WHISPERS. Die Wahrheit wird dich zerstören - Ayla Dade - E-Book

WHISPERS. Die Wahrheit wird dich zerstören E-Book

Ayla Dade

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Beschreibung

Vier Elitestudenten, vier tödliche Geheimnisse und riskante Challenges – Bestsellerautorin Ayla Dade garantiert Nervenkitzel, Spice und High Society-Vibes

Sie dürfen einander nicht vertrauen. Aber was passiert, wenn sie sich näherkommen, als gut für sie ist?


Harvard University, Boston: Statt Fleiß und Tugendhaftigkeit regieren exzessive Partys, hemmungslose Flirts und riskante Challenges in der elitären Studentenverbindung Alpha Phi Omega. Als der Student Henry bei einer Challenge mit seinem Leben bezahlt, sind seine vier Verbindungsmitglieder Willow, Benedict, Claire und Jacob schockiert – aber auch erleichtert: Sie alle wahren ein skandalöses Geheimnis, das sie mit Henry verbindet, und das sie ihre Zukunft in der High Society kosten würde. Doch die geheimnisvolle Noktura hat ihre Augen und Ohren überall: In einem geheimen Chatroom klagt sie die vier an, etwas mit Henrys Tod zu tun zu haben – sie wird sie aber nicht verraten, solange sie brav ihr dunkles Spiel mitspielen. Den vier Studenten bleibt keine Wahl: Immer riskantere Challenges rauben ihnen den Verstand und treiben sie zueinander. Schon bald können sie nicht mehr unterscheiden: Sind die verzehrenden Gefühle füreinander echt – oder der gefährliche Versuch, die Geheimnisse der anderen auszuspionieren?

Leidenschaftliche Gefühle. Abgründige Geheimnisse. Überraschende Twists. »WHISPERS« wird dich mit Spice und Spannung fesseln!

Wenn du auf diese Tropes stehst, bist du hier genau richtig:

• Good Girl x Bad Boy
• Nerd x Football Quarterback
• Rebel Girl x Good Guy
• Social Media x Real Life

Und danach? Lust auf noch mehr Glamour, Leidenschaft und Intrigen?

Die Frozen-Hearts-Reihe:

1. Blackwell Palace. Risking it all
2. Blackwell Palace. Wanting it all
3. Blackwell Palace. Feeling it all

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Seitenzahl: 697

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Ayla Dade zählt zu den Stars im New-Adult-Genre. Mit ihren Winter-Dreams- und Frozen-Hearts-Reihen hat sie sich in die Herzen ihrer Leser*innen geschrieben. Jeder ihrer Romane ist ein SPIEGEL-Bestseller und hält sich wochenlang in den Top-Rängen. Mit ihrem Roman Whispers wird es nicht nur spicy, sondern auch spannend: Gefährliche Internetchallenges und Intrigen an der Elite-Universität Harvard sorgen für Nervenkitzel und doppelten Herzschlag.

Begeisterte Stimmen zu Ayla Dades Romanen:

»Wenn ihr nach einer faszinierenden Story und einem unwiderstehlichen ­Setting sucht, müsst ihr unbedingt ›Blackwell Palace‹ lesen!« Anna Todd über Blackwell Palace

»Eine Eiskunstläuferin, die nach den Sternen greift. Ein Snowboarder, der die Herzen höher schlagen lässt. Und ein Ort, der eine lebendige Postkarte sein könnte. Zum Wegträumen schön!« Lilly Lucas über Like Snow We Fall

»Diese New-Adult-Romance ist der perfekte Lesestoff für kalte Tage.« OK! über Like Snow We Fall

Außerdem von Ayla Dade lieferbar:

Die Winter-Dreams-Reihe:

1. Like Snow We Fall

2. Like Fire We Burn

3. Like Ice We Break

4. Like Shadows We Hide

Die Frozen-Hearts-Reihe:

Blackwell Palace. Risking it all

Blackwell Palace. Wanting it all

Blackwell Palace. Feeling it all

www.penguin-verlag.de

Ayla Dade

Whispers

Die Wahrheit wird dich zerstören

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Steffi Korda, Hamburg

Illustration: Christin Neumann

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31403-3V004

www.penguin-verlag.de

Playlist

Simple Minds – Don’t You (Forget About Me)

Eurythmics, Annie Lennox, Dave Stewart – Sweet Dreams (Are Made of This)

Bon Jovi – Livin’ on a Prayer

The Outfield – Your Love

John Newman – Love Me Again

Daniela Andrade – Crazy

KALEO – Way Down We Go  

Dave Not Dave – Cold Blood

rhianne – Somewhere Only We Know

Eminem – River ft. Ed Sheeran

Sixpence None the Richer – Kiss Me

Usher – My Boo

Christina Perri – A Thousand Years

Ed Sheeran – Thinking Out Loud  

Stanfour – In Your Arms

Cian Ducrot – I’ll Be Waiting (Acoustic)  

Brent Morgan – I’ll Be There for You

The Pierces – Secret  

Aloe Blacc – Harvard

TLC – Waterfalls

Hinweis

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet sich auf dieser Seite eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Ayla Dade und der Penguin Verlag

Widmung

für dich, der du an deine grenzen getrieben worden bist

für dich, der dachte, er würde stürzen

für dich, der gelernt hat, zu balancieren

für dich, der größer wieder zurückkehrte

für dich, der gelernt hat, dass es keine grenzen gibt

weil er über sich hinausgewachsen ist

und gesehen hat,

wie eine maus

zum löwen werden kann.

wenn du jemals in den spiegel siehst

und denkst, wieder nur die maus zu sehen

öffne den mund und hör zu,

wie diese maus doch brüllen kann

brüll, löwe, brüll

außerdem widme ich dieses buch den stimmen in meinem kopf,

weil ich ohne sie nicht wüsste,

wie das hier geht,

und ich widme es all jenen, die verstehen,

was ich meine.

Willow

Es war ein Harvard-Schal.

Die erste molekulare Verbindung mit der Natur dieses Planeten, nachdem ich aus dem Geburtskanal gezogen wurde, war nicht das Keratin der Haut meiner Mutter, sondern Zellulose. Genauer gesagt Baumwolle. Noch genauer gesagt: ein Harvard-Schal.

Ja, mein Ivy-League-Dad war so stolz auf sein runzliges Wesen, dass er die Taufe vorzog und sein schmieriges Neugeborenes statt Wasser mit Harvard-Fasern segnete.

Und das war erst der Anfang.

In einem Harvard-Body habe ich laufen gelernt, jedem Sonnenstrahl mit einer Harvard-Cap gestrotzt, und in meiner Schultüte zur Einschulung war eine Harvard-Trinkflasche. Ich habe sie niemals gewechselt und benutze sie noch heute.

Zu sagen, ich hätte mich auf das erste Semester an der Harvard Law School vorbereitet, wäre untertrieben. Ich habe mich nicht nur vorbereitet. Ich kannte jeden Kurs, der hier gelehrt wird, vor meinem zwölften Geburtstag, und habe das Constitutional Law abends vor dem Einschlafen gelesen, bevor ich mir vorgestellt habe, wie ich selbst den Hammer schwinge und von bunten Einhörnern in Richterrobe gefeiert zur Justitia getragen werde.

Und das alles, um jetzt, in dieser lebenswichtigen Vorlesung zum Zivilprozessrecht, jedes Wort von Prof. Dr. Hartfield auszublenden und stattdessen Benedict King anzustarren.

Benedict King.

Manchmal frage ich mich, ob sein Nachname wusste, dass er ihm gehören müsste, weil es so passend ist. Er ist nicht nur an der Law School der König, sondern auf dem ganzen Campus. Star-Quarterback von Harvard Crimson, obwohl Freshmen so gut wie nie ins Team kommen, das Objekt besessener Begierde aller Studentinnen und unter den Kerlen das Vorbild, zu dem sie alle aufsehen.

Für mich ist er jemand, um den ich einen weiten Bogen mache. Was sich als schwierig erweist, weil er mein Mitbewohner im Verbindungshaus ist. Und Mitglieder der Alpha-Phi-Omega-Verbindung, die für Einheit in Vielfalt steht, sollten eher händchenhaltend einen Kreis bilden und unsere sozialen und ethnischen Unterschiede lächelnd verschwimmen lassen statt sich zu ghosten.

Lässig sitzt er in dem alten Holzstuhl in der Reihe vor mir, schabt mit seinem Nike über den roten Teppich und kaut auf einem Fineliner herum, während er Professor Hartfields Vortrag lauscht. Sein braunes Haar steht genauso wild zu Berge wie heute Morgen, als ich ihn nur in Boxershorts aus seinem Zimmer habe kommen sehen, und das Licht, das durch die Fenster scheint, lässt seine grünen Augen funkeln.

»Wenn wir über Kausalität im Deliktsrecht sprechen«, sagt Dr. Hartfield, deutet mit der Fernbedienung auf seine Fallfolie und lockert mit der anderen seine Krawatte, weil er voll in seinem Element ist, »müssen wir also nicht nur fragen, ob das Handeln des Beklagten den Schaden des Klägers tatsächlich verursacht hat …« Plötzlich wirbelt er herum und deutet mit seiner Fernbedienung auf mich, als würde er mich mit ihr erdolchen wollen, weil ich Benedict angestarrt habe. »Sondern was noch, Miss Sullivan?«

Mein Name kommt nur verzögert bei mir an. Als ich zusammenzucke und mich abwende, hat Benedict seinen Kopf schon gedreht und mich dabei erwischt, dass ich ihn angegeiert habe wie eine sabbernde Bulldogge.

»Miss Sullivan?«

Panisch sehe ich Dr. Hartfield an. »Ja?«

»Kausalität«, entgegnet er. »Nicht nur die Handlung des Beklagten, sondern was noch ist relevant?«

»Ach so. Ja, natürlich. Ähm …« Ich richte mich in meinem Stuhl auf und kralle meine Nägel in den Stoff meiner Baggyjeans. Im Augenwinkel erkenne ich, dass Ben mich immer noch ansieht. Sein Blick nagt an mir wie eine blutsaugende Stechmücke. »Ob die Handlung rechtlich gesehen eine ausreichend direkte Ursache war, um, ähm, die Haftung zu begründen.«

»Korrekt.« Anerkennend neigt der Professor den Kopf, nur um im nächsten Moment nachtragend den Mundwinkel zu heben. »Aber Sie werden keine Jury mit stotternden Ähms überzeugen, Miss Sullivan.«

Mein Schädel wird noch heißer, ein gieriger Vulkan, der zu viel scharfes Curry gefressen hat, aber Dr. Hartfield erlöst mich, indem er wie jedes Mal zum Ende einer Vorlesung zu seiner Folie mit dem Leitspruch der Austin Hall wechselt:

ANDTHOUGHSHALTTEACHTHEMORDINANCESANDLAWSANDSHALTSHEWTHEMTHEWAYWHEREINTHEYMUSTWALKANDTHEWORKTHATTHEYMUSTDO

Es ist ein biblisches Zitat aus dem Buch Exodus 18:20.

Und du sollst sie die Satzungen und die Gesetze lehren und ihnen den Weg zeigen, auf dem sie wandeln müssen, und das Werk, das sie tun müssen

Das weiß ich ziemlich genau, weil meine Eltern nicht nur Harvard sondern auch den katholischen Bibelunterricht sehr ernst genommen haben.

»Denken Sie immer dran: Recht haben und Recht bekommen sind zwei Paar Schuhe. Und nächste Woche will ich Sie alle in den richtigen Schuhen sehen.« Hartfield zwinkert. »Sie sind entlassen.«

Das übliche Summen meiner Kommilitonen schwebt an die gewölbte Decke des Vorlesungssaals, während sie sich aus den Klappstühlen erheben. Schnell werfe ich Schreibblock und Kugelschreiber in den Rucksack und springe auf, den Blick auf Ben gerichtet. Ich muss ihn erwischen, bevor er von seiner Fanbase umgeben ist. Er darf mir nicht entkommen. Das war für heute unser letzter Kurs zusammen, und er muss …

»Hey, Willow, warte.«

Ein Kälteschauer rieselt meine Wirbelsäule hinab. Ich habe nur einen schnellen Blick für Henry übrig, der sich an einer Reihe Studierender vorbeidrängelt. Er hat seine Ledertasche über die Schulter geschoben, trägt das übliche Poloshirt und Chino mit Hosenträgern und hat das Haar wie immer mit einem Seitenscheitel ordentlich gekämmt. Er sieht exakt so aus, wie der Sohn der Dekanin der Harvard Business School aussehen sollte.

»Sorry, muss los.« Ich spreche so leise, dass ich keine Ahnung habe, ob Harvards Musterstudent und Jahrgangsbester Henry Vanderbilt mich überhaupt versteht.

Ein Kommilitone hinter mir schnaubt verärgert, als Henry an ihm vorbeigreift und mein Handgelenk streift. »Willow, bitte.«

»Keine Zeit«, presse ich hervor und stolpere aus dem historischen Vorlesungssaal der Austin Hall. Vor mir erstreckt sich der Flur, durchzogen von Licht, das durch die Fenster hereinfällt und den Holzboden glänzen lässt. Die Wände sind verziert, mit dunklem Holz getäfelt und mit Porträts ehemaliger Rechtsgelehrter geschmückt. Sie starren mich mit ihren Blicken nieder, als würden sie sagen: Du, Willow Sullivan, rennst jemandem wie Benedict King hinterher? Wir hätten mehr von dir erwartet.

Ich schiebe mich an meinen Kommilitonen vorbei. Die Teppiche dämpfen meine Schritte. Ich halte mich an dem Galeriegeländer fest, damit mein winziges Ich nicht aus Versehen niedergetrampelt wird, bis ich Ben entdecke. Lässig geht er die Treppe runter. Ich könnte ihn rufen, aber das wage ich nicht. Der Flur ist überfüllt, und alle würden sich fragen, warum das schielende Mädchen mit der riesigen Brille, die ihr halbes Gesicht verdeckt, und den Jungsklamotten, die vor zehn Jahren angesagt waren, plötzlich verzweifelt nach dem King ruft, als wäre das hier eine Ivy-League-Version von Eine wie Keine.

Ben schlendert über den Teppich der Stufen und geht ins Foyer. Über ihm erstrecken sich die Rundbögen wie eine Krone, die die architektonische Pracht von Austin Hall symbolisiert. Eine Brücke in den Himmel für jeden Gelehrten, der dem Recht sein Leben verschrieben hat. Sie passen zu Ben, weil er der König von Harvard ist. Gleichzeitig passen sie nicht zu ihm, weil er ein Sünder ist.

Ben klatscht seinen Kumpel ab, Nolan Ashford, ebenfalls Footballspieler von Harvard Crimson. Wide Receiver.

»Wir sehen uns später«, ruft Ben.

Nolan schneidet eine obszöne Grimasse. »Wehe, du kommst zu spät, weil du Macks noch knacken willst.«

»Mackenzie lernt in der Widener Library.«

Nolan lüpft die Brauen. »Das war letzte Woche kein Hindernis für euch.« Er zwinkert. »Hat mir ein Vögelchen gezwitschert.«

»Und das Vögelchen ist zufällig die Bibliothekarin der Widener, die du geknackt hast.«

»Was soll ich sagen?« Nolan geht rückwärts durch die Lobby und hebt grinsend die Arme. »Sie ist heiß, Mann!«

»Sie ist über vierzig.«

»Und heiß!« Lachend verzieht Nolan sich durch die hölzerne Rundbogentür nach draußen.

Ich versuche, Benedict nicht zu verlieren, aber ich bin ein Zwerg von eins achtundfünfzig. Die anderen Studierenden ragen wie eine Mauer vor mir auf, und auch wenn einige sich in den Erkern hinter dem Stützbalken verkriechen, kann ich ihn nicht mehr sehen.

»Verdammt!«, stoße ich aus, als ich ins Freie trete. Vor mir erstreckt sich der Campus der Harvard University, ein Netz aus gepflasterten Wegen und sattgrünen Rasenflächen, gesäumt von historischen Gebäuden. Harvard Law ist eine eigene Welt, eingefasst von der riesigen Bibliothek in Langdell Hall und dem Littauer Center, in dem die Grads jedes Jahr stattfinden. Es ist das Gebäude, das ich als Kind wieder und wieder und wieder gemalt habe und das aussieht wie das Weiße Haus vom Präsidenten. Wir sind im Nordwesten vom Campus. Lange bevor ich hier angefangen habe, kannte ich jedes Institut auf dem Campus auswendig: Das Herzstück Harvard Yard ist der Ort, an dem die Touristen ihre Fotos vor der berühmten Widener Library schießen. Dann die Business School am Charles River, die Harvard Divinity School nördlich vom Harvard Yard, damit die Theologie-Nerds ihre besinnliche Ruhe genießen können, und südwestlich die Graduate School of Education. Kein Wunder also, dass manche noch im zweiten Semester mit einer Karte über den Campus rennen. Und ebenfalls kein Wunder, dass der König in seinem Herrschertum untertauchen kann wie Hades in der Hölle.

Ich suche den Parkplatz ab. Weit und breit kein breites Kreuz unter einem roten Harvard-Crimson-Hoodie mehr in Sicht. Ich sehe rüber zum Gannett House, dem Hauptsitz der Harvard-Law-Redaktion und einer kleinen Version vom Weißen Haus, aber da steht nur ein Typ mit Schnauzer neben einem der weißen Stützbalken und pafft Rauch in die spätsommerliche Mittagsluft.

Mein Eastpack hängt nur über eine Schulter, während ich die Stufen der Austin Hall heruntergehe. Meine Hose liegt bis über die Schnürsenkel auf, sodass nur eine weiße Spitze des Sneakers hervorlugt. ­Immer noch klopft mein Herz wie wild.

In meiner Jeanstasche vibriert mein Handy. Ein Stromstoß geht durch meinen Körper, und meine Hand zittert, als ich es herausnehme.

WHISPERS

Dir bleiben fünfzehn Minuten, um die Challenge zu bestätigen. Verweigerst du, wird deine Prüfung in Zivilprozessrecht unterirdisch. Machst du mit, erwartet dich ein Abenteuer und die Chance auf 1000 Sozialpunkte.

NIMMSTDUDIECHALLENGEAN, WILLOW?

JA

NEIN

»Siehst du dir die letzte Challenge an?«

Ich fahre zusammen. Sofort lasse ich das Handy sinken und drehe mich um.

Meine Cousine Brooklyn lehnt am gemauerten Turm der Austin Hall neben den drei ikonischen Rundbogeneingängen, einen Fuß dagegen gestützt, und blinzelt gegen die Sonne an. Auf ihren Lippen liegt ein leichtes Lächeln. »Wenn jemand so über dem Handy hängt, kann es nur der Newsfeed von Whispers sein.«

Whispers ist eine App, die kurz nach meinem Start in Harvard berühmt wurde. Es können sich nur Harvard-Studierende mit Nachweis anmelden, und der Feed ist ähnlich aufgebaut wie Instagram, nur mit dem Unterschied, dass er in Farben leuchtet. Rot, gelb oder grün. Wie eine Ampel. Rot bedeutet, der soziale Status der Person ist unter­irdisch und man sollte sie meiden. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Sozialpunkte aufzuwerten: durch Studenten-Challenges, die das Gesicht von Whispers namens Noktura willkürlich stellt, oder indem man regelmäßig auf irgendwelchen Sportveranstaltungen oder sonst was getaggt wird, was cool sein könnte. Niemand weiß, wer hinter der App steckt. Aber alle machen mit. Die meisten feiern diese Horror­figur Noktura wie einen Superstar. Es gibt etliche nachgemachte Kostüme, in denen viele Studierende auf Partys erscheinen.

Ich hasse diese App wie die Pest. Aber leider hat sie Macht. Sie spricht nicht nur leere Drohungen aus. Wenn sie dich warnt, dich für eine abgelehnte Challenge zu bestrafen, tut sie das auch. Brooklyn ist durch ihren Jane-Austen-Kurs in Literatur gefallen, weil sie sich geweigert hat, ihrem Kommilitonen während der Vorlesung an die Wäsche zu gehen. Dabei hat sie wochenlang für die Klausur geübt, und ich habe sie vorher abgefragt – sie wusste alles! Es kann nur so sein, dass Noktura an die Prüfungen gelangt ist und sie ausgetauscht hat. Und das … ist verdammt gruselig. Aber nicht nur das: Manchmal sind die Challenges so gefährlich, dass diejenigen, die mitmachen, im Krankenhaus landen. Die Leute blamieren sich, gefährden ihre Gesundheit, die Zukunft, und wofür das Ganze?

Ironischerweise für ihre Zukunft. Ich kann mir nicht erklären, wie diese App das geschafft hat, aber inzwischen weiß halb Amerika davon. Kein Wunder, wenn die Challenges in jeder möglichen Nachrichtenshow und auf Social Media diskutiert werden. Das Ding ist: Die App ist wie ein Ausweis. Sie erzählt den Unternehmen, wie beliebt man war. Wie man mit Tiefschlägen umgeht. Was man sich traut. Wie weit man geht, um zu gewinnen. Wie ehrgeizig man ist. Die Sozialpunkte zeigen, wie engagiert man ist, sich ins Leben zu stürzen und mit anderen zu interagieren. Jede Anwaltskanzlei bevorzugt scharfsinnige, abgebrühte und aktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ­anstelle von zurückgezogenen, ängstlichen Leuten. Wie gut kennt man den Charakter einer Person, wenn sie das Bewerbungsgespräch wochenlang perfektioniert hat? Gar nicht. Ein Whispers-Nachweis reicht, um zu sagen: hier, das habe ich gemacht, der bin ich, so ticke ich, so weit gehe ich – stellt mich ein.

Außerdem will niemand an dieser Uni ein Außenseiter sein.

Niemand will geächtet werden.

Steht man in der App auf Rot, weil die Sozialpunkte erbärmlich sind, ist das, als hätte man die Krätze im Gesicht.

Es mag trivial klingen, aber so ist es.

»Erde an Willow?«

Kopfschüttelnd reiße ich mich aus meinen Gedanken. »Ja?«

»Hast du dir die letzte Challenge angesehen?« Meine Cousine stößt sich von der Wand ab und kommt auf mich zu. Sie sieht elegant aus in ihrem braven Sommerkleid, in dem meine Eltern mich gern sehen würden. Die langen Ärmel wehen sanft im Wind und streicheln ihre Fingerknöchel. »Von Nolan?«

»Nein.«

Ihre Augen funkeln, als sie mich erreicht. »Es war witzig. Der Typ hat sich zwanzig Marshmallows in den Mund gestopft. Hier.« Sie zückt ihr Handy, tippt darauf herum und zeigt mir Nolans Feed. Im letzten Video ist er mit pausdicken Wangen zu sehen. Sabber läuft ihm aus dem Mund, während er versucht, Chubby Bunny zu sagen. Natürlich leuchtet sein Feed grün. Unter seinem Namen @NolanAshford stehen die Sozialpunkte neben einem Emoji einer goldenen Trophäe.

8580

Ich verziehe das Gesicht. »Das ist eklig.«

»Ja, aber es hat ihm fünfhundert Punkte gebracht.« Sie steckt das Handy weg. »Aber wahrscheinlich denkt keiner mehr dran, wo doch heute die große Challenge ansteht.«

»Mhm.«

»Hast du gehört?«

»Was?«

Sie schüttelt sich die Ärmel über die Hände. »Henry ist dabei.«

»Ach so, ja.« Wie könnte ich auch nicht? Henry prahlt seit zwei Tagen bei jedem, der es hören und nicht hören will, damit, dass er die größte Challenge des Semesters gewinnen wird. »Er will unbedingt beliebt werden.«

»Wird er aber nie. Gehen wir zusammen essen?«

»Klar.« Ich wollte sowieso in die Annenberg Hall, um Ben abzufangen. »Warum bist du überhaupt zur Austin Hall?«

»Nolan hat mir meine Notizen gegeben. Ich habe sie gestern bei ihm vergessen.«

Bei der Erwähnung seines Namens krampft mein Magen. Ich kann nicht verstehen, was meine Cousine mit dem Wide Receiver von Harvard Crimson verbindet. »Ihr habt zusammen gelernt?«

»Ja.« Ihre Augen leuchten auf. »Und den neuen Marvelfilm ge­sehen.«

»Läuft da jetzt was zwischen euch?«

Wir gehen die Cambridge Avenue entlang. Vor uns taucht die ­Memorial Hall auf. Das Gebäude mit seinen Türmen erhebt sich majestätisch in den Himmel, als würden die Spitzen versuchen, die Wolken zu durchbrechen. Gegenüber ist der Hauptcampus Harvard Yard überfüllt mit Studierenden, die in verschiedene Richtungen hetzen. In der Ferne, hinter der berühmten Memorial Church mit ihrer hohen Spitze, teilt das gotische Gebäude der Widener Library die Sonne.

»Nein«, seufzt Brooklyn. »Aber ich bin hoffnungslos verknallt, also warte ich einfach. Ich meine, wenn er mich einmal geküsst hat, wird er es irgendwann wieder tun, oder?«

»Meinte er nicht, du wärst seine beste Freundin?«

»Ja, aber seien wir ehrlich: Aus so was wird immer irgendwann mehr. Und seine Eltern lieben mich. Und sein Hund. Popcorn.«

»Nein, danke.«

»Was?«

»Ich möchte nichts.«

»Was möchtest du nicht?«

»Popcorn.«

Einen Moment starrt Brooks mich an, dann lacht sie. »Das ist der Name von Nolans Hund!«

»Oh.«

»Ja, aber ich muss zugeben, eventuell habe ich ihn bestochen. Mit selbst gebackenen Leckerlies aus Pansen.«

»Pansen?«

»Ja, Willow, Pansen.«

»Du hast dich in die Küche gestellt, um den größten der vier Mägen eines Wiederkäuers in Plätzchen zu verwandeln, damit …«

»Leberwursttopping.«

»Was?«

»Die Plätzchen hatten ein Leberwursttopping.«

»Und das alles, damit der Hund deines besten Freundes dich mag, damit dein bester Freund dich mag?«

»Damit mein bester Freund mich mehr als nur mag.«

»Brooks«, murmele ich, »du weißt, ich liebe dich, aber ich muss dir sagen, dass du dich jedes Mal wie besessen verhältst, wenn du dich verknallst.«

»Besessene Herzen benötigen besessene Maßnahmen.«

»Das ist nicht gesund«, sage ich, aber sie zuckt nur die Achseln. Seit Brooklyn zum ersten Mal verliebt war, hatte ich jedes Mal Angst, es würde wieder passieren. Sie ist anfällig für zerreißenden, qualvollen Liebeskummer, weil sie sich in jeden Flirt reinstürzt, als würde sie ihre ganz persönliche Wie-ein-einziger-Tag-Lovestory erwarten. Und selbst wenn die Kerle sie längst abgeschossen haben, kann sie nie wieder loslassen. In ihrem Zimmer hat sie einen ganzen Schrein an Verflossenen, denen sie hinterhertrauert, mit Fotos und allem. Ich befürchte, es hat etwas mit dem Tod ihrer Mutter letztes Jahr zu tun und der krankhaften Angst, allein zu enden, weil sie sieht, wie sehr ihr ­Vater leidet. Wahrscheinlich auch ein Grund, wieso sie sich in den letzten Monaten mehr als einen Typen geangelt hat.

»Pass einfach auf dein Herz auf«, murmele ich.

Wir haben die Memorial Hall erreicht. Die feinen Details sind atemberaubend: kunstvoll gemeißelte Steinreliefs, Buntglasfenster, die das Licht einfangen und in ein Kaleidoskop aus Farben verwandeln, und schmiedeeiserne Leuchten, die wie mittelalterliche Fackeln wirken. Ich liebe alles an diesem Gebäude. Es grenzt an das Science Center und damit an das Food Lab im Physik Department, weshalb ich naiv war zu glauben, es wäre nie überfüllt. Aber schon nach meiner ersten Woche auf Harvard musste ich feststellen: scheinbar lieben die Leute es, in einer großen Halle zu essen, die aussieht, als wären wir in Hogwarts.

Ich vermisse jedoch meinen Ravenclaw-Tisch.

»Ich versuch’s.« Brooklyn streicht sich das braune Haar aus der Stirn und hält mir die Tür auf. Jedes Mal, wenn ich die Memorial Hall betrete, habe ich das Gefühl, das Antlitz mit meinem Gammler-Stil zu beschmutzen. »Wann geht die Party bei euch los heute Abend?«, fragt sie.

Unsere Schritte hallen von dem Marmorboden, über den schon so viele Generationen vor mir gegangen sind, von Gelehrten bis hin zu Präsidenten. Über uns spannt sich eine Gewölbedecke, die Wände sind von Steinbögen durchzogen, getragen von Säulen, die in Schnitzereien und Reliefs enden. Aber das Herzstück der Memorial Hall ist das riesige Buntglasfenster, das verschiedene Bilder und Formen zeigt. Das einfallende Licht wird in einem Spektrum aus Gold-, Rubin- und ­Saphirtönen gebrochen.

»Um acht«, murmle ich, wobei sich sofort wieder ein rumorendes Gefühl in meinem Magen breitmacht.

Jedes Mitglied in der Alpha-Phi-Omega-Verbindung hat eine Aufgabe. Ich bin die Veranstaltungskoordinatorin, und die Party heute Abend ist seit Wochen geplant, weil es eine wichtige Alumni-Reunion werden soll. Es geht um viele Spendengelder für soziale Projekte, alles ist bis ins kleinste Detail von mir durchdacht worden, aber jetzt …

Als würde Whispers meinen Gedanken lauschen und mich verhöhnen wollen, vibriert mein Handy erneut. Ich weiß, dass es die App sein muss, weil mir sonst nie jemand schreibt. Nur Brooks, aber die steht neben mir.

Zehn Minuten, denke ich. Zehn Minuten für meine Entscheidung.

Wir betreten die Annenberg Hall durch die große Flügeltür. Die Decken sind endlos hoch, doch statt Dumbledores leuchtendem Sternenhimmel über der großen Halle sind diese mit kunstvollen Holzbögen verziert. An jedem von ihnen baumelt ein Kerzenleuchter, dessen flackerndes goldenes Licht die Köpfe unserer Kommilitonen in sattes Gold hüllt. Vom anderen Ende der Halle sendet die Sonne gleißendes Licht durch das Buntglasfenster und erhellt das Kirschbaumholz der getäfelten Wände.

Brooks und ich holen uns etwas zu essen und setzen uns mit den Tabletts an einen der langen Holztische. Jedes Mal kommt es mir so vor, als würden die in Rüschen und Korsetts gezwängten Persönlichkeiten in den Gemälden mit ihren Blicken meinen Schritten folgen und mich für meine stillosen Jungsklamotten tadeln. Manchmal überlege ich, ob es sich ändern würde, wenn ich ihnen den Grund dafür ins Gesicht brüllen würde. Vielleicht sind sie magisch verzaubert und hätten Mitleid mit mir, wenn ich ihnen den erbärmlichen Fakt auf den Tisch knalle, dass ich mich anziehe wie ein Kerl, weil meine Eltern so verzweifelt einen Jungen wollten, dass sie es mich immer haben spüren lassen. Es gibt mir das Gefühl, ihnen auf verschrobene Weise gerecht zu werden. Was lächerlich ist, weil sie immer wollten, dass ich in Kleidchen rumrenne. Wenn wir schon ein Mädchen bekommen haben, zieh dich doch bitte auch wie eines an.

Wenn ihr schon kein Mädchen bekommen wolltet, zieh ich mich wenigstens maskulin an. Für euch, okay?

»Hast du das Gerücht über Mackenzie gehört?«, fragt Brooks, während sie ihre Vollkornspaghetti auf die Gabel rollt. »Es war Thema in einem Thread auf Whispers.«

»Bens Freundin Mackenzie?«

»Wer sonst?«

Ich zucke die Achseln, schiebe mir ein Stück Süßkartoffel in den Mund und scanne die Tische der Annenberg Hall ab. »Was ist mit ihr?«

»Sie soll einer Freundin erzählt haben, dass sie Ben auf dem Ball einen Antrag machen will.«

Ich wende den Blick von einem Studenten ab, der gerade unauffällig einen Popel in seine Serviette schmiert, und starre Brooklyn entgeistert an. »Nach dem großen Footballmatch gegen Yale?« Sie nickt, aber das reicht mir nicht. »Der Unity Ball, der in diesem Jahr von unserem Verbindungshaus organisiert wird?«

»Gibt es noch sonst noch einen Unity Ball?«

Ich blinzle. »Das kann sie nicht machen!«

»Wieso nicht?«

»Weil das vom eigentlichen Motto ablenken würde und niemand mehr die Einheit in Vielfalt, sondern die Verlobung des Star-Quarterbacks von Harvard Crimson und seiner Cheerleaderin feiern würde!«

Brooks zieht die Brauen in die Stirn. Das Licht der Kerzenleuchter bricht sich in ihrem Brauenpiercing. »Oder weil du eifersüchtig bist?«

»Ich bin nicht eifersüchtig!«

»Hey, alles cool, wer wäre das nicht?«

»Ich«, beharre ich. »Ich wäre nicht eifersüchtig, Brooks. Es geht um ein wichtiges Thema, um die Einheit verschiedener Ethnien und Kulturen, und ich will nicht, dass irgendein schwingender Pompon-Antrag das ruiniert.«

»Oder du willst nicht, dass der King von Harvard – der erste und einzige Junge, der dich je geküsst hat und dir absolut verfallen war – eine andere heiratet.«

Meine Wangen werden heiß. Die Gabel rutscht ab, und die Süßkartoffel, die ich gerade aufpicken wollte, fliegt durch die Luft und landet auf meiner Hose. »Das war in der Grundschule. Vierte Klasse. Das ist längst verjährt.«

Brooks wackelt mit den Brauen. »Küsse verjähren nicht, Süße.«

»Ich war neun!«

»Und er war so romantisch und hat es in einer Cinderella-Kutsche im Pfadfindercamp getan.«

»Die Cinderella-Kutsche war verkommen und mit Unkraut verwuchert. Da waren überall Spinnweben und Käfer.«

Sie seufzt. »Klar, dass du daran hängst. Ich wünschte, er wäre mein erster Kuss gewesen und nicht Schnotter-Sam, der immer getrocknete Rotze an der Nase kleben hatte.«

»Ich ersteche dich gleich mit meiner Gabel.«

»Wie kannst du eigentlich mit ihm zusammenwohnen?« Kauend neigt Brooks den Kopf. Dabei verziehen sich die vielen Muttermale auf ihrer hellen Haut. »Ich meine, hast du dich nie dabei erwischt, wie du dir gewünscht hast, da würde was zwischen euch laufen?«

»Nein«, lüge ich.

»Habt ihr jemals darüber gesprochen, warum es nie weiterging?«

»Nein.«

»Wieso fragst du dich das nicht?«

»Weil er auf eine staatliche Schule gewechselt ist und dieser dämliche Kuss nichts zu bedeuten hatte.«

»So wie es nichts zu bedeuten hat, dass du die ganze Zeit, seit wir über ihn sprechen, die Giraffe machst?«

»Wie bitte?«

»Du bist nicht gerade unauffällig.« Sie grinst. »Er ist nicht hier.«

»Wer?«

Sie verdreht die Augen. »Benedict.«

»Ich habe ihn nicht gesucht.«

»Sicher.« Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, entsperrt es und schiebt es über den Tisch. Mit der Gabelspitze deutet sie auf das ­Display. Soße tropft auf das Whispers-Logo in der Ecke. »Hier, er wurde von Nolan beim Footballtraining getaggt. Hat ihm, warte …« Sie scrollt zum Anfang seines Feeds, zu der astronomischen Zahl seiner Sozialpunkte, 32 480 für @BenedictKing. »Ah, krass, neunhundert Punkte hat er fürs Training bekommen. Crazy.«

»Ich kriege gerade mal hundert, wenn ich von Hazel beim Moot Court getaggt werde«, entgegne ich bitter. Hazel ist meine einzige Freundin im Semester, von der ich glaube, dass sie mich echt mag, ganz egal, wer meine Eltern sind. Und sie ist die Einzige, die gleichzeitig zu den Coolen gehört, sich aber nicht daran stört, mit mir abzuhängen.

Unter ihren langen Wimpern wirft Brooks mir einen Dein-Ernst?-Blick zu. »Moot Court ist nicht Football, Süße.«

»Es ist eine simulierte Verhandlung.«

»Sag ich doch.« Sie trinkt einen Schluck und wirft mir über den Rand ihrer Tasse einen bedeutsamen Blick zu. »Nicht. Football.«

Ich verdrehe die Augen. »Weil ich ja nur Menschen davor bewahren will, unschuldig in den Knast zu wandern, statt anderen mit ­meinem gepolsterten Busen einen Bodyslam zu geben. Diese App ist unfair.«

»Das Gesetz auch, und trotzdem leben wir danach.« Sie nimmt ihr iPhone und beantwortet eine Nachricht, die aufgeploppt ist. »Weil sie uns beiden keine andere Wahl lassen.«

In dem Moment vibriert mein Handy erneut. Ich ziehe es heraus und blicke unter dem Tisch auf die Message.

WHISPERS

NOCHEINEMINUTE. ENTSCHEIDEJETZT, ­WILLOW.

JA

NEIN

Mein Herz wummert gegen meine Brust, meine Finger zittern. Es fühlt sich an, als würden mir gleich die Rippen brechen.

»Willow?«, sagt Brooks. »Alles okay?«

»Ja«, murmle ich, genau in dem Moment, als mein Finger auf dem JA landet. O Gott, was habe ich getan?

Die Nachricht verschwindet. Eine Sekunde vergeht, dann erscheint ein neuer Schriftzug.

WHISPERS

DIRBLEIBENSIEBENSTUNDEN, UMDICHAUFDEM ­ROTEN X VORLANGDELLHALLEINZUFINDEN.

MÖGENDIESPIELEBEGINNEN.

»Willow?«

Mein Kopf fühlt sich wie elektrisiert an, als ich aufsehe. »Ja?«

»Du bist so blass.« Brooklyn wirkt besorgt. »Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja.« Schluckend schiebe ich das Tablett von mir und erhebe mich. »Ich muss noch was erledigen. Wir sehen uns später.«

Benedict

Der Himmel über dem Footballfeld strahlt in diesem tiefen Blau, das sich nur im frühen Herbst zeigt. Als würde der Ozean die Seiten wechseln. Schweiß perlt von meiner Stirn und vom Nacken in das Trikot. Bis gerade war ich mit den anderen am Ende des Spielfelds im Hantelbereich und habe Gewichte gestemmt, aber jetzt will Coach Davies einen Zug mit uns elf Hauptspielern durchgehen.

Neben mir dreht Nolan seinen Helm in den Händen. Das schwarze Gitter reflektiert das Sonnenlicht und blendet mich. Sein Blick gleitet zu den Cheerleaderinnen, die auf der anderen Seite des Felds trainieren. »Warum schlägt mein Herz für diese Tänzerinnen mehr als nach einem heftigen Training?«

»Weil dein Herz auf deinen Schwanz hört«, entgegne ich.

Seufzend tätschelt Nolan seinen Tiefschutz. »Stimmt. Der Große hat einen besorgniserregenden Einfluss auf mein lebenswichtigstes Organ. Ich sollte ihn mehr fördern.«

»Du förderst ihn. Manchmal mehrmals täglich, und das sehr laut an allen möglichen Orten, danke dafür.«

Nolan lacht. »Du doch auch, Bro. Dich und Mackenzie kann man drei Meilen entfernt hören.«

Ich ziehe den schwarzen Handschuh zurecht und beobachte ­Mackenzie, die gerade von ihren Teamkolleginnen in die Luft geworfen wird. Gestern haben wir es dreimal getrieben, morgens in der Uni, mittags im Verbindungshaus und abends bei ihren Eltern. Und jedes Mal fühle ich mich danach gleich: geil und beschissen. Ihre ­Eltern gehören zu den großzügigen Spendern des Stipendiaten­programms, und immer, wenn ich das Gefühl habe, Macks und ich passen nicht zusammen, kommt dieser kleine scheiß Teufel in meinen Kopf und behauptet, ich wäre ein undankbares Drecksschwein.

»Jungs!«, brüllt Coach Davies vom Mittelfeld. Er steht vor dem großen roten H zwischen der 40- und 50-Yard-Linie, drückt eine Hand in den Rücken von Cardinal, unserem Linebacker, und gibt ihm einen Schubs über den Platz, während seine Adleraugen sich auf Nolan und mich stürzen. »Kommt her!«

Wir joggen über das Spielfeld zu ihm. Er legt uns jedem eine Hand auf die Schulter und sieht uns an, als würde er uns nun in den Krieg schicken. »Ich konnte gestern Nacht nicht pennen.«

»Und?«, frage ich.

»Und dann habe ich mir diesen Weiberfilm angesehen.«

»Welchen?«

»Den mit dieser von High School Musical.«

»Vanessa Hudgens?«, fragt Nolan. Ich werfe ihm einen Blick zu, und er zuckt die Achseln. »Ads hat mich gezwungen, alle Filme mit ihr zu sehen.«

Ads ist Nolans zwölfjährige Schwester und in mich verknallt. Letzte Woche hat sie mir ein Herzchenarmband geschenkt und angefangen zu heulen, als ich es vorgestern bei ihrem Tanzauftritt nicht getragen habe.

»Und?«, wiederhole ich, drehe meinen Helm in der Hand und grinse Coach Davies an, während ich die Augen wegen der Sonne zusammenkneife. »Hast du getanzt?« Ich mache einen Hüftschwung. »You are the music in me. Nananana – oh. Nananana.« Ich halte Nolan ein imaginäres Mikro vors Gesicht, und er singt: »Yeah!«

Ein paar Studentinnen am Spielfeldrand kichern schwärmerisch.

Coach Davies verdreht die Augen. »Nein, es war dieser Prinzessinnentausch-Film.«

»Prinzessinnen?« Meine Brauen wandern die Stirn hoch. Dann lege ich die Hände an den Mund, sehe mich verschwörerisch um und raune: »Hast du noch jemandem außer uns erzählt, dass du dir nachts einen Prinzessinnenfilm angesehen hast?«

»Die Harmonie beruhigt mich«, sagt er.

»Und was war jetzt mit der Hudgens-Prinzessin?«

»Sie haben ihre Rollen getauscht. Die eine ist ins Leben der anderen geschlüpft. Und da kam mir dir Idee, dass ihr das auch machen könntet.«

Ich starre meinen einsneunzig großen, werwolfsbreiten Coach an und versuche zu verarbeiten, dass er Prinzessinnen aus seinen Löwen machen möchte. »Klar«, spotte ich, »wo ist das Röckchen? Kann’s kaum erwarten, meine Waden in ein Perlonstrümpfchen zu zwängen.«

»Für die Laufmaschen kommt aber Harvard Crimson auf, oder?« Nolan streckt sein Bein und betrachtet die dicken Muskeln in den ­Unterschenkeln unter den schwarzen Football-Strümpfen. »Bekommen wir auch Glitzer? Ich möchte funkeln wie das Sternchen, das ich bin.«

»Irgendwann wird euer Sarkasmus euch öffentlich das Genick brechen«, seufzt Coach Davies.

»Nah«, selbstbewusst streicht Nolan sich das dunkle Haar zurück, »das wäre eine große Wendung. Jetzt gerade sorgt er dafür, dass die Frauenwelt uns zu Füßen liegt.«

»Okay, ihr Rockstars, wir haben keine Zeit.« Davies wirft einen schnellen Blick auf seine Apple Watch, dann sieht er uns eindringlich an. »Was den Tausch angeht: Ihr macht einen Schattenwechsel.«

»Was soll das sein?«, frage ich.

Seine Augen funkeln vor Aufregung. »Ben, du beginnst als Quarterback und Nolan als dein Wide Receiver. Ihr zwei kennt eure Chemie auf dem Feld besser als jeder andere.«

Ich nicke, und in Nolans Gesichtsausdruck erkenne ich, dass auch er sich an die unzähligen Stunden erinnert, die wir zusammen verbracht haben, um uns aufeinander abzustimmen – sei es auf dem Feld oder im Privatleben.

»Aber hier ist der Clou«, fährt Coach Davies fort. »Sobald der Ball gesnapped ist und du, Ben, ihn in der Hand hast, wird Nolan zurückkommen, um ihn dir abzunehmen, während du dich als Receiver positionierst.«

»Ein Trickspiel?«, sage ich.

Nolan lacht. »Nein, warte, mehr als das, oder?«

Unser Coach nickt. »Richtig. Das wird ein Doppelding. Die Verteidigung konzentriert sich voll auf Nolan, der den Ball in den Händen hält, aber dann passt er zu dir, Ben.«

Ich sehe vor mir, wie das funktionieren könnte. Die Defensive wird verwirrt sein. Da gibt es nur einen Haken. »Sie werden sich schnell daran gewöhnen.«

Coach Davies klopft mir auf die Schulter. »Dann kehrt ihr zum normalen Spiel zurück, und sie werden immer noch auf den Schattenwechsel warten.«

»Weil sie glauben, dass wir es weiterhin so machen«, murmelt Nolan. »Das ist genial.«

Er hat recht. Es ist ein brillanter Zug. Mit unserer Geschwindigkeit und Koordination können wir das durchziehen.

»Wann setzen wir das ein?«, frage ich.

»Beim nächsten Spiel.« Coach Davies’ Blick wandert zu den Rängen, die das Spielfeld umgeben. Jetzt gerade sitzen nur ein paar Fans dort, überwiegend Frauen, die schwärmerisch in unsere Richtung starren, aber bei den Spielen ist jeder Platz heiß begehrt. »Übt es. Lernt jeden Schritt auswendig.« Er sieht wieder zu uns. »Macht. Es. Perfekt.«

In dem Moment schaltet Trevor, einer unserer Cornerbacks, die Boombox ein, über die wir meistens beim Training Musik hören. Der Beat von We Will Rock You schallt über den ganzen Platz. Wir joggen auf unsere Positionen. In meinem Augenwinkel glitzern die Pompons der Cheerleaderinnen und die Sonne auf ihren Haaren.

Buddy you’re a boy, make a big noise

Playing in the street, gonna be a big man someday

Ich positioniere mich, schnüre meine Schuhe fester und spüre das Adrenalin in meinen Adern pulsieren. Jedes Mal, wenn ich auf dem Feld stehe, ist da dieses Kribbeln in meiner Magengrube, das sich für den nächsten Spielzug bereit macht.

Coach Davies pfeift, um die Offensive zusammenzutrommeln.

»Nolan«, raune ich.

Durch das Gitter seines Helms sieht er zu mir.

»Sei bereit, tief zu gehen.«

Er nickt. Auf meinen Lippen erscheint das Lächeln eines Raubtiers.

You got mud on your face, you big disgrace

Kicking your can all over the place singing’

PFIFF.

»Down, set, hut!«, rufe ich und snappe den Ball.

We will, we will rock you, sing it!

Ich täusche einen Handoff an den Running Back vor und spüre, wie die Verteidigung mir nachsetzt. Nolan startet durch.

We will, we will rock you!

Ich verlagere mein Gewicht, um mich für den Pass bereit zu machen. Für einen Moment steht die Zeit still. Durch die Defensive Line geht ein Beben, das bis zu mir zieht. In allen Fasern meiner Nerven kann ich spüren, dass sie mir auf den Fersen sind. Auf diesem Feld ist jeder Schritt mit der Erde verwoben, wie ein riesiges Netz aus Verbindungen, das die Körper der Spieler elektrisieren lässt. Aber ich halte den Ball fest und werfe ihn mit aller Kraft.

Buddy, you’re a young man, hard man

Shouting in the street, gonna take on the world someday!

Der Ball schießt durch die Luft. Nolan streckt sich danach aus. Ein perfekter Catch. Mein Kumpel landet auf dem Rasen, der Ball sicher in seinen Armen.

You got blood on your face, you big disgrace

Waving your banner all over the place, singin’

»TOUCHDOWN!«, ruft Coach Davies, und unter den Zuschauern bricht Jubel aus.

We will, we will rock you, sing it!

We will, we will rock you!

Die Cheerleaderinnen kreischen mit wackelnden Pompons.

»Das ist mein Freund!«, ruft Mackenzie, ein Strahlen in ihrem wunderschönen Gesicht. »Habt ihr gehört, Ladies?« Sie kichert. »Benedict King gehört mir!«

Ich werfe ihr ein Lächeln zu, woraufhin einige der anderen Mädchen ein schwärmerisches Seufzen von sich geben. Was noch lauter wird, als ich mein Trikot hochschiebe, um eine Schürfwunde an meinem Bauch zu betrachten. Ich schwitze, und, fuck, das brennt!

»Scheiße, gebt euch mal seine Bauchmuskeln«, ruft eine von der unteren Tribüne, und ihre Freundinnen quittieren es mit einem kollektiven Kichern. »Im Ernst, sieht doch aus wie bearbeitet, oder nicht?«

»Hey, und meine?« Nolan macht einen Schmollmund, ehe er sein Trikot hochzieht und allen seinen verschwitzten Oberkörper präsentiert. »Das war harte Arbeit, Ladies!«

»Wisst ihr, was ich an Football am meisten liebe?«, ruft eine Cheerleaderin, und als sie die Aufmerksamkeit aller hat, fügt sie hinzu: »Diese engen Klamotten!«

»Oh, ja! Bens Körper könnte in einem Kunstmuseum ausgestellt werden«, kichert Mackenzie.

Ich lächle, damit die Leute denken, dass mir das gefällt, aber eigentlich finde ich es scheiße. Ich bin wesentlich mehr als meine Muskeln. Aber ich glaube nicht, dass Macks mit mir zusammen wäre, wenn ich nicht im Footballteam wäre oder von anderen als der King von Harvard bezeichnet werden würde. Traurig, aber wahr.

»Und schon wieder werde ich vergessen.« Nolan schnalzt mit der Zunge, dann wirft er mir den Football zu. Ich bin überrascht, trotzdem fange ich ihn perfekt. Meine Reflexe können das im Schlaf. Nolan breitet die Arme zu den Mädels aus. »Seht ihr, das war auch Kunst! Ich schwöre, eines Tages werden sie ein Foto von meinem Wurf machen und dafür Eintritt verlangen!«

Eine Studentin in Harvard-Football-Hoodie ruft: »Wir würden zahlen, um es zu sehen!«

Ich grinse schief. »Von mir auch?«

»Sofort!«

»Ben«, zischt Nolan. »Du hast doch schon deinen Körper, der da ausgestellt wird.«

»Nein«, entgegne ich. »Mir würden die Füße einschlafen, und ich hasse dieses Gefühl, als würden sich Ameisen ein warmes Nest unter meiner Haut bauen.«

»Ich würde dir die Füße massieren«, lacht eine andere. »Und dafür bezahlen!«

Grinsend werfe ich den Ball von der einen in die andere Hand. »Wie viel?«

»Kommt drauf an, wie viel ihr uns gebt«, entgegnet die mit dem Harvard-Pullover frech.

Nolan grinst. »Bringt Freundinnen mit, ja?«

»Ich unterbreche das Vergnügen nur ungern, Babe«, Mackenzie kommt über das Feld auf mich zu, »aber nur ich darf diesen Körper nackt und verschwitzt sehen.« Um ihr Revier zu markieren, schiebt sie eine Hand unter mein Trikot und streicht mir über die Haut. Dabei spüre ich … exakt nichts.

Trotzdem grinse ich auf sie hinab. »Ich würde es für uns tun. Das Geld legen wir an.«

»Brauchen wir nicht«, entgegnet sie fest, »wir werden genug verdienen, sobald du in die NFL gewechselt bist und ich das Unternehmen meiner Eltern übernehme.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst mich. Ein paar meiner Kollegen grölen, als plötzlich der Song wechselt. Irgendeiner dieser Penner hat Kiss Me von Sixpence None the Richer auf Spotify angemacht.

Aber plötzlich geht das Gegröle in ein Gemurmel über, das nicht passt. Ich löse mich von Mackenzie, hebe den Blick und …

… kann nicht glauben, wen ich da sehe.

Willow Sullivan läuft über das Spielfeld.

Willow fucking Sullivan!

Hier, auf dem Footballfeld.

Mit gerecktem Kinn, stolzer Haltung und einem Ausdruck, als würde sie in den Krieg ziehen. Sie sieht so sonderbar wie immer aus. Ihr ausgebeulter Harvard-Hoodie, kein bisschen tailliert, definitiv Männergröße, verschluckt ihren winzigen Körper. Der Saum ihrer Baggyjeans ist ausgefranst und zeigt nur die Spitze ihrer Oldschool-Nikes. Über die Schulter trägt sie ihren Eastpack, den sie schon in der Grundschule hatte, nachdem einer der Jungs ihren Feentornister in den Schlamm geworfen hatte.

Ich habe keine Ahnung, wieso sie sich so anzieht. Die Sullivans haben scheiße viel Geld. Ihre Mutter ist Richterin im Supreme Court und ihr Vater Special Agent beim FBI. Beide haben einen Summa-cum-laude-Abschluss auf Harvard gemacht und sind streng katholisch. Ich wette, wenn es nach ihnen ginge, würden sie alles tun, um ihre Tochter in hochgeschlossenen Kleidchen zu sehen. Mit ihren langen weißblonden Haaren, dem porenfreien Gesicht und den hellen Augen könnte sie eine skandinavische Elfe sein, aber nein – Willow Sullivan, das schielende Mädchen mit der riesigen Drahtbrille aus den 20ern, auf Harvard überall bekannt als Sheely Willy, läuft rum wie Eminem, der das Ghetto einnehmen will.

»Sieh einer an«, ruft Abigail, eine der Cheerleaderinnen und ­Mackenzies Freundin, »die Bibliotheksprinzessin hat das Sonnenlicht gefunden!«

»Oder eher Bibliotheksprinz?«, entgegnet Hilary Foldon, eine Architekturstudentin mit kinnlangen schwarzen Haaren und Rosenknospenmund, von dem alle Kerle schwärmen, er wäre überaus ­blowjobtauglich.

»Brauchtest du eine Landkarte, um herzufinden, Miss Independent?«, fügt Abigail hinzu.

»Nein«, grunzt Hil. »Sie hat sich verlaufen und braucht eine, um wieder wegzufinden.«

Ich frage mich, wo Dee ist. Deepika Shan, beliebteste Cheerleaderin und Prinzessin Harvards. Sie hätte ihre Mädchen zurechtgewiesen, ganz sicher. Normalerweise schwänzt sie kein Training.

Willow gibt einen Scheiß auf die Kommentare. Sie stolziert zu dem Song über das Feld auf mich zu, als gehöre es ihr.

Kiss me, (kiss me) down by the broken tree house

Swing me, (swing me) upon its hanging tire

»Ey, Ben«, ruft Trevor, der Cornerback, »ich glaube, das Museumsstück will zu dir!«

»Halt die Fresse, Trevor.«

»Keine Sorge, Willy!«, brüllt er. »Ich werfe den Ball nicht zu dir.« Er deutet an, woraufhin Willow kurz zusammenzuckt, und alle lachen. »Oder vielleicht doch?«

»Trevor«, mahne ich.

Entschuldigend hebt er die Arme. »Schon gut, schon gut. Ganz ehrlich, wenn du ihre Klamotten ausblendest, geht’s sogar. Ihr Gesicht ist süß.«

Willow beachtet ihn nicht.

Oh, kiss me, beneath the milky twilight

Lead me out on the moonlit floor

»Redet, was immer ihr wollt, Jungs.« Sie schiebt die Drahtbrille höher auf die Nase und reckt das Kinn. »Wenigstens hinterlasse ich bleibenden Eindruck auf Harvard statt nur Grasflecken.«

Nolan lacht laut auf. »Scheiße, sie hat’s uns gegeben.«

Mein Mundwinkel zuckt. Was Mackenzie nicht zu gefallen scheint. Sie schlingt die Arme um meinen Hals, stellt sich wieder auf die Zehenspitzen und küsst mich.

Aber Willow hat uns erreicht. Ich spüre ihre Energie wie das Beben der Footballspieler, wenn sie über das Feld donnern. Entschieden löse ich mich von Mackenzie.

»Komm schon«, raunt sie. »Sheely Willy sieht doch eh nichts.«

Ich funkele sie an. »Hör auf, sie so zu nennen.«

Macks öffnet den Mund, um zu protestieren, aber Willow kommt ihr zuvor.

»Schon gut. Ist mir egal.«

Mackenzie wendet den Kopf und sieht Willow an. Einen Moment scheint sie zu überlegen, ob sie etwas entgegnen soll, aber wieder lässt Willow ihr keine Möglichkeit. Entschieden sieht sie mich an. »Können wir kurz reden?«

Ich blinzle. Diese Situation ist verrückt. Willow Sullivan kommt nicht aufs Football-Feld und will reden. Sie kommt überhaupt nie für irgendwas aufs Football-Feld. Sie meidet diesen Ort, als würde das Harvard-H des Stadions nukleares Gift absondern. Und erst recht redet sie nicht mit mir. Die letzte vernünftige Unterhaltung hatten wir … ich weiß nicht. In der Grundschule? Seit ich im Verbindungshaus eingezogen bin, hat sie nie mehr als zwei Wörter pro Trag mit mir gewechselt, wenn es sich vermeiden ließ. Dieses Mädchen ignoriert mich, als wäre ich ein Geist. Oder Säure für ihre brillanten Hirnzellen. Als hätte sie Sorge, ich könnte ihre goldene Zukunft ruinieren, wenn sie mich nur ansieht.

Und ich hatte nie ein Problem damit. Ich halte mich nicht für etwas Besseres, bei Gott, ganz sicher nicht, und wenn es auf den Tisch käme, würde ich auf jeden Fall beteuern, dass sie die Gewinnerin von uns beiden ist, aber … wir leben in unterschiedlichen Welten. Ich bin der Quarterback, sie ist der Nerd. Ich verbringe meine Freizeit mit den Footballspielern und Cheerleaderinnen, sie verbringt ihre in der Bibliothek. Was nicht heißt, dass ich sie nicht mag. Sie ist süß. Aber, na ja, ihr wisst schon.

Sie muss bemerkt haben, dass ich sie verwirrt anstarre, denn plötzlich hebt sie die Brauen. »Also?«

Ich blinzle. »Äh, ja, okay.«

»Echt jetzt?« Entgeistert sieht Mackenzie mich an. »Wir wollten uns ein Sub holen, Ben.«

»Dauert nicht lange«, fragend sehe ich Willow an, »oder?«

»Nicht länger als nötig«, entgegnet sie knapp.

»Schön.« Mackenzie stößt ein genervtes Seufzen aus, ehe sie von mir ablässt. »Wir treffen uns auf dem Harvard Yard.«

Ich nicke, dann folge ich Willow das Spielfeld runter. Ihre Haare schwingen von der einen zur anderen Seite, die Hände hat sie in die Hosentaschen geschoben.

Meine Gedanken wandern elf Jahre zurück, zum Pfadfindercamp, als wir in einem Team für die Schnitzeljagd waren und ich sie in eine alte Kutsche gezogen habe. Ich war so dermaßen verknallt in Willow Sullivan. Sie war die Einzige auf dieser versnobten Privatschule, die cool und schlagfertig gewesen ist. Damals, und das erscheint mir jetzt fast wie ein anderes Leben, war sie das beliebteste Mädchen der Klasse und ich der seltsame Typ, der bei seiner Tante lebte. Ich weiß noch genau, wie sie in ihrer rechthaberischen Stimme gesagt hat: »Das hier ist kein markierter Punkt der Schnitzeljagd, Ben. Wir werden verlieren, und ich riskiere nicht, Zweite zu werden, nur um mir dieses alte, verschimmelte Holzding anzusehen.«

Ich habe gesagt, dass sie das schönste Mädchen auf der ganzen Welt ist, ihr einen scheuen Kuss gegeben und danach nie wieder mit ihr geredet, weil ich dachte, sie hasst mich.

»Also.« Willow wirbelt herum. Erst jetzt nehme ich wahr, dass sie mich unter die Tribüne geschleppt hat. Hier ist es dunkler als auf dem Feld, nur ein paar einzelne Sonnenstrahlen finden den Weg zu uns. »Ich muss dich um etwas bitten.«

Verwirrt sehe ich sie an. Ich halte meinen Helm noch immer in den Händen. »Und um was?«

Sie rümpft die Nase, als hätte sie sich seit Stunden vor dieser Antwort gefürchtet. »Du musst die Organisation für heute Abend übernehmen.« Als ich sie nur weiterhin ahnungslos anstarre, fügt sie hinzu: »Für die Verbindungsparty.«

»Warum?« Ich runzle die Stirn. »Du bist Veranstaltungskoordinatorin für Alpha Phi Omega.«

»Und du Wohnkoordinator.«

»Hausmeisterarbeiten haben wenig mit Partys zu tun.« Mein Mundwinkel zuckt. »Es sei denn, die Leute vögeln in den Abstellkammern und zerstören dabei die Regale, die ich hinterher wieder anbohre.«

Sie verzieht das Gesicht. »Nur heute«, sagt sie. »Du hast was gut bei mir.«

Ich hebe eine Braue in die Stirn. »Ich habe was gut bei dir?«

»Ja. Was willst du? Soll ich deine nächste Hausarbeit schreiben? Ich schwöre, ich mach’s, wenn du heute Abend …«

»Du würdest meine nächste Hausarbeit schreiben?« Ich lache auf. »Was ist passiert, dass du mir quasi deine Seele verkaufst, Willow?«

Sie presst die Lippen zusammen. »Hilfst du mir oder nicht?«

Kurz huscht mein Blick zu ihrem Mund. Dieselbe volle Form wie damals. Ich weiß noch genau, wie sich ihre Lippen angefühlt haben. Das ist irre. Heute wäre Willow die Letzte, mit der ich mir irgendwas vorstellen könnte.

»Hallo?«

Ich sehe auf. »Was?«

»Übernimmst du?«

»Sorry, kann nicht.«

Enttäuschung huscht über ihre Züge. »Kannst du nicht absagen, was auch immer du vorhast?«

»Nein.«

»Komm schon, du triffst dich doch bloß mit deinen Jungs oder Mackenzie!« Flehend sieht sie mich an. »Ich würde dich nicht fragen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«

»Weiß ich.« Ich werfe den Helm von der einen in die andere Hand und sehe auf sie hinab. »Aber ich kann nicht.«

Sie stöhnt auf.

»Frag Deepika.«

Deepika. Ihre Eltern sind steinreich, ihre Haut schimmert in einem atemberaubenden Bronzeton, und mit ihrem schwarzen Longbob steht sie regelmäßig für Haarpflegeprodukte vor der Kamera. Alle Frauen wollen mit ihr befreundet sein, alle Kerle stehen auf sie, ganz besonders Nolan, und jeder Professor wünschte, er dürfte Studentinnen vögeln, wenn er sie ansieht. Der einzige Grund, warum ich nie versucht habe, sie rumzukriegen, ist, dass sie meine Mitbewohnerin ist, und ich vögle keine Alpha Phi Omegas. Das könnte zu einem Desaster werden, und das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist, dass ich obdachlos auf der Straße hänge, weil Harvard mir das Verbindungsgeld aufgrund von wütenden Beschwerden streicht.

»Habe ich.« Verzweifelt tritt Willow von einem auf das andere Bein. »Sie kann nicht.«

»Deepika wird nicht auf der Party sein?« Ich runzle die Stirn. Bei Alpha Phi Omega hat jeder eine Aufgabe. Auch Deepika. »Als PR-Beauftragte? Sie muss Fotos machen.«

»Ja, ich weiß, aber sie ist nicht da.« Mit einer Hand streicht Willow die feinen Linien auf ihrer Stirn glatt. Ihre elfenbeinfarbenen Züge könnten ein Kunstwerk sein, wenn ich in dieser Sekunde nicht das katastrophale Schlachtfeld ihrer Gedanken darauf lesen könnte. »Und Jacob meint, er hätte Geschäftstermine.«

»Jacob hat Geschäftstermine?«

»Ja, keine Ahnung.«

»Jacob?«

Willow quittiert meine Wiederholung mit einem genervten Blick.

»Sorry, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er Termine wahrnimmt.«

Zwar ist Jacob Thorn der Sohn eines bekannten Politikers, aber er gibt sich größte Mühe, seine Eltern abzufucken. Das Einzige, was er für sie tut, ist, im Verbindungshaus zu leben und im Ruderteam von Harvard zu sein. Ansonsten verbringt er seine Zeit damit, mit fragwürdigen Goths rumzuhängen, in Hippiesachen und barfuß über den Campus zu tänzeln und stundenlang das Bad auf unserem Flur zu ­beschlagnahmen, weil er »auf einer meditativen, klangvollen Reise während eines Schlammbads« ist und nur dieser Raum die »energetischen Schwingungen zu bieten hat«, die ihn in andere ­Sphären treiben. Neulich musste ich so dringend scheißen, dass ich fast die Tür eingetreten hätte, aber wenn der Junge weg ist, ist er weg.

Plötzlich wird mir noch etwas anderes bewusst. »Du hast lieber Jacob gefragt, die Party zu übernehmen, als mich?«

»Ich frage dich doch.«

»Ja, aber nach Jacob?« Entgeistert sehe ich sie an. »Der Typ vergisst Vorlesungen, weil er sich zu lange in Farbe suhlt, um ein Kunstwerk reellen Schmerzes zu erschaffen, und du fragst ihn vor mir?«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre, Benedict Kings Stolz zu verletzen«, entgegnet sie trocken.

»Glaub mir, der ist stählern wie eine Festung.« Mit meinem Schulterschoner lehne ich mich gegen die Tribüne und mustere Willow. »Ich frage mich nur, was ich dir getan habe.«

Sie wird rot. »Du hast mir nichts getan.«

»Aber du fragst Jacob vor mir?«

»Wie oft willst du das noch sagen?«

»Sorry, aber ich komm nicht drauf klar. Jacob ist … Jacob! Und ich bin …«

Sie hebt eine Braue. »Wenn du jetzt verantwortungsbewusst sagst, lache ich lauter als dein Ego.«

»Na ja, okay, nein. Nicht unbedingt. Aber ich erscheine immerhin zu Vorlesungen und lerne … die groben Sachen.«

»Jacob auch.«

»Aber er rennt rum wie ein wandelnder Peter Pan.«

»Tja, Pech.« Sie schultert ihren Eastpack auf den ganzen Rücken und klammert ihre Hände an die Riemen, ehe sie mich wieder ansieht. »Zwei Hausarbeiten.«

»Was?«

»Ich schreibe deine nächsten zwei Hausarbeiten, egal welches Fach, wenn du übernimmst.«

»Wie oft noch?« Seufzend stoße ich mich von der Tribüne ab und gehe einen Schritt auf sie zu. »Ich. Kann. Nicht.« Nach einer kurzen Pause schiebe ich hinterher: »Frag Henry.«

Sie schnaubt. »Nein, danke.«

»Wieso nicht?«

»Darum.«

Skeptisch sehe ich sie an. Henry Vanderbilt ist Musterstudent und Jahrgangsbester aller Freshmen auf der Harvard Law School. Ich weiß, dass er und Willow sich seit ihrem ersten Tag einen bitteren Konkurrenzkampf liefern, aber im Verbindungshaus waren sie immer freundlich zueinander. Und mit ihm spricht sie mehr als mit mir.

»Ist was zwischen euch vorgefallen?«

Sie verschränkt die Hände vor der Brust und geht in den Verteidigungsmodus. »Such dir was aus, egal was, und du kriegst es, wenn du heute Abend übernimmst.«

»Willow, es geht wirklich nicht. Ich würde, wenn ich könnte, aber sorry. Sonst sag die Party ab.«

»Das kann ich nicht.« Verzweifelt beginnt sie, auf und ab zu tigern. »Es ist eine Wohltätigkeitsparty mit wichtigen Spenden für den Native American Rights Fond. Einige Alumni kommen, ein paar reisen von weit an. Es ist alles bis ins kleinste Detail geplant!«

»Dann lass sie die Party schmeißen.«

Sie neigt den Kopf, ohne mich anzusehen. »Wen?«

»Die Alumni.«

Jetzt bleibt sie stehen, und ihre Augen bohren sich in meine. In genau dieser Sekunde trifft die Sonne ihre Iriden und verwandelt sie in das glitzernde Meer der Karibik. Waren die schon immer so krass oder ist es mir wegen dieser riesigen Steve-Irwin-Brille nie aufgefallen?

»Ben.«

»Willow.«

»Ich mein’s ernst. Ich brauche dich.«

»Sorry, keine Chance.« Ich reiße mich von ihren Augen los und stoße mich von der Tribünenwand ab. Im Vorbeigehen halte ich inne und wende mich ihr noch einmal zu. »Und tut mir auch leid, für, na ja, die Jungs.«

»Die Jungs?«

Ich nicke in Richtung Spielfeld. »Was sie gesagt haben. Und ­Mackenzie. Du weißt schon, das mit«, ich zögere, »ähm, Sheely Willy.«

»Oh.« Sie schließt den Mund und schüttelt den Kopf. »Kein Ding. Hab mich dran gewöhnt.«

»Das ist nichts, woran man sich gewöhnen sollte, Willow.« Ich runzle die Stirn. »Das ist fies.«

»Es ist, wie es ist, oder?« Sie zuckt die Achseln und versucht sich an einem leichten Lächeln. »Ich schiele, und ich trage Männersachen. Ich bin Sheely Willy, scheiß drauf.« Sie schiebt ihre Drahtbrille die kleine Nase hoch, rüttelt ihren Eastpack höher und reckt das Kinn. »Man sieht sich, Benedict.«

Willow ist der einzige Mensch auf diesem Planeten neben meinen Großeltern, der mich jemals Benedict genannt hat. Mein Blick folgt ihrem kleinen Körper und heftet sich auf ihren Rucksack, der ihr knapp über den Hintern geht und bei jedem Schritt wippt. Ein paar meiner Jungs grölen wieder irgendwelche dummen Sprüche in ihre Richtung, aber Willow spaziert in ihrer Eminem-Hose und mit stolzer Haltung an ihnen vorbei wie eine Königin auf dem Weg zu ihrer Krönung.

Ich schiebe meinen Helm unter den Arm, trete unter der Tribüne heraus und will nach Nolan brüllen, um ihn damit aufzuziehen, wie er gerade im Run über seine eigenen Füße gestolpert ist, als zwei Personen an mir vorbeikommen. Eine von ihnen, in beiger Chino, Hosenträgern und rosa Polo, redet unaufhörlich auf die hochgewachsene Frau ein, die nicht genervter aussehen könnte und dabei auf ein Klemmbrett starrt.

Kurz hebt sie den Blick, sieht mich, nickt. »Mr King.«

»Guten Tag, Ma’am.«

Das Letzte, was ich erwartet habe, ist der Anblick der Dekanin der Harvard Business School auf dem Footballplatz. Doch diese Überraschung verblasst im Vergleich zu dem eiskalten Stahlblick, mit dem ihr Sohn Henry Vanderbilt mich fixiert. Eine Sekunde zuvor noch schien seine Aufmerksamkeit dem Training zu gelten, als würde er nach jemand ganz Bestimmtem suchen. Jetzt bohren sich seine Augen in meine. »Ben«, zischt er.

»Henry«, gebe ich knapp zurück.

Zwei Namen, aber dazwischen eine Warnung, die mir eine verdammte Gänsehaut über die Arme rennen lässt.

Deepika

Die untergehende Sonne brennt ihr Licht durch das Buntglasfenster der Holy Trinity Church, wodurch das heilige Kreuz im Fenster der Kirche direkt auf meinen Arsch reflektiert wird, der … nicht ganz so heilig ist, wie die Kirche es gern hätte. Ein Grunzen entfährt mir bei dem Gedanken, wie sehr die Redaktion von Harvard Crimson dieses Bild lieben würde: Deepika Shan, Prinzessin von Harvard, mit dem braven Engelshaarschnitt, klebt wie ein Ninja am Haus der Dekanin, gebrandmarkt vom Heiligen Herrn. Aber das wird nicht passieren. Niemand ist hier, der mich sehen könnte. Die Dekanin ist auf einer wichtigen Versammlung an der Universität, ihr Mann kommt erst am Mittwoch von einer Geschäftsreise zurück, und Henry hängt auf der Party im Verbindungshaus ab. Dieser Bastard feiert sein Leben, nachdem …

Egal. Dafür wird er jetzt büßen.

Schnell schiebe ich das hintere Fenster hoch und schlüpfe ins Bad. Die Sohlen meiner Riemchensandalen landen dumpf auf den marmornen Fliesen. Durch das glühende Licht von draußen sieht dieses Kaiserbad aus, als würde es in Flammen stehen. Oder als würde ich mich inmitten einer tickenden Zeitbombe befinden, denn das hier muss schnell gehen.

»Fuck!«, zische ich, als mein Fuß den Ständer mit der Klorolle umstößt. Wer hat so was heute noch? Vermutlich nur die Vanderbilts, um ihre Kohle zu präsentieren, denn ich würde meinen gebrandmarkten Holy-Allerwertesten darauf verwetten, dass dieses Toilettenabwischscheißding vergoldet ist.

Hastig stelle ich es wieder auf und sehe mich im Raum um.

Ich habe keine Ahnung, wonach ich suche. In meiner blinden Wut bin ich hergefahren, aber jetzt, da ich hier bin, kommt es mir dumm vor. Seine Eltern können nichts für ihren missratenen Sohn. Ich hätte mich in sein Zimmer im Verbindungshaus schleichen sollen.

Wahllos reiße ich die Schubläden des Waschtischs auf, halte nach irgendetwas Ausschau, nach einer seiner Uhren oder sonst was. Als ich zu den Schränken wechsle, begegne ich meinem hektischen Spiegelbild: große braune Augen unter der schwarzen Militärmütze, die Haarspitzen akkurat gerade, als wollten sie mein Schlüsselbein schneiden. Niemand, der mich von Harvard kennt, würde in der Person, die ich gerade bin, die Schönheitskönigin Deepika Shan erkennen.

Wohl eher Black Swan auf Raubzug.

Ich zucke zusammen, als mein Handy vibriert. Es kommen mehrere Nachrichten hintereinander. Hastig ziehe ich es aus der Hosentasche und blicke aufs Display.

Abigail wo bist du, Dee? Und wieso warst du nicht beim Training??

Abigail Raj sucht dich

Abigail und ich auch

Abigail ok, hier kommt dein persönlicher liveticker

Abigail Raj ist besoffen

Abigail und ich auch

Abigail mackenzie spielt sich auf und tanzt auf den tischen unsere neue choreo, obwohl SIE diejenige war, die meinte, wir sollten sie bis zum nächsten spiel für uns behalten

Abigail jetzt sitzt sie auf bens schoß

Abigail ben schiebt ihr die zunge in den hals

Abigail Raj macht henry fertig

Deepika wieso macht er ihn fertig?

Abigail ahhh, hallelujah & praise the lord, sie LEBT

Deepika hallo, sag

Abigail chill, ist eh unnötig

Abigail Raj meinte nur, sein aufzug wäre lächerlich

Abigail oh, ok, jetzt wird’s hässlich

Abigail henry meinte, er hätte dich gefickt

Deepika wie bitte?!

Abigailund du hättest ihm ins ohr gestöhnt, wie viel geiler der sex mit ihm als mit Raj wäre

Deepika omg was stimmt nicht mit ihm???

Abigailkein ding

Abigailwir wissen, dass aus seinem mund nur müll kommt

Abigailok, Raj dreht durch

Abigailfuck, komm her!!

»Shit!« Mir kommen noch ein paar weitere Flüche über die Lippen, für die meine Eltern mich einen Kopf kürzer machen würden – als unten plötzlich die Haustür aufgeschlossen wird und eine Stimme durch die Villa tönt. Meine Augen weiten sich. Stocksteif verharre ich auf der Stelle. Meine Glieder werden zu Eis.

»Sag mir einfach, ob es klappt, okay?« Das ist Henrys Mutter. Dekanin Vanderbilt. O mein Gott, wieso ist sie nicht auf der Versammlung?! Ich höre Schlüssel, die auf einer Oberfläche landen, dann ein lautes Seufzen. »Und, nein, natürlich hat Henry keine Ahnung. Warte, was? Es ist so laut bei … ach so, ja. Na gut, Süßer. Wir sehen uns ­morgen.«

Wir sehen uns morgen?