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Ein Mann Ende 30 lernt nach dem Wechsel in eine andere Arbeitsstelle eine geheimnisvolle Kollegin kennen. Trotz vieler Barrieren verliebt er sich in sie. Aber der Wunsch, Janes Herz zu erobern, scheint für Benjamin zunächst unerreichbar zu sein. Eine junge Frau beginnt ihr erstes Semester an der Universität in Kalifornien. Dort trifft sie auf einen geheimnisvollen jungen Mann. Amber fühlt sich wie im siebten Himmel – aber Jayden verbirgt etwas vor ihr. BENJAMIN UND JANE und COME AND KISS ME SALTWATER – zwei packende Liebesgeschichten, aus dem Leben gegriffen, wie sie spannender und romantischer kaum sein können. Aus der Feder von Autor Elias J. Connor.
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Inhaltsverzeichnis
BUCH 1
Kapitel 1 - Die Kälte in meinem Herzen
Kapitel 2 - Alleine im goldenen Käfig
Kapitel 3 - Ein neuer Weg
Kapitel 4 - Unerreichbar, aber du bist da
Kapitel 5 - Warum hört niemand zu?
Kapitel 6 - Jane hat Geburtstag
Kapitel 7 - Der Bruder
Kapitel 8 - Sind wir heimlich zusammen?
Kapitel 9 - Weit weg von mir
Kapitel 10 - Sie ist wieder da
Kapitel 11 - Neues Leben
Kapitel 12 - Mauern
Kapitel 13 - Benjamins Geständnis
Kapitel 14 - Der Ausflug in den Freizeitpark
Kapitel 15 - Hoffnungslos
Kapitel 16 - Gib es auf
Kapitel 17 - Trauriger Herbst
Kapitel 18 - Jane im Nirgendwo
Kapitel 19 - Crystals Schlaflied
Kapitel 20 - Wenn ein Traum Wahrheit wird
Kapitel 21 - Das erste Date
Kapitel 22 - Pandemie
Kapitel 23 - Janes Offenbarung
Kapitel 24 - Crystals Abschied
Kapitel 25 - Das Ende vom Regenbogen
BUCH 2
Kapitel 1 - Fremde Welt
Kapitel 2 - Der Labyrinth-Campus
Kapitel 3 - Die überfüllte Bibliothek
Kapitel 4 - Zufällige Begegnung
Kapitel 5 - Verborgene Gefühle
Kapitel 6 - Vertraute Gespräche
Kapitel 7 - Zwei Herzen, eine Seele
Kapitel 8 - Verwirrte Gefühle
Kapitel 9 - Freundschaften
Kapitel 10 - Was war, was ist und was sein wird
Kapitel 11 - Die Enthüllung
Kapitel 12 - Konfrontation und Emotionen
Kapitel 13 - Geständnisse und Entscheidungen
Kapitel 14 - Salzwasser
Kapitel 15 - Selbsterkenntnis
Kapitel 16 - Wir sind unaufhaltsam
Kapitel 17 - Gemeinsame Herausforderungen
Kapitel 18 - In guten wie in schlechten Zeiten
Kapitel 19 - Die Feier
Kapitel 20 - Ein neuer Weg
Impressum
BENJAMIN UND JANE
Langsam rattert der Zug über die Schienen. Keine Ahnung, wie lange ich schon hier drin sitze, aber es kommt mir vor wie Stunden. Und weil es noch so früh ist, ist es draußen auch noch stockdunkel.
Wie ich das hasse. Ich mag die Dunkelheit nicht. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Und schon gar nicht am frühen Morgen.
Scheiß Arbeit, ehrlich.
Ich war die letzten vier Wochen krankgeschrieben. Offiziell wegen eines Bänderrisses. Ich wusste gar nicht, dass man den beim Arzt sogar vortäuschen kann, aber er hat es mir tatsächlich geglaubt. Er schickte mich natürlich zur Röntgen-Station, aber da bin ich nie hingegangen. Der Doc hat mir eine Krankmeldung geschrieben, und die habe ich in die Firma geschickt.
Gut. Gestern war der letzte Tag meines Kranken-Urlaubs, heute muss ich also wieder hin. Wieder das Gleiche, wie immer gereizte Stimmung, motzende Gruppenleiter und Mitarbeiter, tausend Beschwerden über den hohen Krankenstand in der Firma.
Gelangweilt steige ich aus dem Zug und wandere den Feldweg entlang, hier im Industriegebiet von Solingen, vorbei an den weiten Feldern. Etwa 15 Minuten muss man vom Bahnhof zur Firma laufen. Wer zum Henker kommt bloß auf die Idee, für unsere Werkstatt für psychisch kranke Menschen ein neues Gebäude zu bauen, das so weit ab vom Schuss liegt, dass es selbst Normalsterbliche nur schwer erreichen? Früh morgens, an einem kalten Januartag.
Aber gut. Vergangenen Herbst sind wir umgezogen und arbeiten seitdem hier. Na, ja, ich war eigentlich noch nicht so oft hier. Ich fehle seit einem halben Jahr immer wieder, bin öfter krank und überhaupt ziemlich demotiviert.
Stumm dackele ich durch den Korridor zur Raucherecke.
„Hey, Alter“, grüßt mich daraufhin eine bekannte männliche Stimme, als ich mich wortlos auf die Bank setze. Ich drehe mich um und blicke einen Mann von vielleicht Mitte 20 an, der mich mit einem breiten Grinsen betrachtet.
„Hey, Jack“, meine ich, während er neben mir Platz nimmt.
„Lange nicht gesehen“, sagt Jack daraufhin. „Wo warst du? Ich hab’ dir ein paar Nachrichten geschickt, aber du hast sie wohl nicht bekommen.“
Genervt schnaufe ich aus, aber ich will nicht, dass es genervt klingt.
„Ich hab’ keinen Bock mehr“, stößt es dann aus mir heraus. „Ich mag einfach nicht mehr.“
„Was ist los?“ Jack schaut mich ernst an. „Hättest dich ja wenigstens mal melden können, Benny.“
Zur gleichen Zeit betritt ein stämmiger junger Mann mit dunklen Haaren den Außenbereich, in den wir uns immer zum Rauchen zurückziehen. Er ist vielleicht 30 Jahre oder etwas älter, und mir fällt auf, dass er trotz der Kälte nur einen Pullover trägt. Ich habe ihn lange nicht gesehen, aber ich weiß noch, wer er ist.
„Sieh an“, meint er nachdenklich. „Der lange verschollene Benjamin Foster ist wieder da.“
„Lex, lass ihn“, mahnt Jack den Mann. „Er wird seinen Grund gehabt haben.“
Der junge Mann setzt sich schließlich zu uns und zündet sich eine Zigarette an.
„Benjamin“, sagt er ernst. „So kann es nicht weiter gehen. Die reden vom Fachausschuss. Da sollen Leute gefeuert werden, die zu oft fehlen. Was ist, wenn sie dich feuern?“
Aufgeregt stehe ich auf. „Lex“, sage ich. „Du hast dich noch nie aufgeregt. Was machst du mich jetzt so doof von der Seite an?“
Perplex blickt mir Lex in die Augen. Aber er sagt nichts.
Lex und Jack sind so etwas wie meine besten Freunde. Ich kenne sie seit Jahren – zuerst Lex, und später dann Jack. Wir sind eine richtige Clique. Öfters mal, meistens an Freitagen nach der Arbeit, unternehmen wir etwas: Döner essen, ins Kino gehen, solche Sachen eben. Unsere Gang hat sogar einen Namen: The Alliance. Das sind wir ja auch, eine richtige Allianz.
Lex war noch nie sauer auf mich, egal, was ich wieder verbockt habe, und davon gibt es in letzter Zeit jede Menge. Zu spät oder gar nicht zur Arbeit kommen, Verabredungen nicht einhalten, sie versetzen ohne ersichtlichen Grund. Das ist mir echt nicht aufgefallen, dass sich dies in den letzten Monaten so sehr gehäuft hat. Aber sauer ist er nie darüber gewesen.
Jetzt anscheinend schon.
Ich weiß doch selbst nicht, was los ist. Sie kennen mich doch. Ich bin eben so, wie ich bin. Auch, wenn sie meine besten Freunde sind, brauche ich hin und wieder mal die Zeit, um mich zurückzuziehen, um für mich sein zu können. Aber in letzter Zeit hat Lex oft den Eindruck, dass dies zu häufig vorkommt.
Sie wissen fast alles von mir. Sie kennen eigentlich fast alles, was ich so erlebt habe und durchmachen musste. Sie wissen, dass ich darüber geschrieben habe und diese Geschichte sogar in einem Buch im kleineren Rahmen veröffentlicht habe.
Endstation.
Benjamin Fosters Geschichte. Ex-Alkoholiker mit einer jahrelangen Karriere als Trinker. Der Mann, der erst einen Weg aus seiner Sucht gefunden hatte, als er eine große Aufgabe bekam. Derjenige, der für ein Mädchen Namens Crystal, die später seine aller beste Freundin und langjährige Vertraute wurde, die Patenschaft übernahm. Jahrelanges Bestehen und Wachsen an der Freundschaft zu ihr, jahrelange Kämpfe um sie und ihr Leben. Mit 16 von Zuhause ausgezogen, wohnte sie in einer WG und später bei ihm. Schließlich, als junge Erwachsene, zog sie zu ihrem Freund.
Crystal.
Ich denke in letzter Zeit oft an sie. Ich freue mich immer wieder, wenn sie mal schreibt oder fragt, ob ich bei ihr vorbeikomme. Sie ist jetzt erwachsen und lebt mit ihrem Freund in einem Ort, der gar nicht mal so weit entfernt ist.
Aber dennoch sehen wir uns nur noch selten.
Crystal macht eine Ausbildung und ist schwer eingebunden in ihre Arbeit. Sie ist jetzt 20 und macht eben das, was junge Menschen machen. Leben.
Sie ist noch immer meine Patentochter, das wird sie auch immer bleiben. Ich bin ihre einzige Familie, die sie noch hat, und sie meine. Oh ja, wir haben sehr viel gemeinsam durchgemacht. Wir haben alles verloren und dann wiedergewonnen. Ihr Leben ist nie leicht gewesen. Meins auch nicht. Aber an mein früheres Scheiß Leben will ich nicht denken, jetzt nicht.
Ich habe es abgehakt. Nach dem schweren Alkoholrückfall im Sommer 2016, vor einem halben Jahr, habe ich endlich mit meinem ganzen früheren Leben abgeschlossen, habe alles aufgeschrieben und habe es erzählt.
Und Crystal ist diejenige, die damals da war. Diejenige, die mir Mut gemacht hat, es zu sagen. Und sie ist die Erste, die es während unserer langjährigen Freundschaft herausgefunden hat, warum ich jahrelang getrunken habe.
Ich weiß, dass Crystal klar ist, wie dankbar ich ihr bin, dass ich diesen verheerenden Rückfall überlebt habe und sie mich darin nicht alleine gelassen hat.
Ich bin wieder sicher. Zufrieden, gestärkt und sicher, dass ich nicht mehr daran denken und nicht mehr trinken muss.
Ich habe seit fast zwei Monaten keine Nachricht mehr von ihr erhalten. Was sie wohl so tut? Ob es ihr gut geht?
Ich vertraue ihr. Wenn du von den Kindern nichts hörst, geht es ihnen gut, heißt es ja immer. Ihr geht es sicher gut, warum mache ich mir Gedanken?
Mein Blick schweift ins Leere und ich fühle mich so, als würde ich schweben. Ich fühle mich frei von allem Negativen, das vergangen ist. Ich erinnere mich an die schönen Dinge, die mich dieses vergangene Leben ändern ließen und zu dem machten, der ich jetzt bin. Das will ich doch. So will ich es doch.
„Benny“, meint Lex. „Wie alt bist du jetzt?“
Ich schaue Lex fragend an.
„38“, antworte ich. „Warum?“
„Mann, Benny“, meint Lex. „Du igelst dich ein. Komm mal raus.“
Komm mal raus.
Er hat es oft gesagt. Aber ich bin jedes Mal der Meinung, dass er nicht wirklich denkt, ich würde mich abkapseln. Klar, ich bin oft zu Hause und gehe bei vielen Treffen nicht mit, das ist mir schon aufgefallen.
Aber jetzt scheint er es bitterernst zu meinen.
Ich bin Ex-Alkoholiker. Ich bin zudem wahrscheinlich irgendwie ein Schizo oder Psycho. Das sind wir alle hier ein bisschen, der Eine mehr, der Andere weniger. So ist es, und ich komme klar damit. Die, die mir nahe stehen, wissen, wie ich bin und wer ich bin. Vor allem Crystal, denn keiner steht mir näher als sie, die meine einzige Familie ist.
Warum verstehe ich die Bemerkung von Lex nicht und fasse sie als Angriff auf? Warum versteht er mich anscheinend auch nicht?
Zur gleichen Zeit tritt ein älterer Mann heraus, der hier in der Einrichtung als Gruppenleiter arbeitet. Er kommt direkt auf mich zu.
„So, Herr Foster“, spricht er. „Wie angekündigt haben wir jetzt ein Gespräch beim sozialen Dienst.“
Klar. So was von klar.
Ich habe eine Krankmeldung geschickt, was wollen die denn?
Als wir oben im Büro sitzen, nehme ich fast nicht wahr, was sie mir sagen. Irgendwas von Abmahnung habe ich verstanden. Weil ich zu viel fehle, und weil ich angeblich letztens Gummibärchen aus einem Auftrag geklaut habe.
Ich habe keinen Nerv mehr. Echt nicht. Es geht mir gut, warum checken die das nicht?
Auch auf dem Weg zum Bahnhof – einfach abgehauen, morgens um 9 Uhr – weiß ich, dass könnte es jetzt mit der Werkstatt gewesen sein. Das ist zu viel. Ich kassiere Abmahnungen und haue jetzt sogar auch noch ab. Jetzt müssen sie mich feuern.
Es ist mir egal. Es ist mir alles egal. Ob das jetzt auf einmal so ist oder ob sich diese Gleichgültigkeit gegenüber meinem Leben schon vorher angekündigt hat, das weiß ich nicht.
Mittags um zwölf Uhr sitze ich zu Hause auf meinem Sofa und habe einen komplett leeren Kopf. Keine Gedanken, keine Grübeleien, keine Gefühle.
Ich sehe die halbvolle Dose Starkbier auf meinem Wohnzimmertisch. Jemand muss sie zur Hälfte geleert haben, denn es ist noch etwas drin.
Ich merke nicht, ob ich derjenige bin, der davon trinkt, oder ob das irgendwie jemand anderes ist.
Ich, Benjamin Foster, seit fast einem Jahrzehnt trocken, mit Unterbrechung von einem schweren Rückfall vor einem halben Jahr.
Bei eins anfangen, denke ich bei mir. Eigentlich bin ich dann erst seit einem halben Jahr trocken. Aber jetzt nicht mehr.
Job weg, Crystal meldet sich nicht, und meine Freunde sind sauer auf mich. Ich kann mir viele Gründe ausmalen, warum ich jetzt, heute, wieder ein Bier trinke. Die Angewohnheit des Alkoholikers kommt in mir zum Vorschein, der mich die Verantwortung wieder auf andere Dinge abwälzen lässt.
Ja, ich kenne den wahren Grund meiner langjährigen Trinkerei. Und nachdem ich das völlig verarbeitet und damit abgeschlossen habe, ist es doch nicht mehr nötig zu trinken. Ich darf es auch nicht. Ich habe Verantwortung – nicht nur für mein Leben, auch für das von Crystal und für meine Freunde. Ich habe eine Verantwortung als Patenonkel, Freund und Mensch.
Verdammte Scheiße. Warum?
Ich sehe das Bier an.
Dann kippe ich es weg. Ich will es in den Ausguss kippen, aber vermutlich kippe ich es stattdessen in mich rein. Irgendwie versuche ich mir einzureden, dass ich das nicht merke, und dass ich das gar nicht bin, sondern ein Anderer, der jetzt hier sitzt und wieder trinkt. Ich will es glauben, wirklich.
Ich weiß nicht, wo ich bin. Draußen ist es dunkel. Ich höre das monotone Geräusch von grölenden Menschen, aber es kommt mir so leise vor, dass es mich überhaupt nicht berührt.
Ich sehe aus dem Fenster. Der Scheinwerfer eines Autos scheint hinein, und ich realisiere plötzlich Tausende kleine Muster, die sich im Licht symmetrisch auf dem Fenster verteilen.
Wo bin ich? Es ist so ruhig hier.
„Benny“, ruft einer. „Wieder da?“
„Trinkst du einen mit?“
Sie stellen mir irgendwas auf den Tisch, an dem ich sitze. Ich sitze dort alleine.
Sie setzen sich nicht zu mir, aber ich bekomme etwas hingestellt, das ich trinke. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich trinke es, und je mehr ich davon trinke, desto schwebender wird dieses Gefühl, das ich dabei habe.
Irgendein verfickter Januarabend im Jahr 2017. Ich sitze in meiner damaligen Stammkneipe und trinke wieder. Das ist jetzt so.
Und keiner ist bei mir. So soll das wohl sein.
Nein, nein, nein, rufe ich zu mir selbst. Was mache ich hier nur? Warum nur?
Ich schaue nach oben. Ich denke, ich habe dort ein Seil wahrgenommen.
„Benjamin, komm, trink noch einen. Ist schon eine ganze Weile her.“
Ich versuche, die Hände in die Höhe zu strecken und will irgendwie an das Seil herankommen.
Der Klang der Stimmen, die singen und rufen, nehme ich gar nicht wahr. Es ist wie eine fremde Sprache für mich.
Die Zeit scheint stehen zu bleiben und sich gleichzeitig schneller zu drehen. Ich merke verschiedene Momente einfach nicht, andere kommen mir vor, als würden sie ewig dauern.
Ich sitze auf einmal in der S-Bahn. Ob es in meinem Kopf klar ist, spüre ich nicht. Ich merke den Alkohol nicht, bin auch nicht besoffen. Ich spüre einfach nichts mehr. Nur noch den einen Wunsch: ich will raus. Einfach raus aus allem.
Die S-Bahn hält, und noch immer unwissend, wo ich bin, stapfe ich im Regen die Treppen vom Bahnhof hinunter. Auf dem Vorplatz ist eine Bank, auf die ich mich setze. Hier sitze ich nun, mitten in der Nacht und in der Kälte. Frierend halte ich mir die Jacke zu.
„Kalt“, höre ich jemanden sagen.
Ich drehte mich kurz um…
Sie steht da und sieht mich mit ihren großen Augen an. Ihr Blick ist ernst und ängstlich. Sie atmet regelmäßig ein und aus, und ihre Atemzüge machen kleine Wolken, die vor ihrem unglaublich hübschen Gesicht herumtanzen.
Ich habe keine Ahnung, wer diese junge Frau ist. Ich kenne sie nicht. Wie soll ich auch? Ich bin wahrscheinlich noch nie hier in dieser Ecke gewesen.
Die fremde Frau, vielleicht Ende zwanzig, zittert genau wie ich auch. Ihre Hände umklammern ihren weißen Anorak. Und ihre schulterlangen, zu einem Zopf zusammengebundenen hellbraunen Haare, wehen im leichten Nachtwind hin und her. Aber sie steht ganz still da.
Ich sehe sie nur an, aber wahrscheinlich registriere ich das gar nicht. Ich weiß es nicht.
Es sind nur fünf, vielleicht zehn Sekunden, aber als mich ihr Blick trifft, kann ich es spüren. Es ist etwas, das ich noch nie im Leben zuvor gespürt habe, und ich kann es mir absolut nicht erklären.
Ich schließe kurz meine Augen und als ich noch einmal in ihre Richtung sehe, um einen zweiten Blick auf sie zu werfen, ist sie weg.
Ich lehne mich zurück und fühle mich plötzlich klarer als sonst im Kopf. Ich habe keine Ahnung, was da gerade passiert ist, aber ich muss einen Geist gesehen haben.
Wer ist diese Frau? Ich habe sie nur einige Sekunden gesehen, aber ich merke, dass sie nicht irgendjemand ist. Sie hat in den wenigen Sekunden, während sie mich angesehen hat, irgendetwas in mir ausgelöst, das ich nicht erklären kann. Etwas, das mich sie nicht vergessen lässt.
Es sind nur fünf oder zehn Sekunden – aber durch diesen Blick von ihr weiß ich es jetzt mehr als zuvor, und es ist stärker in mir, als ich es je für möglich gehalten habe. Ich weiß, ich habe nur eine Wahl, und es würde nur eine Entscheidung geben – und die war: Leben.
Langsam laufe ich zum Gleis, als die nächste Bahn einfährt. Dann fahre ich los.
Nach mehreren Stationen, noch immer nicht wissend, wo ich bin, steige ich aus. Mechanisch laufe ich eine Straße entlang, bis in den nächsten Nachbarort, in eine ruhigere Siedlung aus mehreren Zweifamilienhäusern.
Als ich vor Crystals Türe ankomme, bleibe ich einige Minuten lang dort stehen. Schließlich nehme ich mein Handy aus der Jackentasche und schreibe ihr.
„Crystal, bist du zu Hause?“
Es kommt keine Antwort in den nächsten Minuten. Auch nach einer halben Stunde tut sich noch nichts.
Plötzlich geht im Treppenhaus das Licht an, wie ich durch die große Eingangstür aus Glas sehen kann.
Ich höre Schritte, wie jemand eine Treppe hinab läuft.
Daraufhin öffnet sich die Tür, und Crystal sieht mich mit einem tiefen, fragenden Blick an.
„Crystal“, sage ich verzweifelt.
„Du hast getrunken, Benny…“, stellt sie fest.
Mir laufen Tränen an den Wangen herunter. Es ist ein Wunder, dass sie bei der Kälte nicht zu Eis werden.
„Alles weg“, stammele ich. „Nichts mehr da. Kein Job, keine Menschen…“
Crystal streichelt mir über die Schulter. Da steht die junge Frau, meine beste Freundin, meine Patentochter, und sieht mir tief in die Augen.
„Benny, einmal kann es passieren, aber zweimal? Das ist nicht gut.“ Ihr Blick ist verständnisvoll, fast mitleidig, aber auch etwas vorwurfsvoll. Das weiß ich, und ich habe es nicht anders gewollt.
„Marlon ist nicht da“, meint sie schließlich. „Er kommt morgen wieder.“
„Haben dein Freund und du Streit?“, will ich wissen.
Crystal sagt nichts und schüttelt nur mit dem Kopf.
„Benny, komm rauf“, fordert sie mich schließlich auf. „Ich mache dir einen Kaffee.“
Wir laufen die Treppen hinauf zu ihrer Wohnung im ersten Obergeschoss.
Als ich mich aufs Sofa setze, nehme ich alles nur noch ganz vage wahr. Es wird mir schwindelig, und ich fühle mich schwer. In meinem Kopf dreht sich alles, auch dann noch, als ich den ersten Schluck Kaffee trinke, den Crystal mir hinstellt.
Und sie sitzt da und sieht mich einfach nur an.
Was habe ich getan? Warum habe ich es getan? Was ist passiert?
Ihre ungekämmten, schwarzen Haare bindet sie sich zu einem Zopf zusammen. Ich weiß nicht, ob sie die Antworten kennt, denn ich kenne sie selbst nicht. Aber sie scheint mehr über mich und von mir zu wissen, als irgendjemand sonst. Das ist so. Sie ist einfach Crystal. Und sie ist jetzt da.
Ich merke, dass es vor meinen Augen dunkler wird. Hat Crystal das Licht gedimmt? In ihrem Wohnzimmer ist ja ein Lichtdimmer, das weiß ich. Aber hat sie das Licht dunkler gemacht? Warum?
„Crystal, glaubst du an Engel?“, will ich wissen. „Oder an besondere Wesen, die nicht wie wir sind?“
Sie scheint mich fragend anzusehen, aber das merke ich nicht wirklich.
„Warum fragst du das?“, höre ich ihre Stimme aus der Ferne.
„Ich glaube, ich habe so ein Wesen gesehen“, stammele ich.
In diesem Moment wird mir schwarz vor Augen.
Der Wind peitscht ihr ins Gesicht. Sie hält sich die Hände vor die Augen und umklammert gleichzeitig mit ihren Armen ihre dicke Jacke.
Langsam läuft sie die Straße hinunter. Es ist dunkel, und sie sieht nicht genau, wohin sie geht. Der kleine Hund, den sie bei sich hat – ein Beagle – trottet langsam neben ihr her.
Man kann ihr ansehen, dass sie Angst hat. Angst vor der Dunkelheit? Angst davor, dass jemand kommen könnte und sie ansprechen würde?
Die junge Frau mag Mitte 20 sein, aber ihre natürlich aussehende Frisur lässt sie etwas jünger erscheinen. Ihr dunkelblondes Haar weht im Wind. Das Licht der Laternen in der Allee lässt ihren Angstschweiß auf der Stirn aufblitzen.
Plötzlich hört sie ein Geräusch. Hastig versteckt sie sich hinter einer Wand am Straßenrand. Sie atmet heftig. Ihr Hund sitzt neben ihr und schaut sie an.
„Jane“, hört sie plötzlich die Stimme eines Mannes. „Jane, bist du da draußen?“
Die junge Frau sagt nichts. Sie drückt sich noch enger an die Wand. Sie will mit der Wand verschmelzen, so dass sie keiner sieht.
Würde sich bloß eine Mauer um sie bilden, die sie einkesselt. Dann wäre sie ganz für sich.
„Jane“, ruft die Stimme des Mannes erneut.
Die junge Frau schließt angstvoll ihre Augen. Niemand soll sie sehen.
Plötzlich spürt sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ruckartig dreht die Frau sich um.
„Jane, komm' nach Hause“, sagt der Mann in einem ruhigen Ton zu ihr.
Resigniert schnauft Jane aus.
„Ja, Papa“, sagt sie.
Es ist noch immer recht kühl, aber langsam wird es wärmer.
Nur in meinem Herzen nicht.
Anfang April, und ich bin noch immer auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Ich bin schon froh, dass Crystal verhindert hat, dass ich in der Psycho-Klinik lande, denn da will ich nie wieder rein. Ich brauche das nicht mehr. Ich will das nicht mehr. Vehement bin ich noch immer fest im Glauben, ich hätte mit allem abgeschlossen.
Habe ich das nicht?
Ich sitze in meinem Wohnzimmer auf der Couch. Ich tu es, obwohl ich es eigentlich nicht wieder tun will. Aber ich mache es dann doch. Irgendwie erhoffe ich mir dadurch, einen Anhaltspunkt zu finden, was wirklich mit mir los ist. Ich versuche herauszufinden, was an mir nagt, obwohl ich denke, es sei überstanden.
Ich lese das Buch, das ich damals geschrieben habe. Es liegt seit einiger Zeit in gedruckter Form vor mir, eines der wenigen existenten Exemplare. Es sieht gut aus, und es ist meins. Eigentlich soll ich stolz sein, das hier vollbracht zu haben.
Aber das Lesen des Buchs mit dem Titel „Endstation“ ist weitaus schwieriger als die Zeit, in der ich es geschrieben habe. Dabei bekomme ich doch so viel Resonanz von den Menschen, die es auch gelesen haben.
Endstation macht Mut. Endstation spiegelt das nackte Leben, so wie es ist, wieder und zeigt, wie kämpferisch und stark Benjamin Foster eigentlich ist.
Aber bin ich es?
Ich sitze hier und lese Zeile für Zeile.
Ich bemerke nicht einmal, dass ein Schlüssel von außen in meine Wohnungstür gesteckt wird, diese sich öffnet und jemand herein tritt.
„Crystal“, sage ich zu ihr, als ich bemerke, dass sie plötzlich in meinem Wohnzimmer steht.
„Hey“, meint sie lächelnd. „Wie geht es dir?“
Ich schnaufe aus und lege das Buch weg.
„Es geht“, meine ich zu ihr. „Sorry, war grad ganz vertieft…“
Sie setzt sich aufs Sofa und sieht mich an.
So oft hat sie auf meinem Sofa gesessen. Ich weiß nicht mehr genau, wann zum letzten Mal. Irgendwie kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, aber manche Sachen vergehen nicht. Das ist auch gut so. Manches bleibt, anderes vergeht und ist weg für immer.
Crystal bleibt. Sie ist immer geblieben. Auch wenn sie zeitweise nicht mehr so richtig an meinem Leben teilnimmt, ist sie immer da.
„Du liest dein eigenes Buch?“, fragt sie mich.
Ich nicke.
„Es bringt nichts“, denke ich laut nach. „Ich hatte gehofft, dass es mich in die Wirklichkeit zurückholen würde. Dass ich erkenne, wie mein Leben heute ist. Wie es ist, mit dem, was ich heute habe. Mit meiner jetzigen Familie, mit uns…“
„Benjamin“, beginnt Crystal, als sie mich scharf ansieht. „Ist dir klar, dass es kein Uns mehr geben kann? Jedenfalls nicht so.“
Ich habe befürchtet, dass sie das sagt. Aber ich habe gehofft, dass sie es nicht tun würde.
„Wie meinst du das?“, frage ich hilflos ins Leere.
Crystal antwortet nicht und sieht mich nur an.
„Ich will dich nicht auch noch verlieren“, stammele ich.
„Hör auf“, schreit sie plötzlich. „Ständig tust du so, als hättest du immer alles verloren. Du machst dich abhängig von Dingen, und wenn du sie dann nicht mehr hast, wenn auch nur zeitweise, glaubst du, alles verloren zu haben.“
Ich weine leise.
„Ich habe dein Buch nicht gelesen“, sagt sie dann zu mir. „Vielleicht werde ich das auch nicht. Benjamin, hör damit auf.“ Ihre Stimme wird ruhiger. „Ich kann das mit dir nicht mehr. Ich habe es immer gekonnt, aber wenn du jetzt nicht dein Leben grundlegend ändern und endlich mal für dich selbst erkennen kannst, was wichtig ist, ohne dass ich neben dir stehen und dir das bestätigen muss, dann ist es mit uns als Familie vorbei. Verstehst du, was ich sage?“
Ich zittere.
Es ist vielleicht egal. Ich habe sowieso schon alles verloren. Jetzt auch noch die letzte Person im Leben, die ich habe.
„Bitte gib mir noch eine letzte Chance“, will ich sie anflehen.
Aber das tu ich nicht. Ich bleibe leise.
Ich habe irgendetwas kapiert. Ich weiß nicht, was, aber ich habe etwas kapiert.
„Schmeißt du jetzt bitte dein Selbstmitleid weg, damit ich dir etwas sagen kann?“, haucht Crystal traurig.
Ich nicke.
„Okay“, meint sie. „Erstens: Auch wenn ich mich mal monatelang nicht melde – du bist und bleibst einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Für jetzt und für alle Zeit.“
Ich zittere. Hat sie das wirklich gerade gesagt?
„Ich habe genauso Angst, dich zu verlieren“, fährt sie fort. „Benjamin, du hast erneut einen schweren Rückfall erlitten. Du hast versucht, dir das Leben zu nehmen. Und du denkst nicht eine Sekunde daran, dass ich das Gefühl haben könnte, versagt und mit dir etwas falsch gemacht zu haben. Ich weiß nicht, warum du das gemacht hast, Benny, aber zweitens: Du versprichst mir, niemals wieder so etwas zu tun.“
Wieder nicke ich wortlos, während ich mir Tränen aus den Augen wische.
„Und drittens: Es muss und es wird etwas geben, was dir die Abhängigkeit – egal ob von mir, von anderen Menschen oder vom Alkohol – nehmen wird. Du wirst es suchen und finden, hast du verstanden?“
Ich sehe sie fragend an.
Dann steht Crystal auf und läuft zu meinem kleinen Schreibtisch. Sie schaltet den Computer ein und macht das Internet auf.
„Google“, sagt sie. „Du magst deine Arbeit nicht mehr? Dann suche dir einen neuen Job. Jetzt.“
Den Arbeitsplatz wechseln? Alte Gewohnheiten verlassen? Ein ganz neues Leben anfangen? Raus aus allen Abhängigkeiten? Das werde ich nie schaffen, denke ich bei mir.
„Ich weiß nicht, ob ich…“, beginne ich.
„Bitte zeige mir, dass du stark bist und es kannst, Benny“, sagt sie. „Es war deine Endstation. Unsere. Und jetzt nimm irgendeinen verfickten Zug in ein neues Leben. In eines, das dir liegt und gefällt, frei von allem Druck, allen negativen Gedanken und diesen Dingen, die dir als Kind geschehen sind. Frei von Alkohol und deiner Abhängigkeit von Menschen. Benny, ändere dein Leben und tu es jetzt. Bitte. Sonst…“
Sie redet nicht weiter, aber ich weiß, dass sie sagen wollte: „Sonst komme ich nie wieder.“
Das Internet ist an, die Google-Seite offen und Crystal steht auf. Ohne einen Ton zu sagen, läuft sie zur Tür.
„Bitte geh nicht“, traue ich mich zu sagen.
Dann kommt sie zurück, umarmt mich und streichelt mir über den Kopf, als ich weine.
„Du schaffst das, Benny“, flüstert sie. „Und du wirst mich nicht verlieren. Auch nicht, wenn ich eines Tages wegziehen sollte.“
„Wir sind doch Freunde…“, stammele ich nur.
Crystal nickt.
Dann läuft sie aus meiner Wohnung. Ich sitze auf dem Computerstuhl und sehe auf den Bildschirm. Nach zwei oder drei Minuten blicke ich reflexartig auf das Handy. Crystal hat mich nicht in WhatsApp blockiert. Sie bleibt erreichbar.
Ein neues Leben? Mit welchem Inhalt?
Ich gebe vorsichtig eine Suchanfrage ein. Mehrere Vorschläge werden mir gemacht. Bei einer ähnlichen Werkstatt wie der, in der ich tätig bin, bleibe ich irgendwie hängen und öffne die Seite.
„Perseus-Werkstätten für psychisch kranke Menschen und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen“, steht in großen Lettern auf der Start-Seite.
Ich sehe mir die Bilder an und lese das Inhaltsverzeichnis. Sie haben dort eine angeschlossene Autowerkstatt, mit Montage-Sachen. Ich bin zwar nicht sicher, für was, aber es sieht interessant aus.
Die Menschen auf den Bildern scheinen fröhlich zu sein. Der Ton, in der die Seite verfasst ist, ist ausgeglichen und ruhig.
Und dann erscheint weiter unten plötzlich das Kontaktformular.
Ich weiß nicht, wer die Nachricht geschrieben hat, aber seit dieser Sekunde ist es plötzlich so, dass ich mich nicht wiedererkenne. Zitternd lese ich dann, was ich gerade abgeschickt habe.
„Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe Ihre Werkstatt gerade im Internet gefunden und bewerbe mich hiermit für eine Stelle als Mitarbeiter in Ihrem Haus. Zu meiner Person: Ich bin seit acht Jahren in einer Werkstatt im Norden von Solingen tätig, fühle mich aber seit einiger Zeit dort nicht mehr wohl. Im letzten Jahr ist alles im Bereich Arbeit immer weiter nach unten gefallen. Ich habe Schwierigkeiten, früh aufzustehen und fühle mich sehr demotiviert. Dies möchte ich nun ändern und bin zu der Überlegung gekommen, dass ein Werkstattwechsel das Richtige für mich ist. Ihre Werkstatt scheint mir Möglichkeiten zu bieten, die ich ansonsten vielleicht nicht bekäme, und ich würde mich freuen, zu einer Besichtigung und/oder einem Erstgespräch bei Ihnen vorbei schauen zu dürfen. Mit freundlichen Grüßen, Benjamin Foster.“
Es dauert nicht einmal zwei Tage, bis eine Antwort kommt.
„Sehr geehrter Herr Foster, wäre es Ihnen möglich, morgen Vormittag in unsere Werkstatt zu kommen? Wir würden Sie dort gerne zu einem Erstgespräch begrüßen.“
Ich lese nicht mal, wer das unterschrieben hat. Ich schicke Crystal gleich eine Kopie der E-Mail über WhatsApp, und als ein lächelnder Smiley von ihr zurückkommt, weiß ich es. Es hat begonnen. Und es hat heute begonnen…
Ich bin am nächsten Morgen viel zu früh dran, als ich die gar nicht so weit von meinem Wohnort gelegene Werkstatt aufsuche. Schon um acht Uhr morgens stehe ich vor dem Gebäude. Es ist groß, obwohl es im Internet heißt, die Perseus-Werkstätten seien eine kleine Firma. Ich sehe die Fahnenmasten, auf denen die Zeichen der Werkstatt prangen. Und dann hängen da noch weitere Fahnen – wahrscheinlich sind mehrere Betriebe in dem Haus integriert und zusammengeschlossen. Sie haben ja im Internet bereits erwähnt, dass es die Möglichkeit gibt, auch in den anderen Bereichen zu arbeiten.
Ich stehe da und rauche eine Zigarette nach der anderen, bis ich um neun Uhr dann endlich den Termin haben soll.
Wer hier wohl arbeitet? Die Menschen trudeln nacheinander ein. Ein paar laute, lustige Typen. Dann zwei sehr ruhige Frauen und schließlich ein Mann, dem man eigentlich ansieht, dass er möglicherweise ein Autist ist. Er kommt auf mich zu.
„Du bist neu“, stellt er fest und sieht mich mit einem breiten Grinsen an.
Ich nicke. „Das hoffe ich“, sage ich.
Daraufhin geht er weiter.
Ich mache gerade die Zigarette aus und sehe kurz zu Boden.
Zu Boden sehen, das muss ich doch jetzt nicht mehr. Sie haben doch diese nette E-Mail geschrieben. Ich muss nicht mehr traurig sein oder mich alleine fühlen, nein, das muss ich nicht.
Ich habe sie nur ganz kurz gesehen. Für einen Moment, der sich wie Stunden anfühlt, sehe ich diese junge Frau mit den hellbraunen Haaren vor mir stehen. So surreal, wie sie mir vorkommt, so real scheint sie zu sein. Sie steht da und sieht mich mit einem fragenden Blick an, der mir, obwohl ich ihn nicht deuten kann, mehr verraten hat, als ich es je im Leben verraten bekommen könnte. Ich sehe schon in diesem Moment, dass sie ein besonderer Mensch ist. Keine Ahnung, was sie hat und warum sie hier ist, das ist auch nicht wichtig. Aber ich habe – obgleich ich weiß, dass sie real ist – für diese Sekunde das Gefühl, als hätte ich einen Geist gesehen. Warum ist das so?
Ich denke nicht nach. Das kann ich nicht. Ich weiß nur seit diesem Moment, dass dieses Haus irgendwie magisch ist. Ja, daran glaube ich. Es ist magisch. Das alles hier irgendwie.
Sie sieht mich an und schnauft leise aus. Ihre großen Augen mustern mich eine Weile. Die fremde Frau mag Ende zwanzig sein, vielleicht sogar ein bisschen jünger, ich kann es ihr nicht direkt ansehen. Ihre Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hat, wehen leicht im Wind.
Dann hebt sie einen Arm kurz an und ich merke für den Bruchteil einer Sekunde, dass ihr an der Hand mindestens zwei Finger fehlen müssen. Es ist aber nicht befremdlich. Ich finde es so normal, dass es mir gar nicht weiter auffällt.
Sie steht da und sieht mich an.
Und dann dreht sie sich zur Tür und geht in die Werkstatt hinein.
Merkwürdig.
Ich werde einfach das Gefühl nicht los – wer auch immer diese fremde junge Frau ist – dass ich sie kenne, von irgendwo her. Ich werde das Gefühl nicht los, sie schon mal gesehen zu haben.
Mann, was passiert da gerade? Was geschieht hier nur? Ist das Magie?
Langsam stapfe ich ebenfalls hinein, denn es wird nunmehr Zeit für das Gespräch, welches ich hier heute haben soll.
Die Perseus-Werkstätten: Was wohl auf mich zukommen würde?
„Guten Tag“, begrüßt mich eine Frau gleich. „Sie sind Herr Foster, richtig?“
Ich nicke.
„Ich bringe Sie hinauf zum sozialen Dienst“, sagt die Frau.
Ich muss oben noch eine Weile warten. Aber schließlich kommt die Sozialarbeiterin und wir reden darüber, was es hier so alles gibt. Ich erzähle über meine Schwierigkeiten in der alten Werkstatt und sie sagt, dass ich in jedem Fall wechseln könnte. Wir würden dann den normalen Weg gehen, das hieße, dass ich hier ein Praktikum machen soll und wenn daraufhin festgestellt wird, dass ich hier rein passe und mir die Arbeit liegt, dann könnte ich zum nächstmöglichen Termin fest anfangen.
Schließlich werden mir noch alle Bereiche der Werkstatt gezeigt. Es sieht gut aus, was sie hier machen. Nicht so eintönige Dinge wie in der alten Werkstatt. Wichtigere Arbeiten, so richtig mit Metall und Maschinen.
Ob ich das kann?
Ich weiß es nicht. Aber heute traue ich mich mehr als je zuvor.
Am Schluss wird mir die Kantine gezeigt – und da sitzt sie wieder. Die unbekannte, fremde Frau. Wieder blickt sie mich an, und ich sie ebenfalls. Ich habe keine Ahnung, was geschieht, als sich unsere Blicke treffen. Ich habe nicht getrunken, nichts genommen – diesmal nicht – und dennoch ist es der gleiche Geist, der gleiche Engel, den ich damals sah, als ich nachts irgendwo in der Kälte stand. Nur diesmal ist sie real. Es gibt keine Sekunde mehr, nachzudenken. Der Termin ist vorbei, und ein Praktikumsdatum wird mir noch nicht genannt. Langsam laufe ich aus der Kantine und zur Bahn.
Wer bist du, fremder Engel?
Geschafft.
Der erste Tag und ich habe durchgehalten. Bis zum Schluss habe ich auf der alten Arbeitsstelle durchgehalten und jetzt beginnt offiziell mein Praktikum hier bei den Perseus-Werkstätten im Industriegebiet von Solingen West.
Heute ist der 9. Mai 2017 und ich bin hier.
Schön, vergangenen Freitag gab es noch mal einen kleinen Fauxpas auf der alten Arbeit, aber ich habe mich Montag offiziell krankgemeldet. Hätte ja sein können, dass sie mir einen Strich durch die Rechnung deswegen machen würden, in aller letzter Sekunde. Aber das haben sie nicht.
Nun stehe ich hier vor den Toren des Gebäudes, an dem die Fahnen mit den drei Firmenemblemen wehen, die im Haus ansässig sind.
Eine von ihnen sind die Perseus-Werkstätten, bei denen ich heute Morgen anfangen soll. Ich laufe schließlich, nachdem ich noch eine Zigarette draußen geraucht habe, zur Eingangstür hinein.
Matter, frühsommerlicher Sonnenschein scheint durch die Markisen, die halb heruntergelassen sind. Die Halle ist groß. Einige Menschen – viel zu wenig für eine so große Halle – arbeiten an zwei Tischen. Ich kann nicht erkennen, welche Arbeit sie genau machen, aber ich sehe, dass sie etwas montieren. Die kleinen bis mittelgroßen Gebilde sind aus Metall.
Was ist auf einmal los? Ich war doch gerade noch so stolz, so guter Dinge. Jetzt stehe ich hier, bin am Zittern wie Espenlaub und bringe kein Wort heraus. Zu wem soll ich denn gehen? Wo soll ich mich melden?
Es ist acht Uhr früh, ich bin pünktlich. Nicht direkt am ersten Tag verkacken, habe ich mir gestern noch geschworen. Hat ja geklappt, ich bin hier.
Ich bin stark. Ich behaupte mich gegenüber allem negativen. Ich bin seit gut vier Monaten – oder fünf? – wieder trocken, habe keinen Alkohol-Rückfall mehr gehabt. Ich habe die Menschen in den Wind geschossen, die mir Böses wollen. Ja, ich habe es drauf.
Nein, habe ich nicht. Plötzlich nicht mehr. Ich stehe da, und meine Kehle ist so zugeschnürt, dass ich kaum Luft bekomme.
„Hallo, Sie müssen Herr Foster sein, richtig?“
Ich drehe mich ruckartig zu dem jungen Mann um, der mich anspricht. Stumm nicke ich.
„Ich weiß, Ihr Praktikum beginnt heute. Aber gehen Sie bitte noch ein oder zwei Stunden in die Cafeteria. Sie sind leider zu früh dran. Ich sage oben Bescheid, dass Sie da sind.“
Wieder nicke ich.
Zwei Wochen soll mein Praktikum gehen. Und wenn das klappt, soll ich zum nächstmöglichen Termin wechseln können.
Nur zwei Wochen und ich stehe da und kann nicht mehr reden, dabei hat mein Praktikum noch nicht einmal angefangen. Wo soll das nur enden? Habe ich es schon jetzt, vor Stunde 1, vergeigt?
Langsam schlendere ich in die Cafeteria, die abseits der Halle am Ende eines länglichen Flurs liegt. Ich bin mir nicht sicher, aber auf dem Weg dorthin mag ich einen Schatten gesehen haben, der mir bekannt vorkommt. Kann aber doch nicht sein, ich kenne hier keinen.
„Nehmen Sie sich ruhig einen Kaffee“, sagt eine Frau hinter der Theke, die den rechten Küchenbereich vom linken Tischbereich trennt.
Ich nicke dankbar und nehme mir einen.
Ich habe noch nicht einen Schluck getrunken, doch mein Herz bebt. Es rast bis fast zur Besinnungslosigkeit und ich weiß nicht warum.
Natalie.
Meine imaginäre Freundin aus der Kindheit. Neulich tauchte sie bei mir wieder auf und sagte, dass etwas geschehen würde. Ich habe keine Ahnung, was, aber ich weiß, dass es einen Menschen gibt, der nicht aus einem Traum kommt, sondern real ist.
So real ist bislang nur eine einzige Person für mich, nämlich Crystal. Aber sie ist heute natürlich nicht hier, sondern arbeitet an ihrer Arbeitsstelle. Um sie muss ich mir jetzt gerade keine Sorgen machen.
Es ist die Fee, der Geist, die fremde Frau, die ich schon einmal hier sah und die ich davor in einem düsteren Traum an einem abgelegenen Bahnhof in einer finsteren Nacht wahrgenommen habe.
Sie sitzt dort am Tisch und sieht auf ihr Handy.
Nein, das kann nicht sein. Es ist Wirklichkeit, aber das kann nicht echt sein. Das ist sie nicht und ich bin es auch nicht. Das alles hier ist so surreal oder es ist magisch, ich weiß es nicht. Ich bin nicht mehr ich selbst.
Mit leerem Kopf und überängstlich gehe ich zu ihr und nehme ihr gegenüber am Tisch Platz.
„Hey“, grüße ich diese wunderschöne Frau.
Sie sieht kurz auf. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen.
„Ich bin neu“, beginne ich.
Sie lacht kurz.
Und auf einmal fällt ihre Gott sei Dank verschlossene Flasche Wasser herunter auf den Boden.
„Jane, lass das stehen“, ruft sie aus. Dann sieht sie mich an, doch während sie die Flasche wieder hinstellt, wackelt der Tisch.
„Der Tisch wackelt“, meint sie und dann muss sie lachen.
„Ich bin Benjamin“, sage ich. „Du kannst aber Benny sagen, wenn du magst. Wie heißt du?“
Und sie schmunzelt mich an, erst fragend, dann einfach lachend.
Artig steht sie auf, gibt mir die Hand und stellt sich vor. „Ich heiße Jane Willow“, spricht sie. Dann setzt sie sich wieder.
„Was siehst du dir da in deinem Handy an?“, will ich wissen.
„Fotos von meinem Hund“, sagt die fröhliche, junge Frau. „Ein Beagle. Mann, die sind so süß.“
„Ja, ich liebe Beagles“, meine ich. „Ich hatte auch einen Hund, ist aber schon lange her.“
Nein, das bin nicht ich. Ich habe noch nie im Leben irgendwo irgendjemanden angesprochen. Vielleicht mit vierzehn, jedoch nur um nach der Uhrzeit zu fragen.
Aber ich tu es. Ich mache etwas, was ich mich unter normalen Umständen nie getraut hätte. Ich bin an einem völlig fremden Ort, nüchtern, eigentlich guter Dinge, aber auch ängstlich ohne Ende und ich lerne gerade jemanden kennen.
Ich hole mein Handy heraus und schreibe Crystal eine knappe Nachricht. „Sie ist da. Es ist wirklich“, schreibe ich nur mit einem Kuss-Smiley.
„Mach ein Foto“, kommt es gleich zurück.
„Gib mir ein paar Tage, bitte. Ich werde Jane fragen. Melde mich später.“
„Jane?“, frage ich.
„Was?“, sagt sie.
„Pack’ dein Handy weg“, antwortet sie sich selbst.
„Nein, mache ich nicht. Der Tisch wackelt“, spricht sie leise.
Ich sehe ihr zu, wie sie das sagt. Ich rekapituliere noch einmal den Gesprächsverlauf von eben, aber es ergibt keinen Sinn. Muss es das?
Jane ist nicht fröhlich gewesen, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, eher zurückhaltend und ängstlich.
Jetzt lacht sie. Sie lacht und kichert und schließlich stößt sie mir leicht in die Seite.
„Neu hier, richtig? Seien Sie herzlich willkommen.“ Ihre Augen strahlen mich an. Aber ich glaube, ich strahle sie noch mehr an.
„Danke“, lächele ich.
Wenn sie wüsste, welche Angst sie mir jetzt gerade genommen hat.
„Bitte, kannst du mich beim Vornamen nennen?“, will ich wissen. „Ich heiße Benny.“
Habe ich das gesagt? Habe ich das ganz ehrlich gesagt? Keine Ahnung…
„Okay“, grinst sie. „Ich bin Jane.“
„Hallo, Jane“, grüße ich sie. „Ich weiß, wie du heißt.“
Ich sehe sie nur an. Minutenlang sehe ich sie einfach an. Und als ich glaube, es könnte auffallen, sehe ich zum Fenster heraus.
„Kommen Sie jetzt jeden Tag?“, fragt Jane ruhig.
Sie mag Ende 20 sein, eine ganze Ecke jünger, als ich. Aber sie ist, wie ich, hier Mitarbeiter und ich denke eigentlich, die duzen sich alle. Sie schafft es aber irgendwie nicht.
„Für die nächsten zwei Wochen ja“, erkläre ich ihr. „Dann wird sich entscheiden, ob ich hier übernommen werde.“
„Und wie gefällt es Ihnen hier?“, will sie interessiert wissen.
„Es ist… nett“, hauche ich verlegen.
Jane ist bislang hier mein einziger Kontakt. Mit anderen Menschen habe ich noch nicht gesprochen, weder mit Chefs noch Gruppenleitern oder Mitarbeitern.
„Jane.“
Ich sehe sie fragend an.
„Mein Name ist Jane“, sagt sie schließlich knapp. „Ich finde Hunde so süß. Du hattest doch auch einen.“
Plötzlich hüpft sie von einem Thema auf ein ganz anderes. Warum?
„Ja“, sage ich. „Einen Minicollie.“
„Die heißen aber anders, glaube ich“, meint Jane. „Sheltie oder so.“
„Ja, richtig“, sage ich. „Erzähl’ mir doch mal von deinem Hund.“
Plötzlich sieht sie nachdenklich zu Boden.
„Mein Beagle“, meint sie traurig. „Er ist sieben Jahre alt. Wir hatten zwei Hunde, aber der andere Hund lebt nicht mehr.“
„Oh, das ist traurig“, pflichte ich ihr bei. „Ich war auch ganz unglücklich, als mein Sheltie starb.“
„Wann ist er gestorben?“, will sie wissen.
„Lange her“, schließe ich, ohne näher darauf eingehen zu wollen.
„Meiner starb letztes Jahr“, sagt sie. Sie hebt ihr Handy an und legt es mir in die Hand.
„Das ist ein Bild mit beiden Hunden“, erläutert sie.
Meine Hand berührt ihre kurz, als ich ihr das Handy daraufhin zurückgebe.
Ich habe es bereits gesehen. Ich habe es damals schon gesehen, glaube ich zumindest. Aber jetzt kann ich es so fühlen, dass es sich so echt anfühlt, aber es ist egal. Denn es kommt mir so normal vor, dass ich nicht merke, dass es mir zuvor schon aufgefallen ist.
An ihren Händen hat sie nicht alle Finger. An der linken Hand fehlen mindestens zwei, und an der rechten Hand vielleicht noch mehr. Zwei Finger sind nur halb ausgebildet, und insgesamt vier Finger voll und ganz da.
Ich will sie nicht darauf ansprechen, will sie aber dennoch irgendwie trösten, weil ich spüre, dass es ihr peinlich ist, dass ich es gemerkt habe. Ich will ihr irgendwie gerne sagen, „Es ist okay. Du bist gut so, wie du bist, und lasse dir nicht von anderen sagen, du wärst nicht perfekt.“
„Du bist die Erste, mit der ich hier gesprochen habe“, sage ich stattdessen zu ihr. „Das bedeutet mir viel. Vielen Dank, Jane.“
Plötzlich strahlt sie über das ganze Gesicht. „Bitte sehr“, sagt sie.
Ich habe noch eine Weile Zeit, als sie wieder an die Arbeit muss. So sitze ich noch da, bis die Chefin mich auffordert, bis zur Besprechung nach draußen zu gehen, da sie jetzt die Kantine für das Mittagessen vorbereiten müssen.
Ich torkele vor die Tür und rauche bei den milden Temperaturen des 9. Mai eine Zigarette.
Jane geht mir nicht mehr aus dem Kopf, als ich am Abend zu Hause sitze. Ich denke an den ersten Tag. Es ist gut gelaufen, fast mechanisch machte ich heute meine Arbeiten. Und in den Pausen saß ich bei Jane.
Ich redete noch nicht viel. Aber mit Jane redete ich, wenn wir uns in den Pausen sahen. Ich weiß nicht genau, worüber – eigentlich redeten wir über alles Mögliche.
Jane ist faszinierend. In einer Sekunde kann sie etwas total lustiges berichten, was ihr mal geschehen war, und in der nächsten Sekunde sieht sie an mir vorbei und redet ein paar leise Sätze, bei denen ich Schwierigkeiten habe, sie zu verstehen.
Ihr Anderssein und ihre Eigenarten sind aber genau das, was sie ausmacht und mich an ihr so fasziniert.
Gedanken verloren starte ich den Computer und schalte das Internet ein. Ich suche, aber ich weiß nicht genau, wonach. Ich will so gerne Antworten. Wenigstens eine Antwort.
Wer ist Jane?
Schon seit Stunden sitzt Jane in ihrem Zimmer. Sie sieht auf den Bildschirm ihres Laptops, auf dem Fotos von bekannten Persönlichkeiten zu sehen sind. Stars. Schauspieler, Sänger und Sängerinnen. In aller Seelenruhe sieht Jane sich die Bilder an.
Bei manchen Fotos lächelt sie. Hin und wieder klatscht sie in die Hände.
Bei anderen Fotos wiederum sieht sie traurig weg. Sie sieht an sich herunter und blickt dann erneut auf den Bildschirm.
„Jane.“
Die Stimme kommt vom unteren Teil des Einfamilienhauses. Jane scheint sie nicht zu registrieren, obwohl ihre Türe offen steht und die Stimme deutlich zu ihr dringen muss.
„Jane“, sagt die Stimme erneut. Es ist die Stimme einer Frau, die wahrscheinlich ebenfalls hier im Haus lebt.
„Zu Ende machen“, flüstert Jane fast unhörbar. „Warum darf ich nie etwas zu Ende machen?“
Sie klickt an ihrem PC einen Knopf, während eine Serie von weiteren Bildern erscheint. Es sind Bilder des Schauspielers Daniel Radcliffe, der in der Verfilmung der Harry-Potter-Bücher von J. K. Rowling die Hauptrolle spielte. Auf den Fotos ist er mit seinen Filmkollegen während der Dreharbeiten zum ersten Film der Reihe zu sehen.
Jane lächelt und klatscht in die Hände.
Plötzlich tritt eine Frau in ihr Zimmer und sieht Jane scharf an.
„Jane, der Hund muss raus“, sagt sie mit fester Stimme. „Sally wartet bereits seit einer Stunde.“
Die Frau blickt auf den Computerbildschirm, schneller als Jane ihn ausschalten kann.
„Warum vertrödelst du so viel Zeit mit deinen Stars“, sagt die Frau etwas schnippisch. „Kümmere dich um Sachen, die real sind. Und Sally muss gassi gehen. Also, beweg' dich.“
Jane schaut die Frau wütend an.
„Ich war noch nicht fertig, Mama“, sagt sie daraufhin.
„Das ist mir egal“, meint Janes Mutter. „Deine Stars kannst du nachher weiter ansehen. Aber jetzt gehe bitte mit dem Hund.“ Die Frau wendet sich zum Gehen, dreht sich dann aber noch mal um. „Sofort“, wirft sie nach.
Als Jane wieder alleine ist, nimmt sie daraufhin ein Buch von ihrem Schreibtisch und schleudert es in die Ecke.
„Nie darf ich etwas fertig machen“, ruft sie laut. „Dieses Buch habe ich auch noch nicht gelesen.“
Sie nimmt daraufhin ihren Kopfhörer, der unweit des Schreibtisches liegt, und schleudert ihn ebenfalls in die Ecke.
„Musik kann ich auch niemals fertig hören“, weint sie. „Warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe?“
Jane setzt sich auf ihr Bett und hält sich daraufhin die Hände vor ihr Gesicht. Etwa zwei Minuten darauf schnappt sie sich ihre leichte Jacke und zieht sie an.
Wortlos stapft sie die Treppe hinunter. Auf der untersten Stufe steht ihr Hund Sally bereits und wartet freudig auf Jane.
Als Jane die Leine von der Kommode herunter nimmt, befestigt sie diese am Hundehalsband und geht daraufhin durch die Hintertüre mit Sally nach draußen.
Janes Haus liegt weit abgelegen von der Großstadt am Waldrand. Der Weg, der von ihrem Haus wegführt, bringt sie direkt zu dem freien Feld neben dem Wald. Als Jane sicher ist, dass niemand da ist, macht sie die Leine von Sally ab, und Sally beginnt, auf dem Feld zu laufen und an zahlreichen Büschen zu schnuppern.
Jane setzt sich derweil auf eine nahegelegene Bank und sieht ihrem Hund zu.
„Sie ärgern dich wieder“, schimpft sie leise. „Niemals darfst du etwas fertig machen.“
Jane nickt.
„Ich weiß“, antwortet sie sich selbst. „Sie erwarten viel zu viel.“
„Tun sie das?“, meint sie daraufhin. „Oder bist du nur zu unfähig, deine Aufgaben zu erfüllen.“
„Fängst du jetzt auch noch an?“
„Jane, du packst das nicht“, sagt sie. „Sieh es ein. Vergiss es. Vergiss es.“
„Ich bin erwachsen. Ich bin ein normaler, erwachsener Mensch.“
Leise weint Jane in sich herein.
„Vergiss es“, kann man sie sagen hören.
„Du wirst niemals die sein, die du gerne wärst.“
„Aber ich wünsche es mir so sehr“, flüstert sie. „Ich will ein normales Leben. Ich will alle Fingerchen haben. Ich will, dass es bei mir so ist wie bei anderen auch. Ich will einen Freund.“
„Du kriegst keinen.“
„Ich will, dass er mich bemerkt.“
„Wer?“
Plötzlich wird es still. Jane blickt sich vorsichtig um, fast so, als habe sie sich gerade bei etwas ertappt gefühlt.
„Das darf keiner wissen“, haucht sie ganz leise, nachdem sie sicher war, dass niemand in der Nähe ist.
Daraufhin schüttelt sie ihren Kopf. Als Sally mit ihrem Geschäft fertig ist, befestigt Jane wieder die Leine an Sallys Halsband und geht langsam wieder in Richtung ihres Hauses. Vor der Türe macht sie Sally wieder los und schließt auf. Sally trottet die Stufen nach oben, gefolgt von Jane, und legt sich unterhalb des Sofas auf den Boden.
„Warst du mit Sally draußen?“, hört Jane die Stimme ihrer Mutter.
Genervt schnaubt Jane aus.
„Ja“, ruft sie zurück.
Als keine Antwort kommt, setzt sie sich wieder an ihren Schreibtisch und macht ihren PC wieder an.
Was ist nur los mit ihr? Arme Jane. Sie fühlt sich traurig und alleine. Sie sehnt sich nach jemandem, der ihr das traurige Gefühl nimmt.
Er ist da. Er ist nicht weit von ihr entfernt, nur ein paar Kilometer.
Aber Jane sieht ihn nicht. Noch nicht.
In den vergangenen drei Tagen habe ich es schon geschafft, jeden morgen pünktlich auf der Arbeit zu sein. Das habe ich auf der alten Arbeit Monate lang nicht geschafft. Erst in den letzten Wochen, da ich ja bereits wusste, ich würde bald ein Praktikum in einer neuen Werkstatt machen.
Doch jetzt bin ich hier.
Keine Ahnung, irgendwie sehe ich alles durch die rosa Sonnenbrille, wie man so schön sagt. Alles ist cool, die Leute sind nett und auch die Gruppenleiter sind sehr mitfühlend. Wenn man mal nicht richtig kann, Angst hat oder was auch immer, dann darf man sich sogar eine halbe Stunde Auszeit nehmen, einfach rausgehen, rauchen oder auf der Bank sitzen.
Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen. Ich würde es sogar zugeben – ich habe die ganze Zeit an Jane gedacht. Warum nur ist sie so ein besonderer Mensch? Und warum kommt sie gerade jetzt in mein Leben, kurz nachdem ich eine sehr schwere Situation meistern musste und es für mich gar nicht gut lief?
Eine sehr schwere Situation. Mit etwas Pech wäre ich nicht mehr am Leben, doch jetzt bin ich so froh, dass ich überlebt habe.
Ich sitze hier draußen auf der Bank, es ist rund eine Viertelstunde vor Pausenbeginn – aber ich bin einfach mal früher in die Pause gegangen – und ziehe an meiner E-Zigarette. Der Dampf verteilt sich in der Luft, und Gedanken verloren starre ich auf die nahe liegende Straße. Ich beobachte einen LKW, der auf das Nachbargrundstück fährt.
Es ist so wahnsinnig magisch, jede Sekunde, wenn sie ankommt, etwas sagt oder tut.
Jane setzt sich an meinen Tisch mir gegenüber. Das wundert mich, denn gestern war sie sehr reserviert und schien mich nicht einmal zu bemerken.
Was ist das mit ihr und mir?
Oh, Mann – jetzt habe ich es gesagt. Na, ja, zumindest gedacht. „Ihr und mir“, oder „sie und ich“ – aber was ist es nun?
Ich bin jetzt seit vier Tagen hier, und heute ist der 12. Mai 2017.
Ich sage nichts zu ihr. Ich habe ein kleines Buch bei mir, in das ich mir Notizen mache. Das habe ich mir von ihr abgeschaut. Sie hat auch immer ein kleines Buch bei sich und da schreibt sie – sofern ich es schon mitbekommen habe – all ihre Termine, Verabredungen und solche Dinge rein. Ich erhasche nur einen kurzen Blick, als ich sehe, dass sie einen Termin für den Englischkurs hier bei uns auf der Arbeit einträgt.
„If you need any help for english, I can do that“, sage ich zu ihr.
Sie schaut kurz auf und lächelt. Dann vertieft sie sich wieder in ihr Buch und ich in meins.
Ich will eigentlich einen neuen Songtext schreiben, aber gerade bleiben mir die Ideen aus.
Was sind wir nun? Freunde? Oder doch mehr, und wenn ja, wie viel mehr?
Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen, weil ich gestern etwas über sie erfahren habe.
Jane hat heute Geburtstag und sie wird erst 20 Jahre alt. Schon alleine das – ich bin 38 – macht etwas, das in eine andere Richtung als Freundschaft geht, nahezu unmöglich. Crystal ist gerade 21 Jahre alt geworden und meine Patentochter. Jane könnte also vom Alter her meine Tochter sein.
Geschockt von dieser Tatsache, ging auch ich gestern auf Distanz. Habe ich sie doch für mindestens Ende 20, wenn nicht sogar Anfang 30 geschätzt.
Aber das ist noch nicht alles. Fast beiläufig sagte mir eine von Janes wenigen Vertrauenspersonen gestern, dass Jane an einem schweren Herzfehler leidet. Eine Herzkrankheit, die sie seit der Kindheit schon hat. Jane muss äußerst vorsichtig sein. Sie darf nichts Aufregendes machen. Keinen Kaffee, keine Achterbahnen oder Ballonfahrten, nicht mit dem Flugzeug fliegen und wahrscheinlich wird sie zu Hause regelrecht in Watte gepackt. Mehrmals betont sie, dass insbesondere ihre Mutter und ihr Bruder sehr auf sie aufpassen. Und ich meine, ein bisschen herauszuhören, dass sie ihren Bruder oft ärgert und schimpft. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, so zurückhaltend wie sie hier ist, wenn sie mit mir alleine am Tisch sitzt.
„Jane?“, spreche ich sie an.
Sie reagiert nicht.
„Jaaaane“, sage ich dann erneut.
Sie blinzelt, zuckt kurz und sieht dann auf.
„Alles Liebe zum Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch.“
Sie strahlt über das ganze Gesicht. „Danke“, meint sie daraufhin.
„Und heute Abend gibt es bei dir eine große Party mit deiner Familie“, wiederhole ich das, was sie gestern schon sagte. „Freust du dich?“
Jane nickt.
„Sie kommen alle. Tanten, Onkels, mein Bruder, obwohl er nicht mehr zu Hause wohnt… alle.“
Ich sehe sie an.
Sie ist irgendwie so verschlossen. Manchmal, ganz selten, kommt sie ein bisschen aus sich heraus und dann lacht sie. Sie kann so schön lachen.
„Soll ich dir etwas erzählen?“, beginnt sie. „Ich war gestern Nacht draußen. Einfach so.“
„Cool“, sage ich leise.
Jane sieht mich fragend an.
„Warum hast du das erzählt, Jane“, meint sie dann plötzlich. „Weiß nicht. Ich war draußen und wollte mit der Bahn fahren.“
„Wohin wolltest du?“, will ich wissen.
Aber Jane sieht zu Boden und geht nicht auf meine Frage ein.
„Sie lassen mich nichts machen“, beginnt sie. „Ich darf nichts. Nur wegen meiner Herzkrankheit. Und nicht nur deswegen. Mich zu verabreden ist einfach ganz, ganz schwer.“
„Kann ich mir vorstellen“, pflichte ich ihr bei.
Jane schnauft aus und lächelt.
„Heute feiere ich ganz groß meinen Geburtstag. Und wenn ich die Geschenke auspacke, dann halte ich eine Rede.“
„Wow“, entfährt es mir. „Sie werden stolz auf dich sein.“
Jane nickt fast unmerklich. Und daraufhin schaut sie wieder traurig in ihr Buch.
Arme Jane, denke ich so bei mir.
Es kann doch nicht der einzige Grund sein, dass sie sie so in Watte packen, sie so sehr behüten und ständig kontrollieren. Der Herzfehler ist doch nicht der einzige Grund, überlege ich.
Sie tut mir leid. Ich hoffe nur, dass sie einen schönen Geburtstag haben wird.
Noch während sie vor mir sitzt, spüre ich, dass meine Gedanken anfangen, in meinen Kopf zu schießen. Ich will an Jane denken, mich fragen, wie es werden würde, wenn wir uns ein bisschen besser kennen. Ich will davon träumen, eine enge Vertraute hier an diesem vielleicht magischen, neuen Ort zu haben, an dem ich erst seit vier Tagen bin.
Aber ich denke an meine Vergangenheit, die ich eigentlich längst vergessen habe. Verarbeiten. Abhaken.
Habe ich eine Vertraute? Jane weiß doch noch nichts von mir. Nicht wirklich…
Heute ist 2017. Der 12. Mai. Heute ist Janes Geburtstag. Besser an nichts denken und vor allem an nichts von früher. Es ist vorbei, over and out. Überstanden. Mutter ist tot und zu meiner Schwester habe ich den Kontakt vor langer Zeit schon abgebrochen. Sie können mir nichts mehr anhaben.
Jetzt, hier und heute. Alles ist gut.
„Ich habe mir die CD von Ed Sheeran gewünscht“, sagt Jane plötzlich und damit holt sie mich auf den Boden der Wirklichkeit zurück. „Bin gespannt, ob ich sie bekomme.“
„Das hoffe ich für dich“, lächele ich ihr zu.
Schließlich stehe ich auf. „Ich muss wieder rein“, sage ich leise. „Ich wünsche dir ein schönes Wochenende und einen tollen Geburtstag heute Abend. Kannst mir ja Montag erzählen, wie es war.“
„Klar, sage ich dir“, antwortet Jane.
Ich laufe zurück in die Halle, gehe wieder an meinen Arbeitsplatz zu den zwei älteren Damen, mit denen ich schon seit Dienstag zusammenarbeite, montiere weiter meine kleinen Teile und befestige diese mit Schrauben an andere Teile.
Das Wochenende ist für mich enttäuschend, denn Crystal hat wenig Zeit. Ich hätte mich gerne mal mit ihr näher über Jane unterhalten. Ich hätte ihr alles erzählt, was ich bislang von ihr weiß, und dass in mir der Verdacht keimt, dass Jane außer ihrer Herzkrankheit auch etwas schwerwiegend Psychisches haben muss.
Es fällt mir an Janes Verhalten auf. Es kommt mir so normal vor, wie alles an ihr. Aber ich bemerke, dass sie des Öfteren sehr starke Stimmungsschwankungen hat. Nicht bloß das, oft ist es fast so, als hättest du erst einen Menschen, eine junge Frau dort sitzen, die mit dir spricht, und von einer Sekunde auf die andere scheint sich ihr Verhalten so zu ändern, dass du glaubst, es sei ein anderer Mensch, der dir gegenübersitzt.
Ich verstehe es nicht konkret, aber ich versuche, am Wochenende etwas herauszufinden.
Schade, dass Crystal nicht da ist, denn ich hätte sie gerne nach ihrer Meinung gefragt.
Und mein Praktikum wird ja auch nur noch bis nächste Woche gehen.
Am Montag stehe ich schon fünf Minuten vor der Frühstückspause auf und mache mich auf den Weg in die Cafeteria. Als ich nach draußen gehe – heute war es schon sehr warm – sehe ich Jane bereits dort sitzen.
„Hey“, grüße ich sie. „Na, wie war deine Party?“
Jane schnieft und wischt sich mit ihrem Handrücken die Nase. Sie hat geweint. Warum hat sie geweint?
„Jane, was ist los?“, frage ich sie.
„Ich wollte diese Rede halten“, berichtet sie. „Ich habe die Geschenke ausgepackt und wollte mich dann in der Rede bei jedem einzelnen bedanken.