Lieb mich morgen - Ingvar Ambjörnsen - E-Book

Lieb mich morgen E-Book

Ingvar Ambjörnsen

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Beschreibung

Der 4. Teil der Elling-Tetralogie vom norwegischen Kultautor Ingvar Ambjörnsen Im Leben des wunderbaren Antihelden Elling spitzen sich die Dinge deutlich zu, denn er begegnet der Liebe, die ja schon ganz andere umgehauen hat. Alles fängt damit an, dass Elling unter Schlafstörungen leidet. Außerdem ist er auch noch eifersüchtig, denn sein Freund Kjell Bjarne ist bei ihm ausgezogen und geht ganz in seiner neuen Rolle als Familienvater auf. Aber dann lernt Elling Elise Kornvoll kennen, die gar nicht Elise heißt, sondern Lone und in einer Würstchenbude arbeitet und sich für UFOs interessiert. Elling erkennt, dass eine verdrängte Begegnung mit UFOs wohl die Ursache seiner vielen Probleme sein muss. Und vielleicht kann Lone ihn ja retten. Aber zuerst muss Elling mal die Beziehung von Kjell Bjarne retten, bei dem inzwischen der Haussegen ziemlich schief hängt. Als es schließlich doch zu einem Rendezvous mit Lone kommt, stellt Elling fest, dass das mit der Liebe gar nicht so einfach ist ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 403

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Ingvar Ambjörnsen

Lieb mich morgen

Ein Elling-Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Ich fand keinen Schlaf. Konnte nicht mehr schlafen. Ich starrte jede Nacht die Wand an und dachte dabei: Wer sind die anderen? Warum täuschen sie vor, sich in diesem Rätsel zurechtzufinden? Die Selbstverständlichkeit, die sie ausstrahlen, wenn sie sich Schuppen vom Kragen bürsten, sich Feuer geben oder ganz einfach beschließen, eine Pflaume zu essen, hat etwas Krankhaftes.

So einfach ist das nämlich nicht. Davon bin ich überzeugt. Es muss noch mehr dahinter sein. Auf irgendeine Weise muss sich in unseren Taten und Erlebnissen ein Muster verstecken. Nicht notwendigerweise ein Muster, das einen Sinn ergibt, aber etwas, das ganz und gar wirklich ist. Und nicht wegzudiskutieren.

Das waren so meine Gedanken. Die Uhr schlug vier und dann fünf, und manchmal stand ich auf und schaute in den engen Hinterhof hinunter, wo das blaue Licht auf die heruntergekommenen Fassaden traf. Ab und zu hatte ich das Gefühl, dass die ganze Welt schlief. Dass ich als Einziger wach war. Dass ich durch mein Bewusstsein alles zusammenhielt. Und nicht nur die Menschen, die unter ihren Decken lagen oder durch die Straßen liefen, die sich liebten oder sich schlugen, sondern die Welt an sich, dieses ganze gewaltige Mineralreich mit Bergketten und endlosen Ozeanen, die seltsame Welt der Pflanzen mit Staubbeuteln, Stängeln und Blattwerk. Und die Tiere dieser Erde! Auch sie ruhten im Schutze meines Bewusstseins, sie wurden schlichtweg in meinen wachen Blick hineingeboren. Kühe und Schneeleoparden, Koalabären, Giraffen und Wespen.

Es war eine ungeheure Verantwortung.

Ab und zu verlor ich im Laufe des Vormittags das Bewusstsein, und alles ging zu Grunde.

 

Doch. Wir gebären die Welt. Wieder und wieder gebären wir die Welt. Auf jeden Fall gebäre ich meine Welt – die anderen sollen machen, was sie wollen. Ich auferstehe aus dem traumlosen Tod des Tages oder der Nacht und gebäre mich selbst. Elling, sage ich mir, mit der Kraft des wunderbaren Gedankens, zieh die Hand unter die Decke, es ist so kalt im Zimmer. Und so geschieht es! Die Armmuskeln gehorchen dem Gehirnimpuls, und die Hand wird ins Warme gezogen. Hier ist ein Bett. Eine Wand, nein, vier. Eine Tür führt in neue Zimmer, weiter auf die Straße, in die Stadt, in die Welt. Und dort auf dem Boden steht wahrlich ein ruinierter Wecker und macht sich über die Zeit lustig. Dort steht er, so weiß und so schwarz und zeigt auf sechs vor halb fünf. In irgendeiner Nacht, als mein Blut gegen die Fensterscheiben peitschte, habe ich mit einem zielgerichteten Schlag das Tick und Tack der Zeit zum Stillstand gebracht. Um Punkt sechs vor halb fünf.

 

Es war eine dieser endlosen Nächte. Ich lag in der Dunkelheit und hatte mich in Gedankenbahnen verirrt, aus denen ich keinen Ausweg fand. Ich dachte an alles, was gleichzeitig geschah. Mein Herz schlug sicher und regelmäßig, und ich stellte mir vor, wie das Blut durch das Adernnetz des Körpers gepumpt wurde. Aus den Zehenspitzen bis nach ganz oben, in die dünne Fleischschicht unter den Haarwurzeln. Ich stellte mir vor, wie die Wurst «mit allem» (wie es an der Imbissbude heißt), die ich am Vortag verspeist hatte, in den Geheimgängen des Gedärms geknetet und zu einer übel riechenden Masse zersetzt wurde, wie zahnlose Bakterienstämme das rote Fleisch und das weiße Brot, den Krabbensalat, den Senf und das Ketchup angriffen, wie sie die Nährstoffe herauszogen und mir noch einmal das Leben schenkten, unterstützt vom Saugen der Darmzotten. Und ich stellte mir die unaufhaltsame Aktivität meines eigenen Gehirns vor. Unter meiner krummen Stirn, in diesem äußerst verletzlichen Schädel, lag der Ballsaal eines irren Königs, bevölkert von … O Herrgott! Ich sah irgendwo in Tansania eine Termite über ein Blatt kriechen, während die Morgensonne über dem Hügelkamm explodierte, sah sie zögern, um dann mit vibrierenden Fühlern stehen zu bleiben, während die Sonnenstrahlen Diamanten in den Tau der Nacht pflanzten. Gleichzeitig tritt die kleine Mary Key auf die Vortreppe ihres Hauses in einem Bostoner Vorort. Sie steht im Regen und rülpst; ihr linkes Ohr brennt noch immer, weil ihr Bruder sie mit seinem Saxophon-Koffer geschlagen hat. Sie denkt an die im letzten Winter verstorbene Großmutter und an ein großes Stück Graubrot mit Blaubeermarmelade. Ein Auto fährt durch die stille Wohnstraße, und hinter der Hecke lacht eine Frau resigniert; es ist Ellen Carver, die Frau des Maklers, sie lacht, während in meinem Inneren langsam die Wurst zu Grunde geht. Ich atme aus, und ehe ich wieder einatmen kann, haben sich hundert Millionen Ereignisse in das seltsame Buch der Zeit eingeschrieben. Milton Hamilton bricht sich einen Zahn ab, als er Jogurt isst und das Layout einer Broschüre über Gartenarbeit für Behinderte entwirft. In einem Hotelzimmer in Bangkok dringt Jens Wilhelm Kruger in den dritten Enddarm an diesem Tag ein und leert sich augenblicklich mit einem Schnaufen. Gleichzeitig: Eine Türkentaube legt in einem Wäldchen auf dem Balkan ein Ei und registriert emotionslos, wie im Gestrüpp unter ihr ein Säugling stirbt, während die Mutter des Kindes Gott verflucht. Bei der Morgenbesprechung der Oldenburgischen Volkszeitung wird Ursula Kleinkram beauftragt, über den Prozess gegen den notorischen Autodieb Christof Halle, unter zweifelhaften Freunden auch Hal genannt, zu berichten. Auf Grönland kalbt ein Gletscher, ungesehen von Menschenaugen. In Kopenhagen, auf dem Kongens Nytorv, pisst Asle Bredesen auf ein Stück Pizza, das der Schwede Gunder Larsson vier Stunden früher aus Wut über das fehlende Verständnis seiner Frau für rassistischen Humor und alkoholische Getränke weggeworfen hat. Jetzt liegt er quer über dem Hotelbett und schläft mit offenem Mund, während sie am Fenster steht und den Postboten unten auf der Straße betrachtet und sich dabei vorstellt, wie sie drei große Neger auf einmal bedient. Gleichzeitig schnippt Yoka Yamamoti ein Katzenhaar vom rechten Ärmel seines italienischen Sakkos. Tausende von Frauen gebären, sehen zwischen ihren Beinen den behaarten Kopf eines Jungen oder eines Mädchens hervorwachsen wie einen gesegneten oder bisweilen auch verhassten Pilz. Einige Millionen sitzen in jedem Moment auf dem Klo, in einer lärmenden Gemeinschaft aus Erleichterung und Schmerz. Eine Eisbärin stillt ihr Junges. In Kristiansand sagt Bernt Karlsen zu seinem etwas älteren Bruder Hans: «Hab ich’s nicht gleich gesagt?» Und überall auf dem Globus weht Wind in allen Stärken und lässt Gras und Blätter in wunderlichen Wellenmustern tanzen, während die Menschen das alles sehen und sich ihren Teil denken.

Ich dachte: Wer sind diese vielen anderen? Wieder und wieder dachte ich das.

 

Ich stand auf. Es war eine von den Nächten, in denen wirklich gar nichts half. Mein Schlafanzug war schweißnass, ich musste an die blutige Haut denken, die soeben einem geschlachteten Tier abgezogen worden war. Mein Glied war halbwegs angriffsbereit, aber nur halbwegs, und wen hätte es hier überhaupt angreifen sollen? Nur das leere Schlafzimmer und das Rollo, das sich langsam im Luftzug vom Fenster bewegte. Ich fror, ich konnte die Vorstellung einer Dusche nicht ertragen, ich zog mich an und führte zu Protokoll, dass ich in letzter Zeit ein wenig herumgesaut hatte. Ein wenig. Ein herber Geruch umgab mich.

Meine Armbanduhr lag auf dem Wohnzimmertisch, ich lege sie immer dort ab, ehe ich versuche, zur Ruhe zu kommen. Der Riemen war flach gestrichen, in einer erlesenen Parallele zur Tischkante. Ich mache das, ganz ohne zu denken. Ich mache es perfekt. Meine Uhr zeigte siebzehn vor halb vier. Hinter beim Ofen lagen die Katzen und umarmten sich gegenseitig mit ihren Pfoten. Elmer betrachtete mich mit halbem Auge. Pfeffer schlief mit offenem Mund, er erinnerte mich ein wenig an diesen erbärmlichen Schweden im Kopenhagener Hotelzimmer. Ich kann Schweden nicht leiden. Ich finde Schweden feige. Ich finde, sie hätten während des Krieges die Ärmel hochkrempeln und zusammen mit Norwegern und Dänen zupacken sollen, statt sich in ihrer so genannten Neutralität zu suhlen und Strömling oder sonst irgendeinen Fisch zu fressen.

Der Hinterhof war öde und verlassen. Hinten bei den Mülltonnen lag ein blauer Ball. Lautlos fiel der Regen. Ich dachte an alle, die jetzt nicht mehr lebten und die jeden Tag über diesen Hof gegangen waren. Im Schatten über dem Torweg hatten die Bauarbeiter die schwarze Eisenzahl 1891 in die graue Mauer eingegossen. Vor über hundert Jahren … Ich sah die Kinder. Erst als einen halb durchsichtigen Wirbel hinten bei dem vergessenen Ball. Der Wirbel erweiterte sich und umfasste bald den ganzen Hof, und dann traten die Bilder hervor. Kleine Jungen und kleine Mädchen in fremder, altmodischer Kleidung. Lange Kleider und Kniehosen, bloße Füße und Schnürstiefel. Schirmmützen auf kurz geschnittenen Knabenköpfen, die langen Zöpfe der Mädchen. Sie tanzten wie in Zeitlupe an mir vorbei, sie spielten mir unbekannte Spiele, sie sprangen Seil und Himmel und Hölle. Dann wurden die Fenster der Wohnhäuser geöffnet, alle auf einmal, und ich sah Erwachsene in Unterwäsche oder vollständig angezogen, die an den Küchentischen saßen oder sich aus dem Fenster beugten und lautlos etwas in den Hof hinunter riefen, ich dachte an die Ermahnungen, die Tausenden von Ermahnungen, die die grauen Mauern im Laufe eines Jahrhunderts absorbiert hatten. An alle Angst und alle Wut, die in diesen Leerraum mitten in Oslo geschleudert worden waren, mitten in die Welt, die diese Menschen gekannt hatten und von der sie ein Teil gewesen waren, als sie noch ihr Leben auf einem bevölkerten Stein mitten in der Weltnacht lebten.

Hinten bei den Mülltonnen stand ein kleiner Junge und schaute zu mir hoch. Er stand ganz still da, während die anderen Kinder um ihn herum und durch ihn durchglitten. Er war kurz geschoren wie die übrigen Jungen, trug jedoch einen seltsamen, zu großen Mantel. Als unsere Blicke sich begegneten, zerfloss dieses wache Traumbild, und der Hof lag wieder so leer und nass da wie vor einigen Sekunden. Ich fürchtete mich ein wenig, solche Visionen sollte man schließlich nicht haben. Da bin ich mir sicher. Etwas, das meine Unruhe noch verstärkte, war die Tatsache, dass die beiden Kater, die wie auf Kommando aufgesprungen waren, jetzt mich anstarrten oder etwas hinter mir, das wusste ich nicht.

Egal. Alle haben ihre Probleme. Ich habe mich jedenfalls daran gewöhnen müssen, dass ich meine habe. Ich ging ins Badezimmer und wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann nahm ich ein Vival aus der Dose im Medizinschrank und stellte Teewasser auf. Als ich das Radio einschaltete und die Geborgenheit verheißenden, vertrauten Stimmen des Norwegischen Rundfunks das Zimmer füllten, fügte sich fast alles wieder zum alten Bild und das noch ehe die Wirkung des Vival einsetzte.

Später ließ ich einen Pornofilm laufen und sah ihn mir an, während ich am glühend heißen Tee nippte. Lulu’s crazy cunt. Das ist der, in dem Lulu gleichzeitig vom Klempner und vom Postboten besucht wird.

Ich konnte mich nicht konzentrieren. Es war jetzt offenbar vier Uhr, und der Rundfunkmann erzählte mit gewichtiger Stimme irgendetwas über Ruanda oder vielleicht Bosnien oder Kurdistan, es gab ganze Leichenhaufen und jede Menge von Soldaten im Kindesalter, die plünderten und mordeten, während sie weinten und vergewaltigten, weinten und vergewaltigten. Die Krone war wieder schwächer geworden. Der Zinssatz stieg. Dann sang Wenche Myhre: «Wenn ich sechsundsechzig bin.» In einem Roman hatte ich von einer Person gelesen, die Wenche Myhre für einen inkarnierten Dämon hielt. Warum nicht, dachte ich, während ich mich über dem Spülbecken in der Küche erbrach.

Danach brauchte ich Luft. Und zwar sofort.

 

Der Kirkevei im Regen, um kurz nach vier, an einem Morgen im März. Unten im Zentrum pulsierte noch immer das Leben in Cafés und Bars, hier oben in Majorstua jedoch herrschte das fast vollständige Fehlen von Menschen vor. Ab und zu glitt ein Auto vorbei, ansonsten gab es nur mich und die räudigen grauen Tauben. Ich verspürte eine Leichtigkeit. Ja, eine Leichtigkeit. Die Nichtanwesenheit der anderen schien die Schwerkraft verändert zu haben. Ich hatte mich leer gekotzt und ganz hinten im Gehirn summte das kleine Vival Vertrauen erweckend vor sich hin. Auf seltsame Weise hatte es sich in mein Nervensystem einschleichen können, ehe mein Magen sich umgestülpt hatte. Nicht schlecht. Ich überquerte die Straße und erreichte den Frognerpark. Hier tropfte das Wasser von den schwarzen Bäumen, und der Himmel hing tief und war aus Milch, nein, aus Spermien, ich weiß es nicht. Es war wärmer als normal und nass, nass, ich knöpfte meinen alten Wintermantel auf und befand mich schon in einer Art erotischem Abenteuer, noch ehe ich Vigelands nackte Steinmenschen erreicht hatte, ich fand es durchaus nicht unangebracht, mein Glied hervorzunehmen und es frei baumeln zu lassen oder es in der Hand zu halten. Aber da war noch die Sache mit der Erziehung, Mutter wäre noch in ihrem Grab rot geworden angesichts dieses schändlichen Gedankens. Auf der Brücke blieb ich stehen und betrachtete Enten und Schwäne, ganz zu schweigen von den Gänsen auf der Brücke unter mir, und die ganze Zeit hatte ich den Monolith im Augenwinkel. Ob es wohl stimmte, dass die Rentner nachts hier auf Jagd gingen, oder war das eine Mär, die die Boulevardpresse unten in der Akersgate in Umlauf gebracht hatte?

Nun ja. Es konnte schon stimmen. Wenn ich mir das so richtig überlegte, dann kam ich zu dem Schluss, dass die Presse sich diese Geschichte nicht unbedingt aus den Fingern gesogen haben musste. Es bestand jedenfalls kein Grund zu der Annahme, die Rentner des Landes bestünden aus einer homogenen Gruppe herzensguter Individuen. Viele von ihnen schleppten nach einem langen Leben zweifellos allerlei Schlacken mit sich herum. Sie hatten den Krieg erlebt. Sie hatten bis zum Schritt im Schnee gestanden, mit Waffen und geheimen Nachrichten, und das oft mitten in der Nacht. Nur um mit einer Tasse Muckefuck und einem Stück Steckrübe abgespeist zu werden, wenn sie dann endlich die Hütte erreicht hatten, wo der Rest ihrer Gruppe in ein gedämpftes Gespräch miteinander und mit zwei Juden vertieft war, die so schnell wie möglich nach Schweden geschafft werden mussten. Sie wurden gefangen genommen und im Keller des Gestapo-Hauptquartiers zusammengeschlagen, sie sahen die Besten unter ihnen sterben. Andere wurden Nazis und blieben für den Rest ihres Lebens missverstanden. Sie hatten es doch bloß gut gemeint. Es war nur die Rede von kleinen Regulierungen der Verfassung, nachdem die vom Volk gewählte Regierung die Goldvorräte der Bank von Norwegen in die Hosentasche gesteckt und sich nach England abgesetzt hatte. Zusammen mit dem König. Ein solches Benehmen löst Verbitterung aus. Und danach? Danach erhielten sie alle, Verlierer wie Sieger, den Verdienstorden des Wohlfahrtsstaates in Form einer Mindestrente. Und dann schnappt man sich seinen Stock, zieht los und schlägt eine Ente tot.

Nach einem raschen Sprint fühlte ich mich zusehends wohler. Hellwach und fast ein wenig gleichgültig. Elling, sagte ich mir. Das Leben ist heilig. Vielleicht ist es nicht immer herrlich, aber heilig ist es doch. Ich lief aus dem Park und sah zu meiner Erleichterung, dass sich in den Straßen jetzt Menschen aus Fleisch und Blut manifestierten. Ich sah noch nicht viele, es war trotz allem erst kurz nach fünf, aber sie waren allesamt ausgesprochen anwesend. Da kam zum Beispiel eine Frau. Möglicherweise war sie unterwegs zu einem frühen Putzeinsatz in den Räumen von Krøger & Krøger, einer Anwaltsfirma mit leicht angeschlagenem Renommee. Aber die Frau sah bestimmt nur so aus, ich ahnte schon, dass sie die Nacht in den Lokalen einer Motorradbande verbracht hatte, und dort hatte sie sich immer wieder vögeln lassen, ja, sie hatte Serienbeischlaf mit bärtigen Männern mit liberaler Einstellung zu Amphetaminen und Geschwindigkeitsbegrenzungen gehabt. Jetzt eilte sie heimwärts nach Skillebekk, und dort würde sie unter die Bettdecke schlüpfen und sich schlafend stellen, wenn ihr Mann, der bei einer Wachgesellschaft arbeitete, gähnend von einer langen Nacht im Dienste der Gerechtigkeit zurückkehrte. Die Arme, würde er denken. Sie sieht so niedlich aus, wenn sie schläft. Mit dieser Frau möchte ich ein oder zwei Kinder haben, wenn meine Spermien von so guter Qualität sind, wie ich ja wohl annehmen darf.

Während sie den Strom von Kaulquappen, der aus ihr herausfließt, noch nicht einmal zum Stillstand gebracht hat.

Langhaariger Mann in kernigem Mantel: Leonard Treanger. Gitarrist.

Die Frau auf dem Fahrrad? Erzähl mir doch nichts!

Ich hatte die Ecke bei Peppes Pizza erreicht. Einem Lokal, das ich vor einigen Jahren frequentiert, zu dem ich jedoch inzwischen ein etwas ambivalentes Verhältnis entwickelt hatte. Ich hatte dort zu viel gesagt. Ich hatte mich bloßgestellt. Jetzt sah ich das Lokal so, wie es war, leer und abgeschlossen, mit dem schwachen Geruch von Mahlzeiten und Zigaretten des vergangenen Tages. In einer Ecke liegt ein Straßenbahnfahrschein. Unter einem Tisch eine Glasscherbe. Das Zimmer wartet.

Plötzlich ging mir auf, dass wir in den Gedanken der anderen gehen und stehen. Genauer gesagt in den Früchten der Gedanken der anderen. Abgesehen von Bäumen und Büschen, die noch nicht aus ihrem Winterschlaf erwacht waren, und der Luft, die ich atmete, war alles um mich herum von Menschenhand geschaffen. Jemand hatte gedacht: Wir überziehen die Straße mit Asphalt. Wir holen Öl vom Meeresgrund herauf. Wir vermischen dieses Öl mit zermahlenen Steinen und walzen es auf einer Kiesdecke aus. Wir brennen Ton zu genau gleich großen Ziegeln. Wir legen die Ziegel aufeinander und bauen ein Haus, in dem die Menschen Zuflucht vor den Naturkräften suchen können. Jemand anderes denkt: Wie würde sich ein schmiedeeisernes Tor wohl machen? Oder eine Straßenlaterne? Und irgendwer hat wach gelegen und sich den Kopf über Form und Gewicht der Gullydeckel zerbrochen!

Ein Auto hält vor der roten Ampel. Darüber haben die Menschen sich geeinigt. Wir sind die verbindliche Abmachung eingegangen, vor einer roten Ampel anzuhalten, auch wenn die Straße hinter der roten Ampel öde und leer ist. Wir haben uns unsere Zivilisation ausgedacht, und es kostet soundsoviel, die Grenze zum Chaos zu überschreiten. Gelb, gut. Aber Grün ist noch besser. Grün bedeutet los, aber nur mit fünfzig. Sechzig ist Unsicherheit. Hundert führt zum Verlust eines offiziellen Dokumentes, in dem dein Gesicht in Plastik eingeschweißt ist. Einer Art Wiedergabe deines Äußeren zu einem bestimmten Zeitpunkt, so, wie ein Fotograf oder vielleicht ein Automat es gesehen haben. Du hast selbst unterschrieben. Jemand hat einen Stempel herbeigeträumt. In dem Dokument steht nichts darüber, wer du bist, das weißt du ja selbst kaum. Jetzt wartest du auf Grün. Du willst nach Risør, und dazu hast du sicher deine guten Gründe, wir anderen dagegen haben leider oder vielleicht glücklicherweise keine Ahnung. Wir wissen nicht, was du in Risør vorhast. Wir wollen es auch gar nicht wissen, denn es gibt so viel anderes, zu dem wir uns eine Meinung bilden, das wir erforschen müssen.

Ich überquerte die Straße. Gepp.

Dachte an eine Radiosendung, die ich kürzlich gehört hatte. Es ging um einen Gehirnforscher, der Land und Strand mit Staunen geschlagen hatte. Ja, ich greife wirklich zu so großen Worten. Mit Staunen geschlagen. Er legte großes Gewicht auf die Tatsache, dass die moderne Forschung noch immer nicht in der Lage ist zu erklären, wieso der Mensch einen Fuß vor den anderen setzen und gehen kann. Die Lösung für das Mysterium des Schlenderns, von dem des Laufens ganz zu schweigen, liegt noch weit in der Zukunft, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich weinte, als ich das hörte. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich glaube, es hatte mit Ehrfurcht zu tun. Und jetzt ging ich in einem einzigen schäumenden Wunder aus unbegreiflichen Bewegungen über die Straße.

Mit jedem Meter, den ich in den Tag eindrang, wurde es heller. Ich war mir meines eigenen Zieles bewusst. Ich wollte den Imbisswagen bei vollem Tageslicht betrachten. Dieses Vergnügen stand nämlich noch aus.

 

Er kam mir ein wenig – wie soll ich sagen – zahm vor. Er hatte etwas Enttäuschendes. Auf jeden Fall war er mir in der Dunkelheit spektakulärer vorgekommen. Das stand fest. Zum Beispiel wirkte die Colareklame jetzt, wo die Neonröhren ausgeschaltet waren, seltsam blass. Dasselbe galt für das Schild «Heiße Würstchen» auf dem Dach. Die Blenden vor den Fenstern wirkten geradezu abweisend auf mich. Schmutziger Regen und Matschspritzer von der Straße hatten dunkle Flecken und Streifen über den weißen Lack gezogen. Das alles blieb einem erspart, wenn man in der Dunkelheit stand. Plötzlich machte ich mir Sorgen wegen der Hygiene, doch diesen Gedanken konnte ich verdrängen. Die Würstchen wurden schließlich nicht auf der Straße heiß gemacht. Das Wageninnere wurde bestimmt regelmäßig von der zuständigen Behörde überprüft, trotz allem lebten wir ja an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend. Ich ärgerte mich über eine leere Fantadose und beförderte sie mit einem Tritt unter den Wagen; das Geräusch dieses dünnen Metalls auf dem Asphalt war überraschend laut und schrill. Ich presste mich zwischen Hausmauer und Wagen und betrachtete den engen Darm zwischen Zaun und Treppe. Nun gut. So war das also. Eine grob gezimmerte Holztreppe führte zur Hintertür des Wagens. Ich trat zwei Schritt vor und küsste dann behutsam das Schlüsselloch. Mit allem Respekt. Vulgarität habe ich schließlich immer schon gehasst.

 

Um halb sieben stand ich hinter den Fahrrädern unter der Treppe. Bald darauf hörte ich ihn mit polternden Schritten aus dem dritten Stock kommen, wobei er eine zehn Jahre alte Landplage pfiff. Ich beugte mich vorsichtig vor und sah, wie Kjell Bjarne in eine etwas vereinfachte Ausgabe der Wirklichkeit hinausstürzte.

Es war zu spät, um an Oliver Grøtte zu denken. Oder zu früh.

2

Ich bin eine einsame Insel. Ich bin gänzlich unbewohnt. Kein Robinson. Kein Freitag. Gras und Palmen? Nein. Und auch keine großen Vögel. Ich bin im Grunde nur ein großer Stein, der über die Wellenkämme hinausragt. Es schneit und regnet. Ab und zu treibt eine Eisscholle vorüber.

Ich wurde davon geweckt, dass Elmer meine Stirn ableckte. Was für ein seltsamer, düsterer Traum! Ganz stillstehend, es war nichts darin passiert. Fast hätte ich lachen müssen, denn eigentlich bin ich doch ein munterer Bub. Ich bin zwar zweimal an meine Grenzen gestoßen, aber das kann doch jedem passieren. Das gehört zum Menschenleben. Das ist meine heilige Überzeugung. Wir sind nicht hier, um die ganze Zeit Bingo zu spielen und Sahnetorten zu verzehren.

Es war mitten am Tag. Zeit für lichte Gedanken. So hat Gott mich erschaffen. Ich sehe alles Mögliche lichter, wenn es hell ist. Vier oder fünf Uhr ist so eine Sache. Dann ruht ein krankes Licht über der Stadt. Aber die Mitte des Tages ist recht häufig die pure Lust.

Ich hatte im Laufe dieses Winters eine im Grunde witzige Veränderung durchgemacht. Ich hatte einen gewissen Hang zu Spiegeleiern entwickelt. Früher hatte ich niemals Spiegeleier essen mögen. Wenn mir ein seltenes Mal ein Spiegelei angeboten worden war, hatte ich nein gesagt. Nicht nein danke, sondern nein. (Warum soll man für etwas danken, das man gar nicht haben will?)

Als sich mein Drang zum Spiegeleiverzehr zum ersten Mal zu Wort meldete, saß ich in der Straßenbahn. Das mit der Straßenbahn war auch neu. Ich fing an, zu allen Tageszeiten in der Stadt umherzufahren, und fand es wunderschön. Ich nahm ein Vival, kaufte einen Fahrschein – und fuhr Straßenbahn. Ich schaute mir Menschen und Häuser, Bäume und Autos an und fühlte mich wohl. Den Fahrschein hielt ich die ganze Zeit in der Hand, bereit zur Kontrolle. Ja, ich wollte kontrolliert werden. Eine Schaffnerin sollte kommen und mich kontrollieren. Sich davon überzeugen, dass ich einen gültigen Fahrschein besaß. Es konnte natürlich auch ein Mann sein – gerne ein etwas brutaler, aber eine Frau wäre mir doch noch lieber gewesen, eine Frau, die sich vielleicht über ein Vertrauen erweckendes Lächeln und eine Fahrkarte gefreut hätte, eine Frau, die per definitionem wirklich nur als gütig bezeichnet werden konnte. Bisher war ich nicht ein einziges Mal kontrolliert worden. Und das ärgerte mich, schließlich hatte ich viel Geld in diese Fahrten investiert. Als Frührentner muss man eine gewisse Disziplin walten lassen, sonst bricht das Monatsbudget zusammen. Ich hatte bei diesen Straßenbahnfahrten auch noch ein anderes Ziel. Ich wollte einen echten Schwarzfahrer erleben. Ich wollte mit meinem gültigen Fahrschein dasitzen und mir seine sinnlosen Entschuldigungen anhören. Ich wollte zusehen, wie er unter wildem Protest aus der Bahn geschleift wurde, während ihn draußen schon eine ganze Fußballmannschaft von Kontrolleuren erwartete. Name? Soundso. Zivilstand? Soundso. Alles nur verdammte Lügen, und dann kommt die Polizei. Und wir anderen setzen unsere Reise durch Oslos Straßen fort. Wir Besitzer eines gültigen Fahrscheins. Wir, die wir den Osloer Verkehrsbetrieben nichts schuldig sind. Wir mögen unterschiedlich sein, was Charakter und sexuelle Veranlagung angeht, aber wir haben doch die Gemeinsamkeit, dass wir Anarchie nicht billigen. Wir wollen nicht, dass wir oder die Gesellschaft, der wir angehören, ins Schlingern kommen.

Spiegelei. Es war im Januar, vielleicht auch im Februar, und die Straßenbahn hielt vor dem Kaufhaus GlasMagasinet. Und da und dort hatte ich Lust auf ein Spiegelei, ich kann das nicht anders ausdrücken. Zuerst wehrte ich mich gegen diese Lust. Ja, ich wehrte mich. Ich meine, man hat doch nicht Lust auf Dinge, die man gar nicht leiden kann. Aber das hatte ich seltsamerweise. Das Ganze war ja eigentlich eine Bagatelle. Aber ich wunderte mich. Ich überlegte mir, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt in meinem Leben Spiegeleier gegessen haben musste, sonst konnte ich ja nicht wissen, dass ich sie nicht mochte. Bei Blutpudding sah die Sache anders aus. Den aß ich auch nicht, aber das lag daran, dass mich das Wort «Blutpudding» an sich schon ekelte. Die Vorstellung von Blut, aus dem Pudding gekocht worden war. Ich hatte dieses Gericht nie gekostet. Aber bei Spiegeleiern musste die Lage anders aussehen. Während die Straßenbahn sich in Richtung Grensen in Bewegung setzte, ließ ich mich auf meinem Sitz zurücksinken und versuchte, in mein verschlossenes Gemüt einzudringen.

Als ich in Majorstua ausstieg, hatte ich das Rätsel gelöst. Meine Mutter hatte mit den Spiegeleiern geschlampt. Mitten auf dem Hegdehaugsvei war mir alles wieder ganz deutlich eingefallen. Dass meine Mutter mit den Spiegeleiern geschlampt und dadurch in mir eine ganz unnötige Aversion ausgelöst hatte. Sie hatte die Eier aus der Pfanne genommen, noch ehe das Weiße richtig fest geworden war. Über der ganzen Eierfläche hatte etwas gelegen, das aussah wie eine sehr feine Rotzhaut, sogar über dem Dotter. Und deshalb hatte ich seither mit Spiegeleiern solche Schwierigkeiten gehabt.

Zwei Wochen später machte ich mir mein erstes Spiegelei. Es funktionierte hervorragend. Das Ei schmeckte gut und war von tadelloser Oberflächenkonsistenz. Über mich und meine Angelegenheiten lässt sich allerlei sagen. Aber ich schlampe nie.

 

Spiegeleier esse ich immer im Stehen. Am Tisch unter dem Küchenfenster. Diese Idee ist mir durch allerlei Fernsehfilme gekommen, in denen eilige Geschäftsleute an kleinen runden Tischen ihren schnellen Lunch verzehren und dabei dauernd auf die Uhr schauen.

Ich selbst aß Spiegeleier und schaute dabei in den Hof hinunter. Das hier war kein Lunch, und ich war kein Sklave der Zeit. Mein ganzes Dasein hatte etwas Zeitloses angenommen, überlegte ich. Ich kam und ging ganz unabhängig vom Lauf der Sonne über den Himmel. Plötzlich fiel mir der kleine Junge ein, den ich an diesem Morgen hinten bei den Mülltonnen gesehen hatte. Genauer gesagt, von dem ich in einer Art Fiebervision geträumt hatte. War es ein Zufall, dass gerade er aufgetaucht war, von ich weiß nicht woher – oder stand er mit mir in irgendeinem Zusammenhang? Hatte ich mich selbst gesehen, sagen wir vor hundert Jahren? Meine letzte Inkarnation? Ich hatte in Illustrierten mit großem Interesse über solche Themen gelesen. Die meisten waren in einem früheren Leben die Königin von Saba oder Ludwig XIV. gewesen, aber ich konnte mich problemlos als tuberkulösen Sechsjährigen mit schief stehenden Zähnen sehen, der Tag um Tag unten auf dem Hinterhof den anderen Kindern beim Spielen zuschaute. Der kleine lungenschwache Eilert, der selbst nicht teilnahm, der aber mit gewisser Verwunderung und Freude der Entfaltung der gesunden Kinder zusah. Ein kurzer Lauf über die zerbrechliche Oberfläche der Erde, dann der Tod auf der Küchenbank, umstanden von großen und kleinen Geschwistern und zwei weinenden Eltern, die im tiefsten Herzen durchaus erleichtert sind, weil jetzt ein Mund weniger satt werden muss.

Ich musste die Sache mit Kjell Bjarne in Ordnung bringen. Zu irgendeinem Zeitpunkt war zwischen uns etwas falsch gelaufen. Etwas Böses und ganz Unnötiges war passiert. Es war nicht mein Fehler gewesen. Und auch nicht seiner. Die Wirklichkeit hatte zugelangt, das tut sie ja so oft. Während des letzten halben Jahres hatte ich es nicht über mich gebracht, ihn hereinzulassen, wenn er bei mir anklopfte. Ich hatte im Dunkeln gesessen und seine enttäuschten Schritte gehört, wenn er die Treppe hochschlurfte, zurück zu Reidun und der kleinen Stieftochter.

Es war drei Uhr. Ich stellte Teller und Besteck ins Spülbecken. Mir war wieder ein wenig schlecht.

Ich wollte die Sache mit ihm jetzt in Ordnung bringen. Oder genauer gesagt, ehe er um vier Uhr Feierabend hatte.

 

Seit Kjell Bjarne seinen Teilzeitjob im Supermarkt Prix angetreten hatte, hatte ich bei der Konkurrenz eingekauft. Ich weiß nicht. Ich konnte irgendwie die Vorstellung nicht ertragen, einen ehemaligen Freund von hundertfünfzig Kilo in weißem Lagerkittel sehen zu müssen, wenn ich mir ein Brot und eine Dose Leberwurst kaufen wollte. Nun gut. Einmal hatten wir in derselben Wohnung gewohnt und gelebt. Hatten sogar im selben Zimmer geschlafen. Dann hatte er eine Frau gefunden. War einen Stock höher gezogen. Drei Jahre vergingen, und wir glitten auseinander. Es konnte nicht die Rede davon sein, dass wir «einander entwachsen» waren, was Liebespaaren und Freunden oft passierte, wie ich gehört hatte. Nein. Kjell Bjarne war ich schon entwachsen gewesen, als ich ihn noch gar nicht kannte. Aber er war ausgezogen. Er vögelte direkt über meinem Kopf. Dann kam dieser Job, diese Arbeit, bei der er vier Tage die Woche im Prix an der Ecke Pfandflaschen sortierte. Weniger Rente, dafür mehr Selbstvertrauen, wie irgendein kluger Kopf gesagt hatte, ich weiß nicht mehr welcher. Ich hatte die Vorstellung von Kjell Bjarne mit neuem strotzendem Ego nicht ertragen können, weil sich dieses Ego auf Türmen von Limonaden- und Bierkästen aufbaute.

Andererseits: Wir hatten Blutsbrüderschaft geschlossen. Unfreiwillig zwar, aber wir hatten Blutsbrüderschaft geschlossen.

Ich stand vor den riesigen Fenstern des Prix. Ich hatte das Gefühl, in ein Aquarium zu blicken. In ein Aquarium, in dem Menschen lautlos mit ihren Einkaufskörben und -wagen umhersegelten. Alles Futter war auf den Boden gesunken. Tüten mit Mehl und Zucker. Konservendosen. Milch und Jogurt. Berge von Obst und Gemüse. Ich hatte mich so oft von all dem fortgesehnt. Fort aus einem Dasein mit täglicher Nahrungsaufnahme und regelmäßiger Entleerung des Gedärms. Das erforderte zu viel Zeit. Und schlimmer noch: Wenn die Jahre vergehen und das Alter seine Hand nach uns ausstreckt, wird sich der Lebensinhalt noch weiter begrenzen. Ich besuchte Alfons, meinen alten Freund, mit dem ich früher so gerne einen getrunken habe, oft genug, um das zu wissen. Dass am Ende nur noch die Darmtätigkeit bleibt. Die Verdauung, die mahlt und sich dreht, Schlaf, viel Schlaf und vielleicht ab und zu ein verwirrter, aber wohl kaum besonders lustiger Gedanke. Sie werden wieder wie Kinder, hatte eine Pflegerin gesagt. Aber das stimmt nicht. Du wirst nicht wieder zum Kind, wenn du zufällig Sprache oder Vernunft verlierst. Ein Kind findet die Sprache. Ein Kind baut seine eigene Vernunft auf.

Ich ging in den Laden und steuerte den Pfandautomaten an. Ich zog eine Mineralwasserflasche nach der anderen aus meiner Tragetasche und fütterte den Apparat damit. In die letzte steckte ich einen Zettel. Wir treffen uns bei der Hammelwurst, du fetter Lohnsklave!

Und dann stellte ich mich vor dem Aufschnitttresen auf.

Er kam fast sofort angestürzt. Er trug wirklich einen weißen Kittel, Größe XXL möchte ich hinzufügen. Der Kittel umflatterte ihn, während er sich durch das Lokal arbeitete. Sein großer Kopf wackelte hin und her.

«Ich hab’s gewusst!», sagte er atemlos. «Als ich diesen beknackten Zettel gesehen hab …»

Er versuchte zu lachen, war jedoch zu nervös.

«Du machst nie die Tür auf», sagte er vorwurfsvoll und kaute dann am Nagel seines linken kleinen Fingers herum.

«Das weiß ich», sagte ich. «Ich bin ja schließlich derjenige, der die Tür nicht aufmacht.»

Diese Mitteilung verwirrte ihn. Das konnte ich sehen. Er fuhr sich unsicher mit der Hand durch die fettigen Haare.

«Du warst das die ganze Zeit, oder? Da war nie eine Frau, die –»

«Dir hinter den Limokästen einen blasen wollte? Nein. Die gab es nicht. Tut mir Leid. Aber du hast trotzdem einen Blick hinter die Limokästen geworfen. Oder etwa nicht?»

«Du bist doch knatschverrückt», sagte er. «Das bist du. Und du hast Dreck im Gesicht. Du siehst total krank aus.»

Ich versicherte ihm, dass meine Formkurve bis zu den Sternen hoch reichte. Bis weit über die Sterne hinaus sogar.

«Komm mit», sagte er und zog mich am Mantel.

Gleich darauf stand ich zum ersten Mal auf der anderen Seite eines Pfandautomaten. Ich hatte Kjell Bjarnes Reich betreten. Ich befand mich in den tiefen Wäldern aus geleerten Flaschen, wo Kjell Bjarne in seinem weißen Kittel den Orang-Utan gab. Aber die Reise ging sofort weiter. Er schleppte mich in einen engen Verschlag, wo sich ein Klo und ein Waschbecken befanden. Er riss ein weißes Handtuch an sich, machte es unter dem Wasserhahn feucht und wusch mir das Gesicht.

«So kannst du doch nich’ rumlaufen.»

Ich schloss die Augen und ließ ihn gewähren. Genoss es sogar. Wenn sich schon jemand um uns kümmert, warum soll das dann nicht auf dem Personalklo in einer der hervorragenden Prixfilialen geschehen? Es war so absurd, dass es mir auf irgendeine Weise als ganz natürlich erschien.

«Was machst du eigentlich die ganze Zeit?», quengelte er.

Ach, da gab es so allerlei, das konnte ich ihm versichern. Ich hätte ihm erzählen können, dass ich schon als Kind einen gewissen Hang dazu verspürt hatte, mich meinen Gedanken hinzugeben, aber das erzählte ich ihm nicht. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass solche Mitteilungen ihn nur verwirrten. Kjell Bjarne lebte in einer schlichten und übersichtlichen Welt aus Essen, Sex, Schlaf und Sortieren von Pfandflaschen. Es brachte nichts, ihm den Sinn des Lebens und anderen Unsinn vorzusetzen.

«So! Das ist besser. Siehst du das selbst oder bist du total weggetreten?»

Ich war sicher total weggetreten. Ich konnte keine Veränderung sehen, weil ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr in den Spiegel geschaut hatte. Ich meine, wenn man auf die vierzig zugeht, weiß man doch so ungefähr, wie es um die eigenen Gesichtszüge bestellt ist. Die wöchentliche Rasur wurde mit dem Elektrorasierer erledigt. Im Schlafzimmer, im Dunkeln. Ich sah einen Mann mit strahlend sauberem Gesicht. Sein leicht fliehendes Kinn sah so aus wie immer. Auch die Nase war mir vertraut, ganz und gar durchschnittlich, weder groß noch schief noch klein. Die Augen hatten rote Ränder, das kam sicher von den durchwachten Nächten.

«Elling! Sieh mich an!»

«Jetzt sag mir nicht dauernd, was ich ansehen soll», sagte ich. Ich merkte, dass ich langsam wütend wurde.

Trotzdem sah ich ihn an. Das passierte ganz automatisch.

«Können wir nicht Kumpels sein, so wie früher?», fragte Kjell Bjarne, und ich sah, dass sein Mund dabei zitterte.

«Was glaubst du wohl, warum ich hergekommen bin?», fragte ich.

«Keine Ahnung.»

«Dann überleg doch mal!»

«Vielleicht weil –»

«Ich wollte wissen, wie es dir geht», fiel ich ihm ins Wort.

«Echt?», fragte Kjell Bjarne.

«Ja. Und ich war so furchtbar neugierig darauf, wie ein Pfandautomat von hinten aussieht.»

Er lächelte und nickte zu seinem Arbeitsplatz hinüber. Zog mich wieder mit sich.

«Die kommen da aus dem Loch», sagte er und zeigte darauf. «Und dann pack ich sie in die Kästen und stell die Kästen aufeinander.»

Nicht so bescheiden sein, dachte ich. Immerhin sind das unterschiedliche Flaschen, die in unterschiedliche Kästen gehören.

«Heißt das, du stehst hier und wartest darauf, dass irgendwer eine kleine Limoflasche vorbeibringt?», rutschte es mir heraus.

«Nix. Ich stapel auch Waren, zusammen mit Arnstad. Leg Pappkartons zusammen. Ich hab wirklich alle Finger voll zu tun.»

Alle Finger. Alle Hände hat er voll zu tun.

Ich nickte. «Das glaub ich dir gern. Die Leute fressen heutzutage ja wie besessen.»

«Dieser Job ist das Beste, was mir je passiert ist, Elling. Reidun und die Kleine und dieser Job. Wenn ich so herumsitzen würde wie du, dann wär ich schon total durchgedreht.»

«Du sortierst Flaschen», sagte ich, «ich sortiere Gedanken.»

«Und damit musst du aufhören», sagte er plötzlich heftig. «Frank sagt –»

«Frank hat gesagt», korrigierte ich. «Unser ehemaliger Sozialarbeiter hat allerlei Unsinn geredet, ehe die Sozialbehörde ihn gefeuert hat.»

Er nickte.

Ich fand es gut, Frank loszusein. Ich fand es gut, dass die Gemeinde Oslo endlich begriffen hatte, dass Sparen sich bezahlt machte. Dass es sinnvoll war, ganz und gar überflüssige Arbeitsplätze abzuschaffen. Frank war ein Schmarotzer an der Kasse der Gemeinschaft gewesen. Ein Schnupferich, der dafür bezahlt wurde, dass er sich ins Leben und Treiben anderer Menschen einmischte. Es war nicht zu glauben! Auf diese Weise hatte er mehr als ein Jahrzehnt geprasst, bis irgendjemand aus der Verwaltung sich endlich ein Herz gefasst und streng durchgegriffen hatte. Frank, hatte der Betreffende gesagt. Deine Fähigkeiten sind bei der Gemeinde Oslo nicht mehr erwünscht. Hebe dich hinweg!

Und Frank hatte sich hinweggehoben. Vermutlich in einen ebenso überbezahlten Job, aber wir waren ihn immerhin los.

Kjell Bjarne redete wild auf mich ein. Es ging ums Essen. Ob ich bei ihm und Reidun essen wolle.

Ich sagte nein. Ich sagte, Scheiße, nein, und dabei benutze ich nur selten Kraftausdrücke, aber ich hatte noch so viel zu erledigen. Und ich war gar nicht hungrig, eher war das Gegenteil der Fall, mir war schlecht. Ich erklärte ihm, dass meine Verpflichtungen Schlange stünden und dass ich außerdem um halb fünf eine Verabredung hätte. Er glaube mir kein Wort, sagte er, und dann zog er an meinem Mantel, ich riss mich los und schob ihn an die Wand.

«Wenn du mich noch einmal am Mantel ziehst, dann kannst du dein Testament machen», schrie ich.

Und dann ging ich, nein, ich stürzte davon. So eine Frechheit aber auch.

 

Rasch und wütend ging ich durch die ganze Stadt. Warum war es so restlos unmöglich seine Ruhe zu haben? Kaum hatte man einen kommunalen Klammeraffen abgeschüttelt, schon sprangen einem angebliche Freunde auf den Buckel, mit feuchten Handtüchern und angedrohter Zwangsernährung. Ich wollte nichts essen. Ich fand Essen schrecklich. War das so schwer zu verstehen? Mein Leben lang war ich über Menschen gestolpert, die sich mir in den Weg gestellt hatten. Ich hatte Gott um eine Frau gebeten, aber da hatte ich mir eine glatte Abfuhr geholt. Nun gut. Von mir aus. Aber dann lasst mich um Himmels willen in Ruhe!

Ich war am Ende total erschöpft. Schweißnass setzte ich mich auf eine Bank, ich glaube, es war in Tøyen, auf jeden Fall wimmelte es nur so von Pakistanern und Negern. Ich schloss die Augen und bereitete mich darauf vor, ausgeraubt und vergewaltigt und vielleicht auch zwangsverheiratet zu werden. Plötzlich setzte ich mich auf und schluchzte vor Lachen. Warum konnten die norwegischen Behörden, statt sich in alles mögliche andere einzumischen, für mich nicht einfach eine Ehe arrangieren? Schließlich liefen so viele Menschen einsam durch diese elende Stadt und niemand griff ein und zwang sie zu einer Heirat. Du nimmst Elling zum Mann und liebst und ehrst ihn in guten wie in bösen Tagen, basta. Ich meine, so hatte man es doch bis vor ziemlich kurzer Zeit auch hierzulande gehalten. Ich erkannte, dass die Journalisten der Boulevardpresse im Grunde als ziemlich geschichtslos bezeichnet werden mussten. Seit einem kurzen Jahrhundert hatten wir die Gattenwahl der so genannten Freiwilligkeit überlassen. Was war denn so entsetzlich freiwillig an einem ganzen Leben in Einsamkeit? Das war doch nur traurig. Und was machte glücklich daran, dass man im Suff irgendwen aufriss, um dann drei Jahre und zwei Kinder später geschieden und mit einem hohen Schuldenberg dazustehen? Warum wurden Pakistaner und Marokkaner angepöbelt, bloß weil sie das einzig Vernünftige taten, nämlich dafür zu sorgen, dass ihre Kinder mit anständigen Menschen verheiratet wurden, die nicht soffen und die halbe Stadt durchvögelten? Die Freiheit, dachte ich, ist eine launische Herrin. Der Umgang mit ihr ist wahrlich nicht leicht.

Ich war so müde. Und jetzt meldete sich auch mein schlechtes Gewissen zu Wort. Vor allem bereute ich meine Morddrohungen Kjell Bjarne gegenüber. Ich bereute außerdem, ihn angeschrien und ihn überhaupt aufgesucht zu haben. Jetzt saß er sicher am Esstisch und stopfte sich mit Lungenhaschee voll, während er sich mit vollem Mund über Ellings neueste Abenteuer verbreitete. Über meine verdreckte Stirn. Über die schweinischen Zettel, die ich ihm in den vergangenen Monaten als Flaschenpost geschickt hatte. Ich hatte arge Zweifel, ob Reidun das Humoristische in alldem sehen würde. Reidun Nordsletten, die von ernstem Wesen war, würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Stirn runzeln und mich als komplettes Schwein betrachten. Und es machte mir zu schaffen, dass sie möglicherweise Recht hatte. Dass ich in meiner Einsamkeit schweinische Neigungen entwickelt hatte. Andererseits: Das lag daran, dass ich in meinen jungen Jahren keinen Sex erlebt hatte. Dass ich niemals Sex erlebt hatte. Was man nicht auf natürliche Weise ausleben kann, quillt an allen anderen Ecken heraus. So ist der Lauf des Lebens. Ich kam zu der Erkenntnis, dass das ein großes Manko der gesamten Schöpfung war. Dass sich allerlei Übel verhindern lassen würden, wenn der Sexualtrieb erst langsam, zwei Jahre nach Eingehen der Zwangsehe erwachte.

Ich bereute und grübelte. Bereute mein ganzes Leben.

Aber dann riss ich mich zusammen, ehe alles in Rotz und Tränen endete. Ich kann mich im Grunde gut zusammenreißen. Ich setzte mich gerade und öffnete die Augen. Und seltsamerweise sah ich sie vor mir, als ich die Augen öffnete. Es schneite jetzt, ein feines weißes Pulver tanzte über Gras und Asphalt, und da war sie. In allem.

3

Wenn ich im Eingang zu Hamstrøms Herrenkonfektion in Stellung ging, mit dem Rücken zum erleuchteten Schaufenster, dann nahm ich an, dass ich aus der Entfernung als Schaufensterpuppe durchgehen konnte. Wenn ich ganz still stand, meine ich. Und das tat ich. Ich stand ganz still. Mehrere Abende in der Woche stand ich im Eingang zu Hamstroms Herrenkonfektion, zusammen mit geschlechtslosen Männern aus hartem Kunststoff, die Mäntel, Anzüge, Windjacken, Hosen und Pullover trugen, wir standen ganz still da, und ich sah alles und nahm alles in mich auf, alles, was vor dem Lichtwagen geschah, unten am Fuße des sachten Abhangs, an der Stelle, wo die Straßenbahnschienen eine Art Schleife beschreiben, ich sah alles und teilte es auch meinen PVC-Kameraden mit. «Jungs», konnte ich sagen oder richtiger flüstern, «jetzt bedient sie schon wieder einen wildfremden Mann.» Oder: «Jetzt sehe ich nur ihre Hände. Es sieht so aus, als hätte jemand zwei abgehackte Hände auf die Theke gelegt.»

Ich stand ganz still da. Auf Zehenspitzen. Ich musste nicht an allen Abenden auf Zehenspitzen stehen, aber im Moment hielt ein Stück die Straße hinunter ein Lieferwagen, ich musste über ihn hinwegschauen, normalerweise standen dort verschiedene Personenwagen, aber jetzt eben ein Lieferwagen, auf die Zehen mit dem, der bei diesem Spiel mittun wollte.

Der Imbisswagen sah jetzt in der Dunkelheit ganz anders aus. Auf irgendeine Weise weniger physisch als am frühen Morgen. Ich dachte an die Schlammspritzer auf den weiß lackierten Metallplatten. An die Nägel. An die schweren Blenden vor den Fenstern. Die Blenden waren jetzt entfernt worden, und der Wagen wirkte wie verwischt. Aus den Fenstern und der offenen Verkaufsklappe fiel weiches, gelbes Licht auf die Straße, fast bis zu den Straßenbahnschienen. Kein Wunder, dass ich den Wagen «Lichtwagen» getauft habe, dachte ich. Blödsinnig und melodramatisch, ungefähr so wie «Himmelswagen», aber eigentlich kein Wunder, wenn wir bedenken, dass ich früher ein wenig Poesie betrieben habe, um meinen künstlerischen Ausdruck zu finden.

Eine Gestalt bewegte sich dort unten in den Lichtstrahl hinein. Ein Mann in Jeans und kerniger Lederjacke. Ich ging davon aus, dass er zwei Stunden im Kino verbracht hatte, er hatte zwei Stunden totgeschlagen, wie man sagt, und jetzt hieß es eine Wurst und nach Hause. Oder einen Hamburger und nach Hause. Eine Cola und nach Hause. Eine Tüte Lakritzpastillen und nach Hause. Auf jeden Fall stand er unten vor dem Lichtwagen und führte Verhandlungen, nein, erteilte den Befehl, ihm irgendetwas zu verkaufen, was ein orales Bedürfnis befriedigen konnte. Er wollte etwas von ihr. Etwas, das mit barer Münze bezahlt werden konnte. Diese Transaktion, die nun gerade stattfand, machte mir im Grunde keine besonderen Sorgen, aber musterte er sie mit einem Blick, der an meinen eigenen erinnern konnte? Sah er ihre eigene, vielleicht ein wenig schiefe Schönheit? Und sie? Machte sie sich Gedanken über jeden Besucher, jeden Kunden, oder wurden sie alle zu einem Fluss aus Fleisch und Blut, der vorübertrieb, Stunde um Stunde, Abend um Abend, zu einem Fluss, der Würstchen und Süßigkeiten aller Art mit sich davonspülte und der Geld auf ihr Verkaufsbrett schwemmte? War ich ihr aufgefallen? War ich ihr als Individuum aufgefallen, oder war ich nur einer der zahllosen Abendwanderer, Nachtschwärmer, mit Ernährungsgewohnheiten, von denen Ärzte und Boulevardpresse sich so energisch distanzierten? Das hätte ich gern gewusst. Ich stand auf Zehenspitzen da und hätte das gern gewusst.

Eine Stunde verstrich. Dort unten kamen und gingen die Menschen. Gruppen von Jugendlichen, die einkauften und weiterzogen. Einzelne Männer. Viele einzelne Männer. Die einzelnen Männer lungerten zumeist vor dem Imbisswagen herum, während sie ihre Würstchen verzehrten, ich registrierte, dass manche mit ihr sprachen. Ab und zu war ihr Kopf über der Verkaufstheke zu sehen, ihre Brillengläser funkelten. Ich dachte: Daran will ich Anteil haben. Ich will dort unten stehen und Würstchen essen und mit ihr reden, als sei das ganz normal. Es war ja schließlich ganz normal. Seit undenklichen Zeiten hatten die Menschen miteinander Geschäfte gemacht und dabei über Gott und die Welt geplaudert. Bisher hatte ich meine Wurst in Empfang genommen, hatte bezahlt und war gegangen. Aber das sollte bald anders werden.

Es kostete natürlich Überwindung. Und Zeit. Ich konnte nicht länger auf den Zehen stehen, deshalb wanderte ich ein wenig hin und her. Ging um die Ecke. Zählte bis hundert. Ging zurück. Um zehn Uhr war die Straße wie ausgestorben. Als ich am Lieferwagen vorüberging, es war ein schwarzer Ford Transit, dachte ich, dass Oliver Grøtte in einem solchen Wagen hauste. Ich stellte mir sein Gewehr im Futteral vor. Die schweißdurchtränkte Matratze auf dem Boden, das Transistorradio, das rauschte, denn es war irgendwo zwischen zwei Sendern eingestellt.

Ich überquerte die Straße. Ich registrierte, dass ich einen guten Tag oder genauer gesagt Abend hatte. Seit ich nachmittags aufgestanden war, war sehr viel fehlgeschlagen, aber nun segelte ich mit Rückenwind.

Sie las. Ein Kontaktpunkt, dachte ich, ein klarer Kontaktpunkt, ich bin ja selbst auch sehr belesen. Ich war jedoch nicht dumm genug, diese Karte schon an diesem Abend auszuspielen. Sie las, und ich sah ihren weißen Nacken, wo ihre dunklen Haare sich teilten, ein Vorhang fiel über ihre Brüste, der andere über ihren Rücken. Sie schaute auf, als ich aus der Dunkelheit auf sie zuglitt, und zum tausendsten Mal fragte ich mich, wie eine Frau wie sie wohl heißen könnte. Beril vielleicht. Hatte der Pastor sie Beril getauft, in einer Dorfkirche in den Bergen, vor vielleicht zwanzig Jahren, während das Schneegestöber draußen in übermütigen Windstößen die Grabsteine liebkoste? Schwer zu sagen, fast unmöglich. Fest stand nur, dass ich in sie verliebt war. Ich war verliebt in eine junge Frau mit einer etwas großen und komischen Nase und mit fast zusammengewachsenen Augenbrauen über einer starken Brille. Ist das nicht seltsam? Eine zu große Nase. Fast zusammengewachsene Augenbrauen. Wenn man solche Wörter in die Nacht hinausschleudert oder aufs Papier bannt, dann scheinen sie mitzuteilen, dass hier gegen das herrschende Schönheitsideal verstoßen wird. Dass nicht alles so ist, wie es sein sollte. Und dann steht man plötzlich einer solchen Frau gegenüber, einer Frau mit einer großen, komischen Nase und fast zusammengewachsenen Augenbrauen – und das Herz macht einen Sprung, man merkt, dass man innerlich abstürzt und dass dieser Sturz gut tut.

«Eine Wienerwurst», sagte ich, «mit allem.»