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Lord Otis ist der Mann aus ihren Albträumen. Er rammt Levarda das Schwert durch ihr Herz. Ihr Tod scheint unvermeidlich zu sein, nur wann sie sterben muss, dass weiß Levarda nicht. Aber bis dahin, dass schwört sie sich, wird sie die Hoffnung für die unterdrückten Frauen von Forran im Land Alurin sein. Wasser, Feuer, Luft und Erde, die Magie der Elemente wurden den Menschen von der Göttin Lishar aus Rache geschenkt. Den dort wo Licht ist, ist auch Dunkelheit und da wo ungezähmte Kraft steckt, liegt auch das Verderben.
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Deutsche Erstausgabe September 2013
Copyright © 2013 Kerstin Rachfahl, Hallenberg
Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski, www.alexanderkopainski.de
Bildmaterial: Shutterstock, Willyam Bradberry (Jag_cz), Vasa Kobelev
Kerstin Rachfahl
Heiligenhaus 21
59969 Hallenberg
E-Mail: [email protected]
Webseite: www.kerstinrachfahl.de
Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
1. Begegnung
2. Freiheit
3. Aufbruch
4. Angriff
5. Respekt
6. Feinde
7. Burg Ikatuk
8. Larisan
9. Gespräche
10. Adrijana
11. Zeremonie
12. Nächte
13. Alltag
14. Levitus
15. Der hohe Lord
16. Verbündet
17. Pläne
18. Agilus
19. Lord Otis
20. Entscheidung
21. Stille
22. Überfall
23. Prinz Tarkan
24. Lord Eduardo
25. Dunkelheit
26. Licht
Nachwort
Bücher von Kerstin Rachfahl
Über die Autorin
Für Carsten, meinem Licht in der Dunkelheit
Levarda schloss die Augen und sog tief die würzige Waldluft ein. Sie stand auf einem Felsvorsprung. Unter ihr rauschte der Fluss, der die Ebene in zwei Hälften teilte. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen auf ihr emporgehobenes Gesicht. Hitze und Energie strömten durch ihren Körper. Sie öffnete die Augen und sah die Hügel im Tal in rotes Licht getaucht. Eine tiefe, unbändige Liebe zu diesem Land überzog sie mit einem warmen Schauer.
Ihr Blick schweifte vom Waldrand über die grüne Landschaft, die Waldflächen zwischen den Feldern rund um die Burg Hodlukay, die kleinen Dörfer, die sich an die Hügel schmiegten, wo die Bäume weniger dicht standen. Dünne Rauchwolken stiegen aus den Hütten auf, die Zeit für das Abendessen brach an. Bis in weite Ferne sah Levarda das Auf und Ab der Hügel und Täler, das der Landschaft ihre wilde Lebendigkeit verlieh.
Sie fühlte einen warmen Hauch an ihrem Hals, weiche Nüstern, die ihre Schulter anstupsten. Sie drehte den Kopf, sah in die dunklen Augen ihrer Stute und streichelte die Stirn des Tieres.
»Sita, mein Mädchen, kannst du es nicht erwarten, wieder in den Wäldern von Mintra herumzutollen?«
Wie zur Bestätigung warf das Pferd den Kopf hoch und schnaubte.
»Wir sind beide nicht besonders mit Geduld gesegnet, nicht wahr, meine Schöne? Ich würde jetzt auch lieber mit dir über unbekannte Pfade galoppieren und mir auf deinem Rücken den Wind um die Nase wehen lassen, anstatt zur Burg zurückzukehren.«
Seit Levarda bei ihrer Tante und Lord Blourred auf Burg Hodlukay lebte, hatte sie viel von ihrer Freiheit aufgeben müssen. – Es würde noch mehr werden. Aber sie hatte sich so entschieden.
Sie kraulte die Stute hinter den Ohren, warf einen letzten Blick auf den Asambra, dessen kahle, schneebedeckte Spitze alle Berge überragte, und hinüber zu den Wäldern von Mintra, wo der See Luna verborgen lag. Mit einem schwungvollen Satz federte sie auf den Pferderücken. Reiten war für sie eine natürliche Fortbewegungsart wie das Laufen. Einen Sattel brauchte sie nicht. Sie drückte ihre Schenkel in Sitas Flanken und kehrte in vollem Galopp durch den lichten Baumbestand zur Burg zurück.
Sie nahm den versteckten seitlichen Eingang bei den hinteren Ställen, wo sie besser unbemerkt hineinschlüpfen konnte. Es war die Bedingung von Onkel und Tante gewesen, dass sie ihre Ausflüge vor den Burgbewohnern möglichst verbarg.
Erst vor dem letzten Stall parierte sie ihre Stute durch. Schweißnass blieb Sita schnaubend stehen und Levarda klopfte ihr den Hals.
»Tut mir leid, mein Mädchen, aber anders hätten wir es nicht zeitig geschafft.«
Sie sprang vom Pferd. Dem Stallburschen, der sie mit aufgerissenen Augen ansah, reichte sie die Zügel.
»Führ sie trocken! Dann reib sie mit Stroh ab und gib ihr von dem Futter, das ich heute Morgen gemischt habe.«
Der Bursche starrte sie noch immer an. »Ja, Mylady«, stammelte er, »Ihr werdet von Ihrer Ladyschaft erwartet. Die Abgesandten des hohen Lords sind eingetroffen.«
Levarda fuhr bei dieser Nachricht der Schreck in die Glieder, aber sie zwang sich vor dem Jungen zur Ruhe und nickte nur knapp einen Dank.
Also war es soweit.
Sie vermied jeden Gedanken an die Freiheit, die sie nun vollends hinter sich lassen würde und überquerte den Hof zu einer Tür, die abseits der offiziellen Burgzugänge lag. Sie wurde beobachtet, das spürte sie. Die Intensität der Verbindung ließ die Energie unter ihrer Haut prickeln.
Das war nicht der Stallbursche. Sie spähte hinüber zu den Ställen, in denen die Pferde der Garde untergebracht sein mussten. In der zunehmenden Dämmerung konnte sie nicht viel erkennen, denn die Wände warfen Schatten, die auch sie selbst verbargen. Sie sah die von Pferdehufen aufgewühlte Erde, bemerkte Unruhe im ersten Stall und folgte ohne nachzudenken dem schmalen Weg zu den vorderen Ställen.
»Halt, keinen Schritt weiter!«
Zwei Speere kreuzten ihren Weg. Levarda verharrte. Die beiden Männer waren vor ihr aus dem Nichts aufgetaucht, und geistesgegenwärtig senkte sie die Augen, wie sie es am Hof gelernt hatte. Sie schalt sich selbst. Als würden die Gardesoldaten ihre Tiere ohne Aufsicht lassen!
Bevor sie den Rückzug antreten konnte, baute sich der eine Mann drohend vor ihr auf. »Was sucht Ihr bei den Ställen?«
»Verzeiht, Ihr Herren, ich hörte die Unruhe bei den Pferden und wollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
»Ihr? – Eine Frau!« Unverständnis klang aus der Stimme des zweiten Wächters.
Levarda überlegte fieberhaft, wie sie ihre Anwesenheit bei den Ställen erklären sollte. Als Magd konnte sie sich hier auf keinen Fall ausgeben. In diesem Land hätte sie fern von Haus und Garten nichts zu suchen. Außerdem verriet sie ihre Kleidung, die trotz ihrer Schlichtheit doch kostbar war. Nur gut, dass der lange, ausladende Saum ihres Kleides wenigstens die Stiefel und Beinkleider verbarg. Die Wahrheit würden die Wachen nie akzeptieren, denn eine Lady pflegte sich nicht in Stallnähe aufzuhalten oder gar zu reiten, aber ihr Rang konnte sie vielleicht vor weiteren Fragen schützen. Schließlich war Hierarchie in diesem Land von höchster Bedeutung.
Sie straffte die Schultern, hob ihren Kopf so weit, dass sie gerade eben an den Männern vorbeisah. Direkter Blickkontakt ziemte sich für eine Frau nicht gegenüber Männern.
»Ich bin Lady Levarda«, sagte sie sittsam, »und mein Weg führte mich nur zufällig hier vorbei.«
Die beiden musterten sie unverändert mit drohender Haltung. Sie sah die Hand des einen Mannes auf dem Heft seines Schwertes ruhen. Während sie über den Grund dafür nachdachte, hörte sie schrilles, wütendes Wiehern aus dem Stall, ein Splittern, das Donnern von Hufen auf Stein. Dann preschte ein Pferd aus der Stalltür direkt auf sie zu.
Erschrocken fuhren die Wächter herum. Der Hengst bäumte sich vor den Lanzen auf, die Spitze der einen zeigte mitten auf seine Brust. Der Wächter würde das Tier schwer verletzen oder selbst von den Hufen getroffen werden.
Levarda reagierte instinktiv. Mit einem Sprung riss sie den Soldaten mit sich zu Boden, sah aus dem Augenwinkel den anderen zur Seite springen. Sie stützte sich mit einer Hand, drehte den Oberkörper, um aufzuspringen und das Pferd zu beruhigen, da sah sie einen weiteren Mann von hinten aus dem Schatten treten und hielt inne.
Mit erhobener Hand näherte er sich dem Hengst, und das Tier beruhigte sich augenblicklich, lehnte den Kopf an seine Schulter und ließ sich von ihm die Stirn reiben. Leise sprach er dem Pferd ins Ohr.
Levarda stemmte sich aus ihrer prekären Lage auf der Brust des Wächters hoch. Nur schnell jetzt, hier gab es nichts mehr zu erklären. Sie rannte den Weg zurück, schlüpfte durch die Tür und hetzte die Treppe hoch in den Trakt der Frauen und bis in ihr Zimmer.
Sie warf die Tür hinter sich zu und ließ sich auf den Boden fallen. Was für ein Schlamassel! Prächtig hatte sie sich aufgeführt als zukünftige Lady im Hofstaat der hohen Gemahlin! Zerzaustes Haar, verdreckte Kleider, am Stall erwischt und sich zuletzt noch auf einen Wächter geworfen – einen Soldaten! Was nutzte es da, dass sie die Augen damenhaft gesenkt hatte?
Sie stöhnte auf und kontrollierte ihre Atmung, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Es war klar, wer der Mann war, der das Pferd aufgehalten hatte. Die Schönheit seines Hengstes, Umbra, wurde in den Liedern besungen, doch was waren Lieder im Vergleich zu dieser Statur, den Muskeln, der Kraft, den schlanken Fesseln dieses stolzen Tieres? Die Farbe seines Fells erinnerte Levarda an glänzend marmorierte Kastanien. In dem wachen Blick des Pferdes hatte sie Intelligenz schimmern sehen.
Der Mann, an dessen Schulter das Pferd sich geschmiegt hatte, war sein Herr – Lord Otis!
Levarda konnte nur hoffen, dass er sich ihre Anwesenheit, ihr ungebührliches Verhalten mit Neugier erklärte oder noch besser, dass er sie nicht bemerkt hatte.
Mit einem tiefen Seufzer erhob sie sich. Sie würde so tun, als wäre das alles nicht geschehen. Warum nur hatte sie ihren Namen genannt? Aber wahrscheinlich vergaßen die Wächter ihn über dem Schreck, das kostbare Tier beinahe verletzt zu haben. Und Lord Otis? Ihre Stimme war zurückhaltend und leise gewesen, er konnte sie nicht gehört haben, außerdem hatte er in diesem Moment doch nur auf sein Pferd geachtet.
Sie war zu spät. Auf die Schnelle frisch zurechtgemacht und in ein sauberes Gewand gekleidet betrat Levarda mit klopfendem Herzen den Vorraum der Frauengemächer. Lautes Schnattern nahmen ihre Sinne zuerst wahr, dann glitzernde, bunte Farben, kunstvolle Hochsteckfrisuren, rot geschminkte Lippen, eine Mischung betörender Düfte, die ihr den Atem raubte – und ihre Cousine, in all ihrer Pracht.
Levarda blieb an der Tür stehen und verspürte den Drang, in ihre Gemächer zurückzukehren.
Lady Smiras Gesicht wurde von einem Schleier verdeckt. Kein Mann durfte mehr einen Blick auf ihr Antlitz werfen, da sie schon jetzt als Eigentum des hohen Lords galt, dessen Gemahlin sie bald werden sollte. Doch der Stoff war durchscheinend genug, um die feinen Gesichtszüge des jungen Mädchens darunter erahnen zu lassen, das volle, goldfarbene Haar kunstvoll geflochten um ihren Kopf drapiert. Ein goldener Reif mit blauem Saphir steckte darin – der hohe Lord hatte ihn als erstes Brautgeschenk seiner Werbung beigefügt.
Lady Tibana stand ihrer Tochter, der blutjungen Braut, an Schönheit nicht nach. Ihr Haar schimmerte im gleichen warmen Goldton, ihre Haut war hell, zart und ebenmäßig. Levarda dachte an ihr eigenes, durch die Sonne getöntes Gesicht. Es passte nicht in diese Gesellschaft. Sie sah den Blick von Lady Tibana zufrieden auf ihre Tochter gerichtet, die völlig in ihrem Glück erstrahlte. Es gab keine höherstehende Dame im Land als die Frau des hohen Lords.
Lady Tibanas blaue Augen hatten Levarda entdeckt und ihr Ausdruck wandelte sich.
»Wo bleibt Ihr denn? Wir warten seit einer Ewigkeit auf Euch!« Sie musterte ihre Kleidung, schnappte nach Luft. »Und wie seht Ihr aus?!«
Levarda sank in einen demütigen Knicks. »Verzeiht, Lady Tibana, ich wusste nicht, dass mit der Ankunft der Garde zu rechnen war.«
»Wäret Ihr in Euren Gemächern gewesen, wie es sich für eine Hofdame geziemt, anstatt durch die Wälder zu reiten, hätte Euch ihr Eintreffen nicht überrascht!«
Levarda blieb in dem Knicks, schwieg und wartete.
Mit einer knappen Geste gestattete ihre Tante ihr, sich aus der Verneigung wieder aufzurichten. »Seit drei Monaten bereiten wir Euch auf diesen Tag vor, und das ist alles …«, ihre Hand zeigte von oben nach unten an Levardas Gestalt entlang, »was Ihr zustande bringt? Offenes Haar, schlichtes Kleid, ungepudertes Gesicht, glanzlose Lippen! Ihr kennt die Maßstäbe, an denen Ihr in Zukunft gemessen werdet. So genügt Ihr den Ansprüchen nicht! Es kommt auf das Äußere einer Frau an, gepaart mit Abstammung, Haltung und Anmut. Wie sollen wir Euch so …«, ihre Stimme wanderte hysterisch nach oben, »… in den Kreis der Hofdamen beim hohen Lord bekommen?«
Das Schnattern ihrer Damen verstummte schlagartig. Aller Augen richteten sich auf Levarda. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen, darum hatte sie das schlichte Festkleid aus Mintra gewählt. Sie wollte nicht auffallen und kein männliches Interesse wecken, sondern besser unsichtbar bleiben.
Ihr matt glänzendes Kleid, das in seiner Gewebestruktur in verschieden Nuancen von Grün schillerte, hob sich von denen der anderen ab, denn sein Glitzern kam nicht von goldenen Fäden, Perlen und Pailletten, sondern von der natürlichen Gewebeart des Stoffes, der durch das Licht, das auf ihn fiel, und durch Levardas besondere Eigenschaften lebendig schimmerte. Der grüne Stoff symbolisierte das Wasser.
Während sich ihr Oberteil vorn mit einer dunkelgrünen Schnürung schließen ließ, wurden die Kleider der Forranerinnen hinten geschlossen, sodass immer eine Dienerin das Gewand schnüren musste. Der runde Ausschnitt an Levardas Oberteil reichte bis zum Schlüsselbein und besaß eine kunstvolle Stickerei aus hellgrünem Garn, das eine Blumenranke abbildete. Levarda selbst hatte Tage damit verbracht, diese Verzierung an ihrem Gewand anzubringen. Bis zur Taille schmiegte sich ihr Kleid auf bequeme Weise der Form ihres Oberkörpers an. Ihre Hüfte umwand ein schwarzer Gürtel, in den die Zeichen der vier Elemente – Wasser, Luft, Feuer und Erde – geprägt waren. Der Rock war weit genug geschnitten, umschmeichelte ihre Beine bei jedem Schritt. Vorn reichte er bis knapp über ihre Fußknöchel und berührte hinten den Boden.
Ihre Cousine kam Levarda zu Hilfe. »Mutter, seid nicht so streng zu ihr«, bat sie, » Ihr wisst, dass ihr Kleid von hoher Qualität ist, wenn auch ungewöhnlich, und es besitzt seinen eigenen Charme. Außerdem ist es zu spät für einen Wechsel des Gewands.« Sie stockte. »Erst recht für die Frisur, fürchte ich.«
Lady Tibana seufzte tief. »Du hast recht, mein Kind, und alle Aufmerksamkeit wird sich ohnehin dir zuwenden.«
Als die Trompeten zum Beginn der Feierlichkeiten ertönten, zuckten die Damen zusammen. Angeführt von Lady Tibana und Lady Smira formierte sich die Prozession der Frauen zur Festhalle.
Es hatte Levarda in Erstaunen versetzt, dass Lord Blourred auf die vier Tage andauernde Festlichkeit bestanden hatte. Zwar entsprach dies der Tradition im Land Forran, wenn eine Braut vom Gemahl aus ihrem Elternhaus abgeholt wurde, aber hier handelte es sich um eine reine Farce. Weder war der Bräutigam gekommen, noch ging die Braut mit ihrer Hochzeit einer strahlenden Zukunft entgegen – eher ihrem Todesurteil.
Inwieweit war es eine Ehre, Gemahlin dieses hohen Lords zu werden? Levarda grübelte seit Wochen über Fragen wie diese. Sie fand darauf keine Antwort. Wenn sie nur an das Schicksal der vorherigen Ehefrauen des Herrschers von Forran dachte, lief es ihr kalt den Rücken herunter.
Es war eine Chronik des Todes – fünf Gemahlinnen zum Tode verurteilt! Ob sich seine erste Frau wirklich selbst das Leben genommen hatte? Wenn sie auch ihrem Gemahl keinen Thronfolger schenken konnte, wieso hatte man die Verbindung nicht gelöst?
Levarda verwarf ihre Gedanken. Es gab keine verständliche Erklärung für die Sitten in diesem Land, nur die, dass Männer für sie verantwortlich waren.
Es war allein ein Affront vonseiten des hohen Lords, dass er nicht selbst kam, um seine Braut in ihr zukünftiges Heim zu geleiten, sondern stattdessen den Anführer der Garde schickte – Lord Otis. Ihr Onkel ignorierte nicht nur diese Beleidigung, sondern richtete Lord Otis noch dazu einen besonders ehrwürdigen Empfang mit der glanzvollen Abschiedsfeier für seine Tochter aus.
Levarda verstand nur eines: Die Hoffnung der Brauteltern lag auf ihren Schultern. Mit ihrem Heilwissen und ihren Fähigkeiten waren sie und ihre Mutter Kaja die Einzigen, die Lady Smira würden unterstützen können, darum hatte Tibana sich an Kaja gewandt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter war schließlich Levarda bereit gewesen, in das Geschick des hohen Paares und des Landes Forran unterstützend einzugreifen, obwohl dies gegen den Willen des Ältestenrates ihres Volkes geschah.
Damit war ihr der Weg zurück nach Mintra für immer verwehrt. Nie wieder könnte sie ihre Heimat betreten. Die Entscheidung war ihr schwergefallen, aber sie ahnte, dass dieser Weg ihr bestimmt war.
Im Moment verzweifelte sie schon an den Einschränkungen und Regeln des Hoflebens. Auch konnte sie die Beweggründe des Lords nicht verstehen. Wer gab seine Tochter freiwillig diesem skrupellosen Herrscher? Dem so geehrten Hause blieb doch offensichtlich keine andere Wahl, als die Tochter an den hohen Lord auszuhändigen. War es nicht passender, Trauer anzulegen oder das Kind wenigstens in Stille ziehen zu lassen? Es graute ihr vor den endlosen Festlichkeiten, die mit einem strengen Protokoll einhergingen.
Die Aufmachung der Hofdamen von Lady Smira lieferte einen Vorgeschmack davon, was in den nächsten Tagen auf sie zukam. Die Oberteile ihrer Kleider waren eng geschnürt und ihr Ausschnitt verlief bis zum Brustansatz. Durch die Enge der Schnürung hoben sich so die Brüste rund und voll dem Betrachter entgegen. Je nach Reichtum der Familie waren die Kleider mit Perlen, goldenen und silbernen Stickereien und Edelsteinen verziert. Die Röcke bestanden aus verschiedenen Lagen. Die letzte Stoffbahn wurde nach vorne offen geschnitten wie ein Vorhang, reichte hinten zwei Schritte weit auf den Boden und besaß die gleiche Machart wie das Oberteil. Der letzte Unterrock, einfarbig gehalten, reichte vorn wie bei Levardas Kleid bis knapp zu den Knöcheln. Beim Tanzen musste die Dame ein Band im Oberrock fassen, das die lange Schleppe ihres Kleides ein wenig anhob, damit sie nicht darauftrat.
Inmitten der Frauen mit kunstvoll aufgesteckten Haaren, die mit Perlen und Blumen geschmückt waren, wünschte sie sich, sie hätte wenigstens ihre Haare zusammengebunden und am Kopf befestigt. Stattdessen trug sie nur die vorderen Strähnen geflochten, sodass ihre dunkelbraunen, glatten Haare aus dem Gesicht gehalten wurden.
Sie fasste unwillkürlich an ihr Amulett mit dem weißen Kristall in der Mitte. Mehr Schmuck trug sie nicht. Mehr Schmuck besaß sie nicht. In ihrem Volk galt es als unschicklich, sich mit Gold, Silber und Edelsteinen zu behängen.
Welch eine Umstellung, all die bunten Farben, all den Glitzer, all den Reichtum und Überfluss hier so offen zur Schau gestellt zu sehen. Die Frauen trugen sogar Farbe auf ihre Gesichter auf. Äußerliche Attraktivität, so schön von ihrer Tante hervorgehoben, war wichtig für die Frauen von Forran. Für ein angenehmes Leben an der Seite eines hochrangigen Mannes. In Forran waren Frauen völlig abhängig von ihrem Mann.
Heute herrschte besondere Aufregung unter den Damen des Hofes, in deren Mitte sich Levarda eingereiht hatte. Lord Otis stand an erster Stelle der begehrenswerten Kandidaten, wegen seiner Macht und seines Einflusses bei der Garde und bei Hofe, und er wurde von vier Offizieren begleitet, die bis auf einen ebenfalls alle potenzielle Heiratskandidaten waren, wie gemunkelt wurde.
Den Gesprächen der Hofdamen zu folgen, war für Levarda eine Herausforderung gewesen. Fast so sehr, wie das Erlernen der Tanzregeln. Es widerstrebte ihr, aber sie musste sich eingestehen, dass dies in Zukunft ihre einzige Informationsquelle wäre. Es ging um Schmuck, Aussehen, Stoffe, Schuhe und darum, welcher Mann was zu wem gesagt hatte. Auf Letzteres sollte sie laut Lady Tibana besonders achten.
Levarda fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Sie hatten den Saal erreicht. Die rechte Seite der Tafel war den Männern vorbehalten, die Frauen saßen links. Vor Kopf neben dem Lord und seiner Gemahlin fanden die verheirateten Paare Platz, soviel hatte Levarda schon erfahren. Einzig Lord Otis als Ehrengast und Lady Smira als die zukünftige Gemahlin des hohen Lords saßen mit am oberen Ende der Tafel.
Levarda hörte, wie um sie herum das Getuschel losging. Zu ihrer Erleichterung fand sie sich am oberen Ende der Frauenreihe untergebracht, so brauchte sie, als sie Platz nahm, nicht zu befürchten, den Gesprächsfluss der anderen Damen zu behindern.
Lady Eila neben ihr flüsterte: »Ist das Lemar, der mit dem Pferdekopf auf seinem Gewand?«
»Ja. Habt Ihr bemerkt, wie groß er neben dem jungen Timbor wirkt?«, wisperte Lady Sophia kichernd zurück.
»Oh, diese blonden Haarwellen! Sie sehen ganz weich aus, da möchte man hinlangen und sie streicheln.«
Wieder kicherte Lady Sophia und senkte hastig den Kopf, als sie merkte, dass sie die Aufmerksamkeit der männlichen Seite auf sich zogen. Sie wartete etwas, bevor sie Lady Eila antwortete. »Also, mir gefallen seine vollen Lippen noch mehr, und die Grübchen in seinen Wangen, seht nur, wenn er lacht«, piepste sie. Sie hatte noch einen Blick riskiert, bevor sie wieder auf ihren Teller schaute.
»Ihr solltet vorsichtig bei Lemar sein«, mischte sich eine weitere Hofdame in das Gespräch ein. »Sein Charme hat schon mancher Lady nicht nur das Herz gebrochen, sondern ihre Ehre in Gefahr gebracht.«
Levarda erhaschte ebenfalls einen kurzen Blick auf Lemar, als die Diener den nächsten Gang servierten. Er hatte feine Gesichtszüge, aber vor allem seine hellblauen Augen fesselten sie. Eben lachte er laut, hob seinen Kopf und zwinkerte Levarda zu.
Hastig richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihren Teller. Er flirtete mit ihr!
Lady Smira saß mit geröteten Wangen zwischen ihrer Mutter und Lord Blourreds Schwester und machte ihr aufgeregt Zeichen. Levarda war gerührt, wie sie sich über die Ehre, die ihr zuteilwurde, freute.
Lady Smira war erst achtzehn, zwei Jahre jünger als Levarda, aber sie beide trennten Welten. Verträumt, lebensfroh, in allem nur das Gute sehend, schien Smira sich blind in ihr Schicksal zu fügen. Sie schritt mit einer Leichtigkeit durch ihr Leben, ohne Verantwortung dafür zu tragen oder Entscheidungen zu treffen, die Levarda an die Mintraner erinnerte, die dem Element Luft unterlagen. Nicht im Geringsten schien ihrer Cousine bewusst zu sein, dass die Axt des Henkers über ihr schwebte, seit der hohe Lord sie zu seiner Gemahlin ausgewählt hatte. Sie lächelte Lady Smira zu und neigte kurz den Kopf.
Lord Blourred stand auf, und Ruhe kehrte in die Gesellschaft ein.
»Lord Otis«, sprach er den Gesandten an, »seid willkommen an meinem Hof. Ihr seid hier, um meine Tochter, Lady Smira«, er drehte sich voller Stolz zu seiner schönen Tochter hin, »an den Hof des hohen Lords Gregorius ...«, alle erhoben ihre Becher und tranken einen Schluck, »... zu begleiten, auf dem Weg zu ihrem hohen Gemahl. So schmerzlich der Fortgang meiner Tochter für mich ist –«, er machte eine Pause, bis er sich gesammelt hatte, »es ist das Los eines jeden Vaters, dass er seine Kinder ziehen lassen muss. So lasst uns mit einem rauschenden Fest den Schmerz und die Traurigkeit dieses Abschieds bannen. Hoch lebe die zukünftige Gemahlin des hohen Lords.« Lord Blourred erhob erneut seinen Becher, und diesmal standen alle auf, prosteten ihm zu und tranken.
Als man sich gesetzt hatte, erhob sich Lord Otis würdevoll. Im Saal wurde es still. Selbst die Diener rührten sich nicht.
Bisher hatte Lord Blourred Levardas Sicht auf Lord Otis verdeckt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, weil sie befürchtete, er würde zu den Frauen herüberschauen und sie womöglich erkennen. Aber dann versicherte sie sich, dass er ihr Gesicht nicht gesehen haben konnte, da er ja hinter ihr aufgetaucht war. Sie hob ihre Augen und wagte einen Blick auf den Mann – und war bis ins Mark erschüttert.
Lord Otis überragte den Hausherrn fast um einen Kopf, sein welliges Haar war tiefschwarz, dichte Augenbrauen lagen über dunkelbraunen Augen. Den Bart, wie die Männer ihn sich auf ihren Reisen stehen ließen, hatte er abrasiert, was ihm mit der sonnengebräunten Haut der oberen Gesichtshälfte ein seltsam geschecktes Aussehen verlieh. Eine Narbe, die sich von der Mitte seines Kinns quer über die Nase, das linke Auge und die Stirn zog, teilte die linke Braue in zwei Hälften. Diese Mischung aus Finsternis und perfekten Proportionen machte sein Gesicht anziehend und abstoßend zugleich. Zusammen mit seinem schlanken, kampfgestählten Körper, den breiten Schultern, wirkte sein Auftreten furchteinflößend.
Levarda glaubte zum ersten Mal den Geschichten der Frauen darüber, dass es Feinde gegeben habe, die sich beim Anblick von Lord Otis auf seinem Hengst Umbra lieber gleich ergaben. Auch wenn das ein wenig übertrieben schien – Levarda konnte kaum an diesem Mann vorbeisehen. Sie fühlte, wie sie zu zittern begann und wie sie nur mit Mühe den Drang unterdrücken konnte, aufzustehen und zu fliehen. Sie hatte geglaubt, einen ersten Blick auf ihn zu werfen, doch Lord Otis war ihr mehr als einmal zuvor begegnet! – Er war der Mann aus ihren Träumen.
Sie schloss die Augen, verstört von den vielen Bildern, die durch ihren Kopf jagten, durch den Schmerz, den diese Bilder verursachten. Panik kroch in ihr hoch. Sie sprach in ihrem Kopf das Mantra, welches ihr Meister und sie nach und nach in den vergangenen Jahren gefunden hatten, um den Albtraum zu vertreiben. Es verfehlte auch diesmal nicht seine Wirkung. Langsam beruhigte sich ihr Innerstes und sie konnte wieder atmen. Sie durchlebte ihren Traum, sah sich durch einen Wald rennen, verfolgt von einem Mann, der Dunkelheit hinter ihr her schleuderte. Eine Hetzjagd. Dann stolperte sie, die dunkle Energie umschlang sie, brannte auf ihrer Haut und brachte solche Schmerzen, dass sie schier den Verstand verlor. Da stand er lachend über ihr, mit glühenden, schwarzen Augen, zückte sein Schwert und durchstach ihr Herz. So endete ihr Traum, mit der Kälte des Metalls, das ihr Herz durchschnitt.
Sie spürte ein Zupfen an ihrem Ärmel. Levarda schlug die Augen auf und stellte entsetzt fest, dass die Blicke aller Festbesucher auf sie gerichtet waren. Sie saß als Einzige noch, während die Anwesenden sich erhoben hatten, um mit ihrem Becher Lord Otis zuzuprosten. Hastig stand sie auf. Ihre Beine zitterten, und ohne Lady Eilas Hilfe hätte sie sich nicht halten können. Sie trank einen winzigen Schluck und ließ sich dankbar auf ihren Stuhl sinken, nachdem sich die hohen Herrschaften gesetzt hatten.
»Was ist mit Euch, Lady Levarda? Ist Euch nicht gut?«, flüsterte Lady Eila besorgt.
»Mir ist ein wenig unwohl, vermutlich habe ich mich heute körperlich zu sehr verausgabt.«
»Das wundert mich nicht, es gibt einen Grund, warum Frauen nicht reiten sollen. Die körperliche Anstrengung ist viel zu groß. Sicher werdet Ihr mir bald zustimmen, wenn es für Euch auch ein Ende hat, glaubt mir.«
Levarda musste Lady Eila zugutehalten, dass sie aufrichtig freundlich sein wollte. Die Abneigung der Frauen, sich körperlich zu betätigen, war groß. Jeder Weg, jede Treppe, schien ihnen zu viel. Die Idee, für einen Spaziergang hinauszugehen oder einen Ausritt zu machen, wäre ihnen nie gekommen.
Levarda verbiss sich eine Bemerkung. Sie senkte den Blick auf ihren Teller. Mit konzentrierten Schnitten zerteilte sie ihr Fleisch und schob ein Stückchen in ihren Mund. Beim Kauen schloss sie die Augen, um sich zu beruhigen, sodass ihre Hände mit dem Zittern aufhörten. Sie fühlte, dass Lady Eila sie beobachtete.
»Seid Ihr sicher, dass es Euch gutgeht?«
»Ja, gewiss«, murmelte sie.
Ein verschmitzter Ausdruck trat in Lady Eilas Gesicht. »Ich dachte im ersten Moment, Lord Otis sei der Grund für Eure Schwäche gewesen.«
Levarda verschluckte sich beinahe an ihrem Stück Fleisch. Sie fühlte Röte in ihr Gesicht schießen.
Das Lächeln ihrer Nachbarin vertiefte sich. »Und ich dachte immer, Ihr wäret an Männern nicht interessiert.«
Einen Moment war Levarda versucht, ihr eine passende Antwort zu geben, doch sie besann sich eines Besseren. Sollte der Hof lieber über ihre vermeintliche Verliebtheit tratschen als über ihre Angst. Allein seinen Namen auszusprechen, hatte ihr Innerstes zum Zittern gebracht.
Der Nachtisch half ihr. Süßigkeiten gab es in ihrem Volk immer nach geistigen Herausforderungen und energiezehrender Arbeit. Auch wenn sie einen Menschen geheilt hatte, aß Levarda getrocknete, süße Früchte oder Samen, die mit Honig ummantelt waren.
Lady Eila schob ihr ihren Nachtisch hin, und Levarda genoss zum zweiten Mal die Süße in ihrem Mund. Die Frauen hier aßen geradezu wie junge Vögel. Das flaue Gefühl in ihrem Körper ließ nach und sie fühlte ihre Kraft zurückkehren.
Der Zeremonienmeister klopfte auf den Boden und der Lärm nahm zu, während die Gesellschaft sich zu einem anderen Saal bewegte.
Hier standen nur an einem Ende des Raumes gemütlich aussehende Stühle auf einer über zwei Stufen erhöhten Plattform, wo sich die ranghöchsten Geladenen mit Lord Blourred und Lady Tibana niederließen. Die verheirateten Paare verteilten sich mit ihren Gesprächspartnern bunt gemischt im Saal, die unverheirateten Gäste in lockeren Grüppchen an den Seiten, Männer rechts, Frauen links.
Schon hörte Levarda wieder die Damen plappern, für die nun der interessanteste Teil des Abends gekommen war. Sie selbst hingegen hätte sich lieber einem wilden Emunck gestellt als dem Tanz. In diesem Land war Tanzen die einzige Möglichkeit, sich dem anderen Geschlecht auf unverfängliche Art zu nähern. Selbstverständlich musste ein Mädchen aber warten und sich von einem Mann zum Tanz auffordern lassen. Was für ein Ereignis und so willkommener Anlass für Spekulationen! Die Augen sittsam gesenkt, lauschten die Mädchen alsdann den Worten ihrer Tanzpartner und gaben ihnen so das Gefühl, der wichtigste Mensch für sie zu sein.
Levarda hatte in den letzten Monaten das seltsame Gebaren zwischen den Geschlechtern belustigt verfolgt. Man hatte schnell gemerkt, dass sie weder eine anmutige Tänzerin war noch ihren jeweiligen Tanzpartner angemessen anbetete. So beschränkte sie sich meistens darauf, zu beobachten.
Heute hoffte Levarda, dass ihr schlichtes Äußeres ihr Schutz bieten würde. Allerdings wollte Lord Blourred sie Lord Otis vorstellen, darum war sie ins Protokoll aufgenommen. Als ihr das wieder einfiel, gaben ihre Beine zum zweiten Mal nach. Sie hielt sich an einer Säule fest und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich fortzustehlen. Morgen würde es noch Gelegenheit geben, sich bekanntzumachen. Bis dahin hätte sie ihre Angst hoffentlich unter Kontrolle.
Zu spät – der Zeremonienmeister winkte in ihre Richtung. Sie konnte nicht fliehen, schloss nur kurz die Augen und fasste ihr Amulett mit der linken Hand, spürte die Kraft des Steins im selben Moment. Es war, als tauche sie in den See Luna ein. Kühl floss die Energie über ihren Körper und gab ihr Stärke.
Mit zügigem Schritt ging sie auf Lord Blourred zu, bevor ihr Mut sie verlassen konnte. An Lord Otis‘ Hand befand sich bereits Lady Tibana auf dem Weg zur Tanzfläche. Levarda beneidete Lady Smira, der es vergönnt war, an ihrem erhöhten Platz von der Stirnseite der Halle aus dem Treiben zuzusehen. Allerdings zeugte deren Blick eher von Unmut, denn Tanzen gehörte zu ihren Leidenschaften, und sie war die anmutigste Tänzerin überhaupt.
Lord Blourred, der einzige Mann, in dessen Begleitung Levarda sich auf der Tanzfläche nicht zum Gespött machte, reichte ihr die Hand und zwinkerte aufmunternd. Er besaß genug Selbstsicherheit, um ihre Fehler zu kaschieren, und war darüber hinaus den Umgang mit einer Frau aus dem Volk von Mintra gewohnt.
Levarda hatte es getröstet, mit welchem Wohlwollen er ihr immer begegnete. Er besaß Vertrauen in ihre Fähigkeit, seine Tochter zu beschützen. Lady Tibana hatte mit außerordentlichem Geschick erreicht, dass er überzeugt war, es sei von Anfang an seine Idee gewesen, seine Tochter von seiner Nichte begleiten zu lassen.
»Ihr habt unvernünftig gehandelt, indem ihr sitzen geblieben seid, als Lord Otis seinen Toast auf den hohen Lord aussprach«, tadelte er leise.
»Verzeiht, es geschah nicht mit Absicht. Ich war mit meinen Gedanken woanders, doch ich weiß, dass es unverzeihlich ist.«
»Ich habe Lord Otis erklärt, dass Ihr erst seit Kurzem in die Gepflogenheiten des Hofes eingewiesen werdet. – Ist sie nicht wunderschön?«
Seine Augen ruhten auf seiner Tochter. Lady Tibana hatte mit der Geburt seiner sechs Söhne mehr für die Macht und das Ansehen ihres Mannes getan, als es je der Frau eines Lords in diesem Land gelungen war. Levardas Onkel liebte seine Tochter jedoch über die Maßen, das konnte man sehen.
Jetzt seufzte er auf. Levardas Bemühungen bei der Abfolge der Tanzfiguren waren hoffnungslos. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, doch in seinen Augen blitzte es belustigt.
»In der Tat, Ihr seid heute wirklich sehr abgelenkt. Übrigens habt Ihr mit Eurem Verhalten Lord Otis irritiert. Das ist noch niemandem gelungen. Er hat nachgefragt, wer Ihr seid. Sein Interesse an Euch hat mir gefallen, doch passt Euch in Zukunft mehr den Gebräuchen unseres Landes an, Lady Levarda.«
Bevor sie etwas erwidern konnte, verstummte die Musik. Ihr Herz begann heftig zu klopfen, ihre Hände wurden kalt.
Lord Blourred drückte ihre Hand fester. »Keine Angst, er weiß, dass Ihr meine Nichte seid und meine Tochter begleiten sollt. Er hat sich bereit erklärt, darüber nachzudenken.«
Levarda hatte völlig vergessen, dass dieser Mann darüber entscheiden würde, ob sie Lady Smira überhaupt begleiten durfte oder nicht. Sie hatte nur Angst, ihren eigenen Tod zu berühren.
Lord Otis verneigte sich vor Lady Tibana und führte sie zu ihrem Mann.
Levarda hielt den Blick gesenkt und wartete auf ihren Tanzpartner. Sie wollte ihm eben die Hand reichen, da drehte er sich weg, schritt auf Lady Eila zu und führte sie auf die Tanzfläche.
Selbst Levarda wusste, dass ein solches Verhalten das Protokoll verletzte und einen peinlichen Affront gegenüber dem Gastgeber darstellte. Ganz zu schweigen davon, dass damit Levarda vor dem ganzen Hof bloßgestellt wurde. Missbilligend verharrte Lord Blourred auf der Stelle, unentschlossen, wie er reagieren sollte. Aber bevor Lord Otis‘ Verhalten zu einer Missstimmung führen konnte, verneigte Levarda sich vor dem Hausherrn.
»Verzeiht Mylord, mir ist nicht wohl. Ich bitte darum, mich in meine Gemächer zurückziehen zu dürfen.«
Sichtlich erleichtert nickte Lord Blourred. So blieb ihm eine Reaktion erspart.
Den restlichen Abend verbrachte Levarda in ihren Gemächern, froh über Lord Otis‘ Betragen, das ihr den Rückzug ermöglicht hatte. Mochte sich der Hof den Mund darüber zerreißen, wie er sie beleidigt hatte. Ihre Haltung und ihre Höflichkeit ihm gegenüber wären zu ihrem Vorteil.
Sie nutzte die gewonnene Zeit, meditierte Stunde um Stunde, suchte nach einer Antwort. Was bedeutete die Menschwerdung des Schreckens aus ihrem furchtbarsten Albtraum? Dass sie mit ihrem Auftrag scheitern würde?
Im Geist ging sie die Worte ihres Meisters aus Gesprächen über ihre nächtlichen Visionen durch. Er hatte ihr erklärt, dass am Tage der Verstand die Kontrolle über die Handlungen und Eindrücke eines Menschen hatte. Im Traum, wenn der Verstand eingeschlafen war, übernahm sie der Geist. Je weiter sich ein Mensch während des Tages von seinem Geist entfernte, desto stärker und intensiver waren die Träume. Meditation diente dazu, dieses Zwiegespräch zwischen Verstand und Geist zu fördern, sodass ein Ungleichgewicht erst gar nicht entstand. Für Menschen wie Levarda, die über eine ausgeprägte Verbindung zu den Elementen verfügten, war ein Gleichgewicht zwischen Verstand und Geist unerlässlich.
Aus diesem Grund war ihr wiederkehrender Albtraum ein Anlass zu tiefer Besorgnis für ihren Meister gewesen. Er konnte sich nicht erklären, weshalb ihr Geist ihr unabänderlich immer dieselben Bilder zeigte. Sie hatten sich lange Zeit in der Meditation mit diesem Traum beschäftigt. Der Meister deutete ihn so, dass der Mann für Levardas Verstand stehe und das Schwert für dessen Schärfe. Die dunkle Energie sei ein Symbol für die Elemente. Die Impulsivität, mit der diese sie verzehrten, veranlasse ihren Verstand dazu, sie aus Selbstschutz zu kontrollieren. In ihrer Arbeit konzentrierten sie sich darauf, ihren Verstand davon zu überzeugen, dass nicht die Elemente ihren Geist beherrschten, sondern ihr Geist die Elemente. Das hatte funktioniert und der Traum verschwand.
Was würde ihr Meister nun dazu sagen, dass das Symbol für ihren Verstand ein Mensch aus Fleisch und Blut war? Einer, der mit dem Schwert umgehen konnte und es benutzen würde, wenn Lady Smira dem hohen Lord keinen Thronfolger gebar?
Steifgefroren und mit Kopfschmerzen vom Grübeln sah Levarda endlich ein, dass sie Schlaf brauchte. Vielleicht würde ihr Geist ihr bei der Lösung des Problems helfen. Sie legte ein paar Holzscheite ins Feuer und wärmte sich an den Flammen, bevor sie zu Bett ging.
Die Nacht hatte ihr keine Lösung gezeigt, dafür hatte sich zumindest ihre Angst gelegt. Sie würde dem, was geschah, ins Auge sehen. Lady Tibanas Zofe kam und richtete ihr aus, dass diese sie im Garten erwarte.
Hinter der Burg, im Süden gelegen, befand sich mit hohen Mauern umgeben der Garten der Hausherrin. Der Duft der Blumen und das leise Plätschern der angelegten Bachläufe beruhigten Levardas Geist. Selbst Heilkräuter gab es hier. In den letzten Monaten war sie mehrmals eingeladen worden, sich an der Bearbeitung und Pflege der Pflanzen zu beteiligen. Sie zeigte kein Geschick darin. In der Wildnis besaß sie ein außergewöhnliches Gespür, Wildkräuter aufzuspüren. Beim Erkennen der Bedürfnisse einer kultivierten Pflanze versagte sie.
Gemeinsam mit der Hausherrin wanderte sie die Wege entlang. Ab und an beugte sich Lady Tibana herab und zupfte ein paar Halme oder ein komplettes Gewächs aus der Erde.
»Es war gestern überaus ungeschickt von Euch, Lord Otis zu beleidigen.«
Levarda hob zu einer Entschuldigung an, doch ihre Tante gebot ihr mit einer Handbewegung, zu schweigen.
»Egal, was Euch abgelenkt hat – Ihr könnt Euch solch ein Verhalten nicht leisten. Ihr vergesst, wie mächtig Lord Otis ist. Sollte er entscheiden, dass Ihr für den Hof des hohen Lords nicht geeignet seid, wird es ein Machtkampf für uns werden, Euch diese Stellung zu ermöglichen.«
Levarda neigte den Kopf. Sie wusste, es hatte keinen Zweck, ihrer Tante zu widersprechen. Sie war selbstbewusst, manipulativ, und entschied in Wahrheit über die Geschicke des Landes im Machtbereich von Lord Blourred. Sie wusste, wie das Leben in dieser Gesellschaft funktionierte und Levarda bewunderte sie dafür.
»Ihr wisst, dass ich gegen Euch war«, sagte Lady Tibana jetzt, »und meine Meinung darüber hat sich in den letzten Monaten nicht geändert. Mir wäre es lieber gewesen, dass meine Schwester ihre Nichte begleitet. Kaja besitzt so viel Erfahrung in der Heilung von Krankheiten. Den einzigen Vorteil versprach ich mir bei Euch von Eurer Jugend und Eurem äußeren Erscheinungsbild. Ich dachte, damit könntet Ihr das Interesse von Lord Otis wecken.«
Levarda blieb abrupt stehen und Lady Tibana runzelte unwirsch die Stirn. »Seht Ihr, genau das meine ich. Eine Frau mit mehr Erfahrung würde es nicht stören, ihren Charme im Sinne ihres Volkes einzusetzen.«
»Ich hoffe, Ihr erinnert Euch, dass ich nicht die Absicht habe, mir einen Ehemann zu nehmen.«
Lady Tibana lachte freudlos auf. »Ich bin nicht so vermessen zu glauben, dass Lord Otis Euch zu seiner Gemahlin wählt. Euer Äußeres ist ansprechend, aber Ihr seid nicht attraktiv, und seine Auswahl ist wahrhaft unerschöpflich. Mit ein wenig geschickter Verführung könntet Ihr es allerdings in sein Bett schaffen.«
Levardas Züge verhärteten sich. In ihrem Land konnten sich Frauen und Männer frei entscheiden, ob sie eine geschlechtliche Verbindung eingingen, ohne dafür eine Zeremonie zu brauchen. Dies geschah immer aus Liebe und in gegenseitigem Einvernehmen, niemals in manipulativer Absicht.
»Nun, wenn ich mich recht erinnere, so zeigte Lord Otis Interesse an Lady Eila. Vielleicht liegt hier der nötige Vorteil, den Ihr im Blick habt«, gab sie kühl zurück.
»In der Tat wäre das interessant. Zu meinem Bedauern verteilte er seine Aufmerksamkeit recht gleichmäßig an dem Abend, was Euch entgangen sein wird. Ihr zogt es ja vor, in Eure Gemächer zu verschwinden.«
Levarda verbiss sich eine Erwiderung. Dass sie für einen Ausweg aus der peinlichen Verletzung des Protokolls gesorgt hatte, schien Lady Tibana zu vergessen.
»Ihr werdet Euch heute Abend bemühen, den Fehler von gestern wiedergutzumachen. Lord Otis ist ein Führer, dem die Männer mit Liebe und Treue durch jede kriegerische Auseinandersetzung folgen. Manch einer behauptet sogar, dass er den hohen Lord Gregorius jederzeit stürzen könnte, wenn er es wollte. Ihr seht also, welch einen mächtigen Verbündeten oder auch Feind er abgibt, je nachdem.«
Levarda nickte ergeben.
Zum ersten Mal wurde Levarda ihre Abhängigkeit von der Gunst dieses Mannes ganz bewusst. Dass sie Lady Smira begleiten wollte und dafür auch bereit war, ihr Leben zu lassen, spielte keine Rolle. Auch nicht die Tatsache, dass sie ihre Entscheidung gegen den Wunsch des Ältestenrats von Mintra getroffen hatte.
»Ich hoffe, Euer langes Schweigen bedeutet, dass Ihr Euch meine Worte zu Herzen nehmt. Ich habe gehört, dass Ihr die strategische Kriegführung nach Larisan studiert habt. Demnach brauche ich Euch nicht zu sagen, wie begnadet Lord Otis in diesen Dingen ist.«
Verwirrt blieb Levarda stehen. Das Studium der Kriegskunst war vor vielen Jahren in ihrem Land verboten worden. Ihre Mutter musste Lady Tibana davon erzählt haben, denn sie war die Einzige, die davon wusste. Was aber hatte ein Buch der Mintranerin Larisan mit Lord Otis zu tun?
»Wie meint Ihr das?«, fragte sie unsicher.
Lady Tibana kniff die Augen zusammen und musterte Levarda. Als sie feststellte, dass sie tatsächlich nicht die geringste Ahnung hatte, seufzte sie.
»Lord Otis ist Larisans Enkel. Ich nahm an, Ihr wüsstet es. So ist dies nicht der wahre Grund für Eure Entscheidung, meine Tochter zu begleiten?« Sie beobachtete Levarda prüfend, die die Lippen aufeinanderpresste.
Was dachte Tibana von ihr? Nein, davon hatte sie nichts gewusst. Woher auch? In Mintra sprach niemand über die Welt außerhalb der Grenzen. Die Menschen, die Mintra verließen, kehrten nicht zurück. Larisan hatte Mintra verlassen, und nur durch Zufall war Levarda eines Tages in einer Hütte in den Besitz des Buches gelangt.
Mit zügigem Schritt durchmaß Lady Tibana den Garten, sodass Levarda nichts anderes übrigblieb, als ihr schweigend zu folgen. Rückte diese neue Erkenntnis alles in ein anderes Licht? Larisans Enkel in ihrem Albtraum – als ihr Mörder? Sie brauchte Ruhe, um über alles nachzudenken.
Abrupt blieb Lady Tibana stehen.
»Also gut, nun wisst Ihr es. Nutzt das Wissen weise und zieht Euren Vorteil daraus.«
»Wenn Ihr erlaubt, würde ich mich bis zum Abend gern in meine Gemächer zurückziehen.«
»Es sei Euch erlaubt. Vergesst nicht, Euch in den Regeln des Anstandes und der Höflichkeit zu üben. Ich werde Lady Eila in Eure Gemächer schicken. Sie ist die Begabteste, was diese Dinge betrifft, und sie ist geduldig.«
»So sei es.« Ergeben verneigte sich Levarda.
An diesem Abend trug Levarda ihr blaues Kleid zu Ehren des Luftelements. Es sollte ihr die Leichtigkeit verleihen, die ihr bei dem Gedanken an ein erneutes Fest so schmerzlich fehlte. Sie hatte sich gewappnet, die reine Quelle in ihrem Innersten besucht und Kraft geschöpft. Ihre Angst und die Bilder ihres Albtraums waren während der Meditation beständig durch ihren Körper gezogen, so übte sie sich darin, diese zu kontrollieren. Das hatte sie sich aus den Büchern von Larisan angeeignet, der einzigen Kriegerin in ihrem Volk, von der sie wusste. Wissen war die Macht, seine Feinde zu besiegen. Sie würde sich mehr Wissen über Lord Otis aneignen, ihn beobachten, seine Schwachpunkte kennenlernen. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen ihnen kam, musste sie gewappnet sein.
Der Abend verlief ähnlich wie der vorherige. Männer und Frauen trugen andere Kleider, nur die Garde erschien in den Uniformen wie am Tag zuvor. Allerdings bemerkte Levarda diesmal heimlich getauschte Blicke zwischen Hofdamen und Soldaten.
Sie bemühte sich, höflich und interessiert den Gesprächen zu folgen. Am Nachmittag hatte Lady Eila zwei Stunden damit verbracht, ihr alles zu erzählen, was an dem gestrigen Abend geschehen war. Dabei kreisten ihre Gedanken schwärmerisch immer wieder abwechselnd um Lemar und Lord Otis. Aufmerksamer als je zuvor folgte Levarda ihren Worten.
Am heutigen Abend entfielen die Ansprachen, sodass man nach dem Essen direkt zum Vergnügen überging. Erneut eröffnete der Hausherr mit seiner Gemahlin den Tanz, und danach forderte Lord Otis die Frau des Gastgebers auf. Zum Glück blieb Levarda ein zweiter Tanz mit ihrem Onkel erspart. Sie wusste nicht, ob es an ihrem Luftkleid lag oder an den gelockerten Regeln für diesen Abend – es fiel ihr jedenfalls leichter, unbemerkt in die Festgesellschaft einzutauchen.
Lord Otis ignorierte sie völlig, so blieb Levarda genügend Zeit für ihre Beobachtungen. Sie stellte fest, dass keine Frau am Hofe seine Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, ausgenommen Lady Tibana und Lady Smira, denen gegenüber er sich ausgesprochen zuvorkommend verhielt. Sein kühler Gesichtsausdruck ließ sie vermuten, dass sein Benehmen eher auf Anstand als auf echtem Interesse beruhte. Vielleicht wollte er sich ja nur über die Verhältnisse am Hof informieren.
Sie wagte sich nicht in seine Nähe, nahm aber wahr, dass sein Offizier Egris und er sich oft abseits der Menge besprachen, und zu gerne hätte sie erfahren, worum es dabei ging.
Mit seinen breiten Schultern und den schmalen Hüften hatte Egris die Blicke der Frauen schon zuvor auf sich gezogen. Das war Levarda nicht entgangen, allerdings ebenso wenig die Tatsache, dass er nicht mehr zur Auswahl stand, da er vermählt war.
Egris war es schließlich, der Levarda zum Tanz aufforderte. Als er vor ihr stand, sah sie fasziniert in seine hellbraunen Augen, die sie an das Harz der Bäume ihrer Heimat erinnerte. Sein dunkelbraunes, glattes Haar hielt er mit einem Band zurück. Der Zopf war schulterlang. Ein Löwenkopf zierte seine Uniform.
Levarda blieb keine andere Wahl, als sich ihrem Schicksal zu ergeben, und sie bemühte sich, ihn nicht mit ihrer Ungeschicklichkeit zu blamieren. Überraschenderweise fruchteten offenbar ihre Bemühungen des heutigen Tages mit Lady Eila. Allerdings konnte sie von Egris nichts in Erfahrung bringen, denn anstatt von sich zu erzählen, wie es Männer meist taten, stellte er ihr seinerseits beharrlich Fragen.
Angeblich war er nach Lord Otis am längsten bei der Garde. Levarda beschränkte sich daher lieber darauf, seine Fragen schlicht und höflich zu beantworten, ohne zu viele Informationen preiszugeben. Ihre Tante hatte ihren Lebenslauf bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Dabei entsprach er wenigstens in allen maßgeblichen Fakten der Wahrheit, denn lügen könnte Levarda niemals, das musste auch Lady Tibana akzeptieren.
Das Geschick bestand darin, immer nur das Notwendigste zu sagen und ihr Gegenüber den Rest wie zufällig selbst schlussfolgern zu lassen. Sie musste sich mitunter auf die Lippen beißen, um nicht ihrerseits Fragen zu stellen. Wenn Egris etwas von sich erzählte, um sie aus der Reserve zu locken, hörte sie umso genauer zu.
Ab jetzt gab es kein Verstecken mehr. Die Männer der Garde hatten sie für sich entdeckt. Nach und nach tanzte jeder Offizier mit ihr.
Ihr Misstrauen erwachte. War dies ein Trick von Lord Otis, um mehr über sie zu erfahren? Sie blieb auf der Hut, überlegte, was sie in ihren Gesprächen mit den Offizieren erwähnen durfte.
In den Tanzpausen hörte sie den Damen zu, wenn sie von ihren Tanzpartnern erzählten. So ergab sich bald ein klareres Bild von den Anführern der Garde.
Timbor war der Jüngste von ihnen. Das silberne Schlangenwappen auf seiner Uniform passte gut zu seinem schmalen Körperbau. Mit den kurzen, blauschwarzen Haaren, kräftig und voller Wirbel, erweckte er den Eindruck, sich ständig die Haare zu raufen, was ihm etwas Jungenhaftes verlieh, zumal alle Männer ihn überragten. Während sie tanzten, sah Levarda seine grünen Augen stetig in Bewegung. Sie stellten sich beide gleich ungeschickt an und tanzten daher nicht allzu lange.
Lemar stahl sich als Erster ein Lächeln von Levarda. Charmant hatte er sich bei ihr dafür entschuldigt, dass er sich nicht in der Lage sah, ihrem eigenwilligen Tanzstil zu folgen. Seine hellblauen Augen blinzelten sie dabei vergnügt an.
»Was bedeutet das Pferd auf Eurer Uniform?«, fragte Levarda mutig.
»Dass ich der beste Reiter der Garde bin.«
Levarda musste lachen. Gerne hätte sie sich einem Wettkampf mit ihm gestellt. Sie sah, wie er seinen anderen Tanzpartnerinnen mit seinem Charme den Kopf verdrehte.
Von Lemar erfuhr sie, dass die Wachleute, die ihr beim Stall begegnet waren, zur Strafe die Boxen hatten ausmisten und jedes Pferd auf Hochglanz putzen müssen. Eine Frau erwähnte er in diesem Zusammenhang nicht, sang nur sein eigenes Loblied auf Umbra, den Hengst seines Herrn.
Beim Tanz mit Sendad hatte Levarda das Adleremblem auf seiner Brust vor Augen, so hoch ragte der Offizier vor ihr auf. Während er schweigsam seine Runde mit ihr drehte, fragte sie sich verwirrt, weshalb er sie trotz seiner Zurückhaltung überhaupt aufgefordert hatte. Anscheinend war sie die Einzige, mit der er überhaupt tanzte. Er weckte jedoch ihr Interesse mit seiner ruhigen Art.
Der ganze Abend war für Levarda ohne einen Zwischenfall verlaufen. Sie hatte sich am Abend rechtzeitig vom Fest zurückgezogen. Während die letzten Hartnäckigen in den frühen Morgenstunden den Tanzsaal verließen, stand Levarda in ihrem Reitkleid vor dem Stall. Die Zeit des Sonnenaufgangs gehörte ihr.
Der Stall wurde Tag und Nacht abwechselnd von den Soldaten aus Lemars Regiment bewacht. Jetzt, wo Levarda wusste, dass sie auf die Wachen achten musste, war es ein Leichtes für sie, diese zu meiden. Jeder Mensch besaß eine Aura, ein eindeutiges Energiemuster, das sie wahrnahm. So konnte sie die Männer der Garde von denen Lord Blourreds unterscheiden.
Leise führte sie Sita aus dem Hauptstall, ging an der Mauer entlang, bis sie den seitlichen Ausgang erreichte. Sie nickte Lord Blourreds Wachen kurz zu, und sie gaben den Weg frei.
Hinter der Mauer sprang sie auf Sitas Rücken, deren Sattel und Zaumzeug sie im Stall gelassen hatte, da sie ihr heute die Freiheit schenken wollte. Für einen Moment fühlte sie sich beobachtet. Sie sandte ihre Sinne aus, konnte aber nichts feststellen. Die Männer der Garde waren noch immer da, wo sie sein sollten.
Die Stute griff freudig zum Wald hin aus, ihre Ohren spielten und sie schlug mit dem Schweif. Als sich der Wald in eine weite Ebene öffnete, lehnte sich Levarda nach vorn und krallte ihre Hände in Sitas Mähne. Mehr bedurfte es zwischen ihr und dem Tier nicht. Wie ein Pfeil schoss die Stute los. Der Wind pfiff Levarda durchs Gesicht, ihre Haare flatterten und sie stieß einen Schrei vor lauter Übermut und Lebensfreude aus. Dann schloss sie die Augen, ließ sich vom Gefühl der Freiheit tragen, bis sie den Rausch des Glücks in ihren Adern fühlte. Erst dann parierte sie Sita durch. Sie hatten bereits den Wald mit der Weggabelung erreicht. Rechts ging es tiefer in das Land von Lord Blourred. Links führte der Pfad nach Mintra – für Menschen, die Erlaubnis erhielten, es zu betreten. Wer sie nicht hatte, irrte umher, unfähig, seinen Weg zu finden, obwohl der Asambra weithin sichtbar den Mittelpunkt des Landes markierte.
Sie klopfte Sita den Hals, verschloss das Gefühl von Glück und Zufriedenheit tief in ihrem Herzen. Dann glitt Levarda vom Pferd, lehnte ihre Stirn an die der Stute.
Es war Zeit, Abschied zu nehmen, den letzten Faden, der sie an ihr altes Leben band, zu durchtrennen. In der Sprache ihres Volkes flüsterte sie: »Geh mein Mädchen, geh zurück nach Hause, suche die Weiden am Fuße von Asambra und sei frei – für uns beide.« Tränen liefen ihr über die Wangen.
Sie scheuchte Sita von sich. Die Stute zögerte. Ein letzter Blick, dann drehte sie sich abrupt auf der Hinterhand und jagte über den Pfad Richtung Heimat. Ihre Hufe donnerten auf dem Weg, als sie davonstob.
Levarda sah ihr nach und merkte erst nach einer Weile, als Sitas donnerndes Hufgeräusch sich entfernte, dass ein anderer Hufschlag immer lauter wurde. Sie sah sich um und sah einen Reiter auf sich zukommen. Zu spät, sich in den Büschen zu verbergen. Sie entschied sich, auf dem Weg stehenzubleiben.
Erst kurz vor ihr parierte er seinen Hengst durch und sprang ab. »Unglückseliges Weib!«, fuhr er sie an. »Was habt Ihr getan?«
Er packte Levarda am Arm, die völlig überrumpelt von seinem Ausbruch vergaß, sich zu wehren. Die Zeit reichte ihr nicht, um einen Schutzschild gegen den Zorn aufzubauen, der ihr entgegenflammte. Die ungezügelte, wilde Kraft, die aus ihm herausströmte, traf geballt auf ihre eigene, und gegenseitig entluden sich die Energien wie in einer Explosion.
Er ist ein Kind des Feuers, dachte sie noch. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Das Erste, was sie spürte, als ihr Geist langsam aus der Dunkelheit zurückkehrte, war die Kraft der Energien ihres eigenen und seines Feuers. Levarda fühlte in ihrem Nacken und in den Kniekehlen, wie seine Flammen in sie eindrangen. Sie musste die Zufuhr unterbrechen, sonst würde es zu einer weiteren unkontrollierten Entladung kommen. Sie konzentrierte sich auf die Quelle in ihrem Innern, aktivierte sie und führte ihre Wasserkräfte zuerst an ihre Kniekehlen und den Nacken. Aber erst mit der Kraft der Erde gelang es ihr, einen Schutzwall an diesen Stellen aufzubauen, der die Energiezufuhr unterbrach. Sie begann, die sich umschlingenden Feuerenergien, die weiter durch ihren Körper tobten, zu kanalisieren.
Noch nie hatte sie von so etwas gehört oder etwas dergleichen erlebt. Da sie keine Möglichkeit sah, die Kräfte zu trennen, bannte sie diese in ihrem tiefsten Inneren und versiegelte die Pforte mit Wasser. Das musste genügen, bis sie in ihren Gemächern die Kraft in einen Energiestein ableiten konnte.
Sie spürte warmen Atem und weiche Lippen an ihrer Wange. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah die aufgeblähten Nüstern von Umbra vor sich.
»Umbra, lass das«, zischte Lord Otis. Er hielt Levarda in seinen Armen, eine Hand in ihrem Nacken, die andere in ihren Kniekehlen. Er konnte den neugierigen Hengst nicht von ihr fernhalten.
»Lasst mich sofort runter!« Levardas Stimme vibrierte und knisterte von der Energie, die in ihr getobt hatte.
Auf der Stelle beförderte Lord Otis sie unsanft auf die Beine. Sie wankte, krallte sich in Umbras Mähne fest und lehnte kurz ihre Stirn an seinen Hals. Geduldig ließ der Hengst sie gewähren.
Der Mann hinter ihr atmete scharf ein. »Wie könnt Ihr es wagen, ein so kostbares Tier in die Wildnis zu schicken, in der es womöglich nicht einen Tag überlebt?«
Levarda drehte sich bedächtig zu dem ersten Offizier der Garde um. Sie wusste, dass ihre Haut – genährt von der Energie – leuchtete.
Lord Otis‘ Erscheinung aber loderte geradezu, bläulich nahe am Körper, rötlich, orange und gelb mit wachsendem Abstand von ihm.
Was für eine Verschwendung der Kräfte, schoss es ihr durch den Kopf. Als sie die kalte Wut in seinen Augen sah, wich sie erschrocken zurück. War es schon soweit? War der Tag der Erfüllung ihres Albtraums gekommen? Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert. Instinktiv legte sich seine Hand darauf, als er ihrem Blick folgte.
Levarda lächelte herablassend. Sie mochte kein Schwert besitzen, aber so einfach könnte er sie nicht töten. Sie stand neben dem Pferd, brauchte sich nur umzudrehen und aufzuspringen, vorausgesetzt, das Tier war bereit, seinen Herrn zu verlassen.
»Das geht Euch nichts an«, erwiderte sie kalt, indem sie ihm direkt in die Augen sah, denn seine Absicht, das Schwert zu ziehen, würde sie einen Bruchteil vor der Bewegung genau dort ablesen.
Sein Mund zuckte spöttisch. »Ihr habt recht«, erwiderte er gefährlich leise. «Lassen wir Lord Blourred entscheiden, was mit Euch geschehen soll. Er wird nicht erfreut sein, dass Ihr ein solches Tier aus seinem Besitz diesem Schicksal preisgebt.«
Levarda gelang es nicht, ihre Befriedigung zu verbergen. »Lord Blourred weiß längst, dass ich meiner Stute die Freiheit schenke, bevor ich weggehe«, sie betonte das ‚meiner‘. »Am Hof des hohen Lords habe ich sicherlich keine Möglichkeit mehr, auszureiten.«
Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
»Euer Pferd?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Nun, angesichts Eurer Herkunft großmütterlicherseits sollten Euch Frauen, die den Umgang mit Pferden gewohnt sind und solche besitzen, vertraut sein.« Sie hätte sich ohrfeigen können.
Das Leuchten um seinen Körper schwand. Seine Kiefermuskeln entspannten sich und er sah sie mit interessiertem, wachsamem Blick an.
Levarda sammelte sich und trat wortlos an ihm vorbei den Rückweg zur Burg an.
»Was habt Ihr vor?«, klang seine Stimme nun eher belustigt in ihrem Rücken.
»Wonach sieht es für Euch aus, Lord Otis?«, spottete sie ihrerseits, ohne den Schritt zu verlangsamen oder sich umzudrehen. »Ich gehe zurück zur Burg.«
»Das ist ein weiter Weg zu Fuß.«
»Aber nicht mein erster weiter Weg zu Fuß.«
Der Weg war weiter als gedacht. Die Sonne ging bereits hinter den Bergen auf und kletterte ein Stück über den Horizont, bevor Levarda den Seiteneingang erreichte.
Es herrschte geschäftiges Treiben, doch sie schlüpfte von Herrschaft und Garde unbemerkt in die Frauengemächer.
In ihrer Kammer angekommen, öffnete sie ihre Truhe, holte den Beutel mit Steinen heraus und begann mit der Übertragung der überschüssigen Energie. Ruhe, Gelassenheit – wo war ihr Verstand geblieben? Wie hatte sie nur so unvernünftig reagieren können? Aber war es verwunderlich? Niemand hatte sie auf so etwas je vorbereitet.
Die Stimme ihres Meisters klang in ihrem Kopf: »Egal, wie viel du weißt. Egal, wie viel du lernst. Egal, wie viel du trainierst. Du wirst im Leben immer auf Situationen treffen, die neu für dich sind. Wirklich weise ist der, der mit der Ungewissheit umgeht.«
Noch nie hatte sich Levarda so unwissend und hilflos gefühlt wie jetzt. Ihr bangte es vor dem Abend, wenn sie wieder auf Lord Otis treffen würde. Was, wenn er sich wirklich, wie von Lady Tibana befürchtet, gegen sie als Lady Smiras Begleitung aussprach?
Angst ist es, die uns wachsam macht für das, was auf uns zukommt. Nur ein Narr hat keine Angst. Zu viel Angst ist, was uns lähmt. Was unsere Gedanken verwirrt und uns Fehler machen lässt. Zu viel Angst entsteht durch Unwissenheit, die sich in der Fantasie durch die Vorstellung potenziert, was alles passieren könnte. Die Kunst besteht darin, sich der Angst zu stellen, Wissen zu sammeln und sich so ihrer Macht zu bedienen.
So stand es in den Büchern von Larisan. Levarda schnaubte grimmig. Noch war sie nicht am Ende. Noch war nichts entschieden.
Levarda trug ihr rotes Kleid des Elements Feuer. Ihre Haare waren sorgsam geflochten und hochgesteckt. Hocherfreut über ihre Anfrage hatte ihre Tante dafür gern eine Magd geschickt.
Die Dienerin hatte sie dazu überredet, ein wenig Gold auf ihre Lider aufzutragen und die Augen mit einem schmalen schwarzen Strich zu betonen. Das Ergebnis gefiel Levarda sogar, da es ihrem Aussehen etwas Gefährliches verlieh, das auf gewisse Weise zu dem Kleid passte.
Lady Tibana schenkte ihr diesmal ein wohlwollendes Lächeln, als sie Levarda in einer Gruppe von Frauen auf dem Fest entdeckte. Inmitten des Glitzerns der anderen Hofdamen fiel sie zum Glück trotzdem nicht auf. Sie war entschlossen, heute zu zeigen, dass sie sich anpassen und fügen konnte. Sie vermied jeden Augenkontakt mit Männern, senkte demutsvoll den Kopf und gab sich bescheiden.
»Hmm, Lord Otis scheint sich heute sehr angeregt mit Lord Blourred zu unterhalten.« Lady Eila, die vor ihr stand und über ihre Schulter einen Blick auf die Stirnseite der Halle warf, runzelte die Stirn. Levarda unterdrückte den Impuls, sich umzudrehen.
Stattdessen fragte sie: »Was denkt Ihr, erscheint Euch Lord Blourred verstimmt?«
Erstaunt, dass sie sich für ihre Bemerkung interessierte, antwortete Lady Eila eifrig: »Nein, wohl nicht, er sieht eher amüsiert aus. Er lacht.«
Erleichtert stieß Levarda die angehaltene Luft wieder aus, jedoch nur, um sie erneut anzuhalten, weil Lady Eila plötzlich zusammenzuckte.
»Oh«, stieß sie hervor, »Lord Otis kommt auf uns zu!«
Hastig senkte Levarda den Blick und wollte dem Offizier den Weg zu Eila freigeben, da hörte sie seine herrische Stimme.
»Lady Levarda? Dieser Tanz gehört mir!«
Obwohl er sie erneut mit seinem Mangel an Höflichkeit bloßstellte, wahrte Levarda die Fassung. Sie spürte die Wärme auf ihrer Haut, während sie gegen seine Feuerkraft einen Schutzwall aufbaute, bevor sie sich langsam umdrehte. Die Augen demütig auf den Boden gesenkt, reichte sie ihm ihre Hand, um die herum sie sicherheitshalber einen weiteren Schutz wob.
Der Lord nahm ihre Hand und führte sie zur Tanzfläche. Als die Musik einsetzte, versuchte sie sich die Abfolge der Figuren in Erinnerung zu rufen. Zumindest half das bei der Wahrung ihrer inneren Ruhe.
»Hebt den Kopf, ich möchte Euer Gesicht und Eure Augen sehen, Lady Levarda.«
Sie bemühte sich um Fassung. Ihr Blick haftete weiter am Boden. Keinesfalls würde sie ihn ansehen. Sie wollte nicht ein zweites Mal in die Augen ihres Todes blicken und hoffte, ihr Tanzpartner würde es auf ihre Schüchternheit zurückführen. Schweigend beendeten sie den Tanz. Levarda atmete auf, machte einen Knicks.
Der Lord indes ließ ihre Hand nicht los. »Der nächste Tanz gehört mir ebenfalls.«
Dies war keine Bitte, sondern ein Befehl. Doch wenn er glaubte, sie würde ihre Höflichkeit vergessen und ihn stehenlassen, irrte er sich. Levarda lächelte sanftmütig, erstarrte aber, als sie fühlte, wie seine Hand sich um ihre Taille legte. Tatsächlich erklang die Musik für einen Tanz, der üblicherweise verheirateten Paaren vorbehalten war. Unverheiratete Tänzer verstießen nur in dem Fall nicht gegen die Regeln, sofern sie gebührenden Abstand voneinander hielten. Levarda versteifte sich augenblicklich und stolperte bei den ersten Schritten über ihre eigenen Füße, doch äußerst geschickt sorgte Lord Otis‘ Griff wieder für ihr Gleichgewicht, ohne dabei den Abstand zu ihr zu verringern.
»Entspannt Euch. Wenn Ihr mich führen lasst, den Kopf hebt und nicht mehr verkrampft auf Eure Füße starrt, wird es mir leichter gelingen, Euch eine Blamage zu ersparen.«
Levarda biss die Zähne zusammen und hob den Kopf ein wenig, um dezent an ihm vorbeizusehen, aber das half nicht. Im Gegenteil. Die schnellen Wendungen und Drehungen machten sie schwindlig.
»Schließt Eure Augen, vertraut mir und lasst mich führen«, raunte Lord Otis ihr zu.
Vertrauen! Welch eine Ironie! Sie kam erneut aus dem Gleichgewicht. Nur zögernd schloss sie die Augen, versuchte sich seiner Führung anzuvertrauen. Er hatte recht. So ging es leichter. Allerdings blieb die Steifheit in ihrem Körper bestehen, denn es wollte ihr nicht gelingen, sich in seiner Nähe zu entspannen. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr die Kiefermuskeln wehtaten.
Als die Musik endete, öffnete sie die Augen und sah den spöttischen Ausdruck auf Lord Otis‘ Gesicht. Er löste die Hand von ihrer Taille, doch mit der anderen hielt er sie fest. So blieb ihr keine Wahl, als einen weiteren Tanz mit ihm auszuführen. Winzige Schweißperlen traten auf ihre Stirn, aber zum Glück erklang die Musik für einen Tanz aus komplizierten Figuren mit gehörigem Abstand zwischen den Tanzenden. Sie senkte den Blick erneut auf ihre Füße.
»Ich habe Euch noch nicht gedankt.«
Verwirrt hob sie den Kopf und musterte ihn unverhohlen.
»Ihr habt Umbra vor den Lanzen meiner Männer gerettet«, fügte er erklärend hinzu.
Er wusste es! Levarda mahnte sich, auf der Hut zu sein. Hatte Sie damals seine Anwesenheit gefühlt? Sie fragte sich, was er mit dieser Offenbarung erreichen wollte.
»Möchtet Ihr meinen Dank nicht annehmen?«