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Auf dem Eis ist er zuhause. Kann er ihr Herz zum Schmelzen bringen? Die große New-Adult-Winterreihe geht weiter!
Zwei Jahre und zweitausend Meilen Abstand zwischen ihnen waren nicht genug. Als Aria nach Aspen zurückkehrt, um das Bed & Breakfast ihrer kranken Mutter zu leiten, rechnet sie nicht mit der Wucht ihrer wieder aufflammenden Gefühle: Noch immer empfindet sie etwas für Wyatt, den charismatischen Eishockeyspieler, der sie damals so tief verletzt hat. Sie hat sich jedoch geschworen, ihm nicht mehr zu nahe zu kommen – was sich als unmöglich erweist, denn Wyatt muss notgedrungen ins B&B einziehen. Aria schöpft Hoffnung, als sie endlich jemand Neuen kennenlernt – und macht Wyatt klar, dass sie nur noch als Freunde Zeit verbringen können. Doch bei einem Ausflug ins verschneite Gebirge sprühen die Funken zwischen ihnen und Wyatt scheint sie mit aller Macht überzeugen zu wollen, dass Freundschaft nie genug sein wird …
Erlebe ein Feuerwerk der Gefühle im Wintersportparadies Aspen – mit den weiteren Bänden der zauberhaften Winter-Dreams-Reihe:
1. Like Snow We Fall
2. Like Fire We Burn
3. Like Ice We Break
4. Like Shadows We Hide
Die Bände der Reihe sind unabhängig voneinander lesbar.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 578
AYLA DADE wurde 1994 geboren und lebt mit ihrer Familie im Norden Deutschlands. Sie hat Jura studiert, nutzt aber am liebsten jede freie Minute zum Schreiben. Die Seiten ihrer Romane füllt die beliebte Buchbloggerin mit großen Emotionen an zauberhaften Schauplätzen. Wenn sie sich nicht in die Welt ihrer Bücher träumt, verbringt sie ihre Zeit mit Sport und kuschligen Lesestunden vor dem Kamin. Mit Like Fire We Burn setzt Ayla Dade ihre Winter-Dreams-Reihe fort und nimmt ihre Leserschaft mit auf eine romantisch-prickelnde Reise in ein Winterwunderland mit verschneiten Tälern, schneebedeckten Bergen und einem Feuerwerk an knisternden Gefühlen.
Außerdem von Ayla Dade lieferbar:
Like Snow We Fall
Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.
AYLA DADE
LIKEFIREWE BURN
Roman
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Copyright © 2022 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Umschlag: bürosüd GmbH
Umschlagmotiv: www.buerosued.de
Redaktion: Steffi Korda
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27765-9V002
www.penguin-verlag.de
To all the girls with their heads in the clouds
Damals, du und ich, wir waren so vieles,
erinnerst du dich?
Wir waren Herbstküsse und Winterlicht,
und da war Liebe in deinen Augen, jedes Mal, wenn du vor Glück gelacht hast, jedes Mal, wenn ich sagte, dass wir mehr sind als das, was andere vorgeben zu sein,
seelenglücklich, wolkenleer
Wir waren das Feuer, das in unseren Herzen brannte,
pur und unzerstörbar, niemand in der Lage, es zu löschen,
heiße Berührungen, auf meiner Haut, ich spür sie heut noch,
tief in mir
Wir waren Poesie in jedem Atemzug,
der Mond in deinen Augen, der mit jedem Blick
auf meine Haut schien, meine Lippen streifte, mir zeigte, dass die Sache zwischen uns,
zwischen dir und mir,
nicht von dieser Welt war
Damals, du und ich, wir waren so vieles,
erinnerst du dich?
Ayla Dade
Das Erste, was ich sehe, sind die Rocky Mountains.
Das war schon immer so. Jedes Mal, wenn ich aus dem Bett aufgestanden bin und aus dem Fenster gesehen habe. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlassen habe. Die Rocky Mountains waren da.
Und das Erste, woran ich denke, hier, zu Hause, zurück in Aspen, ist Wyatt.
Wyatt Lopez. Der Wyatt, der mir das Herz gebrochen hat.
Das könnte ich sagen, aber es wäre gelogen. Er hat es mir nicht nur gebrochen – das wäre niemals genug, niemals auch nur ansatzweise mit dem vergleichbar, was er wirklich getan hat.
Würde ich jemandem sagen müssen, was passiert ist, müsste ich mir die Ohren zuhalten und irgendwie auch Kopf und Verstand ausschalten, weil ich es dennoch hören würde. Denn es passiert ja in meinem Kopf, wenn ich daran denke, und, wirklich, ich will nicht dran denken, niemals nie und einfach überhaupt gar nicht.
Trotzdem tue ich es. Klar, denn es nicht zu tun, wäre irgendwie übermenschlich.
Wyatt Lopez war alles. Das sage ich nicht einfach so, weil es mich zerreißt und er mir fehlt, sondern weil es einfach so war. Wir waren besessen voneinander, nicht auf irgendeine abgefuckt toxische Art, sondern süchtig vor Liebe, alle beide, und eigentlich ist es das Schönste auf der Welt, klar, hallo, bedingungslose Liebe mal zwei, besser geht’s nicht. Und genau deshalb hat es so heftig, so zerreißend wehgetan, als er sich dazu entschieden hat, sein bestes Stück auszupacken und in Gwendolyn reinzuschieben, als wäre sie ich, als wäre das – uppps – mal eben passiert, kein Ding, ganz normal, Verwechslung halt.
Erinnerungen können so was von scheiße sein, wenn sie nicht gerade schön sind.
Ich bin abgehauen, weil ich nicht mehr denken konnte, nicht mehr fühlen, weil ich geplatzt bin vor zu vielen Gefühlen und Wut und Wyatt.
Da war dieses Video. Dieses Video, wie mein Wyatt mit dem breiten Oberkörper und den sehnigen, muskulösen Armen in diesem dunklen Raum steht. Ich sehe, wie er eine Vase vom Nachttisch fegt, weil er torkelt, und sie auf dem Boden zerschellt, und wie er dann irgendwie aufs Bett fällt, auf dieses Bett mit Rentierbettwäsche und dem Ausblick auf die Aspen Highlands, über denen der Mond scheint, hell und klar und viel zu schön für diesen Moment. Dann sehe ich sie, sehe Gwendolyn, die denkt, sie wäre ich, muss sie ja, wenn sie da in diesem Bett liegt und die Beine breit macht, und dann – uppps – zerstört sie mein Leben, zerstört er mein Leben. Und alles, was bleibt, ist nichts, und ich spüre Schmerz und Hass und Trauer und Wut und Liebe, was für eine Scheiße, warum Liebe, warum, warum, warum.
Jetzt bin ich wieder hier. Back to the roots. Die Türen des Aspen Airport öffnen sich. Ich nehme einen tiefen Atemzug, spüre, wie eiskalte Luft meine Lungen schneidet, und vergrabe meine Hände in den gefütterten Taschen meines Parkas. Müde reibe ich mir die Augen. Im Flugzeug zu schlafen, gleicht einem Ding der Unmöglichkeit. Mein träges Hirn bedankt sich für die rühmliche Idee, einen Nachtflug zu buchen.
Fast ein Jahr ist vergangen, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin. Es war bloß über Weihnachten, aber diese zwei Wochen haben dafür gesorgt, dass ich die nächsten zehn Monate damit verbracht habe, Wyatts Gesicht aus meinen Erinnerungen zu vertreiben. Seine Gesichtszüge sind viel zu ästhetisch, viel zu schön, als dass es noch normal sein könnte, mit dieser kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen, diesen Grübchen in seinen Wangen und dieser Frisur, oben wuschelig wild, an den Seiten kurz, die jeden Tag perfekt sitzt, obwohl so etwas gar nicht möglich ist.
Es hat nicht funktioniert. Sein Gesicht ist da. Genau vor meinen Augen. Das mit uns ist zwei Jahre her, aber er ist da, die ganze Zeit, obwohl er nicht da ist.
Abgefahren, oder?
»Aria!«
Ich wende meinen Blick von der imposanten Bergkette des Snowmass Mountain ab und drehe mich nach rechts.
William steht mit dem Rücken an seinen himmelblauen Ford Pick-up gelehnt, stößt sich ab und breitet die Arme zu einer riesigen Umarmung aus. So ist William. Aspens Mann für die Verwaltung. Aspens verrücktester Bewohner mit dem größten Herzen, das man sich überhaupt vorstellen kann. Und er steht auf Umarmungen. Am liebsten würde er die große weite Welt umarmen. Er sagt immer, dieser Planet sei zu einsam. Die Welt brauche Liebe und solche Menschen, die bereit wären, sie ihr zu geben. Wie recht er hat, denke ich, und dann wieder an Wyatt, verdammtnochmalwannhörtdasauf.
Ich lächle. »Hey, Will.« Sein Schnurrbart kratzt an meiner Wange, als er die Arme um mich schließt. Er riecht wie früher: nach antiken Möbelstücken und Pferd.
Er löst sich von mir und nimmt mir Koffer und Tasche ab, um sie auf die Ladefläche zu legen. »Ich wollte mit der Kutsche kommen.«
»Das hätte mir gefallen.«
»Ich weiß.« Er geht zur Beifahrerseite und hält mir die Tür auf. »Doch ich fürchte, der Highway hätte die Pferde verschreckt.«
»Vermutlich.«
William braucht drei Versuche, um den Wagen zu starten. Der Motor brummt, und das Radio springt an. Irgendein Countrysong. So ist das hier in Aspen. Alles wirkt friedlich. Eine gewaltige Bergkette und mittendrin Häuschen an Häuschen an Häuschen, mit Bewohnern, die sich alle kennen. Wären wir ein Film, trügen wir altmodische Kleider und tanzten um unseren Glockenturm herum, im Hintergrund die Countrymusik, weil alles schön ist, alles heimisch, solange man nicht tiefer geht und den Klängen mancher Herzen lauscht. Melancholie in jedem Schlag, viel zu einsam für Countrysongs, außer es sind die von Taylor Swift.
Wir verlassen den Flughafen und nehmen den Highway Richtung Zentrum.
»Deine Mutter freut sich, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch.«
Mom hat Rheuma. In den letzten Monaten ist es schlimmer geworden, und sie hat es lange vor mir verheimlicht, weil sie wusste, dass ich sofort alles hinschmeißen und zurückkommen würde. Denn so bin ich, immer in Sorge, viel zu selbstlos und voller Liebe, obwohl Wyatt sich größte Mühe gegeben hat, alles in mir zu zerstören.
Aber ich bin Aria. Ich bin nett. Ich bin gut. Deshalb bin ich hier. Mein Herz ist mir egal. Meine Mutter nicht. Und, ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich die letzten zwei Jahre damit verbracht zu hoffen, dass jemand anruft und mich braucht, damit ich nach Hause kommen kann. Allein hätte ich es mir nie eingestanden. Ich wäre nie in der Lage dazu gewesen zu sagen: Hey, Aria, eigentlich willst du gar nicht an der Brown studieren. Eigentlich willst du zurück in deine Heimat. Du willst in den Morgenstunden wandern und Teil der Aspen Highlands werden, willst die feinen Fußspuren kleiner Vögelchen im frischen Schnee sehen, willst Wyatt aus der Ferne beobachten und dir vorstellen, wie es wäre, wenn er dich nie betrogen hätte.
Was für ein schöner Gedanke. Wenn er dich nie betrogen hätte. Wir wären heute noch das, was wir einmal glaubten zu sein.
»Ich verstehe nicht, warum du nicht im Stall arbeiten möchtest, Aria.« William setzt den Blinker und nimmt die Ausfahrt ins Zentrum. »Der Job wäre perfekt für dich.«
»Deine Pferde hassen mich, Will.«
»Sie hassen dich nicht. Sie sind nur misstrauisch.«
»Letzten Winter wollte Sally meinen Arm abreißen.«
»Das darfst du nicht persönlich nehmen. Zu der Zeit war sie sehr gereizt.«
»Du solltest aufhören, sie ständig auf Diät zu setzen. Sie wird gemeingefährlich. Wirklich, dieses Tier ist ein T-rex.«
Er seufzt. »Ich fürchte, sie kommt in die Wechseljahre.«
»Eine Tragödie. Sie wird ganz Aspen niedertrampeln. Ich habe dir schon damals gesagt, dieses Ei sieht irgendwie grün aus, du solltest es nicht ausbrüten.«
William lacht. »Es ist schön, dich wiederzuhaben, Aria.«
Ich lächle, versinke tiefer in meiner Kunstfellkapuze und stelle mir vor, diese Worte nicht von William zu hören. Ich stelle mir vor, sie von einem Mann zu hören, dessen Mund sich vor zwei Jahren auf Lippen gelegt hat, die nicht mir gehörten. Ein grausamer Gedanke. Furcht einflößend. Ich will nicht daran denken, aber tue es doch.
Masochistisch, oder?
»Du kannst mich hier rauslassen, Will.«
»Unsinn. Du willst deine Koffer nicht durch die halbe Stadt schleppen.«
»Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß.«
»Ja. Sag ich doch. Die halbe Stadt.«
Ich verdrehe die Augen, lächle aber. »Dann lade meine Sachen zu Hause ab, okay? Ich habe Aspen vermisst. Ich brauche das gerade.«
»In Ordnung. Aber pass auf den T-rex auf. Er könnte dich jagen.«
»Alles klar.«
William fährt rechts ran und lässt mich aussteigen. Meine braunen Dr. Martens sinken in einen Laubberg neben dem Glockenturm. Ich kann es kaum erwarten, dass der Herbst dem Winter weicht. Aspen zur kalten Jahreszeit ist Magie in jedem Atemzug.
Während ich durch die Straßen gehe, muss ich daran denken, wie anders Providence in Rhode Island ist. Eine riesige Hauptstadt, jedes Individuum bloß ein anonymes Wesen, das in der Masse untergeht. Niemand grüßt sich. Alle hetzen bloß, in den Augen Stress, Angst, irgendwas zu verpassen, irgendwas nicht zu schaffen, irgendwie unterzugehen, Angst vor allem und noch mehr.
Das gibt es hier nicht. Aspen ist zwar ein Touristenhotspot, aber es ist eine Kleinstadt. Hier kennt jeder jeden. Ich könnte das ganze Leben unserer Nachbarin Patricia aufsagen, chronologisch und detailliert, dabei ist sie schon fast neunzig. So ist das in Aspen. Es passieren Dinge, und jeder weiß es. Es passieren Dinge, die niemals wieder vergessen werden.
Vor dem Eckgebäude mit der Aufschrift Kates Diner bleibe ich stehen. Es ist noch früh, kurz vor sieben. Rosa Schlieren zieren den babyblauen Himmel, an dem vereinzelte Zuckerwattewölkchen vorbeiziehen. Das Geräusch von Außenjalousien, die im Schaufenster von Woodn’s Supermarkt in ihren Halterungen verschwinden, erfüllt die windstille Luft. In Kates Diner wartet eine Schlange von Menschen, die zur Arbeit müssen, auf ihren Kaffee. Der Wind lässt die Blätter rascheln, weht sie an mir vorbei über den Asphalt, während ich dastehe und durch die Schaufenster auf der anderen Straßenseite blicke. Kate wirbelt hinter der Theke herum, ihre geblümte Schürze um die Hüfte geschlungen, und huscht von dem einen Vollautomaten zum anderen. Die fertigen Kaffeebecher drückt sie ihrer Tochter in die Hand, die die Kunden bedient.
Gwendolyn. Ich weigere mich, ihren Spitznamen auszusprechen, Gwen, weil es bedeuten würde, dass ich sie mag, und das tue ich nicht mehr. Früher einmal, ja, da war sie meine süße halbthailändische Freundin, die gelacht hat, wenn Wyatt und ich uns Popcorn in die Nase gesteckt und geschaut haben, wer sie weiter pusten kann, aber jetzt, jetzt ist alles anders. Sie ist der Grund, weshalb mein Herz nicht mehr funktioniert. Wyatt und sie haben es kaputtgemacht. Einfach so. Dabei macht man Herzen nicht kaputt. Sie sind wertvoll, und wertvolle Dinge zerstört man nicht.
Gwendolyn sieht auf, als sie einem Kunden den Becher reicht. Sie lächelt und sagt etwas, wünscht ihm vermutlich einen schönen Tag, denn manche Menschen können das noch haben, schöne Tage. Als er sich umdreht und sie den nächsten Gast bedienen möchte, huschen ihre Augen über seine Schulter nach draußen.
Sie sieht mich. Sie sieht mich, und das Lächeln auf ihrem Gesicht erstirbt. Ich unterbreche den Blickkontakt nicht. Ich will wissen, was sie denkt. Ich will wissen, ob sie bereut, was sie getan hat. Sie soll mich ansehen und sich verdammt noch mal beschissen fühlen.
Aber in ihrer Miene ist nichts, was ich auf die Entfernung erkennen könnte. Keine Regung. Es widerstrebt mir, die Tatsache einzugestehen, doch Gwendolyn ist wie ich. Sie ist eine Meisterin darin, ihre Emotionen zu verstecken. Ein perfektes Pokerface.
Ich wünschte, ich könnte sie hassen. Nur leider liegt mir dieses Gefühl nicht. Objektiv betrachtet kann ich sie sogar verstehen. Wäre ich sie, und jemand wie Wyatt würde Interesse an mir zeigen, könnte ich mit ziemlicher Sicherheit auch nicht widerstehen. Ich glaube, keine Frau könnte das. Wyatt ablehnen. Er hat diese Art, diese besondere Ausstrahlung, der man sich nicht verwehren kann, denn alles an ihm wirkt stylish und abenteuerlich, besonders, irgendwie neu, auch nach Jahren noch neu, und irgendwie verrucht. Einfach von allem ein bisschen. Bestimmt hat er geleuchtet für sie. Er war die verbotene Frucht, und sie hat ihn angebissen.
Gwendolyn wendet den Blick ab, als Kate ihr den Kaffeebecher für den Kunden zum wiederholten Male vor die Nase hält.
Ich gehe weiter. Die Glocken beginnen zu läuten und kündigen die volle Stunde an. Zwei Gäste kommen aus der Haustür unseres holzgetäfelten Bed & Breakfast. Der Mann setzt sich gerade eine blaue Beanie auf, als seine Frau in die Ferne auf Kates Diner deutet. Sie trotten an mir vorbei, und ich halte unsere Haustür mit der Handfläche auf, bevor sie ins Schloss fallen kann.
Zu Hause. Zum ersten Mal wieder ganz zurück, ohne ein Flugticket, das darauf wartet, eingelöst zu werden. Ich bin wieder hier. Und ich bleibe hier.
Es riecht nach Holz. Nach Pancakes und Ahornsirup. Und nach dem vertrauen Ledergeruch des durchgesessenen langen Sofas in L-Form in der Loungeecke am gemauerten Kamin, in dem ein Feuer knistert. Diese Gerüche werde ich für immer und noch danach mit meinem Zuhause in Verbindung bringen.
Ich schließe die Tür. Dieser Teil des Raumes ist leer, doch im angrenzenden Essbereich hinter dem steinernen Rundbogen erkenne ich Gäste an den Tischen. Sie frühstücken, Glück im Gesicht, Frieden im Herzen. Denn so ist das mit unserem B&B. Es weckt den Frieden in einem.
Meine Schritte werden von dem türkischen Teppich gedämpft. Mom bemerkt mich nicht, als ich durch den Rundbogen gehe. Sie steht am Frühstücksbüfett und kann sich nicht entscheiden, auf welchen gehäkelten Blumenuntersetzer sie die Kirschmarmelade platzieren soll.
»Der orangefarbene«, sage ich und lächle. »Aus dem weißen bekommst du die Flecken nicht mehr raus. Das hatten wir doch schon mal.«
Meine Mutter wirbelt herum. Das Marmeladenglas stößt gegen die Schüssel mit dem Obstsalat und erfüllt die Luft um uns herum mit einem Klirren.
In den vergangenen zwei Jahren hat das Rheuma meine Mutter verändert. Durch das Kortison ist sie aufgedunsen, und der Stress hat ihr Falten beschert, aber jetzt gerade nicht, jetzt gerade strahlt sie, und ich denke nur: Gott, wie schön sie ist, meine Mommy. Wie schön.
»Komm her, Maus.« Sie stellt die Marmelade auf den Untersetzer, den orangefarbenen natürlich, und drückt mich an sich. Der vertraute Rosenwasserduft gemischt mit Ahornsirup gibt mir ein Stück Kindheit zurück – es ist, als wäre ich wieder fünf Jahre alt. Mom zerwühlt mir das Haar, und ich drücke sie fester, ehe sie sich von mir löst.
»Frühstück?«
Ich nicke. »Koffein. Ich brauche Koffein. Und einen Bagel.«
»Ich habe deinen Frischkäse gekauft. Den mit Paprika und Schnittlauch.«
»In Providence gab es den nicht«, sage ich, während Mom und ich uns an den kleinen Tisch am Feuer setzen, den sie bereits gedeckt hat. Das liebe ich besonders an unserem Zuhause: Fast überall empfängt einen knisterndes Feuer. »Ich war in jedem Supermarkt. In jedem, Mom. Weißt du, wie viele Supermärkte es in der Stadt gibt? Einige. Und ich war überall, wie ein streunender Hund auf der Suche nach Leberwurst. Irgendwann war ich nur noch bekannt als die Frischkäsetante.«
Mom gießt uns Kaffee ein. Es sind unsere Ohne-Sinn-Tassen. Bunt zusammengewürfelt, mit den schrägsten Aufdrucken. Wir sammeln sie auf Flohmärkten und in Trödelläden. Das ist irgendwie unser Ding. Heute habe ich eine, auf der steht Du stinkst. Es ist meine Lieblingstasse.
»Ich habe dir gesagt, du sollst das nicht machen. Rhode Island ist nicht Aspen, Aria. Die Leute ticken anders. Die finden Frischkäsetanten nicht so cool wie wir.«
»Ja. Ich wollte es nicht glauben, aber es stimmt.«
Der Toaster spuckt unsere Bagel aus. Mom will aufstehen, aber ich erkenne den Schmerz in ihrem Gesicht und komme ihr zuvor.
»Bleib sitzen.« Als ich vom Büfett zurückkomme, sehe ich, wie Mom ächzend die Finger spreizt. Mit einem flauen Gefühl im Magen setze ich mich und schiebe ihr einen Bagel auf den Teller. »Wie schlimm ist es wirklich? Und keine Ausreden. Ich bin deine Tochter. Sag mir, wie es dir geht. Und sag mir die Wahrheit, bitte, denn alles andere ist einfach scheiße, okay?«
Sie sieht mich lange an. Ich erkenne den nachdenklichen Ausdruck in ihren Augen, weil ich exakt die gleichen habe. Sie kann mir nichts vormachen. Mom wägt ab, ob sie mir wirklich die Wahrheit sagen soll, aber als sie meinen eisernen Blick sieht, knickt sie ein.
Sie seufzt. »Nicht so gut. Aber ich komme damit klar, Aria. Es ist nichts, was dich beunruhigen sollte.«
Ich beschmiere den Bagel mit meinem Frischkäse. Ich sage meinem, weil ich diesen Frischkäse liebe, wirklich, ich vergöttere ihn. »Wir kriegen das hin. Ich helfe dir.«
Moms Hände wirken steif, als sie den Henkel der Kaffeetasse umschließt und sie sich an die Lippen führt. Der Anblick zupft an meinem Herzen. Kein Zupfen der kribbelnden Sorte, nein, ein unangenehmes.
Als meine Mutter das bemerkt, lässt sie die Tasse wieder sinken und neigt den Kopf. »Aria, Maus. Ich komme klar. Du sollst dich auf dein Studium konzentrieren. Mit zwanzig bist du zu jung, um deine Zeit mit einer alten Frau zu verbringen und das Leben an dir vorbeiziehen zu lassen.«
»Ich konzentriere mich auf mein Studium. Trotzdem kann ich dir helfen.«
Meine Mutter nippt an ihrem Kaffee, ehe sie mir einen fragenden Blick zuwirft. »Ich verstehe immer noch nicht, wie genau das mit dem Wechsel funktioniert.«
Ein Pärchen betritt den Essbereich, an der Hand ein kleines Mädchen. Höchstens sechs. Zwei weißblonde Zöpfchen stehen von seinem Kopf ab. Süß. Meine Lippen formen sich zu einem leichten Lächeln, als ich sehe, wie die Kleine mit leuchtenden Augen zum Schokoladenaufstrich rennt.
»Es war nicht so kompliziert, wie du denkst.«
Das Mädchen zerrt am Ärmel ihres Vaters und deutet auf die Schokocreme. Ich wende mich ab und sehe in die viel zu erschöpften Augen meiner Mutter. »Ich habe einen Eilantrag gestellt, entsprechende Begründungen und deine ärztlichen Beurteilungen beigelegt, und der Wechsel an die Aspen University wurde bewilligt.«
Mom lehnt sich in dem knarrenden Holzstuhl zurück und mustert mich skeptisch. »Was ist mit deinem praktischen Jahr in Seattle?«
»Habe ich abgelehnt.«
»Abgelehnt? Davon hast du mir nichts erzählt, Aria!« Ihr Blick ist vorwurfsvoll.
Ich zucke die Achseln und knabbere an meinem Bagel.
»Hast du denn schon einen Platz in Aspen gefunden?«
Ihre Frage rüttelt meinen Magen durch und ruft ein mulmiges Gefühl in mir hervor. Der Frischkäse schmeckt plötzlich nicht halb so gut wie sonst. »Nein. Das hat Zeit. Die praktische Ausbildung beginnt erst in einem Jahr.«
Sie seufzt. »Aria.«
»Ich werde einen Platz finden, Mom.«
»Es geht um deine Zukunft.«
»Ja. Und wie schon gesagt …« Ich lasse den letzten Bissen Bagel in meinem Mund verschwinden, trinke meinen Kaffee aus und erhebe mich. »Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Ich regle das. Ich bin Aria, schon vergessen? Aria, die alles regelt. Aria, die alles unter Kontrolle hat. Kein Problem, Mom.«
Als ich ihr einen Kuss auf den Scheitel drücke, lächelt sie, aber sie sieht nicht überzeugt aus. Kein Wunder. Noch nie in meinem Leben war ich Aria, die alles unter Kontrolle hat. Mom weiß das besser als irgendwer sonst.
Schweigend räume ich den Tisch ab, und jedes Mal, wenn ich wiederkomme, um etwas anderes mit in die Küche zu nehmen, mustert sie mich aus ihren hellen Augen argwöhnisch und besorgt.
»Alles wird gut«, sage ich, als ich fertig bin. »Du wirst schon sehen.«
Was für eine Lüge. Seltsamerweise ist es immer am einfachsten zu lügen, wenn es darum geht, anderen die Sorgen zu nehmen, obwohl man innerlich einfach schreit und weint und absolut gar nicht klarkommt. Aber das könnte ich ihr nicht sagen. Ich meine, könnte ich schon, aber wie dumm, denke ich, wie dumm, sie zu belasten, wenn es ihr so schlecht geht. Das mache ich nicht.
Dann verlasse ich den Essbereich. Ich schenke einer Familie im Wohnzimmer ein warmes Lächeln, husche an ihnen vorbei und laufe die massive Holztreppe hoch. Die Stufen knarren. Meine Finger streichen über das lasierte Geländer, spüren die Kerben, jede einzelne so vertraut, dass ich genau weiß, wo welche ist. Oben angekommen, drehe ich den Kopf automatisch zum rechten Ende des Flurs. Als ich klein war, habe ich stundenlang auf der gepolsterten Bank vor dem Fenster gesessen und die Leute draußen beobachtet. Ich lasse den Blick über die Wände wandern. Sie sehen aus wie immer. Zur Hälfte weiß getäfelt, der Rest eine babyblaue Tapete mit pastellfarbenen Blümchen. Zwischen den Türen der Gästezimmer stehen noch immer die wuchtigen Echtholzkommoden, auf deren Schubladen ich als Kind geklettert bin, und das Einzige, was sich an den zwei Messingkronleuchtern über meinem Kopf geändert hat, sind die Glühbirnen. Wie vertraut mir dieser Ort ist! Und wie gut sie sich anfühlt, diese Vertrautheit. Mit einem wehmütigen Lächeln gehe ich den Flur entlang, links durch die Verbindungstür zu unserem Wohnbereich.
Der Flur unterscheidet sich nicht von dem der Gäste – es ist ein und derselbe, nur unterteilt durch die nachträglich eingebaute Trennwand. Am Ende dieses Ganges führt eine Holzleiter aus dicken Baumstammstreben aufs Dach. Und dieses Dach ist mein Zimmer.
Mein Zimmer.
Es sieht noch genauso aus wie vor zwei Jahren, bevor ich Aspen verlassen habe. Für eine kurze Zeit hat Paisley hier gewohnt. Sie ist Eiskunstläuferin und letztes Jahr hergezogen. Damals war sie verloren, ist vor ihrem Trainer aus Minneapolis geflüchtet und hat sich in Aspen gefunden. Ich liebe sie. Jeder liebt sie. Paisley ist … Sie ist wie Aspen. Man ist bei ihr und fühlt Frieden.
Ich schmunzle, als ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen lasse. Entweder hat sie akribisch versucht, nichts durcheinanderzubringen, oder Mom hat alles so hergerichtet, wie es war, damit ich mich zu Hause fühle. Vorstellen kann ich mir beides.
Die Wände sind schräg zulaufend, das Fenster befindet sich an der geraden Dreieckswand, die zur Straße führt. In der Grundschule war ich die Coolste, weil ich allen gesagt habe, ich wohne in einem Dreieck.
Dieser Raum ist der wahr gewordene Traum eines jeden Mädchens, das auf Cozy Christmas Feeling steht. Lichterketten schlängeln sich um die Dachbalken. Die Wände bestehen aus rustikalem Holz. Ich habe sie nie tapeziert, weil es mir so gefiel. An den Wänden stehen ein breiter Schrank, ein uralter Schreibtisch, den ich nie benutze, und zwei Kommoden. Mein Blick gleitet zu dem weißen Polstersofa unter dem Doppelfenster. An den Vorhängen hängt noch immer eine goldene Girlande mit einem Weihnachtsstern, die ich vor einigen Jahren dort angebracht und dann – natürlich –vergessen habe. Irgendwie wollte ich sie später nicht mehr abhängen. Irgendwie gefällt sie mir.
Das Holz unter dem Rautenteppich knarrt, als ich den Raum durchquere. Seltsam, wieder hier zu sein. Nicht nur vorübergehend, sondern einfach zurück. Zurück in Aspen. Zurück in meinem Zimmer. Das ist mindfuck at its best, denn hier kommt alles zusammen. Alle Erinnerungen auf einmal, schöne, aber auch schlechte. Viel zu viel einfach.
Ich lasse mich auf mein Bett sinken und genieße das Federn der Matratze. Die in meinem Wohnheim an der Brown hat das nicht gemacht, die war steinhart, wie ein Betonklotz, obwohl wir so viel Geld für mein Studium ausgegeben haben, mein ganzes Sparkonto. Mehrere Tausend Dollar für ein Betonbett, supernice, oder?
Mit der Handfläche streiche ich über das Ende des Bettes, fühle das geschliffene Holz der weiß bemalten Baumstammpflöcke.
Mein Dad hat dieses Bett gebaut. Ich war vierzehn, und meine Beine waren so lang, dass sie einen halben Fuß über das Gestell meines Kinderbettes geragt sind. Wenn ich geschlafen habe, dann immer wie ein Embryo, damit es passte. Total abgefahren, die Vorstellung.
Etwa zu dem Zeitpunkt kam ich mit Wyatt zusammen. Wir waren beide noch grün hinter den Ohren, beide so verknallt, dass wir uns kaum ansehen konnten, ohne rot zu werden. An einem Samstagmorgen hat Dad beschlossen, Wyatt auf seine Fähigkeiten als Handwerker zu testen. Er hat ihn mit in die Red Mountains genommen, einen Baum gefällt und innerhalb eines Tages mit ihm dieses Bett gezimmert. Danach gehörte Wyatt für ihn zur Familie. Zumindest so lange, bis Dad mit einer gebräunten Touristin in die Hamptons abgehauen ist und sich nie wieder gemeldet hat.
Mit einem lauten Seufzen lasse ich mich rücklings auf die alte Patchworkdecke fallen und hebe den Arm, um die Lichterkette über meinem Gesicht beiseitezuschieben. Sie hängt quer durchs Zimmer. Eigentlich war sie an dem Holzbalken über mir befestigt, aber im Laufe der Zeit müssen einige Klebestreifen aufgegeben haben. Ich blicke durch das schräge Dachfenster genau über meinem Kopf. Wir haben es nachträglich eingebaut, weil ich als Kind immer davon geträumt habe, vor dem Schlafen die Sterne zu zählen. Jetzt gerade wabern morgendliche Wolken am Horizont und färben den Himmel rosa. Ich schließe die Augen.
Dieses Zimmer gehört mir. Jahrelang habe ich in diesem Dreieck gelebt. Es ist meins, aber ich fühle mich fremd. Ich habe das Gefühl, gar nicht mehr zu wissen, wer ich eigentlich bin.
In Aspen war ich Wyatts Aria. In Providence war ich die Sportmedizinstudentin, eine melancholische Aria, die nie ausgegangen ist und die die verschneiten Berge vermisst hat, den verrückten William, die Stadtversammlungen, die Touristen, die Wanderungen, Spuren im Schnee, Kindergebrüll auf Schlitten, Waffeln mit heißen Kirschen vor dem Kamin während eines Schneesturms.
Jetzt bin ich zurück, aber ich bin nicht mehr Wyatts Aria. Ich bin auch nicht mehr die Aria, die auf die Brown geht und ihre Tage damit verbringt, einsam zu sein.
Wer bin ich?
Meine Damen und Herren, ich habe keine Ahnung.
»Wehe, Kumpel. Wehe. Wenn du das tust, kill ich dich und – okay, wow, du bist so ein Arschgesicht.«
Die Fernbedienung rutscht mir aus der Hand auf den Teppich, als ich den ausgestreckten Arm vom Sofakissen hebe und wieder fallen lasse. Ich setze mich auf, nehme meine Coke vom Couchtisch und trinke einen großen Schluck. Im Fernsehen läuft die Übertragung des Eishockeyspiels meiner Mannschaft. Aspen Snowdogs gegen Seattle Crocodiles. Das erste NHL-Spiel der Saison, und ich bin nicht dabei.
Ich will nicht daran denken. Will mich nicht daran erinnern, was ich getan habe, dass ich jetzt hier sitzen muss und nicht spielen kann, weil jeder Gedanke daran ein rot blinkender Selbstzerstörungsknopf ist, der mich fertigmacht und mir ins Hirn ruft, was für ein dreckiges Stück Scheiße ich bin. Trotzdem habe ich seit den zwei laufenden Dritteln des Eishockeyspiels nichts anderes im Kopf, weil ich diesem wirklich schlechten Spieler namens Gray dabei zusehe, wie er meine Position als Mittelstürmer verkackt. Jetzt gerade hat er den Puck mit hohem Stock ins Tor geschlagen und freut sich seines Lebens. Mit hohem Stock. Das ist gegen die Spielregeln. Er muss für zwei Minuten auf die Bank, aber das verzögert sich, weil unser Stürmer ihm mit wutverzerrtem Gesicht den Weg abschneidet.
Die Haustür öffnet sich. Meine Schwester Camila legt ihre Schlüssel auf die Kommode im Flur und kommt mit zwei Papiertüten ins Wohnzimmer. Mit gerunzelter Stirn sieht sie zum Fernseher, während sie aus ihren oberhässlichen UGGs schlüpft, von denen ich immer noch nicht verstehe, weshalb man sie trägt, für fast zweihundert Dollar oder so, wenn Hausschuhe von Target für ’nen Zehner genauso aussehen.
»Warum geht Paxton auf den neuen Mittelstürmer los?«
Der Flaschenhals gibt ein zischendes Geräusch von sich, als ich die Coke absetze. »Er ist nicht der neue Mittelstürmer. Er ist bloß temporärer Ersatz.«
Camila zuckt mit den Achseln. »Ist doch egal.«
Ich nehme ihr die Papiertüten ab und linse hinein. Chicken Wings aus der Skihütte.
»Nicht egal. Neu bedeutet, ich wäre raus. Temporärer Ersatz heißt, ich komme wieder.«
Meine Schwester verdreht die Augen und lässt sich auf ihrem mit Kissen ausgestatteten Platz in der Fensternische nieder. »Schön. Warum geht Paxton auf den temporär eingesetzten Mittelstürmer, der den Platz nur so lange hat, bis König Wyatt seinen Thron zurückerobert, los?«
Ich reiche ihr eine der Tüten. Camila schlüpft aus ihrem Mantel, legt ihn über die Sessellehne neben sich und nimmt die Tüte mit gierigen Augen entgegen. Sie trägt noch ihre Arbeitskleidung, ein langes Wollkleid mit Aufdruck der Skihütte.
»Er hat ein Tor gemacht, das nicht gültig ist. Mit hohem Stock geschlagen.«
»Wie dumm. Los, mach ihn fertig, Paxton.«
»Fällt dein erster Block morgen aus?«
Inzwischen hat der Schiedsrichter das Gerangel unterbrochen und Gray die Bank erreicht. Camila beugt sich vor und klaubt mit ihren fettigen Fingern die Wolldecke vom Sofa. Ich verziehe das Gesicht. So was macht sie andauernd. Ihr Zimmer sieht aus wie ein explodiertes Minesweeper-Spielfeld. Überall stapeln sich Pizzakartons und Joghurtbecher. Es ist so eklig, aber ihr ist es egal. Ich meide den Teil des Hauses und sprühe nur ab und zu Duftspray den Flur runter. Das reicht nicht, aber ich will auch nicht reingehen.
»Nein«, sagt sie, ohne mich anzusehen. Sie fixiert den Fernseher.
»Du wolltest mit Dan darüber sprechen, dass du unter der Woche frühere Schichten bekommst.«
»Du wolltest, dass ich mit ihm spreche, Wy.« Meine Schwester wirft mir einen anklagenden Blick zu, was ihr nicht ganz gelingt, weil ihr der halbe Chickenwing aus dem Mund ragt. »Ich habe dir gesagt, ich nehme die Schichten, die mehr Trinkgeld bringen.«
Ich denke nur eine Sache, und das gleich dreimal. WUT, WUT, WUT. Wenn ich nicht kurz Luft hole und bis zehn zähle, werde ich laut, und ich möchte nicht laut werden, weil Camila dann bissig reagiert und in ihrer Höhle verschwindet, ihrer dreckigen, mit Ratten und Spinnen und Maden … Okay, vielleicht nicht so heftig, aber ehrlich, so, wie ihr Zimmer stinkt, könnte das echt sein.
Ich will nicht, dass sie allein ist. Und ich will auch nicht, dass ich allein bin. Also stehe ich auf, gehe in die Küche, beruhige mich und nehme die Feuchttücher mit ins Wohnzimmer.
»Mila«, sage ich und reiche ihr ein Feuchttuch, das sie widerstrebend annimmt. »Das ist dein letztes Highschooljahr. Die alte Clearwater hat gesagt, du musst dich in einigen Fächern echt anstrengen. Die SAT-Prüfungen stehen an. Deine Ergebnisse entscheiden, auf welches College du gehen kannst. Du willst doch aufs College, oder nicht?«
Meine Schwester ignoriert mich. Das kann sie gut, konnte sie schon immer, so als wäre ich einfach Luft, einfach – puff – nicht da. Sie knabbert an ihrem Hühnerflügel und zieht scharf die Luft ein, als unser rechter Verteidiger den Flügelstürmer des gegnerischen Teams vorbeilässt. »Bodycheck, Caden, Bodycheck! O meu Deus, wofür hast du diese Muskeln?«
»Mila.«
Sie seufzt entnervt. »Soll ich kündigen, Wy? Kein Problem. Gern. Dann habe ich genug Zeit, um über meinen Büchern zu lungern und mir den Schulstoff reinzuhauen. Wird nur ein bisschen schwierig, so im Kerzenlicht und ohne Internet.«
»Hä?«
»Du kannst nicht spielen, also bekommst du kein Geld. Mom und Dad konnten uns dieses Haus hinterlassen, aber kaum gedeckte Konten. Wir müssen Dinge bezahlen. Strom. Internet. Lebensmittel.«
Wie immer, wenn einer von uns beiden unsere Eltern erwähnt, hüllt uns augenblicklich eine erdrückende Stimmung ein.
Unser Vater ist gestorben, als wir noch klein waren. Ein Lawinenunfall. Vor zwei Jahren ist Mom ihm in den Himmel gefolgt, nachdem der Gebärmutterhalskrebs gestreut hatte. Die Erinnerung lässt mich noch immer jeden Tag innerlich ausbluten.
»Du bist siebzehn Jahre alt, Camila. Es ist nicht deine Aufgabe, uns zu versorgen. Kündige bei Dan. Ich gehe arbeiten.«
Camila grunzt. »Klar. Tagsüber ziehst du dein Rehaprogramm durch, und abends schwingst du irgendwo den Hammer mit deinem kaputten Arm. Ganz vergessen, dass du Superkräfte hast, Wy.«
»Ich frage Knox, ob er uns was leiht.«
Camila wirft den abgenagten Hühnerflügel in die Papiertüte und sieht mich an. Ich kann ihrem Blick entnehmen, dass ihr klar wird, wie viel mir an ihrer Ausbildung liegt. Sie weiß, dass es gegen meinen ganzen Stolz geht, meinen besten Freund nach Geld zu fragen.
Ihre Gesichtszüge werden weicher. »Das wollen wir beide nicht.« Sie seufzt. »Ich rede mit Dan wegen der Schichten, okay?«
»Pinky Promise?«
Meine Schwester lächelt. »Pinky Promise.« Sie hält mir ihren fettigen kleinen Finger hin, und ich brauche diesen Finger gerade so sehr, dass ich nur eine kurze Sekunde zögere, ehe ich einhake. Sie sieht mich an, aber während sie das tut, erlischt ihr Lächeln.
»Was?«, frage ich.
Ihr fettiger Finger rutscht ab. Camila lehnt sich zurück und schiebt die Papiertüte von ihrem Schoß. »Ich muss dir etwas sagen.«
Ich hasse diesen Satz. Wirklich. Ich hasse ihn, seit Camila sprechen kann. Jedes Mal kriege ich einen halben Herzinfarkt, weil ich so eine Scheißangst davor habe, dass meiner kleinen Schwester irgendetwas Schlimmes widerfährt, irgendein Penner im weißen Kastenwagen, der sie packt und schlimme Sachen macht, oder irgendein Typ, der erst süß ist, einen Stern nach ihr benennt oder so, irgendwelche Dinge tut, die sie voll ins Herz treffen, nur um es dann zu zerstückeln.
»Wenn du einen Freund hast, will ich es nicht wissen. In meinem Kopf existiert diese Möglichkeit nicht. Niemals. Wenn du ihn zu uns nach Hause holst, werde ich ihn ghosten. Ich werde ihn ignorieren und versuchen, durch ihn hindurchzulaufen, damit ich ihn bodychecken kann, er gegen die Wand stößt und …«
»Aria ist zurück, Wy.«
Ich versinke in Eiswasser. Bis zum Scheitel. Alles in mir gefriert. Mein Blut unter dem Nullpunkt. Lebe ich noch? Keine Ahnung. Es ist so kalt, Scheiße, ist das kalt.
»Wie meinst du das?«, murmle ich.
Camila spielt mit den Blättern der Hängepflanze über ihrem Kopf und sieht aus dem Fenster. Ihr bronzefarbenes Gesicht spiegelt sich in der Scheibe. Als sie ausatmet, beschlägt das Glas.
»Sie ist zurückgekommen, um Ruth mit dem B&B zu helfen.«
»Du lügst doch.« Keine Ahnung, warum ich das sage. Sie lügt nicht. Ich weiß, dass Camila niemals rumspinnen würde, wenn es um Aria geht. Aria ist mein wunder Punkt, meine offene Wunde, die niemand anfassen darf, denn sonst ticke ich aus, und meine Schwester weiß das.
Mein Hals wird trocken, das Herz rast. »Seit wann?«
»Heute Morgen.«
»Ist sie allein gekommen?«
Stirnrunzelnd wendet Camila den Kopf vom Fenster ab, wobei ihr das hellbraune, gewellte Haar über die Schulterblätter streicht. »Wie denn sonst?«
Gedankenverloren starre ich auf das Etikett meiner Colaflasche, während ich es mit dem Fingernagel abziehe. Nachdem Aria Aspen verlassen hat, habe ich Knox nach seinen Instagramdaten gefragt, um ihr Profil ansehen zu können. Mich hat sie blockiert. Ich habe jede einzelne Person unter die Lupe genommen, die ihre Bilder gelikt hat, und akribisch ihre Storys verfolgt, richtig selbstzerstörerisch, immer mit rasendem Puls. Denn es könnte ja etwas sein, da könnte ein zweites Champagnerglas auftauchen oder ein Fingernagel, der zu männlich aussieht. Oder sie könnte einfach spazieren gehen, dann würde ich mich fragen, ist da jemand, vielleicht genau neben ihr, ohne dass ich es sehen kann? Ständig hatte ich solche Gedanken, ekelhaft war das, echt, ich habe mich kaputtgemacht damit. Aber ich konnte es auch nicht lassen, und am allerheftigsten war immer dieser Herz-push-Adrenalinkick-Moment, wenn sie ein neues Bild hochgeladen hat. Dann wurde mir schwindlig, und in den ersten paar Sekunden konnte ich das Foto deswegen nie richtig erkennen. Siehst du, Wyatt, das ist Folter, pure Folter, und das hast du verdient, habe ich dann gedacht. Aber dann kam das Bild, und es war immer irgendwas Einfaches, ein Bild vom Sonnenuntergang oder ihrem Starbucksbecher oder whatever. Einmal sogar ein Eddingsmiley an der Wand.
Aber da war nie irgendein anderer Typ. Nicht dass ich es mitbekommen hätte, denn, sorry dafür, aber Instagram ist nicht das Leben, und sie hätte sonst was machen können, ohne dass ich etwas geahnt hätte, so zweitausend Meilen entfernt. Also vergeht kein Tag, an dem mich dieser Gedanke von ihr und jemand anderem nicht kurz innehalten und durchatmen lässt.
»Sie ist allein gekommen«, sagt Camila. »Und sie wird bleiben.«
Sie wird bleiben.Que merda, ist das heftig. Dieser Moment. Als würde ich neben mir stehen. Das Wohnzimmer ist nur noch ein verwackelter Schemen. Ich glaube, ich vibriere, und das ist schon ziemlich abgefahren, denn welcher Mensch fängt an zu vibrieren, wenn er hört, dass seine Ex-Freundin zurück in der Stadt ist?
»Aber sie studiert an der Brown«, sage ich, weil ich nicht glauben kann, dass das hier gerade wirklich passiert. Ich brauche Bestätigung. »Aria … Aria kann nicht einfach bleiben.«
»Sie hat gewechselt.« Camila streckt sich, wobei sie ihre Hand an dem hängenden Pflanzenkübel über ihrem Kopf stößt, und erhebt sich. »Ich geh pennen. Wollte nur, dass du es weißt, bevor du ihr über den Weg läufst.«
Ich nicke, voll in Trance, holy shit.
Meine Schwester streicht mir über die Schulter, als sie an mir vorbeiläuft, und lächelt schwach. »Erwarte nichts von ihr, Wyatt. Die Sache mit euch ist vorbei. Okay?«
»Klar. Alles cool. Räum dein Zimmer auf.«
»Mhm. Noch so eine aussichtslose Sache.«
Ich werfe die Papiertüte mit den abgeknabberten Chickenwings nach ihr. Lachend weicht sie aus, lässt die Tüte einfach auf dem Boden liegen und verschwindet nach oben.
Mit einem Seufzen lasse ich mich gegen die Sofakissen sinken und streiche mir mit der rechten Hand über das Gesicht. Mein linker Arm hängt schlaff an mir herab. Seit dem Unfall, der mein Leben in komplett andere Bahnen lenkte, ist er kaum noch zu gebrauchen. Die Muskeln spielen nicht mehr mit. Wenn ich den Arm anhebe, schafft er es nur noch bis zu meinem Kinn, manchmal jedenfalls, und das ist schon eine krasse Leistung. Aber dann zieht es auch bis in den Nacken und Hals und lässt mich vor Schmerz erzittern. Es passierte kurz nach der Transferperiode, als ich für die Aspen Snowdogs eingekauft wurde. Ich glaube, das Leben wollte mich fallen lassen. Einmal so richtig hochheben und dann auf den Boden schleudern für das, was Aria wegen mir durchmachen musste. Es hat gelacht und gesagt, Happy Birthday, Wyatt, das ist jetzt dein Leben, komm klar damit.
Ich komm nicht klar damit. Da sind Stimmen in meinem Kopf. Mal klingen sie wie Aria, die lacht und nicht mehr aufhören kann, und dann klingen sie wie Aria, die weint und nicht mehr aufhören kann. Das ist normal, das kenne ich schon – aber seit dem einen Tag im letzten Sommer ist da mehr, viel mehr. Da sind Dinge, die ich einmal erlebt und seitdem nicht mehr vergessen kann. Ich kann nicht schlafen, und wenn doch, dann wache ich meistens im Stundentakt wieder auf, schreiend und schweißgebadet, richtig cool so was.
Also, nein, ich komme nicht klar. Ich komme definitiv nicht klar.
Ich nehme noch einen Schluck Coke und beobachte unseren Torwart Samuel dabei, wie er vorrutscht und den Puck durch eine sehr schmerzhaft aussehende Verrenkung aufhalten kann. Der Puck prallt gegen seine Schiene und schlittert dann am Tor vorbei. Die Zuschauer drehen durch, und der Kommentator spricht über das Ausnahmetalent der Aspen Snowdogs. Aber ich kriege es kaum richtig mit, denn alles, was ich denke, ist: Aria ist zurück, Aria ist zurück, Aria ist zurück.
»Scheiß drauf.« Ich stelle meine Coke auf den Tisch und rapple mich auf.
Nur heute. Nur dieses eine Mal, weil sie zurück ist.
Es dauert lange, bis ich die Jacke über meinen kaputten Arm bekommen habe. Ich kann noch kein Auto fahren, also muss ich laufen.
Der Weg vom Anfang des Buttermilk Mountain bis ins Zentrum kommt mir ewig vor. Es ist dunkel, nur der schwache Schein der Laternen lässt hier und da Lichtkegel entstehen. Die Wintersaison hat noch nicht angefangen, also sind die Straßen leer. Blätter werden vom Wind über den Asphalt getrieben. Beim Glockenturm bleibe ich stehen und setze mich auf eine der weißen Bänke, weil mein Herz sich mehrmals überschlägt und mein Puls auf der Applewatch bei weit über hundert ist. Der Gedanke an Aria ist das angsteinflößendste und gleichzeitig süßeste Gefühl, das ich kenne. So war es schon immer. Ich liebe Ordnung. Aria war die Einzige, die regelmäßig Chaos in mir verursachen konnte.
Angespannt beiße ich mir auf die Unterlippe und fokussiere die imposante Glocke im Turm, als würde sie mir den Weg vorgeben können. Als wüsste sie, wie es mit meinem Leben weitergehen wird.
»Was machst du hier?«
Ich sehe zur Seite. Knox steht neben der Bank, zwei Papiertüten aus Kates Diner in der Hand. Als er mir ins Gesicht blickt, runzelt er die Stirn. »Scheiße, siehst du fertig aus. Alles okay, Mann?«
»Aria ist zurück.«
»Ja.« Sein Mund verzieht sich zu einem mitleidigen Ausdruck. »Ich habe sie vorhin getroffen. Eigentlich wollte ich dich später anrufen.«
»Camila hat es mir gesagt.«
Knox schaut zum Glockenturm, dann zum B&B auf der anderen Straßenseite. Er fährt sich durch sein braunes Haar, hält die Luft an und stößt sie in einem langen Atemzug wieder aus. »Wyatt, was machst du hier?«
Ich zucke die Achseln.
»Du solltest nach Hause gehen.« Als ich nichts entgegne, setzt er sich neben mich und bietet mir eine der Papiertüten an. »Sandwich?«
Kopfschüttelnd lehne ich ab. »Camila hat Chickenwings mitgebracht.«
»Gut. Paisley hätte mir den Hals umgedreht. Sie hat mir schon heute Mittag geschrieben, dass sie nach dem Training unbedingt ein Avocado-Sandwich aus dem Diner will. Und die hier waren die letzten.« Er streckt die Beine aus und tippt mit der Spitze seiner Boots auf einem braungelben Ahornblatt herum. »Hast du das Spiel gesehen?«
»Nicht ganz.«
»Wie lief’s?«
»Der Mittelstürmer ist beschissen.«
»Natürlich ist er das.« Knox lacht. »Es gibt nur einen Wyatt Lopez.«
Die Tür des Diners gegenüber öffnet sich. Die Eiskunstläufer Levi und Erin kommen heraus. Sie trainieren genau wie Knox’ Freundin Paisley an der renommierten iSkate. Als sie Knox und mich sehen, heben sie kurz die Hand. Mit einem Nicken erwidere ich die Begrüßung, ehe sie in die andere Richtung verschwinden.
Knox klopft mir auf den Rücken und erhebt sich. »Lass gut sein, Wyatt. Du bist bald wieder auf dem Eis. Dein Leben geht weiter.« Ein kurzes, leises Lachen. »Kaum zu glauben, dass ich das sage, aber es stimmt. Ich bin das beste Beispiel dafür, oder?«
Wortlos lehne ich mich zurück, drehe meine Cap mit dem Schirm nach hinten und stecke meine rechte Hand in die Jackentasche. Am liebsten würde ich schnauben und ihm sagen, dass ich das gar nicht will. Es soll nicht ohne Aria weitergehen. Ich meine, ich hab’s versucht, und es ist echt beschissen ohne sie. Wir waren sechs Jahre zusammen, sind gemeinsam erwachsen geworden, und, ohne Witz, ich habe keine Ahnung, wie Erwachsensein ohne Aria überhaupt funktioniert.
Aber das sage ich ihm nicht. Das sage ich niemandem. Stattdessen lächle ich. »Grüß Paisley von mir.«
»Mach ich. Bis dann.«
»Bis dann.«
Er sieht mich an, als wüsste er, was ich denke. Ich glaube, das tut er wirklich. Knox und ich kennen einander. Den jeweils anderen manchmal besser als uns selbst.
Er klopft mir noch einmal auf die Schulter, dann verschwindet er über die Straße und fährt in seinem Range Rover davon.
Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe in den Himmel. Dunkelblau, übersät von Sternen, jeder einzelne so hell, dass mein Herz längst leuchten müsste. Aber das tut es nicht, weil nur Aria es schafft, die Dunkelheit zu vertreiben. Aria hat immer genug für uns beide gestrahlt, bis ich ihr das Licht genommen und sie grau und leer zurückgelassen habe.
Gott, mir wird schlecht. Ich habe diese wertvolle Person so sehr verdorben, und jetzt sitze ich hier, gegenüber von ihrem Haus, als hätte ich tatsächlich das Recht, das zu tun. Als könnte ich das einfach machen. Vor ihrem Haus sitzen.
Ich sollte gehen, bevor sie mich entdeckt, und ich ihr allein durch meinen Anblick noch einmal das Herz rausreiße. Ich bin ein verfluchter Bastard, der diesen Menschen nicht verdient hat. Ob ich es kapieren will oder nicht. Knox hat recht. Ich sollte gehen. Also erhebe ich mich und will umdrehen. Doch genau in dem Moment hält Ruth’ Mitsubishi vor dem B&B, und ich sehe sie sofort. Aria, die mit leicht geöffnetem Mund am Steuer sitzt und den Motor ausschaltet. Mein Herz rutscht mir aus der Brust und fällt. Tief. Stocksteif bleibe ich stehen und bewege mich keinen Millimeter. Mein Körper ist gelähmt.
Ihre Lippen sind das Erste, was ich wahrnehme. Geschwungen und voll, mit dieser besonderen Herzform, die ich auswendig kenne, weil ich sie hunderttausendundfünfmal mit dem Finger nachgefahren bin. Mindestens. Die Spitzen ihres dichten dunklen Haars fallen ihr in einem lockeren Pferdeschwanz über die Hüften. Als sie aussteigt, erkenne ich, dass sie einen grauen Hoodie der Brown über einer Yogahose trägt.
Aria sieht mich nicht. Sie geht zum Kofferraum und holt mehrere Holzkisten mit Obst heraus. Ich will ihr helfen. Ich will ihr die Kisten abnehmen und ins Haus tragen. Ich will alles für sie tun, will ihr sagen, dass ich ein Stück Scheiße bin, das sie nicht verdient hat – aber wenn sie mich lässt, wenn sie mir noch diese eine Chance gibt, dann bin ich da, dann bin ich alles.
Stattdessen stehe ich nur mit hängenden Armen da und beobachte sie, wie sie die Kisten bis unters Kinn klemmt und über die Straße wankt.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtun und sich gleichzeitig so erleichternd anfühlen kann, jemanden zu sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass Liebe tatsächlich noch stärker werden kann, obwohl die Person jahrelang wie vom Erdboden verschluckt war. Und ich hätte nicht gedacht, dass ein Mensch sich selbst so sehr hassen kann, wie ich mich in diesem Moment hasse.
Ich kann das nicht. Ich kann nicht hier rumsitzen, sie ansehen und nichts tun!
Bevor ich es überhaupt merke, bin ich schon auf den Beinen und habe die Hälfte der Straße überquert.
»Aria.«
Ihre Schultern zucken zusammen. Mit einem lauten Geräusch fallen die Obstkisten zu Boden, und die Äpfel rollen über den Asphalt. Sie tut, als wäre das grundlos passiert, und ignoriert mich. Als hätte Aria mich nicht gehört, geht sie in die Hocke und beginnt, die Früchte einzusammeln. Aber sie kann mich nicht täuschen. Inzwischen stehe ich vor ihr, meine weißen Nikes direkt neben ihren zitternden Fingern, an deren Nägeln der schwarze Lack abgeplatzt ist. Mein rechtes Knie gibt ein leises Knacken von sich, als ich mich bücke und ihr beim Einräumen helfe. Ihre Lippen sind zu einem festen Strich zusammengepresst, während sie sich immer noch größte Mühe gibt, mich nicht zu beachten. Aber dann strecke ich die Hand nach demselben Apfel aus wie sie, absichtlich natürlich, damit meine Finger ihre streifen können. Die Berührung entfacht eine Emotionslawine in mir, elektrisiert mich, lässt mich lebendig fühlen, und ich sehe, dass es Aria genauso geht, sehe es in ihren aufgerissenen Augen, ihren versteinerten Zügen. Jetzt kann sie nicht mehr so tun, als wäre ich nicht da.
Doch sofort hat sie sich wieder im Griff. »Lass mich in Ruhe, Wyatt.« Energisch wirft sie den letzten Apfel in die Holzkiste, stapelt sie über die anderen beiden und richtet sich auf.
»Ich habe dir Briefe geschrieben«, sage ich. »Hast du sie bekommen?«
»Ja«, sagt sie knapp. Der Pferdeschwanz wippt von der rechten zur linken Taille, während sie über die Straße geht.
Ganz automatisch setzt mein Körper sich in Gang, um ihr zu folgen. »Du hast nie geantwortet.«
»Warum sollte ich?«
»Hast du sie gelesen?«
Aus irgendeinem wunderbaren, mir nicht ganz ersichtlichem Grund bleibt Aria tatsächlich stehen und dreht sich zu mir um. Auf ihren Wangen erscheinen rote Flecken, wie immer, wenn sie zornig wird. »Nein, Wyatt, habe ich nicht. Ich habe sie weggeworfen. Jeden einzelnen, denn egal, was dringestanden hätte, es hätte nichts geändert. Nichts auf der Welt hättest du sagen können, um wiedergutzumachen, was du getan hast, okay?«
Sie hat sie nicht gelesen. Die Erkenntnis sickert in mich hinein wie flüssiger Ton, der jeden Hohlraum füllt und mich versteinert. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass Aria zurückschreibt oder anruft und sagt: Hey Wy, alles wieder cool, dumme Sache, blöd gelaufen, ich komm nach Hause, bin morgen da, hol mich ab, Küsschen, Tschüss. Aber ich hätte zumindest gedacht, dass sie meine Worte lesen würde. Verstehen würde, warum passiert ist, was passierte, und einfach Zeit bräuchte, viel Zeit, um alles zu verarbeiten.
Aber so war es nicht. In mir steigt Panik hoch. Zwei Jahre, zwei Jahre lang denkt sie schon, ich hätte sie absichtlich verletzt. Zwei Jahre, in denen sie ausgiebig lernen konnte, mich zu hassen. Kurz schließe ich die Augen, aber ich öffne sie schnell wieder, weil ich Angst habe, Aria könnte sonst nicht mehr da sein. Schaudernd stoße ich die Luft aus. »Aria, bitte hör mir zu, bitte. Das, was du auf diesem Video gesehen hast, muss die fürchterlichsten, widerlichsten Schmerzen überhaupt in dir hervorgerufen haben, das weiß ich. Und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für dich gewesen sein muss, was für eine Stärke du aufbringen musstest, um irgendwie damit klarzukommen. Denn ich glaube, ich hätte es nicht gekonnt, ich wäre wahrscheinlich gestorben oder sonst was, keine Ahnung, und es tut mir leid, merda, es tut mir so verdammt leid! Ich wünschte, ich könnte stattdessen fühlen, was du fühlen musstest, nur um dir diese Schmerzen zu nehmen, aber das kann ich nicht. Was ich kann, ist, dir zu sagen, warum es passiert ist, und bitte, bitte Aria, hör mir zu.« Hastig schnappe ich nach Luft, um fortzufahren. »Damals auf der Party, das mit mir und Gwen, ich …«
»Stopp!« Mit verzerrten Gesichtszügen, als würde allein die leiseste Erinnerung zu schmerzhaft sein, um es zu ertragen, geht sie einen Schritt rückwärts. »Hör auf. Ich wollte es letztes Jahr nach dem Weihnachtsessen nicht hören, und ich will es immer noch nicht.«
»Aber, Aria …« Der Ton meiner Stimme klingt flehend, jede Silbe begleitet von Panik und Verzweiflung. »Bitte, dann verstehst du, warum …«
»Ich werde es nie verstehen, Wyatt.« Ihre Fingerknöchel färben sich weiß, so fest umklammert sie die Kanten der Obstkisten. »Egal, was der Grund dafür war … oder vielleicht würde ich es verstehen, aber trotzdem könnte ich es dir nie verzeihen, weil ich es gesehen habe, okay, ich habe einfach gesehen, wie du mich betrogen hast, und diese Bilder kann ich nicht verdrängen.«
»Aber ich habe es doch nicht …«
»Ich bin hergekommen, weil Mom mich braucht, und nicht, um da weiterzumachen, wo ich aufgehört habe. Es ist zwei Jahre her, genau siebenhundertzweiundvierzig Tage, in denen ich irgendwie gelernt habe weiterzumachen. Und nur weil ich jetzt zurück bin, lasse ich nicht zu, dass dieser ganze Kampf umsonst war und alles von vorn anfängt. Ich will deine Gründe nicht wissen, Wyatt, denn sie würden nichts ändern, außer mich zurückzuwerfen und noch einmal leiden zu lassen. Das will ich nicht. Das kann ich nicht.«
»Aber wenn du wüsstest, was passiert ist, vielleicht würde das alles ändern, vielleicht könnten wir wieder sein, wer wir einmal waren, du und ich zusammen und …«
»Wyatt.« Arias Mundwinkel verzerren ihre Lippen, während ihr Kinn zu zittern beginnt. Die feste Mauer ihrer harten Gesichtszüge fällt in sich zusammen, und zurück bleibt ein sichtbarer Schmerz, der mit Worten nicht zu beschreiben ist. »Du und ich, die Sache mit uns, das war einmal, also bitte lass los, lass mich gehen – denn wenn du mich festhältst …«, sie schluckt, »schaff ich’s nicht.«
Mein Hals wird eng. Ich kann nicht atmen. Plötzlich weiß ich ganz sicher, dass die Hölle kein Ort unter der Erde ist. Nein, die Hölle ist das hier, dunkle Gefühle, heißer Schmerz.
»Aber …« Meine Stimme bricht. Hier stehe ich nun, auf dem Asphalt neben dem B&B, vor mir das Gesicht meiner Ex-Freundin, während ich versuche, die Tränen zurückzudrängen und gleichzeitig nicht zu ersticken. »Aber ich liebe dich, Aria.«
Da, sie spürt es auch, jetzt gerade, diese Hölle, die ausholt und ihr Herz packt, glutrote Hände, die es verbrennen. Der Ausdruck in ihrem Gesicht spiegelt meine qualvollen Gefühle wider.
»Ich dich auch, Wyatt. Werde ich immer. Das Ding ist nur, dass es nichts ändert, oder?«
Darauf kann ich nichts entgegnen. Ich kann es nicht, weil sie nicht hören will, was ich zu sagen habe. Und ich weiß nicht, welcher Schmerz größer ist: die Tatsache, dass es vorbei ist, oder die Ungewissheit, ob es nicht doch etwas ändern würde, ließe Aria mich alles erklären.
Ich werde es nie erfahren.
Aria dreht sich um und geht. Sie verschwindet hinter der Tür, und eigentlich ist es nur das, eine Tür, fünf Zentimeter Buchenholz, mehr nicht. Aber es fühlt sich an, als wäre es so viel mehr. Als wäre es ein Abgrund ohne Brücke, sie auf der anderen Seite, ich hier. Und zwischen uns ein Nichts, das nicht überwunden werden kann.
Ich sollte die Bestelllisten für das B&B fertig machen. Und zwar dringend. Die Frist für die nächste Warenlieferung ist fast verstrichen. Außerdem muss ich die Laken waschen und bügeln. Aber ich hasse Bügeln, wirklich, ich hasse es. Diese knitterigen Falten, die sowieso nie rausgehen, wen juckt das schon?
Also bin ich wandern. Ich konnte nicht anders. Die morgendliche Herbstsonne schien durch den Spalt meiner Gardinen direkt in mein verschlafenes Gesicht. Als ich aufgestanden bin und aus dem Fenster gesehen habe, da ragten die Berge in den Himmel, frei und wild und wunderbar. Sie haben nach mir gerufen, und ich dachte nur: Genauso möchte ich sein, so frei und wild. Vielleicht können sie mir ja zeigen, wie das geht.
Aus Patricias Plunderstübchen habe ich mir eine Apfeltasche besorgt und bin aufgebrochen – in Moms Wanderschuhen, die mir zwei Nummern zu groß sind. So ist das mit mir. Ich passe nicht. Nicht zu Wyatt. Nicht an die Brown. Nicht in Moms Schuhe. Ganz normal.
Die Luft riecht nach Moos und herben Holztönen. Nach Laub und Kastanien. Ich befinde mich inmitten eines gelben Lichtermeers aus Aspen Trees. Ich liebe das. Im Oktober blühen sie alle auf, zeigen Farben, die sie das ganze Jahr über verstecken. Jeder Mensch ist ein bisschen so. Ein bisschen Oktober im Herzen.
Meine Schritte werden gedämpft vom erdigen Untergrund, und nach ein paar Metern höre ich einen Bach plätschern. Großzügig leckt das Wasser über die Steine, während es den Weg abwärtsläuft, umgeben von bunten Wildblumen und Moos.
Ich mache ein Foto und speichere das Bild in meinem Ordner für besondere Momente.
Die Wanderroute ist steil. Sie führt die felsigen Berge in der Nähe von Downtown über neunhundert Meter hoch. Normalerweise ist der Ute Trail ein beliebter Touristenhotspot, aber am frühen Morgen oder in den späten Abendstunden ist kaum jemand hier unterwegs. Früher bin ich diese Route oft gelaufen. Die Stille in den Bergen hat etwas Besonderes. Es ist, als könnte ich sogar das Wispern der Blätter im seichten Wind hören, lauschen, was sie über das Leben sagen. Wenn ich herkomme, fühle ich mich anders. Ich fühle mich neu. Als hätte ich die Probleme einfach zu Hause gelassen. Auf Stopp gedrückt. Tschüss, ihr dunklen Gedanken. Heute mal nicht.
Nach einer Weile weicht der erdige Untergrund Gestein. Die kleinsten Brocken knirschen unter meinen Schuhen. Frische Luft kühlt meine verschwitzte Stirn, während es immer weiter bergauf geht. Mein Atem geht stockend, und meine Beine beginnen zu brennen. Ich bin diesen Weg seit über zwei Jahren nicht mehr gegangen, und in all der Zeit in Providence war ich zweimal joggen. Sogar William hat eine bessere Ausdauer als ich.
Aber dann gehe ich den letzten Schritt aufwärts, und ich weiß, dafür hat sich alles gelohnt. Für diesen Moment. In dieser Sekunde.
Es ist dieser erste Augenblick, dieser Seelenhüpfer, der nur dann kommt, wenn ein Mensch völlig ahnungslos in einen magischen Moment stolpert.
Regungslos stehe ich auf dem Gesteinsbrocken. Meine Schultern heben und senken sich im Takt meiner schnellen Atmung, während meine Augen über den höchsten Hang des Wanderwegs huschen. Jeden einzelnen Zentimeter nehmen sie in sich auf, vergewissern sich, dass alles noch genauso ist wie damals.
Ganz von allein tragen meine Füße mich zu dem Baum, der für immer und ewig und noch ein bisschen länger Wyatts und mein Baum sein wird. So oft waren wir hier. So oft. Zu jedem Anlass. Mein Geburtstag. Sein Geburtstag. Weihnachten. Sogar zu Chanukka, obwohl wir das nicht feiern, aber wir wollten mehr Gründe, um einfach hier zu sein und zu glauben, dass jede Sekunde des Moments besonders ist, zu glauben, dass wir besonders sind, unsere Liebe und alles dazwischen, wofür es keine Worte gibt, weil es zu bedeutend ist. Dabei war es das immer zwischen uns. Es brauchte keinen Anlass. Wyatt war Wyatt, und er war das Wertvollste, was mein Herz zu bieten hatte.
Als mein Kanarienvogel Utah weggeflogen ist, kam Wyatt her, hier auf diesen Hang, und hat mir eine Schaukel an den Baum gebunden. Nichts Aufwendiges, bloß zwei feste Seile und eine Holzplatte. Aber er hat sie mir gezeigt und gesagt, ich solle keinen Vogel gefangen halten, Utah wäre jetzt frei, und ich müsse bloß so hoch schaukeln, wie es nur ginge, dann könne ich mit ihm fliegen und wir zwei gemeinsam frei sein.
Sie ist immer noch da: Der Wind weht mir die Strähnen aus dem Gesicht, als ich mich auf das Holzbrett setze. Langsam, bedächtig fast, umklammere ich die Seile und lasse meine Füße in den zu großen Wanderschuhen über den Gesteinssand gleiten. Erst langsam schaukle ich vor und zurück, zurück und vor, dann schneller und höher, so hoch, dass ich über den Rand des Hangs hinaus fliege und sich ganz Aspen unter mir erstreckt. Das Zentrum, das aussieht wie ein Pacman-Spielfeld, die Wege in die Highlands, in die Mountains, der Silver Lake, einfach alles in einem Abgrund von über neunhundert Metern.
Ich habe keine Angst zu fallen, denn das bin ich längst.
Eine Wolke von Federn fliegt durchs Zimmer, als ich das Kissen ausschüttle. Ein paar Sekunden schweben sie im Raum, ehe sie sich auf den Holzboden legen. Ich streiche die Decke glatt, lege den Überwurf über das Kingsize-Bett und platziere Aspens berühmte Nugatschokolade darauf. Gerade will ich ins Bad, als die Zimmertür aufschwingt – direkt gegen meine Stirn, halleluja.
Ein paar Sekunden bin ich blind. Ich taumle auf der Stelle, strecke die Hand aus und suche Halt an dem rustikalen Sideboard an der Wand.
»Oh. Mist. Habe ich dir wehgetan?«
»Ja.« Mehrmals muss ich blinzeln, bis die Sterne vor meinen Augen verschwinden und ein großes, hübsches weibliches Wesen mit fuchsroten Haaren, Sommersprossen, Gletscheraugen und Kaschmirmantel vor mir erscheint.