würde verdammt, und sie würde zu einem Teil der Dunkelheit werden. Nein, es kam nicht infrage.

Dein Weg ist vorbestimmt. Du musst den Mut finden, ihn zu gehen. Wer aus Liebe handelt, kann niemals verdammt sein.

Die wispernde Stimme in ihrem Kopf versuchte, sie in eine Falle zu locken. Sie kannte all die mintranischen Legenden, in denen Männer oder Frauen im Namen von Lishar oder Lethos die schlimmsten Vergehen gegen das Leben begangen hatten.

Die nächste Schmerzwelle raubte ihr beinahe das Bewusstsein. Jolandas Finger krallten sich in ihre Hände, die Fingernägel verletzten ihre Haut, und Blut quoll hervor. Dennoch war sie dem kleinen Mädchen zutiefst dankbar, weil es sie damit im Hier und Jetzt hielt.

»Warum muss er so leiden?«, hauchte Jolanda. »Warum beendest du es nicht? Ich weiß, du kannst es. Bitte, Leonora, ich flehe dich an, tu es für Samin, für Mama, Papa und Oma. Keiner von ihnen erträgt es mehr.« Flehentlich blickte das Mädchen sie an. In den dichten Wimpern hingen glitzernde Tränen.

Es geschah völlig unbewusst als Reflex auf das Flehen eines Kindes. Samins Herz schlug ein letztes Mal, dann stand es still. Seine Gesichtszüge entspannten sich. Ein silbriger Schimmer erschien auf seinem Antlitz.

Gelähmt von ihrem eigenen Handeln sah Leonora zu, wie die glitzernden Fäden ihre Arme entlangkrochen. Ohne nachzudenken, löste sie die Hände von Samin, formte eine Schale, in der sich die funkelnden, glitzernden Fäden zusammen zu einem Ball formten.

Danke erklang es glockenhell in ihrem Kopf. Der Ball hob sich und ließ den ganzen Raum erstrahlen.

Ruth schrie hysterisch auf, warf sich auf den toten Körper ihres Sohnes, stieß dabei die erschrockene Jolanda vom Bett.

Die geweiteten Augen des Mädchens waren das Letzte, was Leonora sah.

2

Schwestern

Ein angenehm kühles Tuch lag auf ihrer Stirn, als sie die Augen aufschlug. Elija saß an ihrem Bett und strich ihr sanft über die Wange, als sie merkte, dass sie wach war.

»Ich dachte schon, du wolltest die Augen gar nicht mehr aufschlagen.« Sie nahm eine Schüssel von dem Tisch neben dem Bett, in der ein wohlriechender Eintopf dampfte, ohne Fleisch, dafür randvoll mit Gemüse.

Als die Meisterin Anstalten machte, sie zu füttern, schüttelte Leonora den Kopf. Langsam richtete sie sich auf, erschrocken vom Zittern ihrer Armmuskeln, die ihr beinahe den Dienst versagten.

»Langsam, mein Kind. Lass mich dir helfen.«

Elija reichte ihr die Hand, doch Leonora ignorierte sie. Auf keinen Fall wollte sie der obersten Heilerin der Mintraner durch die Berührung Zutritt zu ihrem Körper gewähren, nachdem sie das entsetzlichste Verbrechen begangen hatte, das eine Heilerin begehen konnte. Sie bemerkte ihre Irritation. »Deine Kräfte sind zu kostbar, als dass du sie an mich verschwenden solltest. Eine warme Mahlzeit, und es geht mir wieder gut.«

Wortlos reichte ihr Elija die Schüssel.

Bemüht, die zitternden Finger zu kontrollieren, schob sich Leonora den ersten Löffel voll Suppe in den Mund. Sie verfolgte, wie die Flüssigkeit langsam den Weg in ihren Magen fand, wartete kurz ab, wie dieser reagieren würde. Erst als sie sicher war, dass sie es schaffen würde, das Essen in sich zu behalten, nahm sie noch einen Löffel voll und schluckte.

»Du hättest etwas sagen müssen. Jemand anderer hätte deinen Platz einnehmen können.«

»Es war meine Aufgabe, und ich war es Samin schuldig.«

»Aus dem Gefühl der Schuld sollten wir niemals handeln.«

Die Meisterin ließ keine Gelegenheit aus, sie zu belehren oder zu tadeln. Manchmal hatte Leonora das Gefühl, dass Elija sich voll auf sie konzentrierte. Erlaubte sie sich auch nur einen Fehler, war das ein Anlass für eine lange Belehrung. Andere Heilerinnen machten Hunderte von Fehlern und wurden mit aufmunternden Worten ermutigt. Mach dir nichts daraus, das passiert. Beim nächsten Mal wirst du daran denken und es richtig machen. Mit ihr war die oberste Heilerin von Anfang an hart ins Gericht gegangen, als müsste sie einen Ausgleich dafür schaffen, dass es Leonora im Vergleich zu allen anderen unendlich leichtfiel, das komplizierte Wissen der Heilkunst zu erlernen.

Diesmal hatte sie etwas Unverzeihliches gemacht, das Leben eines Menschen beendet, indem sie den Fluss des Blutes angehalten hatte. Noch sah sie sich außerstande, die Wahrheit zu sagen und sich dem Urteil des Ältestenrates zu stellen.

Bei Lishar, ihr ganzes Leben hatte sie daran gearbeitet, zu verhindern, dass Eiméar dem Prozess der Loslösung von ihrem Element unterzogen wurde. Und in einem Bruchteil von Sekunden hatte sie es geschafft, alles zu verlieren. Erst als Elija ihr tiefseufzend ein Tuch reichte, bemerkte sie, dass sie zu weinen begonnen hatte.

»Du solltest nicht so hart mit dir ins Gericht gehen. Es gibt nichts, was wir für Samin hätten tun können, außer ihn auf seinem Weg in den Tod zu begleiten. Manchmal reichen unsere Kräfte nicht aus, um dem Sterbenden alle Schmerzen zu nehmen, egal wie sehr wir es uns wünschen. Sei froh, dass es vorbei ist. Es war ein Segen, dass sein junges Herz den Dienst versagte. Es hätte tagelang auf diese Weise weitergehen können.«

Leonora verschluckte sich, hustete, trank einen Schluck heißen Wein, gemischt mit Wasser und Honig. Der Alkohol kroch mit seiner beruhigenden Wirkung durch ihre Adern.

»Es ist die schwerste Aufgabe, die Lishar uns auferlegte, ein sterbendes Kind in den Tod zu begleiten. Du hast Samin geholfen, von einem hell leuchtenden Licht, das für uns schien, zu einem leuchtenden Stern am Firmament zu werden.«

»Ich glaube nicht, dass es den Eltern ein Trost ist.« Genauso wenig wie mir, fügte sie stumm für sich hinzu. Bei Lishar, sie hatte das Leben eines Kindes beendet. Ihre Seele war für immer verloren. Tränen traten ihr wieder in die Augen. Sie weinte um Samin und um sich selbst.

Sanft strich ihr Elija über das Haar. »Nein, das ist es in der Tat nicht. Wir alle werden ihn vermissen, aber in unseren Erinnerungen wird er fortleben. Bleibe in den nächsten Tagen zu Hause, bis du dich wieder stark genug fühlst. Und wann immer du jemanden zum Reden brauchst – ich bin für dich da.« Elija stand auf und verließ die Kammer.

Das Haus der Heiler war das größte Gebäude in Mintra. Der Hallenkomplex des Ältestenrates wirkte dagegen wie eine kleine Hütte, obwohl er ein architektonisches Meisterwerk war, mit gebogener Holzdecke, die mit üppigen Schnitzereien aus den mintranischen Legenden verziert war, und lichten Glasfenstern, nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet. In der Mitte des achteckigen Gebildes erhob sich der Baum des Lebens, an dem die Göttin Lishar einst das Bündnis mit Chandini schloss. Im Gegensatz dazu herrschte im Haus der Heilung Funktionalität und Schlichtheit vor.

Leonora ließ sich ins Bett zurücksinken. Sie fühlte sich noch zu schwach, um sich zum Aufstehen aufzuraffen, und fragte sich, ob sie überhaupt je wieder den Willen dazu aufbringen würde. Sie rollte sich im Bett zusammen und zog die Knie an.

»So in etwa habe ich es mir vorgestellt«, riss Eiméars samtig dunkle Stimme sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Der Geruch von Kiefernnadeln und Harz, der ihre Schwester immer zu umhüllen schien, erfüllte den Raum. »Leo, du kannst nicht die ganze Menschheit retten. Am Ende bist auch du nichts anderes als eine Frau mit besonderen Fähigkeiten, mehr nicht.« Das Bett sackte ein, als ihre Schwester sich darauf niederließ.

»Wie lange war ich bewusstlos?«

»Einen ganzen Tag. Elija hat sich furchtbare Sorgen um dich gemacht. Ungewöhnlich für sie, allerdings hielt es sie nicht davon ab, gleichzeitig darüber zu lamentieren, was für einen Fehler du gemacht hast, weil du niemanden gebeten hast, deinen Platz an Samins Sterbebett zu übernehmen. Ich denke, es half ihr, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen, weil sie dir immer die unliebsame Aufgabe der Sterbebegleitung überträgt. Petur meinte, sie hätte es nicht zulassen dürfen, dass ausgerechnet du Samin zum Tod hin begleitest, weil du ihm zu nahe gestanden hättest. Aber wer von uns stand ihm nicht nah?«

Leonora drehte sich um, legte ihre Wange auf ihre gefalteten Hände und betrachtete ihre Schwester. Eiméars ganzes Äußeres wirkte dunkel und düster mit ihren pechschwarzen Haaren, die in einem warmen Blauton schimmerten, wenn die Sonnenstrahlen darauf trafen. Der Farbton ihrer Haut glich der Farbe von Baumstämmen, und genau so war ihre Schwester: von außen rau und borkig, während innen eine verletzbare Seele ruhte und ein weiches Herz schlug.

»Er hat dich bewundert.«

»Egal was ich die letzten zwei Tage gemacht habe, er war überall mit dabei. Es gibt keinen einzigen Ort, der nicht voller Erinnerungen ist. Wie kann ein so junger Mensch mein Leben derartig beeinflussen? Ich liebe ihn so, dass ich das Gefühl habe, mein Herz müsste zerbrechen und würde nie wieder heilen.« In den haselnussbraunen Augen ihrer Schwester glitzerte es verdächtig.

Leonora streckte die Hand aus, ergriff Eiméars. Stumm hielten sie sich fest. Sie brauchten keine Worte, hatten sie noch nie gebraucht.

»Was ist passiert, Leo? Was hat dich aus der Bahn geworfen? Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Hat es dich wirklich so mitgenommen? Du bist es doch, die immer sagt, dass der Tod zum Leben gehört und nur neues Leben uns hilft, uns weiterzuentwickeln, voranzuschreiten, andere Erfahrungen zu sammeln, Dinge mit anderen Augen zu betrachten.«

»Ich habe ihn getötet, Mea.«

»Blödsinn – du würdest keiner Fliege etwas zuleide tun oder gar riskieren, zu einem Teil der Dunkelheit zu werden. Seit ich denken kann, treibst du mich zum Äußersten meiner Leistungsfähigkeit, fängst ab, was ich nicht beherrschen kann, um mich vor dem gewissen Schicksal zu bewahren. Niemals würdest du deine eigene Seele riskieren.«

»Ich konnte es nicht mehr ertragen. Die Schmerzen. Wie er litt. Ich war zu schwach, und es war so leicht. Ich brauchte nur den Fluss des Blutes zum Stillstand bringen.«

»Das meinst du nicht ernst.«

»Sehe ich aus, als würde ich spaßen?«

»Bei Lethos und Lishar!« Ihre Schwester nannte wie nur wenige Mintraner immer erst den Gott vor der Göttin. »Es ist dir ernst.«

»Todernst.«

»Weiß Elija es?«

Leonora zögerte, dachte daran, was die oberste Heilerin gesagt hatte. »Ich glaube nicht.«

»War Kaja zu dem Zeitpunkt mit dir verbunden?«

»Nein.«

»Wenn du es sagst, werden sie dich dem Prozess der Loslösung unterwerfen und dich aus Mintra verbannen.«

»Ich weiß, aber das ist es nicht, was mir die meiste Angst macht.«

Ihre Schwester wusste sofort, worauf sie anspielte. »Du bist vollkommen unverändert. Deine Aura schimmert und leuchtet so rein wie das Mondlicht. Es gibt keine Schatten darin. Keine Dunkelheit.«

Erst die Worte ihrer Zwillingsschwester machten Leonora bewusst, wie stark ihre Befürchtung gewesen war, dass sich die Unreinheit ihres Handelns bereits in ihrer Aura spiegelte.

»Aber wie lange wird es so bleiben?«

»Du solltest mit Kaja reden, bevor du irgendeine Entscheidung triffst.«

»Ich soll Samins Großmutter sagen, dass ich ihren Enkel getötet habe?«

Eiméar verzog das Gesicht, als hätte sie in eine faule Frucht gebissen. »Du hast recht, das ist keine gute Idee. Aber übereilt und unbedacht zu handeln, das ist mein Charakterzug, nicht deiner. Du bist die Vernünftige, du wirst eine Lösung finden. Komm erst mal zu Kräften. Morgen ist die Beisetzung. Meinst du, dass du es schaffst, dabei zu sein?«

»Bleibst du an meiner Seite?«

Ein Lächeln, selten bei ihr, erschien auf Eiméars Gesicht. Warm und fest hielten die kräftigen, dunklen Finger ihre hellen, feinen umschlungen.

»Wann wäre ich je von deiner Seite gewichen?«

3

Beisetzung

Aufgebahrt auf einem hohen Holzgestell lag Samins Leichnam im traditionellen weißen Totengewand der Mintraner. Weiß für die Reinheit der Seele, für das Licht des Mondes und für den Wunsch, der Tote möge in das Reich des Lethos eintreten dürfen. Den Kräuterkranz, der sein Haupt krönte, hatte Jolanda geflochten, nicht Ruth. In seinen Händen hielt er Zweige und eine Winterrose, das Einzige, was um diese Jahreszeit blühte. Das wirkte traurig, trostlos und ernst, ganz anders, als man Samin kannte. Er hätte einen bunten, duftenden Sommerblumenstrauß verdient. Leonora schwor sich, dass sie ihm einen pflücken und auf sein Grab legen würde.

Das Holzgestell war so klein und das darunter geschichtete Holz so wenig. Kinder sollten nicht auf einem dieser Gestelle liegen. Eiméar neben ihr bebte. Leonora streckte die Hand aus, und ihre Schwester ergriff sie. Auf der anderen Seite drückte Ashra, der Wolf, seinen Kopf gegen die Hüfte ihrer Schwester. Eiméar hatte ihn, als sie noch ein Kind war, zwischen seiner toten Mutter und seinen toten Geschwistern aufgelesen, halb verhungert. Sie legte die andere Hand auf den Kopf des Tieres. Der Wolf war loyal. Es war nicht das erste Mal, dass Leonora ihre Zwillingsschwester um diese treue Seele beneidete. Der Wolf wich ihr nie für lange von der Seite, und mit der Zeit hatte er sein ganzes Wolfsrudel um ihre gemeinsame Höhle geschart.

Leonora blickte zu Samins Eltern hinüber. Ruth wirkte wie eine steinerne Skulptur. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Jeder Versuch von Jolanda, ihrer Tochter, Kontakt zu ihr aufzunehmen, sie zu trösten, für sie da zu sein, prallte ab an der leeren Hülle, die von Ruth übrig zu sein schien. Dabei hatte das Mädchen eine Ausdauer und innere Kraft bewiesen, die Leonora tiefe Bewunderung abrangen. Beständig redete sie mit ihrer Mutter, bürstete ihr das Haar, half ihr beim Anziehen und wusch sie. Stundenlang saß sie bei ihr, schob ihr das Essen hin und bewies dabei eine Beharrlichkeit, die Ruth zum Essen zwang. Alvar hatte es längst aufgegeben, seine Frau in ihrer Trauer zu erreichen. Leonora wusste: Er hoffte, dass sie irgendwann zu ihm zurückkehren würde. Aber sie erkannte es, wenn eine Seele zerbrochen war. Verlor ein Mensch jeglichen Lebenswillen, so schafften es die Gedanken, Oberhand über den Körper zu gewinnen. Signale, die der Körper für seine Bedürfnisse sendete, wurden blockiert, bis er irgendwann aufgab und sich dem Willen zu sterben fügte.

Sie hatte auch das in ihrer Zeit als Heilerin schon einmal erlebt. Es war schockierend gewesen, wie rasch der Verfall eines gesunden Menschen hin zu einem Toten vonstattenging. Ruth würde sterben, wenn ihre Tochter es nicht schaffte, sie aus ihrer Trauer aufzuwecken. Und weil Jolanda es nicht wagte, Ruth auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen, ging Leonora jeden Tag zu ihr und brachte ihr Kräuter, die ihrer Mutter helfen sollten, die Trauer zu verarbeiten.

Seit sie aus ihrer Bewusstlosigkeit nach Samins Tod aufgewacht war, verbrachte Leonora jeden Morgen zwei Stunden in Meditation. Und statt zu heilen, hatte sie sich in die Küche des Hauses der Heilung zurückgezogen und die Aufgabe übernommen, Tinkturen, Salben, Sude und Öle zuzubereiten. Elija hatte es akzeptiert, dass sie sich vor den Kranken zurückzog, doch ihre Geduld begann bereits zu schwinden. Der Winter war streng und brachte viele Krankheiten mit sich. Die Ernte vom Herbst, die aus dem immer kleiner werdenden Gebiet stammte, das Lord Blourred den Mintranern zur Verfügung stellte, würde längst nicht reichen, um mit den Vorräten den Winter zu überbrücken. Genauso war es bei den mintranischen Jägern, die seit Langem nicht mehr so reiche Beute zurückbrachten wie früher. Die Jäger überschritten daher oft die Grenze nach Forran. Schließlich interessierten sich Wildtiere nicht für Grenzen, und niemand hatte das Recht, etwas, was Gott allen zur Verfügung stellte, für sich allein zu beanspruchen.

Lord Blourred, ein Forraner vom Geschlecht der Tokaten, der Mintra als Teil seines Herrschaftsgebietes ansah, war anderer Auffassung. Vor Kurzem erst war ein mintranischer Jäger von den Soldaten des Lords aufgegriffen worden, als er in das Dankesgebet für ein getötetes Wildschwein vertieft war. Er war vor das Gericht des Lords gebracht, wegen Wilddieberei angezeigt und zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Das Urteil war vollzogen worden, bevor überhaupt jemand aus dem Ältestenrat von Mintra zu seiner Verteidigung hätte vorsprechen können.

Als Nächstes war ein junges Mädchen verschwunden, die Enkeltochter von Petur, dem zur Zeit einzigen Mann im Ältestenrat von Mintra. Sie war Kräuter sammeln gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.

Immer wieder hatte es den einen oder anderen Mintraner fortgezogen, um in den anderen Ländern von Alurin oder sogar jenseits der Meere sein Glück zu suchen. Es war vorgekommen, dass jemand bei Nacht und Nebel das Land verließ, ob Mann oder Frau, doch Sigrid, Peturs Enkelin, war eine echte Tochter der Elemente gewesen, still, zurückhaltend, bodenständig und in ihrer Familie fest verwurzelt. Es wäre überhaupt nicht mit ihrem Charakter vereinbar gewesen, dass sie ihre Familie einfach so im Stich lassen sollte. Auf Peturs Bitte hin hatte sich Eiméar als die beste Spurenleserin zusammen mit Ashra und seinem Wolfsrudel aufgemacht, um die Spur des Mädchens zu verfolgen. Sie führte durch die dichten Wälder des Asambra und über die Grenze. Auf einer Waldlichtung unweit der Burg Hodlukay endete die Spur. Dort fanden sich ein Stofffetzen von Sigrids Kleid und Abdrücke vieler Männerstiefel. Der Boden war aufgewühlt von beschlagenen Hufen.

Petur hatte um eine Audienz bei Lord Blourred gebeten, um das Verschwinden seiner Enkeltochter im Zusammenhang mit den Beweisen darzulegen, dass man sie gegen ihren Willen mitgenommen hatte. Weil es auf seinem Gebiet geschehen war, oblag es der Verantwortung des Lords, Nachforschungen in die Wege zu leiten, um den Fall aufzuklären und Sigrid zu finden – oder, wenn sie tot war, die Schuldigen vor Gericht zu bringen.

Der Lehnsherr hatte zwar sein Bedauern ausgesprochen, jedoch keinen Grund gesehen, Nachforschungen anzustellen. Der Status einer Frau lag in Forran nur geringfügig über dem eines Stücks Vieh, und man hatte nun einmal darauf aufzupassen, es gut zu verschließen und zu behüten. Kam also jemandem ein Mädchen abhanden, so war das höchstens ein materieller Verlust für denjenigen, also die betreffenden Eltern und Familienangehörigen. Aber so war das nun einmal. Wenn die Schuld an dem Verschwinden des Mädchens überhaupt jemanden traf, dann nur den Vater selbst.

Gerechtigkeit wäre Sigrid aber nicht einmal dann widerfahren, wenn der Lord anders entschieden hätte. Selbst wenn man einen Schuldigen gefunden hätte und ihm einen Mord oder was auch immer hätte nachweisen können, so wäre er lediglich zur Zahlung des Wertes in Gold oder zum Ausgleich des Verlustes in Form von Vieh verurteilt worden.

Leonora hatte den weisen, ruhigen und bedächtigen Petur noch nie zuvor zornig und bitter erlebt. Sogar sein Versuch, mit Lady Tibana, Lord Blourreds Frau, einer Mintranerin und Schwester von Kaja, zu sprechen, scheiterte. Seit Jahren war das Verhältnis des Ältestenrates zu Tibana distanziert und unterkühlt gewesen, seit der Rat Tibana vor Jahren verweigert hatte, ihre Tochter Smira von ihrer Schwester Kaja an den Hof des Hohen Lords Gregorius begleiten zu lassen.

Allein der Gedanke, dass Kaja ihren Mann und alle ihre Kinder verlassen sollte, war in Leonoras Augen anmaßend und egoistisch von Tibana gewesen. Als sich dann Levarda entschieden hatte, der Bitte nachzugeben und Smira an den Hof zu begleiten, war Leonora schockiert gewesen. Aus einem ihr unerfindlichen Grund war Levarda für ihr Volk etwas Besonderes gewesen – wie Samin. Dabei waren ihre Talente als Tochter des Elementes Wasser nicht herausragend gewesen.

Leonora vermisste Levarda unendlich, aber der Ältestenrat hatte ein klares Votum gegen ihre Einmischung in forranische Angelegenheiten ausgesprochen, zumal es darum ging, einen Mann an der Macht zu halten, der seine Gemahlinnen hinrichten ließ, wenn sie ihm keine Kinder schenkten. Sobald Levarda gegen die Anweisung des Ältestenrates handelte, würde sie das Recht verlieren, jemals wieder die Grenze nach Mintra zu überschreiten, und dennoch hatte sie es getan.

Es war eine seltsame Sache mit dieser Grenze, die der Ältestenrat vor langer Zeit heraufbeschwor, um wenigstens das letzte Stück Land von Alurin für die Mintraner zu bewahren. Manchmal erschien es Leonora, als würde sich diese Grenze ihrer Kontrolle entziehen. Nur Kinder der Elemente waren überhaupt noch in der Lage, sie zu überschreiten. Alle anderen, die versuchten, sie zu überqueren, kehrten irgendwann an den Ausgangspunkt ihrer Wanderung zurück. Wenn die Jäger unter hohem Risiko heimlich auf dem Gebiet von Lord Blourred jagen gingen, wurden sie deshalb immer von einem Kind der Elemente über die Grenze begleitet. Was blieb ihnen schon übrig, wenn ihr Volk im Winter nicht verhungern sollte? Wenn Eiméar mit den anderen Jägern unterwegs war, stand Leonora jedes Mal Todesängste um sie aus.

Die zwölf Mitglieder des Ältestenrates von Mintra traten zu Alvar. Sie alle waren in verschiedenfarbige Gewänder mit Kapuzen gekleidet, ein jeder so, wie es seinem Wesen entsprach.

Es gab keine Gleichförmigkeit hier. Sie alle dienten dem Volk auf ihre Weise, weshalb sich auch in ihren Gewändern ihre Vielfalt widerspiegelte. Derzeit war Petur das Oberhaupt des Rates. Die Position wurde durch Wahl unter den Mitgliedern entschieden, wohingegen das Volk die Personen auswählte, die in den Ältestenrat hineinkamen. Ausschlaggebend für eine Wahl war die persönliche Leistung, die jemand für die Gemeinschaft erbrachte. Weder Beziehungen noch Herkunft spielten irgendeine Rolle. Alle fünf Jahre wurde neu entschieden, wer Teil des Ältestenrates sein würde. Innerhalb der Amtszeit wurde nur in Ausnahmefällen jemand neu hineingewählt, zum Beispiel, wenn ein Mitglied krank wurde oder sich aus anderen Gründen außerstande sah, seiner Verpflichtung nachzukommen.

Bei der letzten Wahl waren Kaja und Amira an Leonora herangetreten und hatten ihr angeboten, sie auf die Liste der möglichen Kandidaten des Ältestenrates setzen zu lassen. Einen Moment war sie vor Ehrfurcht darüber, dass die beiden ihr so eine Position im Volk zutrauten, schier erstarrt. Eine Woche lang hatte sie überlegt und es dann doch abgelehnt. Es hätte sie ohne Frage gereizt, über die Zukunft ihres Volkes mitzuentscheiden. Dann aber hatte ihr der Gedanke der Verantwortung Angst gemacht. Schon als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatten ihre Freundinnen über ihre Ernsthaftigkeit die Augen verdreht. Vor allem mit Vivien, die mit ihrem Temperament ständig jede Grenze zu überschreiten schien, war sie häufig aneinandergeraten. Mehr als einmal hatte sie die Freundin bei den Erwachsenen verpetzt. Dabei hatte sie Vivien um ihre Unbändigkeit, ihren Freiheitsdrang und die Leichtigkeit, mit der sie lebte, beneidet. Bewusst war es ihr erst geworden, als es zu spät war. Oft sehnte sie sich nach Vivien, nach ihrem Lachen und ihrer Lebensfreude. Ohne sie war das Leben in Mintra um so viel ernster geworden. Eiméar litt sogar noch mehr unter dem Verlust ihrer Freundin. Das war ein anderer Grund für sie gewesen, eifersüchtig auf Vivien zu sein. Sie hatte immer Angst gehabt, dass Eiméar sich von Vivien beeinflussen und zu Dingen anstiften ließe, die die Macht aufwecken würden, die in ihr schlummerte. Niemand ahnte, dass ihre Schwester das Element Feuer in einer Art und Weise beeinflussen konnte, mit der sie ihrer Meinung nach selbst die Fähigkeiten ihrer Tante Larisan übertraf. Und Larisans Schicksal war eine Mahnung für sie beide, dies geheimzuhalten.

Eine Tochter des Elementes Feuer entfachte die Fackeln in Alvars, Ruths und Jolandas Händen. Sie würden später das Feuer unter dem Holzgestell entzünden. Danach würden die Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins das Feuer ihrer Fackeln hinzufügen. Nach der Familie kämen dann die engsten Freunde von Samin an die Reihe. Zu ihnen zählten auch Leonora und Eiméar. Gemeinsam würden sie an das Holzgestell treten. Leonora würde all ihre Kraft brauchen, nicht nur für sich, sondern auch für ihre Schwester, damit diese nicht die Kontrolle über ihre Gefühle verlor, eine gefährliche Situation in Anbetracht der Nähe zu ihrem Element Feuer.

Der Rat bildete einen Kreis um das Holzgestell, und gemeinsam eröffneten die Ältesten das Gebet an Lishar, indem ihre Arme, die zunächst an ihren Seiten herabgehangen hatten, in absolutem Gleichklang einen Kreis beschrieben. Dann legten sie alle die Handflächen oberhalb ihres Kopfes aneinander, die Augen gegen den Himmel gerichtet. Langsam führten sie die Fingerspitzen zu ihrer Stirn, zum Mund, öffneten die Handflächen und legten sie jeder auf das Herz. Die Wolken brachen auf, ein Sonnenstrahl fiel auf das Holzgestell, erhellte den Leichnam. Eine unglaubliche Energie lag in der Luft, die nicht nur für die Kinder der Elemente spürbar war.

Sogar Ruth bewegte den Kopf, und der Ausdruck in ihren Augen, der gezeigt hatte, wie ganz nach innen gerichtet sie war, veränderte sich. Ihre Wahrnehmung kehrte zu ihrem toten Kind zurück, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sanft, aber doch laut genug, dass es für alle weithin hörbar war, begann Petur, die Worte zu sprechen: »Lishar und Lethos, wir bitten euch, erhört unsere Gebete. Begleitet diesen Menschen in das Reich des Vaters. Seid seine Fürsprecher vor seinem Gericht. Vergebt ihm seine Sünden, sodass seine Seele rein gewaschen vor Gott den Vater, den Allmächtigen, treten kann, der alles auf dieser Erde erschuf und ihm Leben einhauchte. Schenkt all denen, die um ihren Verstorbenen trauern, euren Trost. Steht ihnen bei in dieser Zeit der besonderen Not. Entzündet ein Licht, leitet sie am Tage und in der Nacht. Bewahrt sie davor, in der Dunkelheit zu versinken. Gebt ihnen Mut, dass sie ihre Aufgabe auf Erden, die der Vater ihnen zugedacht hat, finden und erfüllen, trotz ihres Verlustes. Schenkt ihnen die Hoffnung auf ein Wiedersehen, dort, wo wir uns alle eines Tages finden, in seinem Reich. Wir bitten euch, Lishar und Lethos, als eure Kinder: Schenkt uns eure Liebe.«

Es schien, als würde die Welt stillstehen, bis ein markerschütternder Schrei die Stille zerriss. Ruths Fackel landete in dem Holzhaufen, der knisternd von den hungrigen Flammen entzündet wurde. Auch Alvar und Jolanda warfen ihre Fackeln in den Holzhaufen. Ruth fiel auf die Knie, schrie, wehklagte und wurde von Schluchzern geschüttelt. Jolanda legte die Arme um ihre Mutter, versuchte sie zu beruhigen, ihr aufzuhelfen. Alvar stand nur neben seiner Frau, blickte hilflos auf sie hinab, bis ihm seine eigene Mutter Kaja einen Stoß versetzte. Aber es war Rai, der seine Schwiegertochter aufhob und sie auf seinen Armen von dem brennenden Holzgestell forttrug.

4

Vision

Leonora lag in der Dunkelheit und lauschte den gleichmäßigen Atemzügen von Eiméar und Ashra. Der Wolf war ihrer Schwester seit der Beisetzung nicht einen Zentimeter von der Seite gewichen, noch nicht einmal, um seinen Anteil von dem zu fressen, was das Rudel gejagt hatte. Sein Verhalten machte die anderen Wölfe unruhig, und so liefen sie, statt zu schlafen, vor der Höhle herum. Ashra hatte Eiméar seinen Kopf auf den Bauch gelegt, und sie hatte ihre Hand in seinem dichten Nackenhaar vergraben. Die Lider halb geschlossen, wachte der Wolf über sie.

Seine Anwesenheit, seine Treue, aber vor allem der Umstand, wie aufmerksam er den Seelenzustand ihrer Zwillingsschwester wahrnahm, beruhigte Leonora. Das Tier würde immer für sie da sein. Seit der Wolf in ihr Leben getreten war, schaffte Eimeár es viel leichter, ihre Kräfte unter Kontrolle zu behalten. Leonora seufzte auf, und das veranlasste Ashra dazu, die Augen ganz zu öffnen und ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen.

»Versprichst du mir, auf sie aufzupassen, wenn ich es nicht mehr kann?«, wisperte sie in die Stille.

Ein kaum hörbares Winseln war die Antwort und wurde direkt von dem Rudel aufgegriffen. Einer der Wölfe ließ ein lang gezogenes Heulen hören. Ein Schauer lief ihr bei diesem Laut über die Arme. Es klang so verzweifelt, klagend, ja verlassen, dass es ihr wieder Tränen in die Augen drängte, dabei hatte sie gedacht, dass sie ihr nach der vielen Heulerei von heute ausgegangen wären.

Es war zwecklos. Sie würde keinen Schlaf mehr finden. Leise stand sie von ihrem Lager auf. Als sie sich über Eiméar beugte, um sie zu wecken, damit sie die schlaflose Nacht nicht allein mit ihren zermürbenden Gedanken verbringen musste, stieß der Wolf ein dumpfes Grollen aus, das tief aus seiner Brust drang.

Sie gab nach. Er hatte recht. Es wäre unfair, ihre Schwester um den Schlaf zu bringen, nachdem sie so lange darum gerungen hatte. Sie brauchte kein Licht, fand ihre Sachen mit tastenden Händen.

Kaum war sie aus der Höhle getreten, erwischte der kalte Winterwind sie, der aufgekommen war, kurz nachdem sie Samins Asche in einem Tontopf verschlossen hatte. Sie hatte es getan, obwohl es nicht ihre Aufgabe gewesen war. Sie hatte impulsiv gehandelt, als sie Jolandas flehenden Blick bemerkt hatte. Alvar, Ruth, Kaja und Rai waren gegangen und hatten ihre Enkeltochter allein gelassen. Leonora war an Jolandas Seite getreten, um ihr ein wenig Kraft und Energie zu geben. Die anderen Familienmitglieder überließen ihr den Platz an der Seite des Mädchens, dankbar für ihre Hilfe. So kam es, dass am Ende sie es war, die gemeinsam mit Jolanda die Asche in den Tonkrug füllte und das Gebet murmelte. Ausgerechnet sie, die das Leben des Jungen beendet hatte.

Bisher hatte Leonora das Ritual mitsamt den Worten immer als tröstlich empfunden.

Der Wind trägt die Seele zur Erde und haucht ihr Leben ein. Das Wasser gibt ihr Halt und Nahrung und lässt den Körper wachsen. Wenn die Seele den Körper verlässt, kehrt dieser zur Erde zurück. In den Flammen des ewigen Feuers wird die Seele von allem Irdischen gereinigt. Zurück bleiben Staub und Asche, die Zeichen für den Kreislauf des Lebens. Dort, wo alles begann, dort endet es.

Bei der Beisetzung ihrer Eltern hatte sie zusammen mit Eiméar die Worte eines ums andere Mal wiederholt, so lange, bis auch das letzte bisschen der Asche sicher im Tonkrug verwahrt war. Ein Jahr hatten sie die Überreste der Eltern in der Höhle auf einem Tisch aufgehoben, zusammen mit allen Erinnerungsstücken an sie. Sie hatten gebetet, erzählt, gedankt und sich erinnert. Erst dann waren sie bereit gewesen, das letzte Band zu lösen und die sterblichen Überreste in den feurigen Kern des Asambra zu werfen.

Für diesen Prozess gab es keinen festgelegten Zeitraum. Jede Familie folgte ihrem eigenen Zeitrhythmus, und manch einem gelang dieser letzte Schritt nie. Sofern es die anderen Familienmitglieder so wollten, wurde der Tonkrug dann demjenigen, der nicht hatte loslassen können, auf die eigene Totenbahre mitgegeben.

Als sie mit Jolanda zusammen die Ritualworte sprach, hatte ihr ständig die Stimme versagt. Ihre Tränen hatten sich mit der Asche von Samin vermischt und sie zu einer feuchten Schmiere werden lassen.

Der Platz für die Verbrennung lag an einer Stelle am Fuße des Asambra, die aus glattem Fels bestand, auf drei Seiten durch schroffe Felswände begrenzt. Dort, wo das Holzgestell, die Totenbahre aufgebaut war, war der Felsboden glatt gearbeitet. Rundherum gab es tiefe Einkerbungen, Sonnenstrahlen gleich, die von der Bahre als ihrem Zentrum ausgingen und in einer ringförmigen Rinne endeten, die zur Felskante hin abschüssig verlief, wo sich ein Tongefäß darunterstellen ließ. Je nach Wetterlage konnte die Asche trocken oder feucht eingefüllt werden.

Leonoras Hände hatten gezittert, als sie versucht hatte, die feuchte Mischung in den Krug zu befördern, bis Jolanda ihre Hand ergriffen, sie geküsst und an ihre Wange gelegt hatte. Ein dunkles Abbild ihrer Finger aus Tränen und der Asche des Bruders hatte sich auf der Wange des Mädchens abgezeichnet. Seltsamerweise hatte es Leonora getröstet, und sie hatte Jolandas trauriges Lächeln erwidert. Was für eine Kraft in diesem Kind steckte.

Völlig in den Bildern vom Tag der Beisetzung gefangen achtete Leonora nach ihrem Aufbruch aus der geschwisterlichen Höhle nicht darauf, welchen Weg sie einschlug. Es wunderte sie allerdings nicht im Mindesten, als sie sich am gefrorenen Ufer des Sees Luna wiederfand.

Einer der Wölfe, ein mageres, zerrupftes Weibchen, war ihr gefolgt. Auch das Rudel von Ashra hatte sein Jagdgebiet erweitern müssen, um Nahrung für alle zu finden. War den Wölfen das Jagdglück hold, teilten sie die Beute mit Eiméar. Der Magen mitsamt seinem nährstoffreichen Inhalt stand dem Rudelführer zu. Darum war der Leitwolf selbst im Winter kräftig und muskulös und besaß ein glänzendes Fell. Die Verteilung der Reste geschah nach strengen Regeln. Das Weibchen war noch jung und stand anscheinend ganz am Ende der Rangfolge.

Leonora streckte ihre Sinne aus, testete das Eis und balancierte so weit zur Mitte des Sees, wie es die Festigkeit der Oberfläche zuließ. In der Mitte, wo das Wasser am tiefsten war, waren auch seine Heilkräfte am stärksten konzentriert. Auch wenn sie das Element Wasser beeinflussen konnte, sodass sie keine Angst vor dem Ertrinken zu haben brauchte, war Leonora nicht darauf erpicht, mitten im Winter ein eiskaltes Bad zu nehmen. Ihre Absicht war es nun, von dem tröstenden Wasser zu trinken und ihren Ledertrinkbeutel damit zu füllen. Sie würde es zusätzlich mit starken Kräutern anreichern, die einer verletzten Seele halfen, Trost zu finden. Sie wollte es am nächsten Morgen Samins Familie bringen, in der Hoffnung, dass es Ruth helfen würde.

Die Hände zu einer Schale zusammengelegt nahm sie mit geschlossenen Augen Verbindung zu ihrem Element auf. Sanft löste sie die wunderschönen und vielfältigen kristallinen Strukturen des Wassers im gefrorenen Zustand auf. Fast tat es ihr leid, die kleinen Kunstwerke durch den Prozess der Veränderung zu zerstören. Doch es war notwendig, denn nur im flüssigen Zustand entfaltete das Wasser seine tröstenden Heilkräfte. Am Rande ihrer Wahrnehmung bemerkte sie ein silbriges Licht.

Ein lang gezogenes Heulen der Wölfin ließ sie die Augen öffnen. Die Welt, wie sie sie kannte, war verschwunden. Die Geräusche verstummten. Sie stand in einer silbern schimmernden Wasserblase. Hitze entstand, versetzte das Wasser in seinen dritten Zustand – Dampf. Dieser verdichtete sich zu einer Frauengestalt im Gewand der Heilerinnen, die Kapuze über den Kopf gezogen. Dichtes, wallendes schwarzes Haar quoll darunter hervor. Gesichtszüge begannen sich abzuzeichnen, eine feine, gerade Nase, Lippen in Herzform, Wangenknochen, die ein wenig hervortraten, doch zum spitz zulaufenden Kinn passten. Das ovale Gesicht hatte einen Ausdruck, der sowohl weich als auch streng wirken konnte. Bisher nie empfundene Energie strömte durch Leonoras Lebensbahnen, erreichten ihre innerste Quelle und explodierten. In einer Qual, die ihr die Besinnung zu rauben drohte, löste sich ihr Körper in winzige Partikel auf. So also sah das Ende aus. Das war ihre Strafe dafür, dass sie ein unschuldiges Leben beendet hatte.

»Es ist an der Zeit, Tochter des Wassers, dass du aufhörst, in Selbstmitleid zu zerfließen, also reiße dich zusammen und stelle dich deinem Schmerz!«, donnerte eine zornige Frauenstimme sie an.

»Wie kann ich das? Ich habe getötet.«

»Und es wird nicht der letzte Tod sein, dem du begegnest oder der durch deine Hand geschieht.«

Die Worte lösten ein solches Entsetzen in ihr aus, dass sie die Qual darüber vergaß. Überrascht betrachtete sie ihren Körper, der sich aus den einzelnen Partikeln wieder zusammenzufügen begann.

»Du hast dich hinter deiner Angst verkrochen, hinter dem Rücken deiner Schwester. Willst du für immer dort verharren oder bist du bereit, endlich den Mut aufzubringen, deinen vorherbestimmten Weg zu gehen?«

Empört sah Leonora die Frauengestalt aus Wasserdampf an, die sich groß und mächtig vor ihr erhob.

»Wer sagt, dass ich feige bin? Beweise ich nicht jeden Tag Mut, wenn ich den Menschen von Mintra helfe, ihre Krankheiten zu heilen?«

»Den Menschen von Mintra. Genau. Und zwar nur den Menschen von Mintra. Wagst du es, mein Geschenk, dass ich dir so großzügig angedeihen ließ, in den Nutzen aller Menschen zu stellen? Es vollkommen auszuschöpfen? Nein. Stattdessen machst du dich klein, ordnest dich unter, lässt andere für dich Entscheidungen treffen. Und wenn du einmal eine eigene triffst, weil dein Herz es mit aller Macht von dir fordert und dir keine andere Wahl mehr lässt, wenn du einmal bereit bist, die Kontrolle deines Verstandes aufzugeben zugunsten dessen, was du fühlst, dann wendest du dich am Ende voller Feigheit von dir selbst ab.«

»Du siehst, was geschieht, wenn ich mein Herz die Oberhand gewinnen lasse. Ein unschuldiger Mensch ist gestorben.«

»Der bereits dem Tode geweiht war. Ja, er starb durch deine Hand und wurde von seinen Qualen erlöst. Das ist eine Entscheidung, die du triffst, ein Preis, den du bezahlst, so wie jede deiner Entscheidungen einen Preis von dir fordert.«

»Meine Bestimmung ist es, Menschen zu retten.«

»Alle Menschen, nicht allein ein Kind, nicht einen einzelnen, sondern sie alle.«

»Das kann ich nicht.«

Die Energie floss aus Leonoras Körper, und die Gestalt vor ihr schrumpfte. Die Feuchtigkeit der Luft perlte auf ihrer Haut, durchtränkte ihre Kleidung.

»Wenn du den Mut nicht in dir findest, dann ist die Welt verloren«, wisperte die Stimme. »Ohne dich kann nicht beendet werden, was begonnen hat. Deine Seele wird verdammt sein wie die der ganzen Menschheit. Sklaven werden sie alle sein bis ans Ende der Zeit. Das Opfer der Liebe, das ich brachte, war vergebens, die Bitte des kleinen Mädchens umsonst, das Geschenk, das ich euch gab, vergeudet. Ihr habt den Eid, den mir Chandini leistete, gebrochen, weil euch ihr Mut fehlt, um für mich zu kämpfen und euer Opfer zu bringen.«

Das silbrige Licht verschwand. Die Wasserblase löste sich auf. Stattdessen umschloss eiskaltes Wasser Leonora, brachte ihr Herz für die Zeit von zwei Schlägen zum Stillstand. Dunkelheit kroch heran, Tentakel begannen sie zu umschließen, zogen sie zum Grund des Sees hinab. Sie gab sich ihnen widerstandslos hin, hob ihr Gesicht zur immer weiter entschwindenden Wasseroberfläche empor, wo sich der Halbmond am Firmament spiegelte. So gern hätte sie sich wenigstens von Eiméar verabschiedet. Ihre Füße berührten den Grund. Einem wirbelnden Wasserstrudel gleich begann die Dunkelheit, alles zu verschlingen. Schmerzensschreie erklangen, Klagelaute füllten ihren Kopf aus.

Dann lichtete sich die Dunkelheit, machte einem grauenvollen Bild Platz. Sie wanderte auf verbrannter Erde über Berge von Skeletten in grotesk verzerrten, gebrochenen, verbogenen, zersplitterten Knochenstrukturen, die von einem gewaltsamen Tod zeugten. Die Schreie Tausender zu Tode gequälter und gefolterter Seelen erklang. Egal wie sehr Leonora versuchte, im Wasser die Hände auf ihre Ohren zu pressen, es misslang ihr, die Laute auszusperren. Sie schloss die Augen, drückte die Augenlider aufeinander, wollte wenigstens die Bilder der Knochenberge ausschließen. Mühselig beschwor sie das Gesicht ihrer Schwester herauf, ließ die Liebe zu ihr durch ihre Adern strömen. Alles um sie her wurde still. Unheimlich still.

Vorsichtig blinzelte sie. Ein kleines Mädchen mit nachtschwarzem, lockigem Haar saß im Schneidersitz auf der Spitze des Knochenberges. Es hatte seinen Arm tröstend um einen blondhaarigen Jungen gelegt, der die Hände vor sein Gesicht geschlagen hatte. Keine Angst, ich verlasse dich nicht, durch uns fließt dasselbe Blut. Die dunkelblauen Augen des Mädchens blickten auf Leonora herab. Ihre Unterlippe zitterte. Leonora kannte das Gesicht, es ähnelte dem ihrer Freundin Levarda aus Kindertagen, und das war für sie zugleich verblüffend, tröstlich und auf erschreckende Weise anklagend.

Bitte Leonora, finde den Mut, zu leben. Wir brauchen dich.

5

Eiméar

Eiméar drehte sich im Halbschlaf auf die Seite. Ashra leckte ihre Hand. Genervt verbarg sie sie unter ihrem Körper, in der Hoffnung, dass er sie endlich in Ruhe weiterschlafen ließ. Stattdessen begann der Wolf, sie mit seiner feuchten, kalten Nase ins Gesicht zu stupsen. Sie knurrte und hob schützend die Bettdecke über ihren Kopf. Als Nächstes zog er ihr die Decke weg. Nein, diesmal würde sie nicht nachgeben und aufstehen, egal was Ashra von ihr wollte. Sie war von den letzten Tagen vollkommen erschöpft. Einerseits war sie mit Energie angefüllt, die sie unterdrücken und kontrollieren musste, andererseits war sie völlig ausgelaugt. Ihr fehlte die Kraft, gegen ihre Trauer, den Verlust, die negativen Gefühle, die in ihr tobten, anzukämpfen. Die paar Stunden traumlosen Schlafes hatten ihr so gutgetan, nachdem sie sich eine Ewigkeit im Bett gewälzt hatte, um überhaupt einzuschlafen. Was war bloß in Ashra gefahren, dass er sie so bedrängte, obwohl er genau spüren musste, dass sie den Schlaf dringend brauchte? Seine Schnauze schloss sich um ihren Arm. Mit den Vorderpfoten stemmte er sich gegen das hölzerne Bettgestell und zerrte an ihr.

Sie riss die Augen auf, starrte in die bernsteinfarbenen Wolfsaugen, die in der Dunkelheit leuchteten. »Bist du von Sinnen? Hör sofort auf damit!«

Sie versuchte, ihren Arm aus seinem Fang zu befreien, indem sie gegenhielt, aber statt sie freizugeben, packte er sie nur fester, und die Zähne bohrten sich schmerzhaft in ihren Arm. Das hatte er noch nie gemacht. Entschlossen ruckte er an ihr, in seiner Technik von Nachgeben und vollem Körpereinsatz, womit er sie kurzerhand vom Bett auf den Boden beförderte. Erschrocken schrie sie auf, versetzte ihm mit der freien Hand einen Schlag auf die empfindliche Schnauze, woraufhin er aufheulte und sie losließ, aber nur, um gleich mit einem tiefen, bedrohlichen Knurren erneut nach ihr zu schnappen. Diesmal war sie hellwach und schneller als er. Knapp verfehlte er ihren Arm.

»Ist ja gut, ist ja gut. Ich habe verstanden, dass ich aufstehen soll. Gib mir einen Moment, du weckst mit deinen Lärm Leo…« Sie stockte, sah auf das leere Bett ihrer Schwester.

Ashra lief dorthin, legte seinen Kopf auf die Decken und winselte leise. Eine eiskalte Faust presste Eiméar das Herz zusammen.

»Verstanden. Sie ist in Gefahr? Wo in Lethos’ Namen ist sie?«

Ashra lief zum Eingang der Höhle und leckte Gigi über die Schnauze. Die magere, zerrupfte Wölfin, die Eiméar halb tot mit einem Pfeil in der Flanke in den Wäldern von Lord Blourred aufgegabelt hatte, stand in der Rangfolge des Rudels auf dem niedrigsten Platz, weshalb sie nur wenig zum Fressen abbekam.

Das Herz der Wölfin gehörte Leonora, die seinerzeit den Pfeil entfernt und sie gesund gepflegt hatte. Wie ein Schatten folgte ihr Gigi, wenn Ashra es nicht unterband. Immer wieder suchte sie Leonoras Nähe, und diese nahm das wie selbstverständlich hin, gab aber nichts darum. Oft schien sie es nicht einmal zu bemerken. Es war eine unerwiderte Liebe, weshalb Eiméar die Wölfin oft leidtat. Gigis Augen waren noch so hellblau wie die eines Wolfswelpen. Kaum sah die Wölfin, dass der Mensch begriffen hatte, machte sie kehrt und rannte in die Nacht.

»Hey, warte! Verflucht, ich habe keinen Wolfspelz und nur zwei Beine, und im Gegensatz zu euch sehe ich in der Dunkelheit nicht so gut.«

Rasch schlüpfte sie in eine Hose, warf sich Hemd und Jacke über, schnappte rein instinktiv Pfeile und Bogen. Ashra kam zurück, biss in den Stoff ihres Jackenärmels und fing erneut an, ungeduldig an ihr zu zerren. Wenn es der Wolf so eilig hatte … Sie unterdrückte die aufkeimende Angst, nutzte die Energie in ihrem Körper und rannte los. Zu ihrem Glück wich die Nacht bereits langsam dem Morgen, aber sie hatte keinen Blick für den glutroten Sonnenaufgang, der einen klaren Tag ankündigte.

Keuchend kam sie an Leonoras Lieblingsstelle am Ufer des Sees an. Die Spuren ihrer Schwester führten über die Eisfläche, aber sie selbst war nirgends zu sehen.

Gigi schlich winselnd über das Eis. Ashra blieb stehen. Vorsichtig testete Eiméar die Stabilität des Eises, während sie der Wölfin folgte. Im Gegensatz zu Leonora mochte sie Wasser nicht sonderlich. Je näher sie zur Seemitte kamen, desto dünner war das Eis. Schließlich legte sich die Wölfin winselnd auf den Bauch. Eiméar folgte dem Beispiel des Tieres. Ihr Herz klopfte. Wo war ihre Schwester? Das Wasser war ihr Element. Sie konnte im Wasser unmöglich in Gefahr geraten oder gar ertrinken. Oder?

Das Eis knirschte, und Eiméar erstarrte. Ein Riss entstand.

»Mist. Verfluchter Mist! Gigi, lauf!«

Die Wölfin ließ sich das nicht zweimal sagen, sprang auf und rannte zum Ufer zurück. Das Eis brach, und bevor Eiméar es schaffte, ihren Körper mit Flammen zu umhüllen, tauchte sie in das eiskalte Wasser ein, das ihr den Atem nahm. Sofort wurde sie in die Tiefe gezogen. Innerlich fluchend begann sie zu paddeln, zerrte sich die Kleidungsstücke vom Körper. Kaum war ihr das gelungen, schaffte sie es, mit rudernden Armen und strampelnden Beinen ihren Kopf über die Wasseroberfläche zu bekommen. Gierig sog sie die Luft ein. Irgendetwas an dem Wasser war anders als sonst. Panisch begann sie zu paddeln, als sie die schwarzen Tentakel bemerkte, die sich ihr näherten. Ihr Amulett fing an zu glühen, und golden rotorange Flammen wanderten über ihre Haut. Hastig zogen sich die schwarzen Tentakel zurück. Um sie herum bildete sich eine kreisrunde freie Fläche von drei Schritt Ausmaß. Und dann nahm sie das silberne Leuchten auf dem Grund des Sees wahr.

»Leo!«, schrie sie auf, vergaß die Bedrohlichkeit der Finsternis und ihre Wasserscheu, sah nur noch das totenbleiche Gesicht ihrer Schwester, die scheinbar schwerelos auf dem Grund lag, umhüllt von schwarzen Schlieren, die sich in einiger Entfernung von ihr zu einem dichten Schwarz zusammenballten. Nein, sie würde nicht zulassen, dass die Dunkelheit die Seele ihrer Schwester stahl. Sie gehörte nicht dorthin, egal was sie seit dem Tod von Samin dachte. Eiméar holte tief Luft. Mit kräftigen Armzügen und Beinschlägen durchmaß sie das Wasser. Ihre Lunge brannte. Der Impuls, Luft zu holen, wuchs mit jedem Schwimmzug, der sie ihrer Schwester näher brachte. Mit aller Gewalt kämpfte sie gegen ihren eigenen Körper an, der sie zwingen wollte, an die Oberfläche zurückzukehren.

Nur noch zwei Züge. Sie streckte eine Hand aus, ergriff die Hand ihrer Schwester. Verzweifelt begann sie den Aufstieg. Die Last und der Umstand, dass sie nur noch mit einem Arm schwimmen konnte, verlangsamte sie. Ihre Kräfte ließen nach, der Mangel an Sauerstoff drohte, ihr das Bewusstsein zu rauben. Ich schaffe es nicht, ging es ihr durch den Kopf. Die schwarzen Schlieren, die vor ihrer flammenden Aura zurückgewichen waren, näherten sich wieder. Lauernd schienen sie darauf zu warten, dass das letzte Quäntchen Luft aus ihrem Körper weichen und sie alle Energie verlieren würde, weiter für ihr Leben und das ihrer Schwester zu kämpfen.

Leo, flehte sie in Gedanken, du musst aufwachen und mir helfen, sonst sterben wir beide. Willst du dich nach all den Jahren, die du mich vor der Dunkelheit bewahrt hast, ihr selbst kampflos ausliefern?

Ihr Kopf schien explodieren zu wollen. Stechender Schmerz verdrängte jeden vernünftigen Gedanken. So würde es also enden. Hier, im See Luna, dem Lieblingsort ihrer Schwester, dem Ort der Tränen von Lishar, dem See des Trostes und der Hoffnung. Ein letztes Mal gab sie alle Kraft in den Armzug, unterstützte die Schwimmbewegung mit den Beinen. Die Wasseroberfläche lag sichtbar über ihr, so nah und doch zu fern.

Die Last an ihrem Arm wurde leicht. Um sie herum bildete sich eine Blase. Gierig sog sie die wenige Luft ein. Jetzt wurde sie gezogen. Gemeinsam durchbrachen ihren Köpfe die Wasseroberfläche. Sanft hob das Element ihrer Schwester sie an. Sie glitten über das Eis, als wäre es lebendig, bis sie das Ufer erreichten.

Ashra leckte mit seiner heißen Zunge über Eiméars Gesicht, ihre Arme, ihre Beine. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, in tiefen Atemzügen Luft in sich einzusaugen, als dass sie die Kraft gehabt hätte, sich gegen die Liebkosungen des Wolfes zu wehren. Ihr Kopf hämmerte, ihr Nacken schmerzte.

»Eiméar! Eiméar, mach die Augen auf. Bitte, bitte, mach die Augen auf. Bei Lishar. Was habe ich getan! Es tut mir so leid. Bitte, bitte.«

»Hör endlich auf, Leo! Mir geht es gut. Ich brauche nur noch mehr Luft«, stieß sie Wort für Wort hervor.

Leonora legte die Finger an ihren Hals. Sofort ließ das Pochen nach. Noch ein paar Atemzüge mehr, und sie öffnete die Augen, richtete sich auf – und erstarrte.

»Was ist?«, fragte Leonora. »Hast du Schmerzen, brauchst du noch Energie? Frierst du? Ach, was für eine Frage an eine Tochter des Feuers.«

Eiméar streckte die Hand aus, ergriff ehrfürchtig eine Strähne von dem schneeweißen Haar. Es fühlte sich ganz normal an, nur ein wenig seidiger und kräftiger, als Leonoras Haar sonst gewesen war.

Leonora verstummte, starrte auf die Strähne, die sich leuchtend von Eiméars dunkler Haut abhob. Dann schrie sie entsetzt auf und sprang gleichzeitig auf die Füße. Hastig kam auch Eiméar hoch, packte Leonora und zog sie in ihre Arme.

»Alles wird gut. Wir schaffen das, glaub mir. Solange wir zusammen sind, kann uns nichts etwas anhaben, weder die Dunkelheit noch das Licht.«

Wie ein Kind hatte sich Leonora von Eiméar in die Höhle zurückführen lassen. Gigi war dicht an ihrer anderen Seite geblieben. Ihren Arm um die Schultern ihrer Schwester gelegt, führte Eiméar sie über die Waldpfade zurück zu ihrer Höhle. Wie eine Schlafwandlerin ließ Leonora sich von ihr leiten.

Es machte Eiméar Angst, ihre starke, vernünftige Schwester, die immer die Haltung wahrte und die sich von nichts aus der Ruhe bringen ließ, in diesem Zustand zu erleben. Immer war es Leonora gewesen, an die Eiméar sich hatte anlehnen können. Immer war sie es gewesen, die die Entscheidungen in ihrer beider Leben traf. Immer war sie es gewesen, die wusste, was zu tun war, wenn ihre Schwester sich wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Es fühlte sich falsch an, dass jetzt sie die Führung übernahm. Dankbar folgte sie Ashra, der vor ihnen hertrottete, darauf bedacht, sie auf dem einfachsten Weg zurückzuleiten.

An der Höhle angelangt ließ sich Leonora ohne Widerstand auf einen Stuhl drücken. Gigi legte ihr ihren Kopf auf den Schoß. Erst wollte Eiméar die aufdringliche Wölfin verscheuchen, aber dann sah sie, wie ihre Schwester eine Hand auf den Wolfskopf legte und ihn kraulte.

Mit einer Handbewegung entzündete sie das Holz an der Feuerstelle. Sie füllte einen Kessel mit Wasser, das sie am Abend zuvor geholt hatte. Ungeduldig wühlte sie in ihren Schubladen nach der Holzdose mit der Kräutermischung, die die Lebensgeister entfachte. Erst als die Luft in der Höhle vom Duft der Kräuter geschwängert war, warf sie sich ihr Nachtgewand über den nackten Körper.

»Leo, du musst die nassen Sachen ausziehen.«

Ihre Schwester machte keine Anstalten, sich zu rühren. Seufzend ging sie hinüber, zog sie vom Stuhl hoch und zog sie aus. Kein Wunder, dass es so schwer gewesen war, sie hochzuziehen. Sie zog ihr das Nachtgewand über den Kopf und strich ihr mit den Handflächen über die Haut, bis diese rot glühte. Wenn die Wärme nicht von innen kam, dann musste sie halt von außen kommen.

Energisch drückte sie Leonora zurück auf den Stuhl. Sofort legte ihr Gigi wieder ihren Kopf auf den Schoß. Wie zuvor kraulte sie den Kopf der Wölfin in einer abwesenden Geste, während ihre Augen ins Leere starrten.

»Brich ihr bloß nicht das Herz mit der Aufmerksamkeit, die du ihr schenkst. Weißt du, wie lange sie dich schon liebt? Aber du hast es nie bemerkt und ihr nie Beachtung geschenkt.«

Keine Reaktion. Leonoras Augen starrten in die Flammen und schienen doch nichts zu sehen.

Gigi winselte und leckte über den Stoff des Gewandes.

»Leo, sprich mit mir, bitte.«

Nichts geschah. Eiméar trat nahe zu ihrer Schwester, nahm ihren Kopf zwischen ihre Hände und zwang sie, sie anzusehen. »Leo, du machst mir Angst. Bitte, rede mit mir. Ich flehe dich an. Was ist im See passiert? Wieso sind deine Haare schneeweiß?«

Leonoras Blick ging durch sie hindurch, war auf etwas gerichtet, das sie nicht sehen konnte, weil es nicht von dieser Welt war.

Wütend packte Eiméar sie an den Schultern und rüttelte sie. Wie eine Puppe pendelte ihr Körper hin und her. Gigi sprang auf, knurrte, zeigte ihre Fänge. Ihr zerrupftes Fell stand nach allen Seiten ab, ließ ihren mageren Körper üppiger erscheinen.

Ohne einen Laut der Vorwarnung packte Ashra die junge Wölfin im Nacken, doch statt sich wie sonst winselnd zu ducken, ihren Schwanz zwischen die Beine zu klemmen oder sich auf den Rücken zu legen, um in einer Unterlegenheitsgeste ihre Kehle darzubieten, widersetzte sich die Wölfin wild knurrend dem Leitwolf.