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Eine Eistänzerin auf dem Weg an die Spitze. Ein Snowboarder am Abgrund seiner Karriere. Die große New-Adult-Winterreihe!
Als Paisley mit nichts als ihren Schlittschuhen im Gepäck im verschneiten Aspen ankommt, raubt ihr die bezaubernde Winterwunderlandschaft den Atem. Angesichts des mit einer glitzernden Eisschicht überzogenen Silver Lake vor der mächtigen Kulisse der Rocky Mountains vergisst sie für einen Moment, dass sie vor ihrem alten Leben flieht. Ab jetzt zählt für sie nur noch die Zukunft: Die begabte Eiskunstläuferin nimmt einen Trainingsplatz an der renommiertesten Schule Aspens an und träumt insgeheim von Olympia. Auf ihrem Weg an die Spitze darf sie sich auf keinen Fall ablenken lassen – schon gar nicht von dem selbstverliebten Snowboarder Knox. Von allen gefeiert und unverschämt attraktiv, steht er im Mittelpunkt jeder Party. Paisley versucht, die Anziehungskraft zwischen ihnen zu ignorieren, denn er ist nicht gut für sie – bis sie unerwartet eine andere Seite an ihm kennenlernt …
»Zum Wegträumen schön.« Lilly Lucas
Erlebe ein Feuerwerk der Gefühle im Wintersportparadies Aspen – mit den weiteren Bänden der zauberhaften Winter-Dreams-Reihe:
1. Like Snow We Fall
2. Like Fire We Burn
3. Like Ice We Break
4. Like Shadows We Hide
Die Bände der Reihe sind unabhängig voneinander lesbar.
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Seitenzahl: 579
AYLA DADE wurde 1994 geboren und lebt mit ihrer Familie im Norden Deutschlands. Sie hat Jura studiert, nutzt aber am liebsten jede freie Minute zum Schreiben. Die Seiten ihrer Romane füllt die beliebte Buchbloggerin mit großen Gefühlen an zauberhaften Schauplätzen. Wenn sie sich nicht in die Welt ihrer Bücher träumt, verbringt sie ihre Zeit mit Sport und kuschligen Lesestunden vor dem Kamin. Ihr Roman Like Snow We Fall spielt in der Welt des Eiskunstlaufs – eine Sportart, deren Sinnlichkeit und Eleganz die Autorin schon immer faszinieren.
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AYLA DADE
LIKE SNOWWE FALL
Roman
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Der Songtext auf S. 383 stammt aus dem Album: Tarzan, Deutscher Original Film-Soundtrack, Walt Disney Records (Universal Music) 2006.
Umschlag: bürosüd GmbH
Umschlagmotiv: www.buerosued.de
Redaktion: Steffi Korda
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-27764-2V004
www.penguin-verlag.de
To all of the queens who are fighting aloneBaby, you’re not dancing on your own
– Ava Max
Mein Magen knurrt. In der Stille ist es deutlich zu hören, aber niemand sieht zu mir herüber. Es ist kurz vor Sonnenaufgang; die meisten im Bus schlafen noch.
Vorsichtig beuge ich mich vor, um mein Handy aus dem Beutel zu kramen, ohne meinen Sitznachbarn zu wecken. In den letzten sechzehn Stunden haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sein schäbiger Nadelstreifenanzug, der ihm obendrein zwei Nummern zu groß zu sein scheint, lässt darauf schließen, dass er Geschäftsmann ist. Ein eher semi-erfolgreicher Geschäftsmann, wenn man bedenkt, dass diese Busfahrt von Minneapolis nach Aspen nicht gerade der Inbegriff von Komfort ist.
Aber für mich ist es genug. Dieser Bus bringt mich weiter. Er bringt mich fort.
In Sicherheit.
Mein Beutel fällt zurück in den Fußraum, als der Bus über einen Hügel ruckelt. Ich sehe auf mein Handy. 7:17 Uhr. Es kann nicht mehr lange dauern, bis wir das Ziel erreichen. In meinem Magen kribbelt die Nervosität und bahnt sich ihren Weg bis in die Fingerspitzen. Das Fensterglas beschlägt, als ich mich dicht vorbeuge und versuche, durch den Spalt der vergilbten Busvorhänge nach draußen zu sehen. Warmer Laternenschein beleuchtet rieselnden Schnee. Kleine Häuschen reihen sich dicht nebeneinander, nur hinter wenigen Fenstern brennt Licht. Mein Blick wandert weiter, über die verschneiten Spitzdächer bis zu einem hohen weißen Glockenturm.
Das wird ein Neuanfang. Ein Sprung ins Unbekannte. Ich werde auf mich allein gestellt sein, aber damit habe ich keine Probleme.
So war es schon immer. So wird es immer sein.
Über unseren Köpfen flimmern die Deckenleuchten kurz auf, ehe sie ihren buttergelben Schein im Bus verteilen. Nach zwei weiteren Kurven knistert der Lautsprecher, und die monotone Stimme des Fahrers ertönt. »In wenigen Minuten erreichen wir das Zentrum von Aspen. Das ist die letzte Haltestelle unserer Fahrt. Ich bitte Sie daher, auszusteigen und an Ihr Gepäck zu denken. Vielen Dank.«
Mit einem tiefen Seufzen nehme ich meine Schlittschuhe aus dem Fußraum, drücke sie mir an die Brust und sehe aus dem Fenster. Direkt vor meinen Augen ragen Aspens schneeverhangene Berge in den Himmel, als würden sie versuchen, mit ihren Spitzen nach den Wolken zu greifen.
Das hier ist es also. Mein neues Zuhause. Die Chance meines Lebens.
Der Bus hält, und die Türen öffnen sich. Kalte Luft schlägt mir ins Gesicht, während ich meinen Jutebeutel schultere, die Finger fest ins weiße Leder meiner Schlittschuhe kralle und hinter den wenigen anderen hinaus ins Freie trete. Unter meinen Winterboots knirscht der Schnee.
Zwischen den wild umherwirbelnden Flocken kann ich vereinzelte Lichter der Straßenlaternen erkennen. Die Luft ist rein und klar. Sie riecht nach Freiheit. Nach Frieden. Aspen wirkt genau so, wie ich es mir vorgestellt habe.
Magisch.
Meine blonden Strähnen kitzeln über meine Wange, als ich die Wollmütze tiefer über die Ohren ziehe und beginne, durch den Schnee zu stapfen. Wieder knurrt mein Magen. Es muss jetzt fast einen Tag her sein, dass ich etwas gegessen habe. Zuletzt, bevor …
Nein. Ich verbiete mir den Gedanken. Es ist vorbei. Ich werde nicht zulassen, dass dieses Gift sich in mein Glück mischt und es verdirbt wie ein Tropfen Öl das frische Wasser.
Rosa Schlieren ziehen sich durch den weißen Himmel und kündigen den anbrechenden Tag an. Nun erkenne ich kleine Häuschen, die sich inmitten der Berge aneinanderreihen und den Eindruck erwecken, dem Dorf des Weihnachtsmanns entsprungen zu sein.
Eine Beleuchtung rechts von mir erregt meine Aufmerksamkeit. Sie kommt aus einem Eckgebäude. Hinter den großen Fenstern steht vor einem langen Tresen eine hübsche Frau und schiebt Cupcakes in eine Vitrine.
Cupcakes … mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Meine Beine setzen sich in Bewegung, bevor ich überhaupt meinen nächsten Gedanken fassen kann.
Eine Türglocke klingelt, als ich eintrete und die Kälte hinter mir aussperre. Herrliche Düfte hüllen mich ein. Ich schließe kurz die Augen und atme tief ein. Dann sehe ich mich um.
Vor dem Tresen wechseln sich Barhocker mit roten und schwarzen Bezügen ab; bei einigen ist das Leder rissig, und ich kann den gelben Schaumstoff darunter erkennen. An der Wand reihen sich rot gepolsterte Bänke an den Fenstern, zwischen ihnen weiße Tische. Schief hängende rote Buchstaben verraten mir über der altmodischen Jukebox den Namen des Geschäfts: Kate’s Diner.
Es ist Frühstückszeit. Ich rieche gebratene Pancakes, Blaubeeren und Zimt. Schokolade, Mandeln und Honig. Mehr, mehr, mehr, so viel, so himmlisch, dass ich es nie richtig alles aufnehmen könnte, egal wie lange ich mich an der Geruchsdefinition versuchen würde.
Und Kaffee. Ich rieche Kaffee.
Das flimmernde pinke Neonschild hinter dem Tresen – Hotdogs, Hamburger, Milchshakes – verrät mir, dass das Angebot sich der Tageszeit anzupassen scheint.
Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Mein Blick huscht über die Bilder an den Wänden. Eines zeigt die beleuchtete Stadt am Abend. Die Lichter wirken wie Feuer, umgeben von den verschneiten Bergen, die Aspen flankieren wie ein schützender Wall. Die anderen Bilder zeigen …
Tauben. In allen Variationen und Momenten. Eine von ihnen hat buntes Gefieder. Eine andere starrt in Nahaufnahme mit ihren riesigen gelben Augen in die Kamera. Und wieder eine andere hockt mit erhobenem Kopf neben … ihrem Geschäft. Sei wie eine Taube – scheiß auf alles!, steht darüber.
»Hallo, Liebes.« Die schlanke Frau mit der gepunkteten Schürze schenkt mir ein Lächeln. Ihre Augen sind von dem gleichen warmen Schokobraun wie ihre Cupcakes. Die Sohle ihrer weißen Stoffschuhe trägt ein feines Geräusch mit sich, nach jedem Schritt, den sie über die schwarz-weiß gekachelten Fliesen auf mich zukommt. »Wie kann ich dir den Morgen versüßen? Du siehst aus, als bräuchtest du eine Extraladung Zucker.«
»Kaffee«, bringe ich stockend hervor. »Und … Rührei. Bitte.«
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich bin nervös. Es ist lange her, dass ich unvoreingenommenen Menschen begegnet bin. Solchen, die meine Vorgeschichte nicht kennen. Obwohl ich weiß, dass diese Frau mich noch nie zuvor gesehen hat, werde ich dieses vergiftete Gefühl nicht los, sie könne mich lesen.
Ich bin in einem Vorort von Minneapolis in einer Wohnwagensiedlung aufgewachsen, ehe ich ins Heim kam. Der Vorort war klein. Wenige Einwohner. Jeder kannte jeden. Die Kinder wussten, mit wem sie spielen durften und um wen sie einen weiten Bogen machen sollten. Ich war Letzteres. Eine Wohnwagenschabe. So haben sie uns genannt. Vor meinem inneren Auge ziehen verschwommene Bilder vorbei. Eltern am Zaun unserer Siedlung, die ihre Kinder weiterzerren. Meine kleinen Finger, mit denen ich mir den Kopf gekratzt habe, nur um Sekunden später eine Laus unter dem Nagel zu entdecken. Mom, die in unserem Wohnwagen vor einem fremden Mann mit langen Haaren kniete, dessen Hose um seine Fußknöchel hing, und darüber lachte, dass mein siebenjähriges Ich sie erwischt hatte.
Und schließlich meine dürren Oberschenkel, auf die ich gestarrt habe, als ich zum ersten Mal auf der dünnen Matratze des Heimbettes saß.
Meine Gedanken werden jäh unterbrochen, als die brünette Frau mit der Schürze gluckst. »Rührei. Du kannst nur von außerhalb sein.«
An meinen Lippen zupft ein Lächeln. »Wieso?« Ich ziehe mir die Mütze vom Kopf, setze mich auf eine der roten Bänke und hänge Jacke und Schlittschuhe über die Lehne. »Was ist verkehrt an Rührei?«
»Nichts. Die Leute in Aspen essen es bloß nicht bei mir.«
»Warum?«
»Glaub mir, Liebes.« Sie geht um die Theke herum und gießt Kaffee in eine große Tasse. »Wenn du einmal weißt, wie meine Schokoladenpancakes schmecken, kommt dir Rührei wie der gesammelte Rest einer Kloake vor.«
»Einladend.« Ich grinse. »Schön, dann Ihre berühmten Pancakes.«
Die Frau stellt die dampfende Tasse vor mir ab und schenkt mir ein gewinnendes Lächeln. »Du wirst es nicht bereuen.« Sie wirbelt herum und verschwindet hinter einer Tür, die vermutlich in die Küche führt. Zwischen den Klängen des Radios höre ich das Scheppern von Töpfen und Pfannen und kurze Zeit später das Spritzen von heißem Öl.
Ich knete die Finger auf dem Tisch und warte. Inzwischen sind die rosa Schlieren am Himmel draußen verschwunden. Dafür sehe ich wesentlich mehr Menschen auf den Straßen von Aspen, die dick eingepackt durch den Schnee waten. Mit einem Seufzen ziehe ich mein Handy aus dem Beutel und scrolle durch die Fotogalerie.
Die lachenden Gesichter meiner Freundinnen strahlen mir entgegen. Auf fast jedem Bild sind wir auf dem Eis und tragen unsere Trainingskleider. Es gab kaum Zeiten, die wir anderswo verbracht haben. Nach der Highschool bestimmte die Eishalle meinen Alltag. Von früh bis spät.
Mit dem Finger streiche ich weiter zum nächsten Bild und spüre, wie sich augenblicklich eine unsichtbare Hand um mein Herz schließt und zudrückt. Kayas blaue Augen funkeln mich an. Unsere Köpfe liegen nebeneinander auf dem Eis, einzelne Strähnen haben sich aus unseren Dutts gelöst. Wir lachen über irgendetwas, das zu einem längst vergangenen Moment gehört.
Ich erinnere mich an diesen Tag. Es war kurz nach den regionalen Meisterschaften. Einer der wenigen Tage, an die ich mit einem glücklichen Gefühl zurückdenken kann.
Das Bild vor meinen Augen verschwimmt. Ich schlucke. Kaya war meine beste Freundin. Ist meine beste Freundin. Und sie hat keine Ahnung, wo ich bin. Sie hat keine Ahnung, was mit mir passiert ist.
Niemand weiß es.
Ein Teller schiebt sich in meinen Blickwinkel und landet vor mir auf dem Tisch. Hastig werfe ich das Handy zurück in meinen Beutel und setze mich aufrecht.
»Vielen Dank«, sage ich.
Die Frau lächelt. Ihr Blick huscht über mein Gesicht und verharrt einen Moment zu lange an Stellen, die sie nicht mustern sollte. Ich senke den Kopf und widme mich meinen Pancakes.
Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich wieder in Bewegung setzt und hinter ihrem Tresen verschwindet. »Ich bin übrigens Kate«, sagt sie.
Ich schiebe mir eine Gabel Pancake in den Mund und habe das Gefühl, vor Genuss weinen zu wollen. »Paisley«, sage ich mit vollem Mund.
Kate nickt. Sie öffnet den Deckel einer Dose, in der eine Ladung gebackener Kekse zum Vorschein kommt, und bestreut sie mit Puderzucker. »Bist du zu Besuch bei jemandem oder auf der Durchreise?«
Über die Hälfte meiner Pancakes habe ich schon verdrückt, und trotzdem reicht es noch lange nicht. Mein Magen schreit nach mehr. »Nein, ich …« Ich schlucke und räuspere mich. »Ich bin gerade hergezogen.«
Kate wirkt überrascht. »So? Das passiert nicht häufig in Aspen.« Sie neigt den Kopf, mustert meinen einsamen Jutebeutel. »Und du bist Eiskunstläuferin?«
Ich verschlucke mich an meinem Pancake. »Woher …«
»Deine Schlittschuhe.« Kate deutet auf das an den Schnürsenkeln zusammengeknotete Bündel. »War nicht schwer zu erraten.«
»Oh. Ja.« Ich nehme einen großen Schluck Kaffee, ehe ich hinzufüge: »Ich habe eine Zusage der iSkate Aspen bekommen.«
»Holla! Dann musst du gut sein. Die nehmen nur die Besten.« Kate stibitzt sich einen gezuckerten Keks, ehe sie den Deckel der Dose schließt und sie wieder neben die Cupcakes stellt. »Meine Tochter läuft auch dort.«
Die letzte Gabel Pancake verschwindet in meinem Mund. Hastig schlucke ich hinunter, während ich Kate mit großen Augen mustere. »Deine Tochter?«
»Gwen. Sie müsste in deinem Alter sein.« Mit dem angebissenen Keks deutet sie auf mich. »Zwanzig?«
»Einundzwanzig«, korrigiere ich. Dann runzle ich die Stirn. »In deinen Pancakes steckt nicht zufällig ein ›Auf-ewig-jung‹-Elixier? Davon hätte ich nämlich auch ganz gern etwas.«
Kate lacht. Krümel bröseln auf die Theke, als sie in den Keks beißt. »Ich bin früh Mutter geworden. Mit siebzehn. Aber sollte ich ein solches Elixier finden, gebe ich dir Bescheid.«
Die Türglocke klingelt und kündigt einen Gast an.
»Scheiße, ist das kalt draußen.« Ein junger Mann mit riesiger Sporttasche verteilt den Schnee von seinen Boots auf den Fliesen. Weitere Flocken gehen zu Boden, als er die Handschuhe aneinanderreibt.
»Morgen, Wyatt«, begrüßt ihn Kate. Sie ist schon dabei, Kaffee in einen Einwegbecher zu füllen. »Du bist spät dran heute.«
»Ja, hab verpennt.« Der Typ nimmt den Becher entgegen, legt zwei Dollarscheine auf den Tresen und kippt sich so viel Zucker in den Kaffee, dass ich mich ernsthaft frage, ob das für diese Stadt ein Allheilmittel darstellt. »Gestern ging’s ein bisschen länger.« Er drückt den Deckel auf seinen Becher. »Sollte wohl mal einen Gang runterfahren.«
Kate hebt eine Augenbraue. »Das sagst du mir mindestens dreimal die Woche, wenn du morgens hier auftauchst.«
Wyatt grinst. Seine Gesichtszüge sind erschreckend attraktiv, und ich wette, er ist einer von den Kerlen, die sich dessen nur allzu bewusst sind.
»Stimmt. Was soll ich sagen? Man lebt nur einmal.« Er hebt den Becher zum Abschied und schlurft Richtung Tür. Seine Tasche streift meine Schlittschuhe. In dem Seitenfach sind zwei sich überkreuzende Hockeyschläger eingenäht.
Aha. Eishockey also.
»Von seinen Partys hältst du besser Abstand«, sagt Kate, als Wyatt den Diner verlassen hat. »Sonst kannst du deinen Traum eher begraben, als das Wort Olympia überhaupt nur zu denken.«
Ich schwenke meinen Kaffee in der Tasse und beobachte, wie die dunkle Flüssigkeit die Keramik benetzt. »Leistungssport und Partys passen nicht zusammen.«
»Oh, lass das nicht Knox hören.«
Mit gerunzelter Stirn hebe ich den Blick. »Knox?«
»Müsste jede Sekunde hier aufkreuzen«, entgegnet sie und deutet auf den Kaffeebecher, den sie gerade füllt.
»Auch ein Eishockeyspieler?«
»Nicht ganz.« Ein geheimnisvolles Lächeln ziert ihre Mundwinkel. »Knox ist Snowboarder.«
Noch ehe ihre letzte Silbe im Raum verklungen ist, ertönt die Türglocke erneut. Ein breitschultriger Typ mit kurz geschorenem, hellbraunem Haar betritt den Diner.
Das Erste, was er ansieht, bin ich. Seine Augen bohren sich direkt in meine. Sie sind groß und grün, ein so helles Grün, wie ich es noch bei niemandem gesehen habe. Der weiße Himmel von draußen lässt seine Pupillen zu kleinen Stecknadelköpfen werden, weshalb ich das Gefühl habe, von der Farbe der Iris geblendet zu werden.
Er wendet den Blick zuerst ab. Schneeflocken fallen ihm aus dem Haar und landen auf seiner schwarzen Daunenjacke. Seine Füße stecken in warmen Panama-Jacks.
»Danke, Kate«, sagt er, während er sich – Überraschung! – drei Tütchen Zucker in den Kaffee schüttet. Mit der anderen Hand reibt er sich übers Gesicht.
»Müde, Knox?«, fragt sie in amüsiertem Ton.
»Das ist gar kein Ausdruck. Keine Ahnung, wie ich den Tag überstehen soll.«
»Vielleicht, indem du dir vornimmst, heute Abend einfach früher ins Bett zu gehen?«
»Kate.« Knox setzt ein ungläubiges Grinsen auf. Es ist eines von der entwaffnenden Sorte. Eines, bei dem Frauen schwach werden. »Ich bitte dich.«
Sie wedelt mit der Hand durch die Luft. »Schon gut. Nimm deinen Kaffee, und ab! Mit deinem Schnapsgesicht vergraulst du mir noch die Kunden.«
Knox zieht einen gespielten Flunsch. »Ich habe ein Engelsgesicht. Sag, dass ich ein Engelsgesicht habe, Kate.«
»Wenn Engel aussehen, als bestünde ihr täglich Brot aus Shots, dann ja. Du hast ein Engelsgesicht.«
Er lacht, bezahlt seinen Kaffee und geht zum Ausgang. Erneut streift sein Blick meinen. Von der unbeschwerten Art von gerade ist nichts mehr zu sehen, und doch ist es schwer, seinen Blick zu deuten. Er wirkt in diesem Moment, als würde er mich für etwas verurteilen. Bevor ich seine Gesichtszüge jedoch weiter deuten kann, ist er zur Tür hinaus.
»Tja, das war Knox«, kommt es überflüssigerweise von Kate. »Von ihm solltest du noch größeren Abstand halten als von Wyatts Partys.«
»Wieso?«, frage ich, meine Finger um die große Kaffeetasse geklammert. »Was ist mit ihm?«
Kate sieht zur Tür, wo er Sekunden zuvor verschwunden ist. »Die Frage lautet wohl eher, was ist nicht mit ihm. Frauengeschichten, Skandale, Stress … Knox nimmt alles mit. Er ist ein guter Kerl, aber …« Sie seufzt. »Das Snowboarden scheint ihm nicht zu helfen, den Weg auf die richtige Bahn zu finden.«
Eine Weile schweigen wir, während in meinem Kopf noch immer seine großen grünen Augen umherschwirren. Schließlich seufze ich und krame mein Portemonnaie aus dem Jutebeutel. »Danke für deine Wunderpancakes. Was schulde ich dir?«
Kate neigt den Kopf. »Steck dein Geld weg, Liebes. Heute geht das Frühstück auf mich.« Sie lächelt. »Willkommen in Aspen.«
Es riecht nach Holz. Das ist das Erste, was ich denke, als ich die Tür zu dem Bed & Breakfast namens Ruth’s öffne.
Und tatsächlich sind die Wände des Häuschens komplett mit Holz vertäfelt. Ein Feuer knistert im Kamin neben einer Sitzecke, die aus Chintz-Sesseln und einem braunen Ledersofa besteht. Auf einem der Sessel sitzt eine Frau mit grau melierten Haaren und strickt. Sie sieht auf, als ich eintrete und den Schnee von draußen auf dem dicken Teppich verteile.
»Du siehst durchgefroren aus«, stellt sie fest. »Durchgefroren und dürr.«
»Ähm …« Sind eigentlich alle Menschen in Aspen so direkt? »Ich bräuchte ein Zimmer, wenn noch eins frei ist. Nur für ein paar Tage!«, füge ich schnell hinzu, als die Frau die Stirn in tiefe Furchen legt. »Ich meine, hoffe ich. Es … es könnten auch mehr werden.«
»Mädchen, was tust du mir an?« Schwerfällig erhebt sie sich, nicht ohne einen tiefen Seufzer von sich zu geben. »Weißt du denn nicht, dass gerade Hochsaison ist?«
»Hochsaison?«
Die Dame tritt hinter den Tresen und blättert in ihrem Reservierungsbuch. »Es ist Winter. Aspens Ski-Resorts sind seit Monaten ausgebucht. Und jetzt kommt auch noch alle Welt angefahren, um unseren Knox bei den regionalen Meisterschaften anzusehen.« Sie hebt den Blick und mustert mich. »Du bist doch nicht auch eine von ihnen, oder?«
»Eine von ihnen?«
»Seinen Groupies?«
»Oh. Nein.« Mit einem verteidigenden Lächeln hebe ich meine Schlittschuhe. »Die iSkate Aspen will mich. Ich habe bloß noch keine Wohnung.« Und meine Ersparnisse reichen höchstens für einen Monat. »Ich brauche nicht viel Platz. Nur ein Bett. Oder … meinetwegen schlafe ich auch auf dem Sofa. Ganz egal. Hauptsache, ich …«
»Guter Gott, nein.« Mit dem Kopf deutet sie auf die Sitzecke. »Das Ding sinkt tiefer als ein gekentertes Schiff. Willst du dir deinen Rücken kaputt machen?«
»Ich …«
»Schauen wir mal«, murmelt sie, blättert eine Seite weiter und fährt mit dem Finger die Liste der Reservierungen nach. Meine Schultern sacken immer weiter hinab, je tiefer die Runzeln auf ihrer Stirn werden. »Nein, keine Chance.«
Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Meine Finger schmerzen, weil ich sie zu fest ins Leder meiner Schlittschuhe kralle. Ich lockere den Griff. »Okay, also … halb so wild. Ich finde schon etwas. Können Sie mir vielleicht sagen, wo das nächste Bed & Breakfast ist?«
Ein mitleidiger Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht. »Es wird alles ausgebucht sein.«
Panik macht sich in mir breit. Panik, gepaart mit Hoffnungslosigkeit. Ich meine, was soll ich tun? Auf den verschneiten Straßen Aspens schlafen? Die Aussichtslosigkeit schnürt mir die Luft ab.
Es ist mein Leben. Immer wieder ist es mein Leben, das mich in solche Situationen bringt. Normale Menschen brechen nicht einfach so auf. Normale Menschen planen und sind vorbereitet, haben mehr Gepäck dabei, mehr als bloß ein paar Kleidungsstücke, Hygieneartikel und Schlittschuhe.
Normale Menschen sind nicht so verzweifelt wie ich. Hatten kein so beschissenes Leben wie ich.
»Schon okay«, bringe ich heraus. Meine Stimme klingt dünn. »Vielleicht finde ich außerhalb von Aspen etwas.«
Die Dame runzelt die Stirn. Ihre Lippen bilden eine dünne Linie. »Gib mir eine Minute, ja? Du kannst am Kamin warten. In der Schale auf dem Tisch ist Schokolade.«
Die Dielen unter dem Teppich knarren, als sie den Gang hinter dem Tresen entlanggeht und hinter einer Tür verschwindet. Drückende Stille legt sich über mich und gibt meinen Gedanken zu viel Raum.
Ich wünschte, sie wäre nicht gegangen. Ich wünschte, sie hätte einfach weiter mit mir gesprochen. Dann müsste ich mich nicht mit der Angst auseinandersetzen, wohin ich jetzt gehen soll. Wo ich heute Nacht schlafen soll.
Das Sofa sinkt tatsächlich ein, als ich mich setze. Der Geruch von altem Leder steigt mir in die Nase, gepaart mit von den Kerzen stammenden Zimtdüften.
Eine Weile lausche ich dem Knistern des Feuers und dem Ticken der Uhr über dem Kamin, ehe ich die Schritte der Inhaberin höre. Sie erscheint hinter dem Tresen, das Telefon noch am Ohr. »Natürlich nehme ich meine Vitamine. Ist gut. Hab dich auch lieb, Schatz.« Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen, als sie das Telefon auf den Tresen legt. Dann sieht sie mich an. »Das war meine Tochter Aria. Sie studiert in Rhode Island. An der Brown.«
»Oh, wow. Das ist … wirklich gut.« Ich reibe die Spitzen meiner Boots aneinander und überlege, warum sie mir das erzählt. Weshalb sollte ich warten? »Sie müssen sie sehr vermissen.«
»Das tue ich.« Der Inhaberin entfährt ein tiefes Seufzen. Sie sieht kurz zum Telefon und tippt mit dem Finger auf den Tresen, dann kommt sie zu mir herüber. Mir fällt auf, dass sie hinkt. »Aria ist voller Lebensenergie. Sie ist so ein positiver Mensch. Sieht in allem das Beste und … Hast du gar nicht von der Schokolade probiert?«
»Oh!« Überrascht von ihrem schnellen Themenwechsel richte ich mich auf. »Nein, ich …«
»Du verpasst etwas. Hier, nimm eine ganze Handvoll und steck sie dir ein. Die Nugatkugeln sind die besten in ganz Aspen!« Bevor ich etwas sagen kann, hat sie den halben Inhalt der Schale in meinen Jutebeutel gekippt. »Kaum zu glauben, wie wenig Gepäck du hast. Wenn Aria das sehen würde, bekäme sie einen Kollaps. Na, gut für dich.« Sie zuckt die Achseln. »Hast du weniger in dein Zimmer zu tragen.«
Ich blinzle. »Mein Zimmer?«
»Deshalb habe ich meine Tochter angerufen. Sie hat nichts dagegen, wenn du in ihrem alten Zimmer schläfst. Aber Vorsicht: Aria schwört seit Jahren, dass unter den Dielen ein Marder sein Unwesen treibt.« Sie zwinkert. »Ich kann dich doch nicht auf Aspens Straßen erfrieren lassen. Was wäre das für eine Schlagzeile! Und das in der Hochsaison.«
»O mein Gott.« Vor Dankbarkeit zittern mir die Knie, als ich vom Sofa aufspringe und nach den Händen der Frau greife. »Sie retten mir gerade das Leben. Wirklich. Gott … Danke! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das danken soll.«
Sie wedelt mit der Hand durch die Luft. »Finde den Marder.«
Ein Lachen bahnt sich einen Weg aus meiner Kehle. Es klingt wild und rau, gar nicht nach mir. Nach den letzten vierundzwanzig Stunden wundert mich das nicht.
»Ich locke ihn mit Ihrer Schokolade«, sage ich, während ich ihr hinterhergehe. »Ich bin übrigens Paisley.«
»Ruth. Pass auf mit dieser Stufe, die knarrt. Das hier ist der Flur mit den Gästezimmern, und durch diese Tür«, wir gelangen an eine dunkle Holztür mit Messinggriff am Ende des Ganges, »kommst du zu unserem Wohnhaus.« Ruth reicht mir einen Schlüssel, ehe sie ihren eigenen im Schloss dreht und wir auf einen mit bunten Bildern dekorierten Flur treten. Sie deutet auf eine Baumstammleiter am Ende des Flurs. »Da oben ist für die nächste Zeit dein Zimmer. Solange du es brauchst. Wenn du willst, kannst du es wöchentlich zahlen – oder du hilfst mir stattdessen mit dem Essen und den Zimmern der Gäste. Wie du willst.«
Mein Herz trommelt schnell in meiner Brust, obwohl es nur um ein Zimmer geht. Aber für mich fühlt es sich an wie ein Meilenstein. Ein weiterer Schritt, den ich in mein selbstbestimmtes Leben mache.
»Danke«, sage ich noch einmal, und trotzdem habe ich das Gefühl, dass es nicht ausreicht. »Ich würde gern helfen, mich um die Gäste zu kümmern. Das … käme mir momentan sehr entgegen.«
Ruth lächelt. »Natürlich, Liebes. Und hör auf, dich ständig zu bedanken. Hier in Aspen helfen wir einander. Gewöhn dich dran.«
Lieber nicht. Sich an etwas zu gewöhnen bedeutet, unachtsam zu werden. Und Unachtsamkeit kann zu schrecklichen Dingen führen.
Schrecklich, schrecklich, schrecklich.
Ich schüttle den Kopf, um die Bilder darin zu vertreiben. Stattdessen schenke ich Ruth ein Lächeln. »Haben Sie vielleicht noch eine Idee, wo ich einen Job finden könnte?«
Mit den Fingern fährt Ruth sich durch ihr grau meliertes Haar. Sie zieht die Unterlippe ein. »Mal überlegen. Ein paar Après-Ski-Bars im Zentrum und an den Pisten suchen Bedienungen. Vielleicht hast du auch bei Woodn’s Glück. Das ist unser Supermarkt. Und, hm, warte mal …« Sie neigt den Kopf. »Du bist Eisläuferin. Gute Fitness, oder?«
Ich nicke.
»Dann kannst du es an der südlichen Piste versuchen. Die Nachwuchstalente im Snowboardverein brauchen einen neuen Ausdauertrainer. Keine Ahnung, ob das noch aktuell ist, aber versuchen kannst du es.«
»Dank …«
Ruth hebt eine Hand, um mich zu unterbrechen. »Sprich es gar nicht erst aus.« Statt die Hand wieder zu senken, verharrt sie in der Position. Der gerade noch amüsierte Ausdruck in ihren Augen verschwindet und zeigt stattdessen Traurigkeit. Ihre Finger streichen mir über die feine Haut neben meinem rechten Auge und wischen mir die Strähnen aus dem Gesicht; eine sanfte, tröstende Geste, doch ich schrecke zurück, als hätte sie mich geschlagen.
»Du bist hier sicher«, sagt sie in einem leisen Ton. »In Aspen bist du sicher.«
Ich habe mir kaum Zeit genommen, mein neues Übergangszimmer zu inspizieren. Alles, was ich wahrgenommen habe, war ein Traum aus rustikalen Holzmöbeln, Lichterketten und jeder Menge Dekoration, bevor ich schnell in die Dusche gehüpft und wieder losgeeilt bin.
Mit Ruths Pistenplan in den Händen steige ich aus dem kleinen Bus, der mich direkt zu den Snowmass Mountains gefahren hat. Planlos starre ich auf das bunte Bild mit den vielen Beschreibungen, bis ich das kleine Symbol der Ski & Snowboard School gefunden habe.
»He«, höre ich eine Stimme neben mir rufen. Ich sehe auf und blicke in das Gesicht eines älteren Mannes, dessen dunkler Bart von den vielen Schneeflocken fast weiß aussieht. Er deutet auf die Gondel. »Willst du noch mit?«
Ich stapfe durch den Schnee auf ihn zu. »Komme ich damit zur Ski & Snowboard School?«
»Klar. Bei der zweiten Station aussteigen, dann bist du direkt da.«
»Perfekt. O Gott, ich war noch nie in so einem Ding. Kann das abstürzen?«
Der Typ öffnet mir die Tür und nimmt das Geld für die Fahrt von mir entgegen. Er zuckt die Achseln. »Bestimmt. Habe ich aber noch nicht erlebt.«
»Beruhigend«, murmele ich, ein Bein schon in der Gondel. »Und allgemein? So statistisch gesehen? Wie sicher ist …«
Die Tür fällt zu. Super.
Als die Gondel sich ruckelnd in Bewegung setzt, wird mir flau im Magen. Ich würde nicht behaupten, dass ich Höhenangst habe, aber … das Ding quietscht. Und quietschende Dinge in mehreren Hundert Metern Höhe sind mir suspekt. Der Grund, weshalb ich Menschen, die mit strahlendem Lächeln ein Riesenrad betreten, schon immer für Masochisten gehalten habe.
Mit den Fingern klammere ich mich an der kalten Sitzbank fest und versuche, nicht daran zu denken, ob mein abstürzender Körper in der Schneemasse überhaupt gefunden werden würde, bevor meine Glieder von Gefrierbrand überzogen wären. Doch paradoxerweise beruhigt mein Herzschlag sich, je höher die Gondel steigt.
Es ist die Aussicht, die mir die Angst nimmt. Aspens Berge sind zu schön. Sie lassen keinen Raum für negative Gefühle.
Ohne dass ich es richtig wahrnehme, lege ich meine Handfläche an die kühle Scheibe und betrachte den Horizont. Vielleicht sind es die schneeverhangenen Gipfel, in denen ich meinen Kopf verlieren und meine Seele finden werde.
Der Himmel über mir, die Erde unter mir und in der Mitte Frieden.
Als ich an der zweiten Station aussteige, versinke ich schlagartig bis zu den Schienbeinen im Schnee. Meine Jeans ist innerhalb von Sekunden durchnässt, und ich nehme mir dringend vor, mir eine Schneehose zuzulegen. Vielleicht von eBay.
Erst einmal bin ich völlig planlos. In der Ferne höre ich Kinder lachen und Worte, die einander zugerufen werden, aber ich kann sie nicht sehen. Alles, was sich vor meinen Augen erstreckt, sind eine riesige Masse Schnee und die weit entfernten Dächer von Aspens Häusern unter mir.
»Okay«, murmele ich und sehe auf die schwarze Tafel, auf der ein ähnliches Bild wie auf meinem Pistenplan prangt; dieses hier bloß wesentlich übersichtlicher, weil viel größer. »Du kriegst das hin, Paisley. Lass mal sehen.«
Es dauert ein paar Minuten, aber dann steige ich langsam durch das irre Labyrinth aus Farben, Symbolen und Linien durch.
Meine Jeans bedankt sich, als ich noch etwa fünf Minuten durch den dichten Schnee stapfe, bis ich endlich – endlich! – die Piste erreiche.
Vor mir tummeln sich Menschen in dicken Anzügen – was würde ich für einen solchen Anzug geben! –, die Kindern ihre ersten Bewegungen auf Skiern und Snowboards zeigen. Mühselig schüttle ich das weiße Nass von meiner Hose und den Boots, ehe ich den auf der Piste eher festen Schneeboden betrete und auf einen Teenager zugehe, der mir am nächsten ist. Er trägt ein Snowboard unter dem Arm und will gerade in die andere Richtung verschwinden.
»Hey!« Ich hebe die Hand und winke, wobei ich mir vorkomme wie eine gerade gefundene Verschollene. Er hört mich nicht. Ich keuche und rufe noch einmal. »Hey! Hier! Ja genau, ich habe gerufen!« Meine Atmung geht schnell, als ich endlich bei ihm ankomme. Unter seinem Helm lugen die Spitzen brauner Haare hervor. Ich glaube, er hat diesen Justin-Bieber-Schnitt, der schon seit Jahren out ist.
»Kennst du dich hier aus?«
Unter dem hellen Himmel kann ich erkennen, dass er errötet. Dicke Pusteln zieren Wangen und Stirn; er muss gerade erst in die Pubertät gekommen sein. »Yo«, murmelt er, ohne mich anzusehen. Die Fußschiene an seinem Snowboard scheint weitaus interessanter zu sein als ich.
»Okay. Kannst du mich zu irgendjemandem bringen, der hier das Sagen hat?«
Er nickt, dreht sich um und stapft voraus, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich wate ihm hinterher, wobei ich zwei Kindern ausweichen muss, die mir mit ihren Skiern ansonsten die Beine weggerissen hätten.
»Der da«, sagt der Junge. Bevor ich überhaupt entdecken kann, wen er meint, ist er verschwunden.
Seufzend lasse ich meinen Blick über die Piste schweifen. Haufenweise bunte Anzüge. Jeder sieht gleich aus. Alle rufen wild durcheinander, lachen, Kinder kreischen vor Freude. Unmöglich, hier irgendwen auszumachen, zumal ich nicht einmal weiß, nach wem ich suche und …
»Was willst du denn hier?«
Ich blinzle. Den Typen, der plötzlich vor mir steht, kenne ich. Diese Augen würde ich jederzeit wiedererkennen.
Es ist Knox, der Snowboarder.
Schon bei Kate ist mir die Schwellung im Gesicht des Mädchens aufgefallen. Ich wusste nicht, ob es am schummrigen Licht lag, wollte aber auch nicht genauer hinsehen. Ehrlich gesagt war ich verpennt, verkatert und hatte keinen Bock, mich mit irgendetwas anderem als meinem dröhnenden Schädel auseinanderzusetzen.
Jetzt jedoch könnte sie mir nicht deutlicher präsentieren, was ich am Morgen bemerkt zu haben glaubte. Die Schwellung ist gerötet, aber noch nicht grün. Was auch immer dahintersteckt, es kann nicht lange her sein.
Mit ihren riesigen gletscherblauen Augen starrt sie mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihre Lippen sind einen Spaltbreit geöffnet, und im hellen Sonnenlicht erkenne ich eine dünne weiße Narbe an ihrer Kieferpartie. Ich lasse meinen Blick an ihrer zierlichen Figur hinunterwandern und muss mir ein Lachen verkneifen, als ich ihre bis zu den Knien durchweichte Jeans bemerke. Da sie immer noch nichts sagt, winke ich mit der Hand vor ihrem Gesicht. »Hallo? Bist du stumm?«
Sie blinzelt mehrmals schnell hintereinander und schlägt meine Hand weg, als wäre sie eine lästige Fliege. Wieder zucken meine Mundwinkel.
»Lass das. Ich suche jemanden.«
»Bisher ziemlich erfolglos, oder?«
Sie wirft mir einen bösen Blick zu und entscheidet dann, sich von mir abzuwenden und weiter planlos in die Gegend zu starren.
Ich seufze. »Weißt du, ich würde dich liebend gern einfach hier stehen lassen und warten, bis du in den nächsten zwei Minuten von Skiern umgenietet wirst, aber leider würde das unter meine Verantwortung fallen. Also …«, ich mache eine ausladende Bewegung mit den Armen in Richtung der Seitenpässe, »würdest du deine sogenannte Suche bitte dort fortsetzen?«
»Das ist …« Sie stockt mitten im Satz, ehe sie kurz die Augen schließt und dann gen Himmel blickt. Langsam dreht sie sich wieder mir zu. »Deine Verantwortung?«
»Ja. Verantwortung. Kennst du das Wort? Ich kann es auch umschreiben.« Lässig neige ich den Kopf. »Moral. Pflichtbewusstsein. Gewissen. Haftung. Schu…«
»Ich bin nicht dumm!«
»Ach. Schön. Wer bist du dann?«
»Was?«
»Dein Name.« Ich grinse. »Du hast doch einen, oder? Ich bin übrigens Knox.«
»Weiß ich schon. Meinen Namen brauchst du nicht zu wissen.«
Seltsam. Je kratzbürstiger sie wird, desto interessanter finde ich sie.
Meine Gesprächspartnerin holt tief Luft, als müsste sie sich für etwas wappnen, dann sagt sie: »Wenn du hier die Verantwortung hast, kannst du mir vielleicht helfen.«
Ich gebe ein Lachen von mir, stemme mein Snowboard in den Boden und lehne meinen Arm darauf. »Du willst meine Hilfe, ohne mir deinen Namen zu verraten?« Ich setze eine theatralisch skeptische Miene auf. »Hat dir nie jemand beigebracht, fremden Menschen nicht zu trauen?«
Sie schnappt nach Luft, als hätte ich sie beleidigt, und geht zwei Schritte rückwärts. Einen Moment sieht sie mich bloß an, die blauen Augen noch immer so groß, dass ich das Gefühl habe, in ihnen untergehen zu können.
»Doch«, entgegnet sie kühl. »Das hat man. Es gibt da nur einen Fehler.«
»Und der wäre?«
Sie verzieht keine Miene, als sie spricht. »Nicht die fremden Menschen sind das Problem. Sondern diejenigen, von denen man glaubt, sie zu kennen.«
Es passiert nicht oft, dass es mir die Sprache verschlägt. Für gewöhnlich bin ich wortgewandt. Ich bin schlagfertig. Ich weiß immer, was ich sagen soll. Aber jetzt gerade weiß ich es nicht. Jetzt gerade stehe ich einfach nur vor ihr, starre sie an und frage mich, wer um alles in der Welt dieses Mädchen ist.
»Wenn du mich jetzt entschuldigst«, fügt sie hinzu und stapft von mir weg in die andere Richtung. »Du raubst mir Zeit, die ich nicht habe.«
»Warte.« Kurz reibe ich mir über das Gesicht, ehe ich ihr folge. »Hey, warte.« Ich greife nach ihrem Arm, um sie zum Anhalten zu bewegen, doch anscheinend war das die falsche Geste. Mit einer Kraft, die ich ihrem schmächtigen Körper nicht zugetraut hätte, entreißt sie mir ihren Arm, nur um mir in der nächsten Sekunde gegen die Brust zu schlagen. Unwillkürlich taumele ich ein paar Schritte rückwärts.
»Fass mich nicht an!«, faucht sie.
Beschwichtigend hebe ich die Hände. »Es tut mir leid. Wirklich. Ich wollte nur …« Seufzend lasse ich sie wieder sinken. »Sag mir, womit ich dir helfen kann.«
»Indem du mich in Ruhe lässt.« Sie stapft weiter voraus. Dabei weicht sie einem Snowboard aus, das einer der Touristen unter seinem Arm drapiert hat und ihr damit beinahe gegen den Schädel geschlagen hätte.
»Komm schon.« Dieses Mal bin ich schlauer. Statt sie anzufassen, mache ich ein paar große Schritte, umrunde sie und baue mich vor ihr auf. »Sei nicht so stur. Du willst irgendwas, ich kann vermutlich helfen. Wenn du keine Zeit hast, ist es nicht der effektivste Weg, weiter planlos auf der Piste rumzugeistern.«
Einen Moment stiert sie mich nur wütend an. Ich bin viel zu beschäftigt damit, zu beobachten, wie das Sonnenlicht das Blau ihrer Augen strahlen lässt, als dass es mich stören könnte.
Schließlich verlagert sie das Gewicht von einem Bein aufs andere und scheint einzusehen, dass ich recht habe. »Schön. Mir wurde gesagt, die Nachwuchstalente brauchen einen neuen Ausdauertrainer.«
»Und?«
»Und ich suche denjenigen, der für sie zuständig ist.«
»Wieso?«
»Ich denke, das muss ich nicht mit dir besprechen.«
Ich grinse. »Ich denke, das musst du doch.«
»Ah. Sicher. Nur weil du der allseits begehrte Snowboarder Knox bist, meinst du, dich ginge alles was an. Versteh schon. Aber lass mich dir was sagen.« Sie macht einen Schritt auf mich zu. Ihr Gesicht ist meinem nun viel näher. Erst jetzt fällt mir auf, dass ihr rechtes Auge von geplatzten Äderchen durchzogen ist. »Ich bin nicht wie diese ganzen Mädchen, die dir die Füße küssen würden. Mich interessiert nicht, was du willst und was du nicht willst. Deine Anziehungskraft geht völlig an mir vorbei. Also, wenn du mir helfen willst, sag mir einfach, wo ich den Verantwortlichen für die Nachwuchstalente finden kann.«
Holy. Dieses Mädchen hat Temperament. Gefällt mir.
»Füße sind eklig«, entgegne ich. »Wieso sollte ich wollen, dass mir jemand …«
»Knox.«
Ich ziehe einen Mundwinkel in die Höhe. »Schön. Er steht vor dir.«
Sie kneift die Augen zusammen, ehe sie zu beiden Seiten an mir vorbeisieht. Als sie bloß Kinder auf ihren Boards und Skiern sichten kann, wendet sie sich wieder mir zu. »Wirklich komisch, Knox.«
Ich grinse. »Findest du es nicht unfair, dass du meinen Namen kennst, ich aber nicht deinen?«
»Nein.«
Ich muss lachen. »Okay. Vielleicht verrätst du ihn mir ja, wenn ich dir sage, dass ich für die Nachwuchstalente verantwortlich bin.«
Die Überraschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Nicht ernsthaft, oder?«
»So wahr ich vor dir stehe.«
Sie schließt kurz die Augen, ehe sie den Kopf zur Seite dreht und in die Ferne sieht. »Das war ja klar.«
»Rück raus mit der Sprache. Kennst du jemanden, der die kleinen Draufgänger trainieren will? Aber ich warne dich vor: Für die Vermittlung gibt es keine Provision.«
Sie lacht nicht über meinen Witz. Stattdessen sieht sie mich nur ausdruckslos an und kaut auf ihrer Wange herum, während sie zu überlegen scheint. Schließlich sagt sie: »Ich will den Job.«
Im ersten Moment meine ich, mich verhört zu haben. Als sie jedoch nichts weiter sagt und langsam zu mir durchsickert, dass sie es ernst gemeint hat, entfährt mir ein ungläubiges Lachen. »Nein, willst du nicht.«
»Oh, wow. Du gehst mir echt auf die Nerven, weißt du das?«
»Warum bist du dann noch hier?«
Sie funkelt mich an. »Weil ich den Job brauche. Ich meine es ernst. Was spricht gegen mich?«
Ein Kind auf seinem Snowboard jagt direkt auf uns zu. Vorsichtig hebe ich die Hand und schiebe meine Gesprächspartnerin zur Seite. Sie zuckt zwar wieder zusammen, aber immerhin bekomme ich keinen erneuten Schlag ab.
»Na ja …« Meine Augen wandern von ihrem Gesicht zu ihren Füßen und zurück. »Du bist sehr zierlich. Die Nachwuchstalente sind hauptsächlich Jungs im pubertären Alter. Voll anstrengend. Die bringen dumme Sprüche, sind anspruchsvoll, und man muss sie autoritär anpacken. Du hingegen wirkst, als würden sie dich bei der ersten Gelegenheit über den Haufen fahren.«
Sie bläht die Nasenflügel. »Das ist sexistisch. Nur weil ich kein Kerl bin, kann ich trotzdem durchsetzungsfähig sein.«
»Kann sein. Trotzdem …« Unsicher ziehe ich die Unterlippe ein und fahre mit den Zähnen darüber. »Hast du denn Ahnung von Fitness?«
Sie reckt das Kinn. »Ich bin Eiskunstläuferin an der iSkate.«
Das ändert alles. Von der einen Sekunde auf die andere.
Eiskunstläuferin.
Es ist, als würde mir dieses Wort die Luft zum Atmen nehmen. Stocksteif stehe ich da, stemme die Füße in den Schnee und fühle mich dennoch haltlos. Als würde der Boden unter mir wegfallen und ich in die Tiefe stürzen, ohne Sicherheit, ohne Bewusstsein, oder vielleicht doch mit Bewusstsein, denn das ist noch schlimmer, noch viel, viel schlimmer, denn ich spüre alles, spüre den Schmerz, der wieder aufwallt, spüre die Hitze, die Kälte, die Hitze, die Kälte, die meinen Körper durchfahren und die Nervenbahnen in mir aufs Äußerste reizen.
»Hallo?« Ihre Stimme klingt weit entfernt, durchsetzt von einem Rauschen, von dem ich nicht weiß, ob es wirklich da ist oder nur in meinem Kopf stattfindet. Es rauscht und ist laut und schreit und brüllt vielleicht auch, keine Ahnung, aber es ist laut, so laut, dass ich es nicht aushalte. Nur ihre Stimme, die ist kaum da, ein entferntes, dumpfes Geräusch, als käme sie vom Ufer, und ich wäre tief, tief, tief unter Wasser. »Ist, ähm, alles in Ordnung?«
Ich keuche. Bei den Erinnerungen, die das Wort in mir hervorgerufen hat, bahnt sich Galle einen Weg meine Kehle hinauf.
Eiskunstläuferin.
»Du kannst den Job nicht haben«, presse ich hervor. Mir ist schwindlig. Die bunten Anzüge der Menschen um uns herum vermischen sich zu einem einzigen Mosaikbild.
»Ähm. Okaaay. Und warum nicht?«
»Darum.«
Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Gibt es schon jemanden? Ich bin besser. Das beweise ich. Gib mir eine Chance. Ein Probetraining. Dann zeige ich dir, dass ich die Nachwuchstalente trainieren kann. Ich bin durchsetzungsfähig.«
Mein Blick huscht zu der Schwellung in ihrem Gesicht und verharrt dort. Sie bemerkt es. Natürlich tut sie es. Genau das wollte ich bezwecken. Ich weiß, dass es nicht in Ordnung ist. Ich weiß, dass sie mich für das größte Arschloch der Vereinigten Staaten halten wird. Vielleicht bin ich das auch, wer weiß. Aber jetzt gerade sehe ich keine andere Möglichkeit, sie von mir fernzuhalten.
Die Eiskunstläuferin.
»Das bezweifle ich.«
Sie schnappt nach Luft. Der Schock in ihrem Gesicht sitzt tief. Ein nicht zu übersehender Glanz legt sich über ihre großen Augen.
Ich kann nicht behaupten, dass es mich kaltlässt.
»Du bist widerlich, Knox.« Ihr Gesichtsausdruck ist voller Abscheu. Sie schüttelt den Kopf. »Widerlich.« Damit dreht sie sich um und geht.
Die Geräuschkulisse um mich herum gerät in den Hintergrund.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch auf der Piste stehe und ihr nachsehe. Ich weiß nur, dass ich es immer noch tue, als sie schon längst nicht mehr zu sehen ist.
Ich erwache zehn Minuten vor dem ersten Klingeln meines Weckers. Mein Magen kribbelt, und ich habe Herzklopfen. Es fühlt sich ganz genauso an wie an Wettkampftagen, bloß dass es heute nicht um eine Medaille geht.
Heute ist mein erster offizieller Tag an der iSkate. Ich werde den Vertrag unterschreiben. Einen Vertrag, über dem von Anfang an das Damoklesschwert schweben und darauf warten wird, dass ich mir meinen eigenen Strick drehe.
Nicht darüber nachdenken, Paisley.
Die nach Flieder duftende Bettwäsche raschelt, als ich mich zur Seite drehe und das Kissen zusammenknülle, um für einen kurzen Moment mein Gesicht darin zu vergraben und meinen zitternden Atem darin entweichen zu lassen. Mit den Füßen strample ich die Daunendecke ans Fußende, ehe ich mich aus dem Bett schwinge und die Nachttischlampe einschalte.
Es ist noch früh. Kurz vor sechs. Zwischen den Lamellen der Jalousien kann ich erkennen, wie das Mondlicht die tanzenden Schneeflocken erhellt, als wäre der Himmel ihre Bühne. Sie erinnern mich an mich selbst, rufen Bilder aus längst vergangenen Tagen in mir hervor. Ich sehe mich als Kind, ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht, wie ich in einem billigen Kürkleid aus dem Secondhandladen meinen ersten Eistanz vor Publikum getanzt habe. Jeder Schritt wurde von einer Magie begleitet, die außer mir niemand sehen konnte.
Und diese Magie ist geblieben. Sie ist mein ständiger Begleiter. Die Kraft, die mich antreibt. Mein bester Freund. Die Stimme in mir, die in ihrem prickelnden Wispern durch meine Nervenbahnen gleitet und sich in meinem Herzen festsetzt. Die Stimme, die mir sagt, dass ich kämpfen muss, wenn ich sie nicht verlieren will.
Die Magie.
Denn wenn sie einmal fort ist, kommt sie meist nicht wieder. Ich muss sie festhalten. Und deshalb gebe ich nicht auf. Deshalb bin ich hier.
Mit einem leisen Rascheln fällt die Lamelle auf ihren ursprünglichen Platz, als ich die Hand zurücknehme und durchs Zimmer tigere, um meine Trainingshose aus dem Jutebeutel zu ziehen. Sie liegt unter den anderen Sachen vergraben, weshalb ich kurzerhand entscheide, die wenigen Kleidungsstücke in Arias geräumigen Schrank einzusortieren.
Ich öffne die Türen und stutze. Entweder hat Ruths Tochter einiges zurückgelassen, oder … sie ist ein Shopaholic. Die vielen Kleidungsstücke im Inneren erwecken nämlich nicht den Eindruck, dass ihre Besitzerin sich am anderen Ende Amerikas befindet. Es ist kaum Platz übrig für meine wenigen Sachen, und am Ende landen sie als unordentliches Knäuel zwischen Arias Shirts, Hoodies und Tops. Ein elender Anblick.
Ich will die Türen gerade wieder schließen, als mir ein Paar Asics-Turnschuhe am Boden des Schranks auffällt. Erst zögere ich, ehe ich mich schließlich bücke und sie betrachte.
Größe 38. Sie wirken kaum getragen. Eigentlich hatte ich vor, mit meinen Boots laufen zu gehen, aber wenn ich schon die Möglichkeit habe … Es würde Aria sicher nicht stören.
Erst als ich die Schuhe herausnehme, bemerke ich das zerknitterte Foto, das in der Rille zwischen Schrankboden und Wand klemmt. Vorsichtig zupfe ich es heraus, damit es nicht zerreißt, und betrachte es.
Der Typ, der mir mit einem breiten Grinsen und einer Bierflasche in der Hand entgegenblickt, ist unverkennbar dieser Wyatt aus Kates Diner. Das Mädchen neben ihm kenne ich nicht. Das muss Aria sein, vermute ich. Unter ihrem Basecap legt sich fülliges braunes Haar in Wellen über ihre Schultern. Sie hat Sommersprossen, aber nur auf der Nase, und ihre grünen Augen leuchten, während sie Wyatt einen Seitenblick zuwirft.
Plötzlich fühle ich mich schrecklich. Als wäre ich auf Arias Tagebuch gestoßen und würde mir Einblick in ihre intimsten Gedanken verschaffen. Schnell klemme ich das Bild zurück in die Rille und schließe den Schrank in der festen Absicht, von jetzt an nicht mehr in ihren Sachen zu schnüffeln.
Ich schlüpfe in Trainingshose und Turnschuhe, stecke meine Kopfhörer ins Handy und nehme mein Haargummi vom Handgelenk, um meine blonden Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zu binden. Dann ziehe ich mir Handschuhe und Mütze über und tappe so leise wie möglich über den schmalen Flur, durch die Zwischentür und die Treppe im Gästebereich hinunter.
Die Stufen knarren. Es ist so still im Haus, dass mir das Geräusch beinahe unheimlich vorkommt. Nur hinter einer Tür vernehme ich das unverkennbar laute Schnarchen eines Gastes.
Mit einem leisen Klicken öffnet sich das Haustürschloss, nachdem ich den Schlüssel darin herumgedreht habe, und ich trete in die eisige Morgenluft hinaus.
Obwohl Aspen zu den reichsten Städten Amerikas zählt, könnte es in diesem Moment einsamer nicht wirken. Die Straßen sind leer. Noch nicht einmal die Straßenlaternen sind eingeschaltet; lediglich der schwache Mondschein wirft ein graues Licht auf den verschneiten Boden. In der Ferne ragen die Gipfel der Aspen Highlands in den Horizont und rauben mir für einen Moment den Atem. Sie sind erschreckend riesig und gleichzeitig betörend. Im Internet habe ich gelesen, dass Aspen von vier Bergen umgeben ist: Snowmass, Buttermilk, Aspen Mountain und Aspen Highlands.
Ich weiß nicht, ob ich je etwas Schöneres gesehen habe als den Ausblick in diesem Moment. Als würde man sich ein Bild bei Google ansehen, von dem man sofort weiß, dass es mit Photoshop bearbeitet wurde, weil es zu schön ist. Nur dass dieser Moment real ist. Kein Instagram-Fake. Keine falsche Perfektion. Deshalb liebe ich die Natur. Sie spielt dir nie etwas vor.
In mir kribbelt alles, als ich meine Playlist starte und loslaufe. Die eisige Luft schneidet mir ins Gesicht, aber ich genieße es, genieße die Kälte, die mir jeglichen Gedanken nimmt und meine Lungen mit Energie füllt, die Magie in mir aus ihrem Schlaf erwachen lässt.
Ich laufe, ohne darüber nachzudenken, wohin mich meine Füße tragen. Es ist nicht schwer, sich in Aspen zurechtzufinden. Die Stadt ist klein, und die Häuser reihen sich in ordentlichen Linien nebeneinander ein. Bei Google Earth sieht Aspen aus wie ein Pacman-Spielfeld.
Der Schnee knirscht unter den Turnschuhen. Meine Füße sind taub von der Kälte, aber ich laufe weiter, immer weiter, folge der Melodie des Winters, die im Takt meines Herzens schlägt.
Am Fuß des Buttermilk Mountain zieren nur noch ein paar Häuser die Umgebung. Ich werde langsamer. Nicht, weil ich erschöpft bin, sondern wegen der funkelnden Reflexionen, die mir ins Auge springen.
Erst denke ich, Lichterketten verstecken sich in den umliegenden Tannen. Bei jedem ausgestoßenen Atemzug bildet sich eine weiße Wolke vor meinem Gesicht, während ich mich den Bäumen nähere. Und dann erkenne ich den Ursprung der Lichter.
Inmitten dieser Wand aus schneeverhangenen Tannen liegt ein von Eis überzogener See. Der Mond spiegelt sich in seiner Oberfläche und lässt ihn glitzern. Irgendwo in der Ferne kreischt ein Käuzchen. Sekunden später höre ich das Rascheln seiner Flügel, als es sich in den Himmel erhebt.
Ich lege meine Handfläche auf den festen Stamm einer Tanne und verweile einen Moment in dieser Position, den Blick starr auf den zugefrorenen See gerichtet. Nur verschwommen nehme ich wahr, dass mir der Mund leicht offen steht.
Aspen mag einige Orte haben, die von einem Zauber erfüllt sind. Vielleicht ist diese Stadt dafür geschaffen, jede Seele auf unterschiedliche Art zu berühren; ich weiß es nicht. Aber für mich ist es genau hier. Aspens Herz. Es liegt vor mir, so rein und klar, fern aller Öffentlichkeit, und spiegelt mein Inneres wider. Ich spüre die Magie in mir pulsieren und sich mit diesem Ort verbinden, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ihr in die Augen blicken zu können.
Nach all den Jahren. Hier bin ich. Und hier ist sie.
Hier treffen die Quellen unserer Seelen aufeinander.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich wieder lebendig. Ich spüre Glück und Hoffnung.
Ich spüre das Leben.
Ein Geräusch rechts von mir reißt mich aus meinen Gedanken. Es kommt aus der Richtung der Tannen und klingt wie ein unterdrücktes Keuchen, aber irgendwie seltsam. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, etwas zu erkennen, aber die Tannen schirmen das Mondlicht ab. Es ist zu dunkel.
Vorsichtig trete ich einen Schritt vor, wobei ich darauf achte, im Schatten zweier Bäume zu bleiben. Und dann sehe ich ihn.
Knox lehnt am Stamm einer Tanne, den Blick gen Himmel gerichtet. Seine lässige Unbeschwertheit von gestern auf der Piste ist verschwunden, stattdessen sind seine Gesichtszüge krampfhaft verzerrt, und seine Unterlippe zittert.
Gott, ich glaube, er weint. Oder? Ja. Ganz sicher. Sein ganzer Körper bebt, während aus seinem Mund immer wieder dieses seltsam unterdrückte Keuchen kommt.
Keine Frage, er weint. Aber es wirkt, als wüsste er nicht richtig, wie das funktioniert.
Ich kralle mich mit beiden Händen am Stamm der Tanne fest und kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Gestern habe ich mir geschworen, einen weiten Bogen um Knox zu machen. Ich habe gedacht, den Kern seines Wesens erkannt zu haben. Für mich war die Sache klar: Knox ist einer dieser sexistischen Typen mit beschissenem Charakter, deren Instagram-Likes ihnen wichtiger sind als jede zwischenmenschliche Beziehung im wahren Leben.
Aber das hier … das macht einen ganz anderen Eindruck auf mich. Warum weint er? Was ist los mit ihm? Und wieso, um alles in der Welt, gibt er sich die größte Mühe, den schamlosen Sportler raushängen zu lassen, wenn er in Wahrheit …
Wenn er in Wahrheit verloren wirkt?
Wie gelähmt beobachte ich sein fast lautloses Schluchzen. Knox fährt sich mit den Händen über das Gesicht, ehe er den Blick senkt und hinaus auf den gefrorenen See blickt. Ich könnte schwören, in diesem Moment verzerren sich seine Züge noch qualvoller. Seine Schultern beben, er schnappt nach Luft, und wieder setzt das verlernte Keuchen ein.
Zum zweiten Mal an diesem Morgen fühle ich mich, als würde ich in die Privatsphäre eines anderen eindringen. Ich sollte das hier nicht sehen. Diese Gefühle sind nicht für meine Augen bestimmt. Ganz egal, wie Knox sich mir gegenüber gestern verhalten hat; das hier fühlt sich falsch an.
Beinahe lautlos tappe ich durch den hohen Schnee, der meine Füße und Knöchel bereits hat taub werden lassen. Immer wieder blicke ich über die Schulter, aus Angst, Knox könnte mich bemerken, aber in diesem Moment scheint er nichts anderes als die ihn überwältigenden Emotionen wahrzunehmen.
Auf dem Rückweg bin ich schneller. Meine rasenden Gedanken treiben mich an, lassen mich beinahe sprinten, während ich versuche, die Bilder seines schmerzverzerrten Gesichtsausdrucks zu vertreiben. Ich möchte kein Mitleid mit Knox haben. Ich möchte ihn für den Egoisten halten, den ich mir zurechtgemalt habe. Aber meine Gedanken werden lauter, wilder, transparenter. Sie verwirren mich. Er verwirrt mich. Vor allem, weil ich plötzlich das Gefühl habe, Knox könnte mir ähnlicher sein, als mir lieb ist.
Meine Beine brennen, als ich endlich vor dem Ruth’s zum Halten komme. Nicht so sehr vor Erschöpfung, sondern wegen der Kälte. Ich brauche dringend eine heiße Dusche.
In den durchnässten Asics betrete ich das Gasthaus. Die ersten Frühaufsteher sitzen bereits an der langen Holztafel im Essbereich. Schnee fällt von meinen Schuhen und verteilt sich auf dem Teppich.
Ruth steht am Büfett und tauscht gerade den leeren Ahornsirup durch einen neuen aus. Sie sieht über die Schulter, als die Tür ins Schloss fällt, und lacht. »Ich sollte dich Elsa nennen.«
»Elsa?«
»Die Eiskönigin«, erklärt sie. »Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du durchgefroren. Fehlt nur noch, dass dir Eiszapfen wachsen.«
Ruth hält mir einen Apfel hin. Dankbar nehme ich ihn entgegen und beiße hinein. »Ich war laufen.«
»Das sehe ich.« Ihre Augen wandern über meine Trainingshose zu den Turnschuhen ihrer Tochter. Sie grinst. »Oh, die alten Dinger. Aria hat sie nie getragen. Es war ihre«, Ruth malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »Jetzt-werde-ich-sportlich-Phase.«
»Sie mag keinen Sport?«, frage ich überrascht. Nachdem ich meinen Bissen vom Apfel hinuntergeschluckt habe, füge ich hinzu: »In Aspen kann man dem Sport doch gar nicht entkommen.«
Ruth greift nach dem Teller mit den Pancakes, die sich langsam dem Ende zuneigen. »Glaub mir, Aria war ein Naturtalent darin. Sie ist wissbegierig und ehrgeizig, aber Sport … Gott bewahre.« Bei der Erinnerung an ihre Tochter legt sich ein Schmunzeln auf ihre Lippen, ehe sie mir noch einmal zuzwinkert und dann in Richtung Küche hinkt. Ich würde gern wissen, was der Grund für ihre schwerfälligen Bewegungen ist. Vielleicht Osteoporose oder Arthrose?
Ich hingegen kann es gar nicht eilig genug haben, unter die Dusche zu kommen und die heißen Wasserstrahlen auf meinem Körper zu spüren, der mit jeder Sekunde weiter auftaut. Mit dem Rücken lehne ich mich gegen die Duschwand, schließe die Augen und gebe einen tiefen Seufzer von mir.
Die Begegnung mit Knox hat mich aufgewühlt. Für eine Weile hat sie sogar die Nervosität in mir vertrieben und mich vergessen lassen, dass heute mein großer Tag ist.
Aber jetzt scheinen meine Nervenbahnen aus ihrem kurzen Schlaf zu schrecken und innerhalb von Sekunden den Hochbetrieb wieder einzustellen. Es fühlt sich an, als würden Ameisen unter meiner Haut laufen, hin und her und her und hin, mich verrückt machen und gleichzeitig an Kraft gewinnen, je mehr sie ihren Einfluss auf mich haben.
Mit der Zungenspitze lecke ich mir das warme Wasser von der Oberlippe, ehe meine Augen meinen Körper hinabwandern und an den Flecken hängen bleiben, die außer mir niemand sehen kann.
Vorsichtig streiche ich mit dem Finger über meine linke Hüfte bis zur Mitte des Oberschenkels. Die Schwellung ist gut zurückgegangen, aber die Haut hat ihre Farbe gewechselt. Sie ist von einem hellen Grün, an den äußeren Rändern durchzogen von einem kräftigen Blau.
Ich kneife die Augen zusammen, schalte das Wasser aus und denke nicht mehr dran. Bald wird von den Flecken nichts mehr übrig sein, und dann werde ich sie nie wieder zu Gesicht bekommen.
Nie. Wieder.
Mein Körper dampft, als ich aus der Dusche steige – endlich spüre ich meine Zehen wieder! – und mich abtrockne. Ich schlüpfe in frische Sachen, föhne mir das Haar und schlucke, nachdem ich meinem Blick im Spiegel begegne.
Die Schwellung neben meinem Auge hat an Farbe gewonnen. Knox’ Worte von gestern hallen in meinem Kopf nach.
Das bezweifle ich … Mit diesen Worten implizierte er, ich wäre nicht durchsetzungsfähig. Nicht autoritär genug.
Ich schüttle den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und wende den Blick ab. Meine Augen bleiben an ein paar Make-up-Utensilien hängen, die auf Arias Badezimmerkommode neben dem Waschbecken stehen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und überlege.
Normalerweise trage ich kein Make-up. Als Sportlerin ist das eher kontraproduktiv. Der Schweiß verschmiert die Wimperntusche und lässt einen aussehen wie einen Emo. Das Make-up hingegen verstopft die Poren und sorgt für eine Menge gewaltiger Pickel, die sogar den bekannten Kratern in Arizona Konkurrenz machen würden.
Meine Entscheidung fällt innerhalb eines Augenaufschlags. Hastig greife ich nach dem Make-up-Fläschchen und verteile das Zeug in meinem Gesicht. Lieber ein mit Kratern übersäter Emo, als dass mich an meinem ersten Tag an der iSkate alle angaffen und sich eine Meinung über mich bilden, bevor sie mich überhaupt kennenlernen.
Diesen Teil meines Lebens habe ich hinter mir gelassen. Und ich habe nicht vor, ihm Raum zum Weiterleben zu geben.
Entschlossen verteile ich den letzten Rest und sehe mir dann prüfend ins Gesicht. Die frühmorgendliche Sonne scheint durchs Fenster und lässt meine blauen Augen hell leuchten.
Mit den Fingern klammere ich mich am Waschbecken fest. Die Ameisen bringen sie zum Zittern. »Tu es für dich«, murmele ich. »Du hast die Kraft, alles zu schaffen.«
Dreimal wiederhole ich diese Worte, bis ich spüre, dass die Ameisen unter meiner Haut sich in ihr Loch zurückziehen und ich gewonnen habe.
Ganz egal, wie schwach ich mich fühle und wie sehr die Vergangenheit Spuren in meinem Inneren hinterlassen hat; die Wölfin in meinem Herzen wird es niemals zulassen, der Welt einen Blick auf das Lamm in meiner Seele zu gewähren.
Weil ich stark bin.
Ich, Paisley Harris, bin eine verdammte Kämpferin.
»Ah, Knox.« Mein Vater sitzt am Esstisch vor den Panoramafenstern, durch die ich einen Blick auf die Sonne erhaschen kann, die langsam hinter den Aspen Highlands emporsteigt. Als er mich hereinkommen sieht, schlägt er die USA Today auf und legt sie zwischen die Schale mit den Eiern und dem Krug mit meinem Proteinshake. »Komm her und sieh dir das an.«
Mit einer Hand ziehe ich mir die Mütze vom Kopf, mit der anderen schäle ich mich aus meiner Daunenjacke. Ich beuge mich vor und blicke auf die Zeitung. Schnee fällt mir aus meinen Haaren auf den Tisch. »Feuerwehr befreit Mann aus Keuschheitsgürtel.« Ich runzle die Stirn. »Mit einem Winkelschleifer? Was für …«
»Nicht das!« Er deutet auf einen anderen Artikel. »Hier, lies!«
Ich lese. Bei jeder Zeile, die ich überfliege, legt sich meine Stirn in tiefere Furchen.
»Oh«, sage ich dann.
Mein Vater hebt die Brauen so hoch, dass sie beinahe seinen Haaransatz erreichen. Eine beachtliche Leistung. »Oh?«, wiederholt er und tippt mit Nachdruck auf den Artikel. »Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Das ist eine Katastrophe, Knox! Jason Hawk ist dein größter Konkurrent und hat in den ersten zwanzig Sekunden seines Rides bei der Revolution Tour einen Frontside Double Kick 1260º hingelegt! In den ersten zwanzig Sekunden, Knox! Weißt du, was das bedeutet?«
Ich lasse mich auf dem Stuhl ihm gegenüber fallen und gieße mir den Proteinshake ins Glas. »Ja.« Mein Mundwinkel zuckt. »Er ist schneller zur Sache gekommen, als ich brauche, um dieses Ei zu schälen. Ich könnte ihn fragen, ob wir ein neues Ding draus machen.« Gespielt lässig tue ich so, als würde ich mir die nicht vorhandenen Ponyfransen aus dem Gesicht pusten, und stütze mich mit dem Ellbogen auf die Stuhllehne neben mir. »Hey, Jason. Bock auf ’ne Challenge? Du und dein Snowboard gegen mich und das Ei. Der Gewinner bekommt …« Ich überlege kurz, dann zucke ich zweimal anzüglich mit den Brauen. »… das Ei.«
»Das ist nicht komisch, Knox.«
Nein? Ich finde schon.
Mein Vater hingegen blickt grimmig drein, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, und lockert seine Krawatte. »Deine Show auf der Pipe ist heute. Du musst das toppen.«
»Dad.« Ich gebe ein leises Lachen von mir, während ich die Eierschale abpule und mir das Ei aufs Brötchen lege. »Es ist nur eine Show.«
»Es geht um deine Einstellung«, entgegnet er. Seine Augen werden zu schmalen Schlitzen. Das Brötchen auf seinem Teller hat er noch nicht angerührt. Stattdessen beäugt er mich wie ein wild gewordener Löwe, der sich mit mir als hilfloser Antilope den Bauch vollschlagen will. »Jeder Ride ist wichtig. Wenn du die Show als locker betrachtest, wirst du auch bei den X Games zurückbleiben. Dein Mindset braucht mehr Ehrgeiz, Junge!«