Licht und Dunkelheit: Theona - Kerstin Rachfahl - E-Book

Licht und Dunkelheit: Theona E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

Licht und Dunkelheit Band 2 Theona Verstoßen von ihrer Familie. Ohne Namen, ohne Ehre und gebrandmarkt mit dem Mal des Todes der Rache, versteckt sich Theona in dem unwegsamen Gebirge des Katakamas. Bis zu dem Tag, wo sie gezwungen ist das Leben eines Todfeindes zu retten, um eine Krieg zu verhindern. Statt Dankbarkeit wird sie zu einem Todesduell aufgefordert und am Ende ist es ein Blutschwur, der ihr Schicksal besiegelt. Wasser, Feuer, Luft und Erde, die Magie der Elemente wurden den Menschen von der Göttin Lishar aus Rache geschenkt. Den dort wo Licht ist, ist auch Dunkelheit und da wo ungezähmte Kraft steckt, liegt auch das Verderben.

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Licht und Dunkelheit: Theona

Kerstin Rachfahl

Deutsche Erstausgabe November 2014

Copyright © 2014 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski, www.alexanderkopainski.de

Bildmaterial Splitter: Iraoslav Neliuboy / Licht: Ase /Rahmen: Infografx shutterstock.com

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

1. Brandmal

2. Eibalin

3. Burkas

4. Krieger

5. Flucht

6. Kampf

7. Gipfel

8. Tinau

9. Katakmas

10. Erde

11. Brüder

12. Rusem

13. Blut

14. Regiment

15. Aufbruch

16. Levarda

17. Vergangenheit

18. Erkenntnis

19. Heimreise

20. Lithanos

21. Gespräche

22. Ausflug

23. Fest

24. Verrat

25. Krieger

26. Lias

27. Kravos von Nordin

28. Krieger des Lichts

29. Blut

30. Geschwister

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

Für meinen Sohn und meine Tochter

Findet den Mut, euren eigenen Weg im Leben zu gehen.

Mama

Blutzeremonie

Blut, aus freien Stücken gegeben,

verbunden für den Rest ihres Lebens.

Der eine steht für den anderen ein,

niemand wird verloren sein.

Geschlossen ein Bund, mit Blut besiegelt,

bezwingt, was trennt, und führt zum Siege.

Eine Seele – zweigeteilt – vereint in alle Ewigkeit,

bringt auf die Welt:

Licht und Dunkelheit.

1

Brandmal

»Theona von Akliet – Ihr werdet des Mordes an Elkas von Nordin für schuldig befunden.«

Auriels Hand glitt zur Seite, wo sonst das Schwert hing, und griff ins Leere. Als Theonas Blick ihn erfasste, erstarrte er, verharrte bewegungslos, als hätte er jede Gewalt über seinen Körper verloren. Neben ihm straffte sich sein Vater, dessen Gesicht keinerlei Regung zeigte.

Die Soldaten packten seine Schwester. Ohne Gegenwehr ließ sie es geschehen. Einer der Männer ergriff das Hemd der Verurteilten, zerrte es an der rechten Schulter herunter. Die Soldaten drückten sie mit dem Oberkörper auf den Steinblock, der mitten im Raum stand. Auriel schickte einen Befehl an seinen Körper, wollte ihr zu Hilfe eilen, als sein Vater ihn am Arm packte.

»Es reicht, wenn ich heute meine Tochter verliere. Bring nicht auch noch du Schande über unsere Familie.«

Die Stimme des Vaters war nur ein Hauch, sein Blick blieb von ihm abgewandt, starr auf sein jüngstes Kind gerichtet, dessen Blick weiter auf Auriel ruhte.

Das Eisen lag im Feuer, seit sie den Raum betreten hatten. Das Urteil war klar, bevor die Anklage erfolgte. Nur mit einer Hose bekleidet zog der Vollstrecker die Stange aus der Glut. Theona presste den Oberkörper fester auf den Steinblock und biss die Zähne zusammen.

Kravos von Nordin hatte den Mann bezahlt. Langsam näherte sich das glühende Ende ihrer Schulter. Tränen schossen ihr in die Augen von dem brennenden Schmerz, als das Eisen sich in ihre Haut senkte, und ihr ganzer Wille, dem Feind nicht die Genugtuung zu geben, zerbrach in der Qual. Ihr gellender Schrei, von den Steinwänden zurückgeworfen, hallte durch den Saal.

Süßlicher Geruch von verbranntem Fleisch schwängerte die Luft und zauberte ein Lächeln auf das Gesicht von Kravos von Nordin. Seine Rache an Theona von Akliet hatte eben erst begonnen.

Der Wind heulte um das Steingebäude, das sich weit vor der Stadtmauer von Eibalin einsam in die Hügel an der Grenze der Devon duckte. Regen prasselte auf das Dach und Blitze zuckten vom Himmel, um für einen kurzen Moment das Land um das Haus in einem bizarren Licht zu erleuchten. Burkas kam es vor, als schleudere Lethos selbst seinen Zorn auf die Stadt herab. Die Unwetter der letzten Tage hatten die Kämpfe zwischen Eldemarern und Tarieken zum Stillstand gebracht. Er hoffte, die Zeit würde reichen, dass er die Saat in die Erde bringen konnte. Solange der Krieg anhielt, war die Arbeit unnütz. Aber wenn die Gerüchte von den Friedensverhandlungen stimmten, dann würde das, was er in den letzten Wochen gesät hatte, sie im Frühjahr vor dem sicheren Hungertod bewahren.

Das Geräusch, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, drang erneut aus dem Sturm zu ihm ins Haus. Er war froh, dass Riah und die Kinder vor Monaten zu seiner Schwester geflohen waren. Er verharrte und lauschte angestrengt. Ein schriller, trompetender Laut, anscheinend von einem verzweifelten Tier ausgestoßen, übertönte den heulenden Wind. Burkas griff sich seinen Mantel, dann donnerte etwas mit voller Wucht gegen die hölzerne Eingangstür und ließ sie heftig vibrieren. Hastig sah sich Burkas in der Wohnstube um und packte den nächstbesten Gegenstand, den er als Waffe gebrauchen konnte. Die Glut in der Feuerstelle schickte flackernde Lichter über die Wände. Den Schürhaken mit der rechten Hand umklammernd, hob er den Riegel an, riss die Tür auf und sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um der auskeilenden Hinterhand eines Pferdes auszuweichen. Kaum bemerkte das Tier den fehlenden Widerstand, wendete es sich zu ihm um.

Burkas starrte in das schmale, edle Pferdegesicht mit den glühenden Augen, die ihn zu durchdringen schienen. Ein weißer Stern leuchtete auf der Stirn des Tieres. Er vergaß den Regen, der ihm gnadenlos auf den Mantel über dem Nachtgewand prasselte. Dampf waberte von dem Pferd in die Luft, und es stieß ein dumpfes Prusten aus. Mit dem Kopf nickend ging es einen Schritt rückwärts. Es musste ein Traum sein. Als Burkas sich nicht bewegte, kam das Tier zurück, machte vorsichtig den Hals lang, nahm ein Stück Umhang zwischen die Zähne und zog sachte daran.

Das fein gearbeitete Kopfgeschirr, der Sattel, an dem hinten ein Bündel befestigt war, rechts ein Lederbehältnis, aus dem ein Bogen und Pfeile herausragten, und links eine Hülle mit einem Schwert – dieses Pferd gehörte einem hochrangigen Krieger. Obwohl er das Gefühl hatte, sein Gehirn könne all die Informationen nicht verarbeiten, kamen diese Wahrnehmungen an, und Burkas versuchte das, was er sah, mit Sinn zu füllen. Erst, als ein zorniger Blitz vom Himmel zuckte und dicht neben der Behausung in den Boden einschlug, bemerkte er, dass das Tier ihn mit hinausgezerrt hatte. Für einen kurzen Moment erschien es Burkas, als hätte er in dem Licht einen dunklen, länglichen Haufen auf der Erde gesehen.

Donner grollte über die Ebene. Niemand würde sich heute Nacht draußen aufhalten – außer er war lebensmüde. Weder bei dem Blitz noch bei dem Donner hatte das Pferd auch nur gezuckt. Stattdessen schubste es Burkas mit der Nase auffordernd in die Richtung, wo der Blitz eingeschlagen war.

Burkas stolperte über die eigenen Füße.

»Lass das«, schimpfte er, als er einen weiteren Schubser bekam. Selbst wenn er in die Hütte hätte zurückkehren wollen – es ging nicht. Das Tier ließ ihm mit seiner Entschlossenheit keinen Entscheidungsspielraum und hatte sich zwischen ihm und der Tür platziert. Entweder kämpfte er gegen es an oder er wanderte in die Dunkelheit hinaus. Er zog den Mantel enger an den Körper. Leise schimpfend setzte er einen Fuß vor den anderen, während er versuchte, sich durch die Körperhaltung ein wenig vor den tobenden Elementen zu schützen. Von hinten trieb das Pferd ihn gnadenlos vorwärts. Als er auf etwas Weiches trat, schrie er auf und starrte auf ein Bündel. Er ging in die Hocke, berührte es vorsichtig und erkannte, dass es ein Mensch war.

Das Pferd kniete sich nieder, legte sich zur Seite, sodass sein Rücken an dem Körper des Bündels zu liegen kam. Burkas verstand, was es von ihm wollte, bewegte zögernd die Hand zum Hals der Person, als hätte er Angst, dass er zu spät kam. Ein schwaches Pulsieren beruhigte ihn. Burkas ging auf die andere Seite des Tieres, griff über es hinweg und zerrte an den Armen des Bewusstlosen, bis sein Kopf das Ende des Pferdebauches berührte.

Mit derselben Achtsamkeit, wie es sich auf die nasse Erde gelegt hatte, erhob sich das Pferd und ließ Burkas Zeit, dafür zu sorgen, dass das Bündel über dem Sattel liegen blieb. Mit weichen, federnden Schritten schlug es den Weg zurück ein. Vor der Tür blieb das Pferd stehen. Burkas zog den Bewusstlosen herunter, innerlich auf erhebliches Gewicht gefasst, und wurde überrascht von der leichten Gestalt in seinen Armen. Er wandte sich zur Tür, die er offen gelassen hatte, und fluchte, als er die Pfütze in der Wohnstube sah. Er trug die Last über die Schwelle, trat die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Der Riegel fiel herunter, als er ihm mit dem Ellenbogen einen Schubs gab.

Ein Instinkt sagte ihm, dass das, was er machte, gefährlich für ihn werden konnte. Behutsam legte er den Mann vor der Feuerstelle ab, in der die Flammen munter tanzten. Er zog erst den durchweichten Mantel aus und hängte ihn an den Haken dicht am Feuer. Auch die Stiefel ließ er dort.

Seufzend betrachtete er das Bündel auf dem Boden, das hier in der Stube viel kleiner wirkte als draußen in der Nacht. Sein Blick glitt über die nasse, dunkle Kleidung. Ein Tuch war in der Art der Wüstenvölker um den Kopf des Reiters geschlungen. Er trug eine dunkelbraune, lederne Hose, ein schwarzes, dickes Wams und darüber einen festen Umhang. Ein feucht glänzender Stiefel ragte darunter hervor.

Die Erkenntnis, wer da auf dem Boden in seiner Hütte lag, ließ Burkas scharf die Luft einziehen. Hastig überwand er die kurze Distanz, fiel auf die Knie, drehte den Mann auf den Rücken. Er schaute in ein zierliches, scharf geschnittenes Gesicht mit vorwitzigem Kinn und einer Stupsnase, schmalen hellbraunen Augenbrauen, die sich in einem feinen Bogen über den Lidern wölbten. Er hatte sich die Gesichtszüge des Mannes grobschlächtiger vorgestellt, markanter, mit Narben oder sonst irgendetwas, aber nicht so wie das Gesicht einer Frau mit seidenweicher Haut. Burkas verzog den Mund. Der Krieger des Lichts hier in seiner Hütte – und natürlich verstand er jetzt, weshalb ihn der Anblick des Pferdes zuvor so gelähmt hatte. Tiela, die Tänzerin – jeder aus Eibalin, nein, aus ganz Tarieken, kannte die Legenden, die sich um diese Stute rankten. Und hatte er selbst nicht am eigenen Leib ihre Loyalität zu ihrem Herrn erlebt? Die Intelligenz in den wachen Augen erkannt? Welches Tier hätte in dem Sturm Hilfe für seinen Reiter gesucht? Keines!

Der Krieger bewegte die Lippen und seine Lider fingen an zu flattern.

»Tiela«, wisperte er brüchig. Schlagartig öffnete er nun die Augen und starrte Burkas an – ein brennender Blick aus Augen in der Farbe von Waldhonig. Blitzschnell ergriff er den Kragen von dessen Nachtgewand, zerrte Burkas mit einem Ruck herunter.

Burkas‘ Herz setzte aus, begann dann zu rasen. Ein Dolch ritzte zart seinen Hals. Ohne Aufforderung verstand er, was der Mann wissen wollte.

»Sie ist draußen, Krieger des Lichts.«

Er wagte nicht, sich zu rühren, wagte es nicht einmal zu atmen, während der Blick des Mannes seine Seele durchbohrte. Ein eigenartiges Gefühl strömte von dort, wo die Hand ihn gepackt hielt, in seinen Körper und lähmte jeden Muskel.

»Wenn Ihr mich loslasst, bringe ich sie in den Stall, trockne sie ab und gebe ihr Futter.«

Der Griff lockerte sich, der Dolch sank nach unten.

»Geht!«

Trotz des Unwetters stand das Pferd noch an derselben Stelle, an der Burkas den Reiter von ihm herabgezogen hatte. Voller Respekt trat er an den Kopf der Stute heran.

»Er lebt. Folge mir, damit du dich ausruhen kannst.«

Aufmerksam spielten die Ohren des Tieres, lauschten seinen Worten.

Das Pferd folgte ihm, als er den Weg zum Stall einschlug. Und so plötzlich, wie der Sturm in der Nacht ausgebrochen war, so unvermittelt legte er sich. Der Wind jagte die Wolken vom Himmel und der volle Mond erleuchtete ihren Weg.

2

Eibalin

Die Sonne durchbrach den Horizont und schickte ihr rotgoldenes Licht über die Ebene von Aludin. Die Stadt Eibalin lag mitten im letzten vorwinterlichen Grün der umliegenden Wiesen.

Einige Häuser lehnten sich vorwitzig dicht an die erste Festungsmauer, die die Einwohner vor Angriffen schützte. Ein Ring hinter dem anderen folgte bis zum innersten Kern. Oben auf dem Hügel leuchtete sandfarben das Haus des Statthalters.

Die Stoppeln der abgeernteten Felder erzeugten ein Schattenspiel in der Dämmerung des anbrechenden Tages. Träge floss der Tevor, der die Ebene in zwei Hälften zerschnitt, dahin. Dort, wo die Sonne emporkroch, hinter Eibalin, tauchten die Hügel und Wälder der Devon auf, die sich bis zum Meer hinzogen, eine weich und rund geformte, fruchtbare Landschaft mit mildem Klima. Diesem Lauf folgte auch der Fluss Tevor, der in dem unwirtlichen und zerklüfteten Katakmas entsprang, einem imposanten Gebirgszug, den ein schmaler Pfad durch eine Schlucht zerschnitt. Diese Schlucht war neben dem Seeweg die einzige Verbindung zwischen Tarieken und Eldemar. Der Blick von der Residenz aus bis hin zu den Rändern des Katakmas war überwältigend. Die Landschaft der Devon wandelte sich in Richtung Eldemar zu einer Wüste, bewohnt nur von den Wüstenstämmen, die jede Wasserquelle kannten und wussten, wo die tückischen Treibsandflächen auf Opfer warteten.

Die weißen Atemwolken vor Theonas Mund wichen der Wärme der Sonne. Für einen Moment ließ sie die Strahlen an ihr Gesicht, bevor sie das Tuch hochzog, das es bis auf die bernsteinfarbenen Augen verbarg. Nur Männer durften Geschäfte mit den Händlern auf dem Markt von Eibalin, einer der bedeutendsten Handelsstädte des Landes, machen. Die Bauern der Devon boten ihre Ernte an, der Tevor brachte die fremdländischen Waren der Seefahrer in das Landesinnere, die Wüstenvölker ihre Stoffe und ihre kostbaren Pferde.

Theona lenkte die Stute die steile Böschung an den Ausläufern des Katakmas hinunter, nachdem sie ein letztes Mal kontrolliert hatte, dass der Stern auf der Stirn des Pferdes vom Staub verdeckt wurde. Ihr Packpferd, ein kräftiger Wallach, voll beladen mit Fellen, verlagerte sein Gewicht auf die Hinterbeine und ließ sich hinunterrutschen.

Kopfschüttelnd beobachtete sie die kräfteschonende Fortbewegung des Tieres. In seiner geruhsamen und intelligenten Art hatte er ihr oft genug in unwegsamem Gelände das Leben gerettet. Keiner kannte das Gebirge so genau wie Atantuch, der Besonnene, wie sie den Wallach getauft hatte. Tiela, die Tänzerin – den Namen hatte ihr Vater dem Tier gegeben – ahmte ihren Kameraden nach, der sie inzwischen mit seiner unkonventionellen Fortbewegungsart überholt hatte, denn das passte der Stute überhaupt nicht. Sie nahm das letzte Stück in einem eleganten Satz, der Theona fast aus dem Sattel katapultiert hätte, und beendete den Wettstreit mit dem Wallach als Siegerin.

»Tiela, mein Mädchen, sei vorsichtig und nimm dir ein Beispiel an Atantuch«, schalt Theona sie sanft.

Sie lenkte beide Tiere zur Handelsstraße hin, die durch die Schlucht, die den Katakmas zerteilte, in das Gebiet der Eldemarer führte – Richtung Stadt.

Der Waffenstillstand zwischen den Völkern währte jetzt knapp drei Winter. In den Festungsmauern von Eibalin zeugten tiefe Kerben von den letzten Schlachten, und wenn Theona die Hand auf die Erde legte, durchströmte sie noch immer der Geruch vom Blut, das dort vergossen worden war. Den Friedensvertrag verdankten die Tarieken ihrem Bruder, Auriel von Akliet. Er hatte gegen den Willen des Heerführers Kravos von Nordin die Verhandlungen mit Prinz Thelos von Eldemar geführt. Der wiederum hatte eine für sein Alter erstaunliche Weitsicht bewiesen und die Kraft, über Stolz und Eitelkeit hinwegzusehen – im Gegensatz zu dem vor sieben Wintern verstorbenen Prinzen Tarkan. Mit dem Tod des Thronfolgers war Prinz Thelos zum Erben des Königstitels aufgerückt.

Vereinzelte Händler tauchten auf dem Weg zur Stadt auf, dann, an der Kreuzung, wo die Pfade aus der Devon und der Wüste Rikatah auf die Handelsstraße trafen, verdichtete sich die Menschenmenge.

Die Veränderungen in den letzten Wintern des Friedens erstaunten Theona immer wieder. Die Stadt Eibalin glich einem Ameisenhaufen, der einen Festungsring nach dem anderen baute und so Stück für Stück weiter in die Ebene wuchs. Trotz der gefährdeten Lage bei einem Krieg mit den Nachbarn zog der Handel die Menschen in die Stadt. Neben Baaren, der Hauptstadt von Tarieken, zählte Eibalin zu den größten Städten des Landes. Hauptsächlich lebten hier Soldaten, zahlenmäßig gefolgt von den Bevölkerungsschichten der Händler und Handwerker und schließlich der Bauern. An der Enge, dort wo die Hügel des Devon fast die Ausläufer des Katakmas berührten, stand die Festung der Tarieken.

Theona kontrollierte den Sitz des Gesichtstuchs, bevor sie an den Wachen vor dem Stadttor vorbeiritt. Dieses neueste Tor war weniger massiv konstruiert als die anderen und die des innersten Rings. Warum die Soldaten am Tor standen, entzog sich dennoch ihrem Verständnis, denn sie winkten die Reisenden und Händler einfach durch. Niemand kontrollierte die Passierenden auf ihre Bewaffnung. Einer der Wächter erkannte sie von früheren Besuchen und hob grüßend die Hand. Als das Treiben in der Stadt dichter wurde, stieg Theona ab und führte die Pferde. Unruhig spielten Tielas Ohren. Zum Glück lag ihr erstes Ziel in einer schmalen Gasse, in der sich weniger Menschen herumtrieben.

»Seid gegrüßt Sohn der Wüste, der im Katakmas lebt.«

»Auch ich grüße Euch, Heiler.«

»Fandet Ihr das Gentiana lutea für mich?«

»Nach Eurer vortrefflichen Zeichnung war es ein Leichtes, die Pflanze zu finden, Kundiger.«

»Sofern Ihr von der Schwierigkeit abseht, in das Verbreitungsgebiet des Gewächses vorzudringen«, erwiderte der Mann mit einem wissenden Lächeln. Er war klein, gedrungen und kahlköpfig und hatte hellblaue, etwas durchsichtig wirkende Augen, die gerade sehr glücklich strahlten.

Sie brachte alle Beutel mit den kostbaren Heilkräutern herein, und er roch prüfend an ihnen oder zerrieb ein wenig von dem Inhalt zwischen den Fingerspitzen. Schließlich seufzte er abgrundtief.

»Ich fürchte, Kilihael, ich kann Euch all die wertvolle Ware unmöglich abkaufen.«

»Gebt mir das, was Ihr übrig habt, und dann noch etwas von den schmerzlindernden Blättern, dem Öl, das die Muskeln entspannt und der Salbe, die die Haut heilen lässt.«

»Ein wenig würde nicht reichen. Da müsste ich Euch schon meine kompletten Vorräte geben.«

Er schaute finster, aber strahlte dann mit einem Mal wieder. Bevor Theona ihm erklären konnte, dass sie ihm den Rest schenken würde, verschwand er hinter einem Vorhang. Kurz darauf kam er mit einem ledergebundenen Notizbuch zurück.

»Damit begleiche ich wenigstens ein Stück weit die Schuld bei Euch.«

Achtsam nahm Theona es entgegen. Sie schlug es auf, blätterte, starrte den Mann an, der ihr ein Päckchen mit den gewünschten Heilmitteln zusammenstellte.

»Das kann ich unmöglich annehmen!«

»Doch das könnt Ihr, es sind meine Aufzeichnungen und ich schenke sie Euch. Die Zeiten ändern sich, hört man darauf, was die Reisenden wispern. Bald wird es zu gefährlich für Euch werden, nach Eibalin zu kommen und Handel zu betreiben.« Er umschloss ihre Hände, lächelte sie wehmütig an. »Ich werde Euch vermissen.« Er drückte ihr noch das Päckchen in die Hand. »Und nun geht, bevor Euch jemand sieht, der Euch nicht sehen darf.«

Er schob sie energisch aus der Tür, sodass die Frage, was er damit hatte sagen wollen, unausgesprochen blieb. Unwillkürlich sah sie über die Schulter, kontrollierte das Aussehen von Tiela und zog die schwarzen Tücher ein Stück höher.

»Oh nein, keineswegs kaufe ich diese minderwertigen Felle von Euch! Wo ist die Ware, die Ihr mir verspracht?«

»Der Lieferant erscheint hier nur drei Mal im Jahr und ist bisher noch nicht aufgetaucht. Gebt Euch zufrieden mit meiner durchaus akzeptablen Ware oder zieht mit leeren Händen von dannen.«

Hastig sprang Theona zur Seite, als ein eldemarischer Händler kopfschüttelnd aus dem Laden kam, doch er würdigte sie keines Blickes.

»Barbaren, diese Eldemarer, allesamt Barbaren! Glauben, alles müsste ihnen zu Füßen liegen und nur ihnen stünden die besten Felle zu. Pah! Er macht ein Vermögen mit meiner Ware und krittelt dennoch ständig daran herum.«

Theona verbiss sich ein Lachen. »Dann verkauft sie an das tariekische Königshaus oder die Forraner.«

»Ihr! – Wo wart Ihr so lange? Sonst trefft Ihr eine Woche nach der Ernte ein. Euretwegen vergraule ich meine beste Kundschaft.«

»Der letzte Winter war hart, und der Wildbestand im Katakmas brauchte Zeit für die nachfolgende Generation. Dafür bringe ich Euch diesmal besonders feine Felle mit.«

Gemeinsam gingen sie durch den Nebeneingang zum Stall, der an das Geschäft angrenzte. Der Groll verschwand augenblicklich aus dem Gesicht des Händlers, als er den vollgepackten Atantuch sah, und Theona glaubte in seinen Augen das Gold zu sehen, das er mit ihrer Ware einzunehmen gedachte.

Als sie diesen letzten Handel abgeschlossen hatte, hingen die Münzen schwer an Theonas Gurt. Zeit, sie in etwas Nutzbringendes umzuwandeln. Ihr erster Weg führte sie zu dem Buchhändler. Während er Kundschaft bediente, streifte sie die Regalwände entlang. Welchen Schatz wollte sie diesmal mitnehmen? Die Qual der Wahl ließ sie tief seufzen.

»Keines von denen!«

»Bitte?«

Sie drehte sich zu dem Buchhändler um. Der sie schmunzelnd betrachtete.

»Für Euch bewahre ich ein besonderes Buch im Hinterzimmer auf. Jolanda! Übernimm den Laden für mich.«

Eine ältere Dame kam hinter einem Regal hervor.

»Kilihael – der Mann meiner Träume. Wann macht Ihr mir endlich einen Heiratsantrag?«

Theonas Verlegenheit reizte die Sprecherin zum Lachen.

»Keine Sorge, ich weiß, dass ich zu alt für Euch bin. Aber auch Ihr werdet älter und solltet Euch langsam eine Frau zulegen. So erlöst Ihr die armen, schmachtenden Mädchen aus Eibalin, die sich nachts wegen Euch die Augen ausweinen.«

Theonas ganzer Körper verspannte sich, und sie verfluchte das lose Mundwerk der Mutter des Buchhändlers. Trotzdem bewahrte sie würdevoll Haltung.

»Ihr vergesst, welchen Namen ich trage. Welche Frau heiratet einen Mann ohne Abstammung und Ehre?«

»Ihr täuscht Euch! Ihr besitzt Geld, Bildung, einen wachen Verstand, und Ihr könnt lesen! Ihr seid höflich, zuvorkommend und behandelt jeden mit Respekt. Noch nie hörte ich ein unfeines Wort über Eure Lippen kommen. Und glaubt nicht, es bliebe unbemerkt, dass Ihr den Bettlern bei jedem Besuch in der Stadt etwas gebt. Ja, die Mauern besitzen Augen! Ein Mann wie Ihr ist ein Licht in der Dunkelheit. Euch lägen die Herzen der Bewohner zu Füßen, selbst wenn Ihr das Brandmal des Todes tragen würdet.«

Wie unter einem Peitschenhieb zuckte Theona zusammen, und verfluchte ihre Reaktion. Ihr Herz raste. Wie wahr diese Worte waren, ohne dass die Sprecherin es ahnte.

»Jolanda, wie oft muss ich dich ermahnen, dass du unseren Wüstenkrieger mit deinen Verkuppelungsversuchen in Ruhe lassen sollst! Geh, mach dich nützlich und verkaufe Bücher.«

Er zerrte an Theonas Ärmel, als sie ihm nicht sofort folgte. »Kommt, Herr, und seht, was für eine Kostbarkeit ich für Euch aufbewahre.«

Geschickt vermied er es, den unehrenhaften Namen »Kilihael« auszusprechen. Ein Kribbeln kroch Theona von den Füßen hoch bis zum Kopf. Hätte sie Fell gehabt, es hätte sich gesträubt, so intensiv lag die Spannung in der Luft. Angefangen von dem Heilkundigen bis hierhin folgten ihr Andeutungen und Gerüchte. Der Name Kravos von Nordin machte im Flüsterton die Runde in der Menschenmenge.

»Hier. Ist es nicht wunderbar?«

Der Buchhändler schlug das Tuch auf, das das Buch geschützt hatte. Seufzend strichen seine Finger über den kostbaren Einband. »Es ist uralt und stammt aus dem Land jenseits des Meeres.«

Theona vergaß das ungute Gefühl und starrte auf das dunkel gefärbte Leder, in das Sterne eingeprägt waren, die an manchen Stellen noch golden schimmerten. Wie so oft, wenn sie einer solchen Kostbarkeit gegenüberstand, erfasste sie Ehrfurcht.

»Darf ich?«

»Selbstverständlich!«

Achtsam schlug sie das Buch auf, trat einen Schritt dichter heran und blätterte darin. »Es ist auf Eldemarisch geschrieben. Wie kann das sein?«

»Man erzählt sich, dass einst ein Sohn aus dem Geschlecht der Bersaken auf das Meer hinausfuhr und nie wieder zurückkehrte. Wer weiß, vielleicht stammt das Buch von ihm?«

»Wie seid Ihr in den Besitz dieses Exemplars gelangt?«

Tadelnd schnalzte der Buchhändler mit der Zunge.

»Ihr wisst, dass ich meine Quellen niemals preisgebe.«

»Es kostet doch ein Vermögen.«

»Keine Sorge, Ihr könnt es Euch leisten.«

»Wovon handelt es?«

»Von den Sternen.«

»Den Sternen?«

»Ja, und wie sie uns den Weg in der Dunkelheit zeigen.«

»Es ist viel zu kostbar für mich.«

»Nein, es ist nur für Euch. Niemand anderer als Ihr weiß ein solches Buch zu schätzen. Wer sonst, außer Euch, kann Eldemarisch lesen? Und an die Barbaren wäre es verschwendet. Außerdem braucht es einen Verstand, um zu begreifen, was zwischen diesen Buchdeckeln geschrieben steht. Es ist für Euch vorgesehen!«

Oh, dieser gerissene Buchhändler! Er wusste genau, wann er sie am Haken hatte. Ja, und auch dass sie ohne mit der Wimper zu zucken exakt den Preis bezahlen würde, den er von ihr verlangte.

»Wie viel?«

»Fünf.«

»Fünf Sertzen?«, versuchte sie mit einem Scherz den Schock über den Preis zu überspielen.

»Sertzen?! Ihr enttäuscht mich! Seit wann wisst Ihr den wahren Wert eines Schatzes nicht mehr zu würdigen?«

»Drei Goldstücke oder Ihr behaltet es und sucht Euch jemand anderen für den Wucherpreis!«

»Drei?! Die Sonne muss dieses Jahr Euren Verstand ausgedorrt haben!«

Sie nahm die Finger vom Einband, machte einen Schritt zurück.

»Wartet! Einverstanden. Aber nur weil Ihr es seid!«

Sie sah ein zufriedenes Grinsen über die Miene des Mannes huschen, und doch trübte es ihre Freude in keiner Weise. Achtsam hüllte sie das Buch wieder in die Tücher ein.

»Willkommen, Kilihael«, begrüßte Riah sie, als sie die Pferde an den Ställen vorbei zum Haus lenkte. Burkas, Riahs Mann hatte ihr den Namen gegeben. Sie verdankte ihm ihr Leben in vieler Hinsicht. Niemals würde sie diese Schuld bei ihm begleichen können.

»Wie geht es deinem Rücken?«

Riah winkte ab.

»Dem ist nicht zu helfen. Es ist das Alter.«

Theona schüttelte den Kopf. Riah zählte höchstens zehn Winter mehr als sie. Die Arbeit auf dem Hof und den Feldern, die Geburt von drei Töchtern und zwei Söhnen und die Hausarbeit – das alles forderte seinen Tribut. Sie kam aus einer Bauernfamilie und hatte schon ihre Kindheit mit Feldarbeit verbracht.

Theona holte die Lederbeutel von Atantuchs Rücken. Lias, der jüngere Sohn der Familie, nahm ihr beide Pferde ab und brachte sie in den Stall.

»Er ist gewachsen.«

»Ja, viel zu rasch vergeht die Zeit«, seufzte Riah.

Theona nickte. Sie wusste, was sie meinte. Jeder zweite Bursche in einer Familie gehörte dem König für seine Armee. Auch wenn der Krieg mit Eldemar beendet war, gab es Streitigkeiten zwischen den einzelnen Herrschaftshäusern. Außerdem währte kein Friedensvertrag ewig, solange Kravos von Nordin an der Spitze des tariekischen Heeres stand.

Während Theona den einen Beutel dem ältesten Mädchen von Riah gab, schimpfte diese leise.

»Du verwöhnst die Kinder mit all deinen Geschenken.«

»Nur ein paar Süßigkeiten und Früchte«, wehrte sie ab. Sie liebte den Glanz in den Augen der Kinder, ihr fröhliches Lachen, wenn sie sich auf die Leckereien stürzten oder anfingen, Tauschverhandlungen zu führen. Sie wusste, dass es Riah genauso freute. Geld war ein knappes Gut in der Bauernfamilie.

»Was hast du in dem zweiten Säckchen?«

Auch Riah entzückten Geschenke, und es erleichterte Theonas Gewissen, ein wenig von dem zurückzuzahlen, was sie der Familie schuldete.

»Das zeige ich dir drinnen.« Verschwörerisch blinzelte sie Riah zu.

Gemeinsam gingen sie ins Haus. Aus dem Beutel holte Theona einen Sack mit braunen Kugeln heraus, die fast wie der Kot eines Hasen aussahen. Riah nahm eine davon in die Hand, roch vorsichtig daran und biss dann, bevor Theona sie davon abhalten konnte, hinein. Angewidert verzog sie das Gesicht.

»Pfui! Was ist das?«

»Nicht so, lass mich das machen.«

Theona ging erst zum Herd, um Wasser zu erhitzen, holte ein kleines Gerät mit einer Kurbel an der Seite aus dem Beutel, stellte es auf den Tisch und füllte oben die braunen Kugeln hinein. Dann begann sie, die Bällchen zu mahlen. Das Pulver, das unten herauskam, verteilte sie auf zwei Becher und schüttete das heiße Wasser in die Gefäße. Zwischendurch prüfte sie den Geschmack, und erst als ihr die gesamte Beschaffenheit des Tranks perfekt mundete, reichte sie Riah einen der Becher.

»Vorsichtig nippen, die Flüssigkeit einen Moment im Mund halten und runterschlucken.«

Zuerst versuchte Burkas‘ Frau einen winzigen Schluck. Ihre Augen begannen zu leuchten.

»Das ist köstlich, was ist das?«

»Es nennt sich Tijuam und stammt aus Eldemar.«

»Hm, ich muss sagen, die Eldemarer wissen, wie man das Leben genießt. Wusstest du, dass die Dächer auf dem königlichen Palast in ihrer Hauptstadt aus purem Gold sein sollen?«

»Ich hab davon gehört.«

»Und wusstest du, dass die Krieger des Inneren Kreises nicht nur die besten Kämpfer sind, sondern auch die ansehnlichsten und stattlichsten, damit ihr Anblick der Königin schmeichelt?«

»Ja, und sie feiern dunkle Beschwörungsfeste, um den Willen unschuldiger Frauen zu brechen und sie zu Sklavinnen der Lust zu machen.«

»Ehrlich?« Riah sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Nein, du solltest nicht allem Glauben schenken, was dir erzählt wird.«

»So einen Krieger aus dem Inneren Kreis würde ich trotzdem gerne sehen.«

»Wünsche dir das niemals. Grausame und erbarmungslose Bestien sind sie. Du würdest dir den Tod herbeisehnen, wenn du ihnen begegnetest.«

Sie sah Riah an, dass ihr die Frage auf der Zunge brannte, wie sie zu dieser Erkenntnis kam, und ärgerte sich über ihre unbedachten Worte. Je weniger Burkas‘ Frau von ihrem früheren Leben wusste, umso besser. Sie verdrängte hastig den Gedanken, in welche Gefahr sie die Familie mit ihrer bloßen Anwesenheit in der ohnehin überfüllten Behausung brachte.

»Ist dein Mann in der Stadt? Ich habe ihn heute auf dem Markt nicht gesehen.«

»Nein, er ist seit zwei Wochen unterwegs, aber wir erwarten ihn noch vor dem Vollmond zurück.« Riah seufzte tief.

Theona wusste, dass sie ihren Ehemann vermisste. Die Zuneigung zwischen den beiden ließ sich deutlich an ihren Augen ablesen, wann immer sie sie zusammen angetroffen hatte, sie zeigte sich aber auch in den kleinen Gesten: wenn Burkas mit dem Zeigefinger zärtlich seiner Frau über die Nase strich, oder wenn sie Blicke voll scheinbar unstillbarem Verlangen austauschten. Theonas eigener Vater hatte nie diesen Ausdruck im Gesicht gehabt, wenn er die Mutter ansah, aber das geschah ohnehin nur zu außergewöhnlichen Anlässen. Sie hatte nie gesehen, dass er sie jemals berührt hätte.

Schweigend genossen sie das heiße Getränk. Es hatte eine anregende Wirkung, brachte das Blut dazu, rascher im Körper zu zirkulieren, und machte den Geist wach. Zu viel davon löste allerdings ein unkontrolliertes Zittern aus. Davor hatte sie der Verkäufer gewarnt. Bisher hatte Theona von dem Getränk nur gelesen. Heute hatte sie es zum ersten Mal bei einem Händler aus Eldemar gekostet und beschlossen, außer sich selbst auch der Bauernfamilie damit ein Geschenk zu machen.

»Ich fühle mich, als wäre ich eben erst aufgestanden und hätte nicht den Tag über auf dem Feld gearbeitet.«

»Ja, aber du musst vorsichtig sein. Ihr dürft nie mehr als zwei Becher am Tag davon trinken.« Theona schlürfte genussvoll den letzten Rest der Flüssigkeit. »So, und jetzt kümmern wir uns um deinen Rücken.«

Skeptisch sah Burkas‘ Frau sie an.

»Was hast du vor?«

Ohne auf Riahs Zögern zu achten, zog sie sie in das Schlafzimmer des Hauses, drückte sie auf das Bett und öffnete ihr Kleid. Trotz Riahs verschämten Protests brachte Theona sie dazu, sich auf den Bauch zu legen, schob ihr das Hemd hoch und verteilte ein paar Tropfen eines duftenden Öls aus einem kleinen Fläschchen auf ihrem Rücken.

Sanft kreisten ihre Hände über die Muskeln und massierten die Flüssigkeit in die Haut ein, so wie es der Heilkundige ihr erklärt hatte. Die harte Muskulatur begann weicher zu werden. Rote Stellen erschienen auf der bearbeiteten Fläche und Riah seufzte entspannt. Schließlich hörte Theona an den gleichmäßigen Atemzügen, dass sie trotz Tijuam eingeschlafen war.

Überrascht blieb Burkas an der Tür zur Küche stehen. Kilihael saß mit den Kindern am Tisch. Ein reichhaltiges Mahl war vor seiner Familie aufgetürmt, die kräftig zulangte. Die Mädchen überschütteten die Frau gerade mit Fragen zu einer Geschichte, die sie von ihr gehört haben mussten. Wohlwollend hörte sie geduldig zu und gab Antworten. Der Kleinsten, deren Wortschatz nur wenige Worte umfasste, half sie, gegen die größeren Geschwister anzukommen. Wenn er es recht verstand, ging es darum, wieso Lishar ihre Liebe zu Lethos geopfert hatte. Eine Strähne von Kilihaels goldblondem Haar schlängelte sich um den Finger seiner Ältesten, die es sanft mit dem Daumen streichelte, während sie völlig versunken dem Gespräch am Tisch lauschte.

Wie anders die Kriegerin des Lichts heute aussah. Sie hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem Haufen abgemagerten Elends, geschunden und gefoltert, der doch in eine Aura des Lebens gehüllt gewesen war. Die dunklen, feinen Linien in ihren Augen – wie ein geheimnisvolles Netz, das alle gefangen hielt, die hineinblickten. Die Wangen waren von der Hitze des Feuers zart gerötet. Die Haut schimmerte in einem tiefen Karamellton. Normalerweise trug Kilihael die Haare zu einem Zopf geflochten, obwohl er ihr damals geraten hatte, es wie ein Mann kurz zu schneiden. In der Öffentlichkeit verbarg sie es unter einem Turban und ihr Gesicht hinter einem Tuch, sodass nur die Augen sichtbar blieben. Ein Krieger aus dem Stamm der Wüstenvölker war ein alltäglicher Anblick in der Stadt und bei den Händlern. Dennoch schwirrten bereits Gerüchte über diesen Wüstenmann durch Eibalin. Mit dem ungewöhnlichen Blick, der einen gefangen nahm, so scheu, und doch selbstsicher in seinem Wesen, verlässlich und ehrlich, weckte dieser Reiter Neugierde.

Kilihael, das war sein Vorschlag für ihren neuen Namen gewesen. Viele Menschen ohne Abstammung, Familie und Ehre trugen ihn. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Im Gegenteil – die Menschen mieden den Umgang mit ihnen. Er hatte gedacht, der Name würde ihr Schutz bieten, doch sie hatte es geschafft, ihm eine Außergewöhnlichkeit zu verleihen.

Burkas lächelte, als er sah, wie Kilihael seiner Ältesten zart über den Kopf strich. Vermutlich hatte Isiah so lange gebettelt, bis sie den Zopf öffnete. Ihr Haar floss in sanften Wellen wie gesponnenes Gold hinab bis zu den Ellbogen. Das machte ihr Gesicht weicher und milderte den tiefen Ernst in seinem Ausdruck.

Als er Isiah einmal ermahnt hatte, dass sie Kilihael nicht bedrängen solle, hatte sie ihm gesagt, das Haar fühle sich seidenweich an und flauschig.

3

Burkas

Kopfschüttelnd betrachtete Burkas von der Tür aus seine fünf Sprösslinge, die an Kilihaels Lippen hingen und ihn überhaupt nicht wahrnahmen. An der Art, wie die Frau kurz ihren Waffenarm anspannte und wieder entspannte, erkannte er, dass sie ihn längst bemerkt hatte. Sie erzählte den Kindern eine weitere Geschichte von der dunklen Katze, mit der sie das Jagdrevier teilte. Diesmal handelte sie von einem Schneesturm, der sie in den Gipfeln des Katakmas erwischte, und davon, wie das Raubtier sich neben sie legte und sie mit der Wärme seines Körpers vor dem Erfrieren rettete. Die Kinder liebten natürlich die Vorstellung, dass Kilihael mit einer Raubkatze zusammenlebte, aber ihm lief bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Er hatte gehört, wie sie mit den Pferden sprach, und auf unerklärliche Art kam es ihm so vor, als würden diese sie verstehen. So wie die Tiere dem Klang ihrer weiblichen Stimme gebannt lauschten, so machten es auch die Kinder – und auch er und Riah. Und wenn sie sang, verschwand um sie her die Welt mit all ihren Sorgen, man tauchte ein in ein Reich voller Abenteuer, Liebe, Leid, Trost oder Hoffnung, je nachdem, welches Lied sie wählte.

Sein Blick streifte über die Runde am Tisch, er konnte jedoch Riahs rotblonden Haarschopf nicht entdecken. Er runzelte die Stirn, denn normalerweise genoss seine Frau Kilihaels Anwesenheit und teilte diese Zeit nur ungern mit ihren Söhnen und Töchtern. Als er sich räusperte, zuckten die Kinder zusammen.

Der Ansturm von Begeisterung, der folgte, zwang ihn in die Knie. Nach nur zwei Wochen Abwesenheit wurde er schon begrüßt wie ein Held. Er verdrängte die düsteren Gedanken, die er seit dem geheimen Treffen mit dem Abgesandten Auriel von Akliets nicht mehr loswurde. Kilihael begann sich die Haare zu flechten, und wenige Augenblicke später war sie wieder in einen Sohn der Wüste verwandelt.

»Burkas, du bist zurück?« Ein wenig zerknautscht, aber strahlend kam Riah aus dem Schlafzimmer. Der Lärm der Kinder hatte sie geweckt.

Zärtlich nahm Burkas sie in die Arme und zog sie dicht an sich. »Ich habe dich vermisst«, flüsterte er ihr liebevoll ins Ohr. Als Antwort drückte Riah ihren Leib ein Stück fester an ihn. Er spürte das Feuer, das sie auch nach so vielen Wintern in ihm entfachen konnte, und küsste sie sanft auf den Mund. Ihr Kuss wurde inniger, fordernder.

»Igitt«, schrie Finja, die mittlere Tochter. »Müsst ihr das hier machen?«

Riah und Burkas lösten sich voneinander und lachten verlegen. Burkas‘ Blick streifte Kilihael, deren Anwesenheit er völlig vergessen hatte. Die Augen konzentriert auf den Tisch gerichtet, pickte sie Brotkrümel von der Tischplatte zusammen.

»Kinder, versorgt die Pferde, bringt den Wagen in den Stall, räumt meine Sachen weg – und dann dürft ihr noch draußen spielen, solange es hell ist. Ach ja, und wenn ihr einen dunklen Stoffbeutel findet …«

Weiter kam er nicht. Kreischend rannten die Kinder los, um die Anweisungen zu befolgen. Dass der erwähnte Beutel Geschenke für sie enthielt, darüber brauchte er kein Wort zu verlieren, das wussten sie auch so. Riah nahm ihm den Reisemantel ab, und er setzte sich neben Kilihael an den Tisch, die mit einem tiefen Atemzug aufstand.

»Ich muss aufbrechen.«

Burkas sah ihr Unbehagen. Es packte sie immer wieder, wenn sie mit ihnen den Abend verbrachte, vor allem nach einer Reise, wenn er und Riah Zärtlichkeiten austauschten. Dann stand sie körperlich unter Anspannung wie bei einem Angriff.

Mit einer Hand hielt er sie fest. »Setz dich, Kilihael, ich muss mit dir reden.«

Der Ernst in seiner Stimme, der sorgenvolle Blick aus seinen grauen Augen, die tiefen Kerben um den Mund und die Müdigkeit in seinen Zügen brachten sie dazu, sich erneut niederzulassen.

All das Wispern, das Gemunkel, die Anspannung in der Stadt – und jetzt Burkas‘ Ankündigung. Sie fühlte kalten Schweiß auf der Stirn. Ihr Herz beschleunigte den Rhythmus, Angst kroch durch ihre Adern. Dennoch wartete sie ab, drängte ihn nicht, auszusprechen, weshalb er sie zurückhielt.

Er suchte nach Worten, was das beklemmende Gefühl verstärkte.

»Du hast gekocht«, stellte Riah unbekümmert fest, ohne etwas von der Stimmung zu merken, und lud Burkas den Teller voll.

»Verzeih, du hast so tief geschlafen, dass ich dachte, du könntest es gebrauchen. Isiah half mir beim Kochen.« Theonas Blick folgte der Bauersfrau, die das Essen vor dem Familienoberhaupt absetzte und mit der Hand sanft die mit Barstoppeln übersäte Wange streichelte. Sie sah das Ehepaar geheime Zeichen der Leidenschaft miteinander tauschen.

Hastig senkte Theona die Augen. Wann immer sie das Verlangen eines Mannes in dessen Miene erkannte, brach ihr der Angstschweiß aus. Verhasste Bilder tauchten ungewollt in ihren Gedanken auf. Sie hörte das Flüstern einer schwitzenden Gestalt am Ohr, roch alkoholisierten Atem, fühlte körperlichen Schmerz, der sie zu zerreißen drohte. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder in der Lage gewesen war, sich schmerzfrei zu erleichtern. Der Name Kravos war heute auf dem Markt so häufig gefallen. Einer düsteren Aura gleich hatte er die Gemüter der Bewohner verdunkelt und sie den Geruch von Angst ausdünsten lassen.

Theona ahnte, was Burkas ihr mitzuteilen gedachte, und wollte es doch nicht mehr hören. Überwältigt von den Bildern der Vergangenheit sprang sie auf, rannte aus der Stube und erbrach draußen würgend ihr Abendessen.

Riah kam ihr mit einer Schüssel Wasser und einem feuchten Tuch hinterher. Dankbar säuberte Theona ihr Gesicht und ruhte sich für einen Moment auf den Stufen aus, bevor sie aufstand und ihr Erbrochenes mit Erde bedeckte.

»Es tut mir leid, ich glaube, ich habe heute zu viel gegessen.« Mühsam versuchte sie, die lebhaften Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen.

»Schschscht.« Riah legte den Arm um Theonas Schultern.

Gemeinsam blieben sie sitzen und sahen den Kindern beim Spielen zu. Langsam beruhigte sich Theona. Es gab Augenblicke, da wünschte sie, sie könnte Riah ihre ganze Vergangenheit anvertrauen. In der Hoffnung, dass, wenn sie alles laut aussprach, die Erinnerungen aufhörten, sie zu quälen. Doch sie wusste, dass dieses Wissen eine Gefahr für die Familie darstellte. Sollte Kravos von Nordin jemals herausfinden, dass sie noch lebte und wo sie sich aufhielt, dann gab es nichts, was sie oder jene, die ihr halfen, vor seinem Zorn schützte.

In den Jahren, seit sie in der Einsamkeit des Katakmas Zuflucht gefunden hatte, war ihr eine Zukunft so greifbar erschienen. Da war ein Ort, der nur für sie existierte, in dem sie Frieden fand und ihren Studien über die Sprachen anderer Völker nachgehen konnte. Heute hatte sie auf dem Markt wieder so ein Buch erworben, das in Tücher eingehüllt in einer von Tielas Satteltaschen lag. Doch sie wusste, dass die Zeit nur geliehen war. Sie hatte mit dem Brandmal der zum Tode Verurteilten viel länger überlebt als jeder vor ihr. Normalität war nur ein trügerisches Wort und konnte jederzeit der Realität weichen. Dieses eine Jahr noch, sagte sie leise zu sich selbst. Ihre Hand wanderte unter das Gewand, zu dem Anhänger, den der Großvater ihr auf dem Sterbebett gegeben hatte. Sie umschloss ihn und fühlte beruhigende Wärme, doch tief im Innern wusste sie, dass ihre Zeit abgelaufen war. Das Schicksal holte sie ein, und ihr blieb nichts übrig, als ihm entgegenzutreten.

Die Sonne sank hinter den Hügeln der Devon. Die letzten Strahlen streiften sie und Riah. Die Kinder entdeckten sie und rannten zu ihnen herüber. Ihre Mutter scheuchte sie ins Haus und folgte dem Nachwuchs, aber Theona blieb bewegungslos sitzen. Tränen kamen hoch, die sie mit einer ärgerlichen Handbewegung wegwischte. Sie konnte weiterziehen nach Eldemar, ins Feindesland, aber wer sagte ihr, dass sie den tariekischen Spionen dort verborgen bleiben würde? Oder sie zog, wie ursprünglich geplant, von Tinau, das in Eldemar lag, nach Forran und von da weiter nach Mintra, der Heimat ihres Großvaters. Sie seufzte tief. Das wäre eine Reise voller Gefahren mit der Ungewissheit, ob sie bei dem Volk überhaupt würde leben dürfen. Egal was sie versuchte, sie trug das Brandmal des Todes, und ihr Schicksal war besiegelt.

Im Haus kehrte Ruhe ein. Das Geschnatter der Kinder verebbte. Theona konnte sitzen bleiben und weiter in einer Illusion leben, weil unausgesprochene Worte ungehört blieben, oder sie ging hinein und stellte sich dem, was Burkas ihr berichten wollte.

Als sie in die Stube kam, saß er in seinem Sessel vor dem Kamin. Vor einem zweiten Sessel stand ein Korb voll mit Riahs Näharbeiten. Theona wählte für sich das Fell vor dem Feuer zu Füßen des Hausherrn, einen Platz, den die Kinder normalerweise für sich beanspruchten. Es machte ihr nichts aus, auf dem Boden zu sitzen.

Der aromatische Rauch von Burkas‘ Pfeife füllte das Zimmer. Schweigend saßen sie beieinander und starrten in die Flammen. Schließlich kam Riah aus dem hinteren Teil des Hauses, wo die zwei Räume für die Kinder lagen – einer für die Jungen und einer für die Mädchen. Sie setzte sich in den Sessel und nahm ihr Nähzeug auf.

Eine Weile beobachtete Burkas die konzentrierte Tätigkeit seiner Frau. Ihre Fähigkeit, zu so später Stunde noch die Geduld und das Geschick für diese Arbeit aufzubringen, erfüllte ihn mit Bewunderung. Die Liebe zu ihr schenkte ihm den Mut, jeden Tag voll Hoffnung zu beginnen. Sie hatten ein Dach über dem Kopf und fünf lebhafte Kinder: Klas, Isiah, Lias, Finja und die kleine Amelia. Ihr Leben war hart, einfach und oft von Hunger bedroht. Welches Glück sie miteinander teilten, verstand er heute mehr denn je. Er betrachtete die Frau, die vor ihm auf dem Fell saß, und wünschte, er könnte ihr einen Teil der Bürde, die sie trug, abnehmen. Doch das lag nicht in seiner Macht.

»In Baaren wird viel über den Friedensvertrag mit den Eldemarern geredet«, begann er. »Es heißt, er wäre ein Zeugnis der Feigheit, und die Bedingungen gingen einseitig zulasten unseres Volkes. Auriel von Akliet habe nicht genug Forderungen gestellt und damit die Interessen der Tarieken verraten.«

Theona schloss die Augen. Deutlich sah sie das Gesicht ihres Bruders vor sich – jede einzelne Linie. Wie sie ihn vermisste! Wie sie wünschte, ihm beistehen zu können!

»Wer sagt das?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.

»Kravos von Nordin.«

»Wird er gehört?«

Burkas zögerte mit der Antwort. »Auriel von Akliet ist ein Mann mit Einfluss, mit charismatischer Ausstrahlung und einer Vielzahl von Anhängern, und er ist ein vorausschauender Stratege. Aber du darfst Kravos von Nordin nicht unterschätzen. Er ist listig und hinterhältig. Der Friedensvertrag ist ein filigranes Werk, das weder von allen Tarieken noch von allen Eldemarern getragen wird.«

Überrascht wandte Theona den Blick vom Feuer zu Burkas. Eine solch tiefe Einsicht in das politische Machtgefüge des Landes empfand sie bei einem Bauern als befremdlich.

Er lächelte. »Beurteile niemals einen Menschen nach seinem äußeren Schein, Kilihael.«

»Was wird deiner Meinung nach geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Allerdings hörte ich, dass Kravos von Nordin plant, zwei Legionen seiner Krieger in Eibalin zu stationieren und sie selbst zu begleiten. Angeblich will er prüfen, ob Eldemar den Vertrag einhält, und eine Inspektion seiner Truppen vornehmen, die hier stationiert sind.«

»Kravos von Nordin kommt hierher?«, mischte sich zum ersten Mal Riah ein.

Theona lief ein Schauer über den Rücken. War es so weit? Bot das Schicksal ihr eine Gelegenheit, Rache zu üben für das, was er ihr und so vielen anderen in der Folterkammer angetan hatte? Sie fühlte den intensiven Blick von Burkas, als wollte er ihre Gedanken lesen.

Er wandte sich seiner Frau zu. »Ja, und ich denke, du solltest deine Schwester fragen, ob du dich mit den Kindern über den Winter bei ihr einquartieren kannst. Sie bekommt doch in Kürze ihr zweites Kind und wird deine Hilfe gewiss dankbar annehmen.«

Burkas sagte es leichthin, aber er konnte weder seiner Ehefrau noch Theona etwas vorspielen. Die Gefahr lag spürbar in der Luft.

»Ich bin müde. Kilihael, ich habe dir das Bett in der Kammer gemacht.« Riah legte die Näharbeit in den Korb zurück und ließ sie allein.

»Das ist nicht alles.« Umständlich stopfte Burkas die Pfeife mit frischem Tabak und entzündete sie mit einem Span aus dem Feuer im Kamin.

»Er hat ein Kopfgeld von 100 Goldstücken ausgesetzt für jeden Hinweis auf eine Frau mit goldblonden Haaren, die das Brandmal des Todes trägt ...«

Theona schluckte schwer. So viel Gold. Damit hätte Burkas für den Rest seines Lebens ausgesorgt.

»... oder auf einen außergewöhnlichen Sohn der Wüste. Dir ist klar, dass deine Tarnung zunichte ist?«

»Es tut mir so leid. Ich bringe dich und deine Familie in große Gefahr, und das, obwohl ich bei dir in Lebensschuld stehe.«

»Nein, wir alle stehen in deiner Schuld, Krieger des Lichts.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung.«

»Weißt du, ich mag in den Augen der Menschen hier ein Bauer sein, aber Auriel von Akliet hat das nicht interessiert.«

Überrascht hob sie das Gesicht und sah Burkas an.

»Er hat mich längst zu einem Offizier der Legion gemacht. Ich kämpfte an deiner Seite in den Schlachten.«

Mit einem Lächeln blinzelte er sie vergnügt an. »Ich weiß, du hast nur wenig Kontakt zu den Soldaten, und das, wie ich inzwischen weiß, aus gutem Grund. Aber wir, wir verehrten dich – beteten den Boden an, auf dem du gingst.«

»Und was hat es euch gebracht?«

»Den Frieden!«

»Den niemand will!«

»Das Volk will ihn. Es möchte leben und sehen, wie die Kinder aufwachsen und selbst alt werden. Und das alles ist gefährdet, weil es einen gibt, den nur die Rache antreibt.«

»Ich gefährde das, wofür ich mein Leben opferte. Ist es das, was du von mir einforderst? Dass ich mich ihm ausliefere – tot? Denn lebend, das schwöre ich dir bei allem, was mir heilig ist, wird er mich niemals in die Hände bekommen!«

»Nein, das würde ich nie und nimmer verlangen! Du bist die Einzige, die ihn aufhalten kann!«

Sie schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Niemand hält Kravos von Nordin auf.«

»Auriel von Akliet bittet mich, dir auszurichten, dass du fliehen sollst.«

»Nein! Ich bleibe hier im Katakmas. So behalte ich die Entwicklungen im Auge, selbst wenn ich sehe, dass es keine andere Lösung gibt.«

Als Theona ihn ansah, mit diesem Blick, der seine Seele berührte, fielen die Sorgen von Burkas ab. Tiefe Ruhe erfüllte ihn, und er wusste, der Krieger des Lichts wachte weiterhin über das Schicksal der Tarieken.

In der Nacht hörte Theona die leisen Stimmen des Ehepaars in der Kammer nebenan. Riah wollte ihren Mann nicht verlassen, aber sie schien sich vor den anrückenden Kriegern zu fürchten. In der Stadt hatte Theona damals gehört, dass Kravos nach einer Frau mit blonden Haaren auf einem edlen Pferd suchte, angeblich einer Verwandten, der er ein Zuhause geben wollte. Fünf Goldstücke hatte er demjenigen versprochen, der sie ihm lebend übergab, eine Summe, für die ihm einige blonde Frauen gebracht worden waren – lächerlich im Vergleich zu dem Betrag, den er diesmal anbot. Nie hatte Burkas ihr gegenüber ein Wort über diese Suche verloren, aber die Kinder hatten von den finsteren Kriegern erzählt, die auch an ihrer Tür erschienen waren und alle gründlich gemustert hatten. Furcht einflößend und beängstigend waren sie gewesen, nur die Augen des zu der Zeit dreijährigen Lias hatten vor Begeisterung geleuchtet. Damals kannten die Kinder Theona nicht, heute sah das anders aus. Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können? Stöhnend vergrub sie ihr Gesicht im Kissen. Sie hatte die Familie in Gefahr gebracht.

Theona verstand die innere Zerrissenheit der Ehefrau und Mutter. Burkas konnte sich nicht allein um den Hof und das Vieh kümmern. Also beschloss das Paar am Ende, dass die beiden Söhne ihren Vater auf dem Hof unterstützen sollten. Dann wurde es still, bis Laute der körperlichen Liebe in Theonas kleine Kammer getragen wurden. Der kleine Lagerraum war so eng, dass Theona von der Tür aus auf die Pritsche hatte klettern müssen, die ihr Riah immer dort hineinstellte.

Das Geräusch raubte ihr mehr denn je die Ruhe. Sie wollte unter freiem Himmel liegen oder wenigstens im Stall. Doch sie brachte es nie übers Herz, Riah das zu sagen. Es rührte sie, wie die Bauersfrau sich bemühte, es ihr gemütlich zu machen.

Das Gespräch mit Burkas hatte ihr Unbehagen gesteigert. Theona fühlte sich gefangen, hatte keine Möglichkeit zur Flucht. Selbst das Schwert, das heute neben ihr im Bett lag, half ihr nicht, die Beklommenheit abzuschütteln. Den Gedanken an Schlaf musste sie aufgeben. So lag sie da, lauschte auf die ungewohnten Geräusche eines bewohnten Hauses und achtete auf Töne, die Gefahr bedeuten mochten, bereit, die Familie mit ihrem Leben zu verteidigen. Stattdessen hörte sie das leise Stöhnen von Riah, begleitet von Burkas‘ Keuchen. Peinlich berührt hielt sie sich die Ohren zu, als sie meinte, der Akt ginge dem Ende zu. Sie schloss die Augen, riss sie aber gleich wieder auf, als die Bilder des nie Vergessenen aus der hintersten Ecke ihrer Erinnerung hervorkrochen.

Sie keuchte auf, wartete, bis ihre Scham abflaute. Ob sich Riah genauso fühlte, wenn sie das Lager mit ihrem Mann teilte? Beraubt jeder Würde und Menschlichkeit? Gedemütigt und degradiert, um die Lust eines Mannes zu befriedigen? Erst als sie das eigene Blut schmeckte, bemerkte Theona, dass sie die Zähne in ihre Unterlippe grub. Sie drehte sich um, legte ihre Hand auf das fein und leicht gearbeitete Schwert, dessen genaue metallische Beschaffenheit nur ihr Großvater kannte. Er hatte es geschmiedet und ihr geschenkt, im Gewicht an die Kraft und Kampftaktik der Enkeltochter angepasst, ausgewogen in seiner Länge und exakt ausbalanciert. Die Schneide war so scharf, dass sie ein hochgeworfenes Tuch mühelos zerteilte, wenn es auf die Klinge herabschwebte. Mit allen Fingern umschloss sie den Griff. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Nie mehr würde sie zulassen, dass ein Mann ihr Schmerzen zufügte. Nie wieder. Sie dämmerte in einen oberflächlichen Schlaf, die Sinne dennoch in die Umgebung gestreckt.

Nach dem Frühstück brach Theona auf. Die Unruhe der Nacht hatte sie auch bei Sonnenaufgang nicht verlassen. Es zog sie unwiderstehlich in den Katakmas, wo sie so leicht niemand finden würde. Sie umarmte jedes der Mädchen, hob die kleine Amelia auf den Arm und küsste sie, den Jungs schlug sie freundschaftlich auf die Schulter. Dann zog Riah sie in die Arme und begann hemmungslos zu weinen. Sie beide wussten, dass es ein Abschied für immer war. Kilihael, die ohne Namen, würde nicht wiederkommen, und auch Riahs Schicksal umgab nun einen Hauch von Ungewissheit. Theona schwang sich auf Tiela, nahm den Führstrick von Atantuch, der mit Vorräten für den Winter beladen war. Sie trug die schwarze Kleidung eines Sohns der Wüste, die Beine der Lederhose in die Stiefel gesteckt. Über dem Hemd hatte sie eine Weste aus fester Tierhaut, die einem Schwerthieb standhalten konnte. Innen war sie gefüttert mit seidig weichem Kaninchenfell. Ein Ledergurt schützte ihre Handgelenke, befestigt mit einem Band, das zwischen Daumen und Zeigefinger über die Handfläche führte. Von dort bis kurz vor dem Ellenbogen hielten gebundene Lederriemen das Hemd am Arm, sodass der Stoff bei einem Kampf nicht störend flatterte. Ihr Schwert hing griffbereit vorn am Sattel. In einer Ledertasche hatte sie Pfeile, der Bogen war auf der anderen Seite weiter hinten befestigt. Die blonden Haare waren von dem Tuch verdeckt, genauso ihr Gesicht. Burkas trat neben sie ans Pferd. Sie reichte ihm den Arm und beugte sich zu ihm hinunter.

»Ich danke dir für alles, Burkas. Viele hätten mich sterben lassen, wenn nicht aus dem Grund, dass ich eine Frau bin, dann, nachdem sie das Brandmal des Todes entdeckt hätten. Du hast großen Mut bewiesen. Ich bin froh, dir begegnet zu sein.«

»Nein, mir ist es eine Ehre, dass sich unsere Wege kreuzten, Theona von Akliet«, sagte er leise, und sie erstarrte beim Klang des Namens. »Passt auf Euch auf und beschützt uns, wenn die Dunkelheit kommt.«

Bevor sie reagieren konnte, löste er seinen Arm von ihr und schlug mit der flachen Hand auf Tielas Hinterteil, die einen Satz nach vorn machte. Theona verabschiedete sich ein letztes Mal mit einem Kopfnicken und ritt aus dem Hof in die Straßen von Eibalin.

4

Krieger

Beim Jagen in den tiefer gelegenen Hängen des Katakmas traf Theona auf Kravos von Nordins Soldaten. Er selbst weilte nicht unter ihnen, was Theona zutiefst bedauerte. Das Gebirge war ihr Territorium, wo sie jeden Baum, jeden Strauch, jeden Stein und jede Höhle kannte. Alle Vorteile wären auf ihrer Seite gewesen. Ein einziger gezielter Schuss mit dem Bogen hätte für ihn das – wenn auch viel zu gnadenvolle – Ende bedeutet. Eine Weile beobachtete sie die Männer aus der Distanz. Die Krieger schienen nach etwas zu suchen. Das beunruhigte sie. Zwar hatte sie sich vor langer Zeit angewöhnt, wenig Spuren zu hinterlassen, doch im Winter geriet diese Aufgabe zu einem schwierigen Unterfangen. Zum Glück irrte normalerweise niemand in dieser Jahreszeit im Katakmas umher, es sei denn, er wäre seines Lebens überdrüssig, darum hatte sie bisher keine Probleme bekommen. Die Gefahr, in eine Felsspalte zu stürzen, einer Lawine zum Opfer zu fallen oder durch einen plötzlichen Wetterumschwung zu erfrieren, war viel höher als im Sommer.

Im ersten Jahr hatten Atantuchs Instinkte sie vor dem Tod bewahrt, wann immer er sich weigerte, eine Richtung einzuschlagen. Sie hatte dem Wallach vertraut und nie falsch damit gelegen. Inzwischen kannte sie das Gelände selbst und konnte bei einer Verfolgung von ihrer Ortskenntnis Gebrauch machen.

Die Anwesenheit der Krieger im verschneiten Katakmas beunruhigte sie. Sie beobachtete die Männer noch eine Weile. Der verlockende Gedanke, ihnen eine tödliche Falle zu stellen, überkam sie, vor allem, als sie den anführenden Offizier erkannte. Sie verwarf die Idee, da sie Kravos von Nordin nicht bestärken wollte, sie hier zu suchen. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das, was sie ursprünglich in die Wälder getrieben hatte.

Theona ritt einen weiten Bogen, folgte sicherheitshalber eine lange Zeit dem Lauf eines Gebirgsbachs, um weniger Spuren zu hinterlassen. Am Ende band sie Atantuch Lederlappen um die Hufe, froh über ihre Entscheidung, heute mit ihm anstelle von Tiela unterwegs zu sein. Es machte ihm keine Mühe, trotz des rutschigen Materials einen sicheren Weg auf den Pfaden zu finden. Außerdem neigte er nicht zu Übermut. Hinter einer Biegung gab es einen Felsen, wo sich der Bach zu einer weiten Furche verbreiterte. Sie beschloss, eine kleine Pause einzulegen, da Atantuch zusätzlich das von ihr erlegte Mutak trug. Dem toten Tier haftete noch die Wärme des vergangenen Lebens an. Sie musste sich beeilen, denn wenn sein Blut gefror, würde es schwer sein, es zu zerteilen. Mit beiden Händen schöpfte sie Wasser oberhalb von der Stelle, an der das Pferd trank. Leise schnaubte der Wallach. Theona schaute vom Wasser auf und sah die schwarze Raubkatze, die mit einem eleganten, lautlosen Satz aus dem Unterholz auf einen wuchtig gewachsenen Baum sprang. Das Raubtier machte es sich auf einem Ast bequem. Nur der Bach trennte es von ihr. Mit zuckendem Schwanz fixierten die grünen Augen das tote Mutak auf dem Pferd.

»Oh nein, Panalea, such dir gefälligst selbst Beute!«, fauchte Theona die schwarze Katze an. Sie brauchte jedes bisschen Fleisch. Seitdem sie die Krieger erspäht hatte, wusste sie, dass sie ihr Versteck nur noch verlassen konnte, wenn es absolut notwendig war.

Ein lautes Knacken ertönte. Die Muskeln angespannt, duckte sich die Katze in Angriffsposition. Jetzt fixierte sie ein anderes Ziel mit ihrem Blick. Unter dem Baum erschien ein Reiter in zerfetzter Kleidung. Blut rann ihm vom Kopf und aus unzähligen Wunden an seinem Oberkörper. Halb bewusstlos hing er auf dem Reittier, ohne die tödliche Gefahr wahrzunehmen, in der er schwebte.

Lautlos sprang das Raubtier auf den Nacken des Pferdes, das schrill wieherte, in höchster Not stieg und den Reiter zu Boden warf. Auch die Katze wurde von der heftigen Reaktion der vermeintlich sicheren Beute überrascht und gegen einen Stein geschleudert. Fauchend und sich schüttelnd kam das Raubtier wieder auf die Tatzen. Das Pferd flüchtete auf dem Weg, den es gekommen war. Der Mann lag leblos auf dem Boden. Langsam näherte sich die Katze mit geschmeidigen Bewegungen ihrem Opfer.

Theona handelte, ohne lange zu überlegen.

»Nimm das hier, Panalea!«

Sie zog das Mutak von Atantuch herab und schlitzte ihm die Kehle auf. Der frische Blutgeruch lenkte die Aufmerksamkeit des Raubtiers auf die bereits erlegte Beute. Für einen Moment zuckte sein Schwanz hin und her, dann war es auf der anderen Bachseite – eine weise Entscheidung, denn an dem Mutak hing mehr Fleisch als an dem Mann. Theona war ebenfalls schnell mit Atantuch bei dem Verletzten, brauchte aber all ihre Überredungskunst, damit sich der Wallach hinlegte. Das Raubtier behielt sie sorgsam im Auge. In geduckter Haltung riss es die saftigsten Stücke aus dem Fleisch. Ihr Panalea wusste genau, was am besten schmeckte.

Theona zog den bewusstlosen Mann über den Sattel und ließ das Pferd aufstehen. Einer inneren Eingebung folgend hatte sie dem Mann die restliche Oberbekleidung vom Körper gezogen. Ihr schwarzes Tuch zog sie von Gesicht und Haaren, riss es in Streifen und wickelte diese über die blutenden Wunden am Oberkörper und um den Kopf des Verletzten. Dann zog sie sich ihren Umhang aus und hüllte den Mann so gut es ging darin ein, damit er nicht unterwegs erfror.

Während sich Atantuch auf den Weg machte, warf sie Hemd, Wams und Umhang des Mannes der Katze hin. Wie erwartet fauchte das Raubtier empört, schlug mit der Tatze nach dem Stoff, zerfetzte ihn dabei noch mehr und besudelte ihn mit Blut und Fetzen des toten Mutaks. Theona hoffte, mit dieser Finte die Verfolger zu einer falschen Schlussfolgerung zu verleiten. Sie folgte ihrem Pferd ins Unterholz. Sorgsam wischte sie jede verräterische Spur hinter sich weg.

Sie holte den Wallach ein, führte ihn auf verschiedenen Routen in einem weiten Bogen, kletterte mit ihm auf Felssteige, auf denen sie keine Abdrücke hinterlassen konnten. Für Reiter ohne Ortskenntnisse im Katakmas hätte der Weg eine Strecke des sicheren Todes bedeutet.

Zu ihrem Versteck kehrte Theona in der Dämmerung zurück. Trotzdem prüfte sie sorgfältig die Umgebung, bevor sie den kaum sichtbaren, steinernen Pfad nahm, vorbei am tosenden Wasserfall durch eine Höhle. Hier wurde der Weg erst enger, dann öffnete er sich in ein kleines Tal, das seit vier Jahren ihr Zuhause war.

Theona holte eine Decke, machte Atantuch ein Zeichen, auf die Knie zu gehen, und zog vorsichtig den Verletzten, der noch immer bewusstlos war, vom Rücken des Wallachs. Sie schlug ihn in die Decke ein, ließ ihn liegen, wo er war, versorgte ihr Pferd, befreite es vom Hufschutz und entließ es ins Tal.

Schritt für Schritt zog sie rückwärtsgehend den Mann auf der Decke liegend in die Hütte – ein anstrengendes Unterfangen, das all ihre Kraft erforderte. Sein Stöhnen verriet ihr, dass sie ihm damit Schmerzen bereitete. Als sie ihn schließlich in ihrer Behausung hatte, pumpte ihr Herz heftig, und Schweiß rann ihren Körper hinab. Sie entzündete ein kleines Feuer, erhitzte Wasser und holte Tücher, bevor sie sich neben ihm auf den Boden kniete. Vorsichtig löste sie die schwarzen Stoffstreifen vom Kopf des Bewusstlosen und von seinem Oberkörper und musterte gründlich den zerschundenen Leib. Das dunkle, verfilzte Haar reichte dem Mann bis über die Schultern, seine Wangen wirkten eingefallen. Er stank erbärmlich nach Dreck, Urin und Exkrementen. Am Kopf entdeckte sie eine Beule, vermutlich vom Sturz. Das linke Ohr fehlte. Der Schnitt, einige Tage alt, sonderte eine zähe, übel riechende Flüssigkeit ab. Den unteren Teil des Gesichts bedeckte ein ungepflegter Bart, in dem etwas herumkrabbelte. Seinen Oberkörper überzogen Schnittwunden – nicht lebensgefährlich tief, dafür an Stellen, die schmerzten, wie sie aus eigener Erfahrung wusste, denn sie besaß Narben an ähnlichen Stellen. An der rechten Seite hatte man ihm die Haut in einem daumenbreiten Streifen entfernt.