Hidden Scars - Ayla Dade - E-Book

Hidden Scars E-Book

Ayla Dade

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Beschreibung

Er ist unberechenbar, begehrt, draufgängerisch - und geheimnisvoll. Sie ist schüchtern, perfektionistisch - und will ihn um jeden Preis. Hat ihre Liebe eine Chance? Eine gefühlvolle Romance der Bestsellerautorin über einen Bad Boy und ein Girl next Door Ein Neuanfang im alten Leben – nichts wünscht sich Hazel Evans mehr, als sie von ihrem Auslandssemester aus Portugal zurück nach New York kommt. Sie ist klug, anständig und studiert an der NYU. Das einzige, was in ihrem Leben für Aufregung sorgt, sind die High-Society-Veranstaltungen, zu denen ihre beste Freundin Grace sie regelmäßig mitschleppt. Bis sie auf einem der Events Caleb trifft und er ihr Leben komplett auf den Kopf stellt. Hazel erkennt sich selbst nicht wieder, aber ihr ist klar: Sie will Caleb. Um jeden Preis. Trotz seiner dunklen Geheimnisse. Denn die hat Hazel auch … »Hidden Scars« ist der erste Teil der »East Side Elite«-Trilogie von Ayla Dade.

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Triggerwarnung: Essgestörtes Verhalten, essgestörte Gedanken, Mobbing, toxische Verhaltensweisen, starke Selbstzweifel und Unsicherheiten, körperliche Gewalt, Drogenmissbrauch, Kindesvernachlässigung

© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2023 Piper Verlag GmbH,

Korrektorat: Michaela Retetzki

Bei diesem Werk handelt es sich um die überarbeitete Wiederveröffentlichung des Titels »Haunted Love – Perfekt ist Jetzt« von Ayla Dade erschienen 2019 im Piper Verlag

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Playlist

Prolog

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Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Jannik. Danke für alles.

Playlist

Better Place – Rachel Platten

Crazy – Daniela Andrade

Das Spiel – Kay One

Dear Maria, Count Me In – All Time Low

Demons – Imagine Dragons

Happier – Ed Sheeran

I Can’t Fall In Love Without You – Zara Larsson

I Hate U, I Love You – Gnash

I Knew You Were Trouble – Madilyn Bailey

I Need Your Love – Madilyn Bailey

Jar Of Hearts – Christina Perri

Just Like A Pill – Pink

Let Her Go – Passenger

Let It Go – Madilyn Bailey

Little Things – One Direction

Love Me Harder – Ariana Grande

Love Me Like You Do – Ellie Goulding

Love The Way You Lie – Rihanna ft. Eminem

Nothing Like Us – Justin Bieber

Perfect For You – Rachel Platten

Praying – Kesha

Quit Playing Games With My Heart – Backstreet Boys

Say You Won’t Let Go – James Arthur

Somewhere In Brooklyn – Bruno Mars

The Pretender – Foo Fighters

Tonight – FM Static

What Makes You Beautiful – One Direction

When I Was Your Man – Bruno Mars

Wiedersehen – Kay One

Prolog

Ich werde wach, als Mommy die Haustür öffnet. Es ist Chad. Er muss es sein, weil er Mommy jeden Abend besucht, wenn Daddy einen Film drehen muss und nicht zu Hause ist. Mommy hat mir erklärt, dass Chad dieselbe Medizin nehmen muss wie Mommy und er sie deshalb besuchen kommt.

»Hast du alles bekommen?«, höre ich Mommy fragen und rolle mich auf die Seite, um mich an meinen Teddybären zu kuscheln. Daddy hat mir und Logan denselben gekauft, in dem großen Kaufhaus in der Stadt, als wir unser letztes Fußballspiel gewonnen haben. Ich frage mich, ob Logan seinen Teddybären auch bei sich im Bett hat.

»Ja«, antwortet Chad. Seine Stimme ist mir unheimlich. Ganz hoch und schrill, wenn er lacht, und ich bekomme Angst.

Ich greife mit meinen kleinen Fingern nach der Superheldenflasche auf meinem Nachttisch und will einen Schluck trinken, aber es ist kein Wasser mehr darin. Mit den Füßen schiebe ich meine Bettdecke ans Ende der Matratze und setze mich in den Schneidersitz, während ich mit dem Finger den Superman auf der Flasche nachfahre. Ich habe Durst, traue mich aber nicht, Mommy um Wasser zu fragen. Wenn Chad bei ihr ist, wird sie immer so komisch. Sie ist dann gemein und böse. Ich glaube, es liegt an ihrer Medizin, trotzdem mag ich nicht zu ihr gehen. Ich habe Durst. Also schlüpfe ich aus dem Bett, tappe auf nackten Füßen durch mein Zimmer und laufe den dunklen Flur zum Salon entlang.

Ich höre Mommy laut lachen, als Chad etwas sagt. Bevor ich zu ihnen gehe, öffne ich die große Tür einen Spaltbreit und sehe nach, was Chad und Mommy machen. Manchmal sind sie im Schlafzimmer und geben ganz komische Laute von sich. Sie tun verbotene Dinge, das weiß ich. Als ich Mommy einmal gefragt habe, wieso sie das tut, hat sie mir mit ihrem Löffel, den sie für ihre Medizin braucht, ganz doll ins Gesicht geschlagen. Ich habe geweint, obwohl es mir peinlich war vor Chad. Aber es hat so sehr wehgetan. Dann hat Mommy gesagt, wenn ich Daddy etwas von Chad erzähle, habe ich keine Mommy mehr. Ich will nicht, dass ich keine Mommy mehr habe. Ich habe Mommy lieb, auch wenn sie böse ist, wenn Chad bei ihr ist und sie ihre Medizin nehmen.

Als ich die Tür ein Stück weiter öffne und in den Salon tappe, bemerken Mommy und Chad mich nicht. Sie legen gerade ihre Medizin auf ihre Löffel und pressen die Zitrone darüber aus. So ist die Medizin gesünder, sagt Mommy.

Meine Superheldenflasche rutscht mir aus der Hand, sie ist zu groß für meine kleinen Finger. Mommy und Chad sehen auf, als ich die Flasche vom Boden hebe und zu ihnen gehe.

»Du sollst schlafen!«, schreit Mommy mich an. Ihre laute Stimme erschreckt mich, und ich zucke zusammen. Schnell zeige ich ihr meine Flasche, damit sie nicht noch lauter wird oder mir wehtut.

»Ich habe Durst«, sage ich leise. Chad nimmt seinen Löffel mit der Medizin und hält sein Feuerzeug darunter, damit das Pulver flüssig wird. Er hat es mir schon oft erklärt, dabei wollte ich lieber mit Logan Fußball spielen gehen.

»Warte bis morgen«, sagt Mommy nur. Ihre blonden Locken fliegen durch die Luft, als sie ihren Kopf wendet und eine Spritze von Chad entgegennimmt. Die braucht sie, um ihre Medizin zu nehmen.

»Aber ich habe jetzt Durst«, quengle ich. Mein Mund ist ganz trocken, und ich will wieder ins Bett, deshalb soll Mommy mir schnell neues Wasser auffüllen.

Sie antwortet mir nicht, sondern zieht ihre Medizin auf die Spritze und tippt dann mit ihrem gelben, schmutzigen Fingernagel dagegen. Wenn Daddy nicht zu Hause ist, dann macht Mommy sich nicht mehr sauber. Chad umfasst meinen Arm. Er tut mir weh, weil er so fest zieht, und plötzlich reißt der Stoff. Tränen sammeln sich in meinen Augen, als ich mit den Fingern über die kaputte Stelle an meinem Schlafanzug fahre. Es war mein Lieblingsschlafanzug, der mit den vielen Dinos.

Chad entschuldigt sich nicht. Daddy hat mir gesagt, wenn ich böse zu jemandem bin, muss ich mich entschuldigen. Mommy und Chad tun das nie. Er hält mir die Spritze vor die Nase und lacht. Ich bekomme Angst.

»Hier, Kleiner. Wenn du Durst hast, musst du das trinken. Dann geht es dir besser.«

Ich spüre die Tränen über meine Wange laufen, weil sie ganz warm sind. Als ich zu Mommy hinübersehe, will ich, dass sie mir hilft, aber sie lacht nur und spritzt sich ihre Medizin. Ich frage mich, warum sie nicht mit Chad schimpft. Mit mir schimpft sie immer, wenn ich etwas von ihr kaputtmache.

Schnell laufe ich aus dem Salon, zurück in mein Zimmer, wo ich die leere Superheldenflasche wieder auf meinen Nachtschrank stelle.

Es dauert nicht lange, bis es plötzlich auf dem Flur vor meinem Zimmer ganz laut wird. Ich öffne wieder meine Tür, weil ich nachsehen will, und da sehe ich Chad, der sich laut lachend über den Boden rollt. Die Arme und Beine hat er von sich gestreckt.

Mommy gackert, während sie mit Chads und ihrer Medizintasche in mein Zimmer kommt und den Wandschrank öffnet. Sie holt meinen großen Teddy heraus, den Logans Daddy mir einmal zum Geburtstag geschenkt hat. Eines Tages hat Mommy ihm den Bauch aufgeschnitten und gesagt, sie müsse ihre Medizin darin verstecken.

Manchmal kommen böse Männer in Uniformen zu uns. Sie wollen aus mir herausquetschen, wo Mommys Versteck ist, aber ich sage nie etwas. Einer von ihnen ist sehr gemein, und wenn Daddy nicht da ist, dann schüttelt er mich ganz doll. Trotzdem verrate ich ihm das Versteck nicht. Ich will nicht, dass ich keine Mommy mehr habe, auch wenn sie und Chad mir oft wehtun. Aber sie kann ja nichts dafür. Es ist ihre Medizin, die das aus ihr macht. Eigentlich will sie nicht so sein, das weiß ich.

Chad krabbelt über den Boden meines Zimmers auf mich zu, ein gruseliges Grinsen im Gesicht. Ich gehe rückwärts, bis ich mit den Kniekehlen gegen mein Bett stoße.

»Deine Mommy und ich gehen jetzt schlafen, Kumpel«, sagt er, und ich ekle mich vor ihm, weil er so stinkt. Chad nennt mich immer Kumpel, obwohl wir gar keine Freunde sind. Nur Logan ist mein Freund.

»Und da wirst du uns nicht stören, außer du willst sehen, was Erwachsenen Spaß macht.« Er vergräbt seine Hand in meinem Haar und reißt ganz doll daran, so lange, bis ich weine.

»Mommy«, rufe ich, aber sie tut nichts, lacht nur ganz laut. Sie schraubt meine Flasche auf und kippt die Flüssigkeit aus einer braunen Glasflasche hinein, und als sie mein Zimmer verlässt, lässt Chad endlich meine Haare los und geht mit ihr. Meine Kopfhaut brennt, und ich kann nicht aufhören zu weinen, zwinge mich aber dazu, leise zu sein. Ich will nicht, dass sie wiederkommen.

Als ich an meiner Flasche rieche, weiß ich, dass es kein Wasser ist. Die Flüssigkeit stinkt, und ich bekomme Bauchweh.

Leise laufe ich zur Tür, drehe den Schlüssel im Schloss herum und kuschle mich wieder im Bett ein. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich Angst vor Chad und Mommy habe. Als ich ihre lauten Schreie aus dem Schlafzimmer höre, drücke ich mir die Hände auf die Ohren und wünsche mir vom lieben Gott, dass Daddy ganz schnell wiederkommt.

1

Portugal hat ein Walross mit Elefantenschenkeln aus mir gemacht. Ohne Witz. Zwar hätte ich mich schon vor meinem Auslandsjahr nicht als dünn bezeichnet, nun sprenge ich jeden Rahmen. Na ja, zumindest meinen Rahmen. Den, der sich vor etlichen Jahren in meinem Kopf festgesetzt hat und mir meinen Körper seitdem ständig im Breitbildformat präsentiert, jedes Mal, wenn ich mich im Spiegel ansehe.

Das menschliche Teenagerwesen von zwanzig Jahren, das mich aus dem Spiegel heraus anblinzelt, kann unmöglich ich sein. Meine Jeans passt gerade noch so, der Knopf spannt jedoch schon gewaltig. Aber ich ertrage es, weil ich es einfach nicht über mich bringe, mir einzugestehen, dass ich wohl besser die Nummer größer aus dem Schrank holen sollte. Die Dreiviertel-Jeans von Burberry, die meine beste Freundin Grace mir vor meinem Auslandsjahr mit ein paar anderen aussortierten Kleidungsstücken geschenkt hat. Obwohl ich Grace wunderschön finde und ihre Figur stets bewundert habe, fühle ich mich schrecklich, dass mir ihre Hosengröße plötzlich passt. Verrückt, ich weiß. Es ist ein Gefühl wie bei einer optischen Täuschung: Dieselbe Hose, jedoch sieht Grace darin wunderschön und schlank aus, während ich … na ja, aus allen Nähten platze. Wie ich schon sagte: Mein Kopf spielt mir Streiche. Leider unschöne Streiche, die ich immer wieder glaube.

»So eine Scheiße«, murmle ich verzweifelt, kneife in meinen überquellenden Speck, der für andere vermutlich nicht einmal sichtbar wäre, und seufze, beinahe den Tränen nahe. Nach der Inspektion meines gesamten Kleiderschrankes und der Aussortierung einiger Teile, in denen ich als lebendige Presswurst durch New York watscheln würde, entscheide ich mich schließlich für ein Kleid.

Heute ist der erste Tag im neuen Semester, und ich würde meinem Kopf am liebsten ein Stoppschild vorsetzen, weil er mir unablässig eintrichtert, dass ich aussehe wie ein aufgehender Hefekloß im Speckmantel. Meine Schweinchennase ist dabei auch nicht gerade hilfreich, sie unterstreicht meine neu gewonnenen Pfunde eher noch in ironischer Weise. Fast so, als wollte mich das Schicksal ernsthaft auslachen. Am schlimmsten ist für mich jedoch der Gedanke an die ganzen Sprüche, die wahrscheinlich kommen werden. »Oh, Hazel, endlich bist du nicht mehr so spindeldürr!« oder »Na, wie schön, wenigstens ein wenig Fett über deinen Knochen sehen zu können.« Sie halten solche Sätze für Komplimente, wissen dabei gar nicht, was sie damit in meinem Inneren anrichten. Es ist ein schreckliches Gefühl.

Ein letztes Mal fahre ich mir seufzend durch meine hellblonde Mähne, ehe ich meinen Morgenmantel vom Boden aufhebe und über den Spiegel werfe.

Auf dem Nachttisch fängt mein Handy an zu vibrieren. Ich stolpere durchs Zimmer, bahne mir einen Weg durch die vielen Kleiderhäufchen auf dem Boden und falle schließlich über einen Stapel Schulbücher.

»Verdammt«, entfährt es mir, als ich mich gerade noch so mit den Händen an der Bettkante abstützen kann. Mein Handy landet genau in dem Moment in meiner Handfläche, als es sich, von der Vibration angetrieben, im perfekten Sturzflug mit Ziel Parkettboden befindet.

»Ja?« O Mann, ich höre mich an, als wäre ich gerade einen verdammten Marathon gelaufen.

»Du lebst! Um Gottes willen, Hazel! Ein Jahr warst du verschollen, alle Welt sucht nach dir!«

Lachend verdrehe ich die Augen, den Kopf an die Matratze gelehnt. »Grace. Das ist jetzt das dritte Mal seit gestern, dass du mich begrüßt, als wäre ich die Hauptperson in einer Criminal Minds-Folge.«

»Lass mir doch meinen Spaß.«

Seufzend hieve ich mich hoch, nur um mich wieder rücklings aufs Bett zu werfen. In einem perfekten Winkel lande ich natürlich auf meinem Rucksack, aus dessen geöffnetem Reißverschluss die fette Kante meiner Hardcoverausgabe von Faust I ragt und mir schmerzvoll in die Rippen sticht. Ja, ich habe mich für das Seminar deutsche Literatur eingetragen. Nein, ich bin keine Streberin. Okay, doch, vielleicht ein bisschen. Ein bisschen sehr, wenn es nach Grace ginge.

»Geht nicht«, entgegne ich abgehackt, während ich meinen Rucksack hinter mir wegziehe und auf den Boden schleudere. Schmerzhaft reibe ich mir den Rücken. Hätte ich mir doch bloß die dünne Softcoverausgabe besorgt wie alle anderen auch. »Wir haben nämlich ein gewaltiges Problem.«

»Problem welchen Ausmaßes? Präziser bitte, beste Freundin.«

Geistesabwesend pule ich am Saum meines Quilts. »Sorry. Definitiv Stufe zehn. Notfall.«

Am anderen Ende der Leitung keucht Grace übertrieben schockiert auf. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich mir bildlich vorstelle, wie sie sich ans Herz fasst und theatralisch die Augen aufreißt. »Sag bitte, du hast dir da drüben kein Ebola oder so eingefangen.«

»Ebola ist Afrika, Grace. Ich war in Portugal.«

Grace schnalzt ungeduldig mit der Zunge. »Alles dasselbe. Nun sag schon.«

Mit einem dramatischen Seufzer, als müsste ich ihr davon berichten, dass mich eine schwere Krankheit erwischt hätte, kneife ich die Augen zusammen und verziehe das Gesicht. »Reis.«

Ein paar Sekunden herrscht Stille. Dann höre ich plötzlich etwas scheppern.

»Pass doch auf! Ich hab dir tausendmal gesagt, dass ich das Mom erzähle!«, brüllt Grace.

»Was?« Verwirrt setze ich mich auf. Was hat ihre Mom damit zu tun, dass ich wie eine Wahnsinnige Reis in mich hineingeschaufelt habe? Klar, sie ist etepetete und achtet penibel auf das perfekteste Aussehen, nur … das ist irgendwie creepy.

»Sorry, war nicht an dich gerichtet. Oliver, der Idiot. Er hat seine Müslischale im Auto fallen lassen. Überall Milch auf den verdammten Ledersitzen.«

»Ach so.«

Oliver ist Grace’ kleiner Bruder. Vierzehn Jahre alt, übertrieben frech, verzogen und absolut unausstehlich. Gleichzusetzen mit diesem Teufelsbraten Dennis aus dem gleichnamigen Film.

Grace seufzt, und ich höre, wie Oliver im Hintergrund immer noch flucht und seiner Schwester wie verrückt Beleidigungen an den Kopf wirft. »Okay, Haze. Reis. Wie viel?«

Verzweifelt stöhne ich auf und kneife mir passenderweise in die Schenkel. »Viel zu viel! Die Portugiesen kennen anscheinend keine anderen Nahrungsmittel, kein Scherz! Jeden Tag Reis, stell dir das einfach mal vor! Die tun so, als wäre es himmlische und unverzichtbare Schokolade! Keine Mahlzeit geht da ohne Reis.«

»Verstanden, sie beten Reis an. Jetzt sag schon, wie viel hast du zugenommen?«

Anstatt zu antworten, grummle ich irgendwelche unpassenden Laute vor mich hin.

»Haze!«

»Na schön. Etwa acht Kilo oder so.«

Statt einer Antwort höre ich plötzlich ein ziemlich lautes Reifenquietschen, gefolgt von einer Hupe und mehreren unwirschen Fluchen von Grace.

»Alles okay?«, hake ich verwundert nach und hoffe, sie ist auf den unverhofften Schock hin nicht aus Versehen auf ein Auto aufgefahren.

»Elender… HIER IST RECHTS VOR LINKS, DU VERDAMMTER IDIOT! Kann ja wohl nicht … Bitte, was? Ich soll was? Na schön, du kleines Stinktier, dir werde ich … Haze? Sorry, muss auflegen. Sehen uns vor dem Businessgebäude!«

Dann höre ich nur noch das monotone Tuten aus dem Lautsprecher. Ich schmunzle und werfe mein Handy in den Rucksack, bevor ich ihn mir auf den Rücken hieve.

Wie schön es doch ist, wieder zu Hause zu sein.

2

Die Sonne knallt mir gnadenlos ins Gesicht, als ich vor die Tür unseres Reihenhauses trete und mein Fahrrad aufschließe – ein rostiges altes Ding, das Mom mir vor ein paar Jahren beim Secondhandshop um die Ecke gekauft hatte, wobei sie den Preis noch heruntergehandelt hatte und extrem stolz auf sich gewesen war. Irgendwann haben Grace und ich es zusammen babyblau lackiert (sie hatte vier Tage lang einen blauen Streifen auf der Wange, der sich nicht wegwaschen ließ, und ihre Mom war total ausgeflippt). Jetzt sieht das Rad eigentlich ganz süß aus.

»Hazel!«, ruft mir eine Stimme zu. Ich drehe mich um, während ich das Schloss in den Fahrradkorb werfe, und entdecke Tony, den coolsten und liebsten Nachbarn, den man sich wünschen kann. Gäbe es einen Bester-Nachbar-Award, dann würde er ihn jedes Jahr aufs Neue gewinnen. Ihm gehört die Kneipe direkt nebenan, Tony’s, die gar nicht so eine Spelunke ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Na ja, vielleicht doch, wenn man überlegt, dass ich dort mit elf mein erstes Bier probieren durfte. Immerhin nur zwei Schlucke, bis Mom mich entdeckt und es mir mit dem Mutter-Killerblick-des Todes aus der Hand gerissen hatte. Tony hatte so gelacht. Mom nicht.

»Alles klar, Tony?«, rufe ich zurück, lehne mein Fahrrad gegen die Hauswand und laufe zu ihm rüber. Der Zaun, der unsere süßen Kleingärten voneinander trennt, ist gerade mal ein halbes Yard hoch. Wenn überhaupt.

Als ich ihn umarme, wirbelt er mich halb durch die Luft, wie er es schon immer tut, seit ich klein bin. Früher habe ich es geliebt – heute schäme ich mich, weil ich so dick geworden bin. Weil ich mich so dick fühle.

Ich drücke meine Wange gegen seine alte braune Lederjacke, die er schon besitzt, seit ich denken kann. Ich weiß es, weil ich ihm mit acht mal meine Tintenfischringe draufgekotzt habe. Zu meiner Verteidigung: Ich dachte, es wären Curly Fries.

»Meine Güte«, sagt er und hält mich prüfend auf Armeslänge von sich weg, während er mich ansieht. »Du warst ein Jahr in Portugal, Hazel, und bist immer noch so weiß wie Ziegenkäse! Ich dachte eigentlich, du kommst ein bisschen brauner wieder. Zwar immer noch käsig, aber knackiger. Wie frittierter Camembert oder so.«

Belustigt verdrehe ich die Augen, ehe ich meinen bordeauxfarbenen Sonnenhut richte und die Arme verschränke. »Du trägst, seit ich dich kenne, dieselbe Frisur und den Anchor-Bart, also erzähl du mir mal nichts von Veränderungen. Außerdem: In Portugal wachsen zwar Palmen, aber hier ist es fast genauso heiß.« Mit dem Finger wackle ich belehrend durch die Luft, muss aber lachen.

Tony streicht sein hellblaues T-Shirt gerade und schmunzelt belustigt. »Das ist ein Rap Industry Standard, und der ist so was von im Trend.«

»Klar«, sage ich, schneide ihm eine Grimasse und füge anschließend hinzu: »1950 vielleicht.«

Während ich zurück zu meinem Fahrrad gehe, höre ich Tony lautstark lachen. »Holt Grace dich nicht ab?«, fragt er noch, als er auf die Straße tritt und in Richtung seiner Kneipe geht.

»Nope«, rufe ich, »die hat Oliver an der Backe!«

Tony hebt bloß noch einmal die Hand, ohne sich umzudrehen, und verschwindet um die Ecke. Ich höre noch, wie er im Singsang das Wort »Teufelsbraten«, zu mir rüberträllert, dann ist er verschwunden.

Das breite Lächeln in meinem Gesicht will einfach nicht verschwinden, während ich meinen roten Rucksack in den Korb werfe. Ich höre schon jetzt die gehässigen Bemerkungen über meinen fehlenden Stil und die Bitte, mich doch endlich auf Farbenblindheit testen zu lassen – von Logan zum Beispiel, den wohl arrogantesten Kerl, den der Big Apple je bei sich begrüßen durfte. Aber selbst er kann mir den Tag nicht mehr vermiesen, egal was er auch sagen sollte, wenn ich ihn in der Uni sehe.

Portugal war schön, keine Frage. Die Mentalität und höflichen Leute dort, die Kultur, das Wetter und Meer … aber ich schätze, kein Ort der Welt kann den ersetzen, an dem man zu Hause ist.

In Brooklyn hat sich nichts verändert, denke ich, während ich durch die Straßen fahre und schließlich die Brooklyn Bridge erreiche. Alles ist so, wie ich es seit jeher kenne: dieselben eng aneinandergereihten Häuser, die vielen Apartments und die heruntergekommenen Bauten in den verlassenen Gegenden (durch die ich regelmäßig fahre, weil es die besten Abkürzungen sind, wie ich mit den Jahren herausgefunden habe).

Ich atme tief ein und nehme den Duft der warmen Luft in mir auf, gemischt mit dem Geruch der Sommerblumen, die ihre Blüten vom Park neben der Brücke zu mir herüberwehen. Ein älteres Pärchen lässt sich gerade auf einer ausgebreiteten Decke auf der Wiese nieder, und die Dame beginnt bereits, den Inhalt eines Picknickkorbs auszupacken.

Unwillkürlich stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht, doch ich muss schnell wegsehen, als ein kleiner Stich in meinem Herzen folgt. Mom hätte das auch verdient, denke ich. Sie sollte genauso an sonnigen Tagen mit einem Mann, der sie liebt und den sie verehrt, auf einer Wiese sitzen und picknicken. Sie sollte nach einem langen Spaziergang nach Hause kommen und sich aufs Sofa fläzen dürfen, wo ihr liebender Mann lächelnd ihre Füße massiert. Stattdessen arbeitet sie Tag für Tag von früh bis spät, während mein Dad sich noch vor meiner Geburt einfach aus dem Staub gemacht hat, als Mom ihm erzählte, dass sie schwanger sei. Er meinte, er würde sich wirklich freuen (Mom sagte, er schien tatsächlich vollkommen aus dem Häuschen), bis er dann um ein bisschen Zeit bat, alles sacken zu lassen. Tja, nach zwanzig Jahren – einundzwanzig, wenn man die Schwangerschaft mitzählt – hat er es wohl immer noch nicht »sacken lassen« können.

Nicht dass er mir fehlt, im Gegenteil. Er ist ein elendes Dreckschwein und soll sich zum Teufel scheren. Tony ist für mich all das, was mein richtiger Vater nie war. Auch wenn er nur mein Nachbar ist.

Meine Gedanken haben mich so eingenommen, dass ich kaum bemerkt habe, wie die letzten Minuten vergangen sind. Vor mir erscheint bereits die vertraute gläserne Halbkuppel – der Eingang der New York University Business School, wo ich Grace treffen soll.

»Home sweet Home«, murmle ich, schließe mein Fahrrad ab und hebe mir den schweren Rucksack auf den Rücken. Ich hätte wirklich lieber die Taschenbuchausgabe von Faust kaufen sollen. Ehe ich mich umdrehen kann, höre ich bereits ein hohes Kreischen.

»Hazel!«

Zwei Sekunden, dann verdeckt eine braune Haarmähne mein Gesicht, und ich rieche den Duft des teuren Apfelshampoos, das Grace seit Kindertagen benutzt.

»O mein Gott, du lebst!«, wiederholt sie zum gefühlt tausendsten Mal und kneift mir in jede Stelle Haut, die sie erwischen kann. »Tatsächlich, Haut und Knochen! Das gibt’s ja nicht.«

Ich kichere. »Grace, hör endlich auf mit dem Scheiß.«

Meine beste Freundin strahlt heller als die Sonne, als sie sich endlich von mir löst und mir ins Gesicht sieht. Natürlich ist sie perfekt gestylt – niemals würde ihre Mom sie aus dem Haus gehen lassen, wenn nur die kleinste Bügelfalte in ihrem Kleid zu sehen wäre. Na ja, eigentlich eher ihr Hausmädchen Norma, ihre Mom ist ja so gut wie nie da. Die Sonnenstrahlen brechen sich auf ihrem rot lackierten Schleifchen-Haarreif und blenden mich. Hätte ich bloß meine Sonnenbrille mitgenommen.

»Du hast mir gefehlt, Grace«, sage ich schließlich und zurre meinen Rucksack ein wenig höher auf den Rücken.

Sie richtet die Krawatte ihres blauen Marinekleides und seufzt erleichtert. »Und du mir erst.« Dann packt sie mich am Arm und fügt hinzu: »Komm mit. Ich hab dir so viel zu erzählen, das glaubst du nicht. Kennst du noch Leslie Anderson?«

Ich stolpere beinahe über die Beine eines Mädchens, das vor mir auf dem Boden sitzt und wie verrückt Sätze in einem Buch markiert.

»Das Strebermädchen, das keine Jungs angucken durfte und deshalb immer auf den Boden gesehen hat?«

Grace nickt und ein diabolisches Grinsen erscheint auf ihrem Gesicht.

O nein, das kenne ich nur zu gut. »Was hast du getan?«, entfährt es mir sofort, und ich bereite mich bereits mental auf einen Schock vor. Beinahe hätte ich vergessen, dass die Freundschaft mit Grace bedeutet, regelmäßig Teil ihrer unglaublichen Aktionen zu sein.

»Gar nichts«, entgegnet sie verschmitzt und spitzt amüsiert die Lippen.

Mit den Schultern drücke ich die schweren Türen des Gebäudes auf und sehe sie vorwurfsvoll an.

Grace schnalzt mit der Zunge und hebt entwaffnend die Hände in die Höhe. »Diesmal habe ich echt gar nichts damit zu tun, Hazel, so null Komma null… eins, vielleicht.«

Wir laufen die Flure entlang zu dem Raum, in dem gleich ihr Management-Seminar beginnt, und ich sehe ungeduldig auf die Uhr.

»Spuck’s aus. Ich muss noch ganz rüber zum Schauspiel-Gebäude.«

Grace wirft mir einen skeptischen Blick zu, während sie zwei Jungs den Mittelfinger zeigt, die ihr gerade hinterhergepfiffen haben. »Schauspiel? Hast du in Portugal eine 180-Grad-Persönlichkeitswendung gemacht?« Sie klopft mir dreimal gegen die Stirn und sieht sich dann theatralisch auf dem Gang um. »Hallo? Wer bist du, und was hast du mit meiner besten Freundin gemacht?« Lachend verdrehe ich die Augen. Gerade als ich antworten will, hält sie mir einen Finger vor die Nase. »Halt. Nein. Du hast doch nicht …«

»Was?«

Ihre Gesichtszüge entgleisen, und sie verzieht angewidert den Mund. »Bitte sag mir, dass du nicht etwa einen seltsamen Traum über Logan hattest und nun der Meinung bist, du wärst in ihn verknallt? Denn ich versichere dir, das ist nur eine Illusion. Hatte ich auch mal, in der siebten. Mit Fred Miller. Gott, hatte ich Schiss, dass es nun auf ewig um mich geschehen ist. Aber als ich ihn dann nach meinem Traum sah, war alles wieder cool.«

Ich stöhne auf, packe Grace am Arm und ziehe sie weiter. »Ich bin nicht … warte, was? Fred Miller? War das nicht der Typ, der immer seine Popel gegessen hat?«

Entschuldigend verzieht sie den Mund und zuckt die Achseln. »Sag ich ja, nur eine Illusion. Keine Sorge, Schätzchen, wir biegen das wieder hin. Lass uns einfach ins Office gehen und sagen, das mit dem Schauspielkurs war ein riesengroßes Missverständnis aufgrund eines irreführenden Illusionstraums mit einem arroganten, schleimigen Mistkerl und dann …«

»Grace!«, unterbreche ich sie lachend und lauter, als ich sonst mit irgendwem reden würde. »Ich muss dahin, weil ich dieses Semester das Drama-Writing-Seminar habe. Ich bin nicht in Logan verliebt, Mann, echt mal.«

»Wer ist in mich verliebt?«, ertönt plötzlich eine Stimme neben mir.

Ein genervtes Stöhnen entfährt mir, und ich verdrehe die Augen. »Das kann ja wohl jetzt echt nicht wahr sein«, murmle ich, genau in dem Moment, als Grace »… wenn man vom Teufel spricht …« sagt.

Ich funkle Logan an und sage mit dem kühlsten Ton, zu dem ich fähig bin: »Niemand.«

Seine Frisur sieht aus, als wäre er gerade erst aufgestanden, und dennoch weiß ich, dass er mindestens eine Ewigkeit daran gesessen hat, um sie so hinzubekommen. Seit ich ihn kenne, frage ich mich, wieso er seine Haare nach dem Aufstehen nicht einfach so lässt, wenn er unbedingt diesen Sleepy-Look haben will.

Grace sieht von oben bis unten an ihm herab, eine Braue missbilligend hochgezogen. »Deine Krawatte ist unausstehlich. Und – ich bitte dich, Logan – rote Hosenträger zu einem blau-weiß gestreiften Hemd?«

Er lächelt sie an – ein kühles, abwertendes Lächeln. »Hallo, Grace.« Dann wendet er sich wieder mir zu. »Evans«, sagt er (mir ist schleierhaft, wieso er mich seit der Grundschule mit meinem Nachnamen anspricht, und insgeheim frage ich mich, ob er überhaupt weiß, wie ich mit Vornamen heiße) mit diesem Blick, den er immer draufhat, kurz bevor er irgendeinen dummen, gemeinen Spruch loslässt. »Wie ich sehe, hast du endlich einen Grund dafür gefunden, warum du diese grässlichen Kleider tragen kannst.«

Ich sehe an meinem breiten Kleid hinab, das kurz unter den Knien endet. Na ja, eigentlich ist es kein richtiges Kleid. Meine Mom hat an ein gelbes T-Shirt, das mir zu kurz geworden war, einen langen Flatter-Jeansrock angenäht. Eigentlich finde ich es ganz cool, aber jetzt, wo ich drüber nachdenke, sticht es sich vielleicht doch etwas. Meine Wangen werden heiß, als ich daran denke, dass ich auch noch meinen knallroten Rucksack dazu trage.

»Was meinst du?«, frage ich und hoffe, dass mein gleichgültiger Ton überzeugend klingt. Aus den Augenwinkeln sehe ich Grace, die ihre Stirn in Falten legt und mitleidig zu mir herüberschielt. Meine Bestätigung, dass mein tapferer Versuch kläglich gescheitert ist.

Logan setzt einen gespielt mitfühlenden Blick auf, der jedoch stark im Kontrast mit seinen karamellfarbenen Augen steht, die schadenfroh funkeln. »Na ja, du hast zugenommen.«

Mein Kopf wird noch heißer, und ich presse die Lippen fest aufeinander. Als ich nichts entgegne, schlägt er sich theatralisch die Hand vor den Mund. »Oder bist du schwanger?«

»Halt die Klappe, Logan.« Grace tritt einen Schritt vor, die Arme vor der Brust verschränkt, und ich bin ihr unendlich dankbar, dass er sich nun ihr zuwendet. Hätte er mich noch länger angesehen, wäre mein Kopf vielleicht zu einer dampfenden Lokomotive mutiert, oder so.

»Und wenn nicht?« Am liebsten würde ich ihm sein belustigtes Grinsen aus dem Gesicht wischen.

Grace’ Stimme ist leise, aber bedrohlich, als sie ihm antwortet. »Du weißt, dass ich eine Bishop bin. Und wir Bishops wissen verdammt viel über die Cunninghams, also …« Sie zwinkert. »Deine Entscheidung.«

Er schnaubt. Mit einem letzten hochmütigen Blick auf mich und mein Kleid und einem knappen »Wir sehen uns auf der Gala« an Grace zischt er so anmutig ab, wie er gekommen ist.

»Gala?«, frage ich sie, als wir weiterlaufen und die Treppe zu ihrem Seminarraum nehmen.

Sie verdreht genervt die Augen. »Ja. Wieder mal. Es soll eine Spendengala für ein neues Kinderheim auf der achtunddreißigsten sein, und das finde ich eigentlich gut, wenn ich nicht wüsste, dass meine Eltern das alles nur unter dem Vorwand organisieren, eine neue Party zu schmeißen. Und das alles nur wegen ihm.«

Die kurzen Absätze meiner schwarzen Riemchenpumps klackern auf dem gebohnerten Fußboden. »Wem?«

Grace’ Blick wandert verträumt in die Ferne, und ich muss sie am Arm zur Seite ziehen, weil sie sonst gegen ein vorbeihastendes Mädchen gelaufen wäre.

»Caleb West.«

Wir sind an ihrem Raum angekommen, und ich lehne mich gegen die Wand. »Aha. Kenne ich nicht.«

Meine Freundin blinzelt verwirrt, als wäre sie aus einer Art Trance erwacht, und sieht mich ungläubig an. »Wie jetzt? Hast du das gesamte letzte Jahr auf dem Mond gelebt, oder was?«

Ich sage nichts dazu, sondern sehe sie einfach nur ausdruckslos an. Mein Zeichen für sie, dass sie gefälligst mit ihrer Neckerei aufhören und stattdessen Klartext reden soll. Klar, ich kenne sie seit dem Kindergarten, und ich bin wahnsinnig froh, dass ich Logan damals gegen das Schienbein getreten habe, als er ihr die Wachsmalkreide wegnehmen wollte. Seitdem sind wir beste Freundinnen, und ich würde es jederzeit wieder tun, jedoch geht es mir gewaltig gegen den Strich, wenn sie mich wie eine Idiotin fühlen lässt, nur weil ich nicht auf dem neuesten Stand bin, was die höhere Gesellschaft betrifft. Sie macht es nicht mit Absicht, das weiß ich. Wenn man wie sie das gesamte Leben lang auf Galas, Debütantinnenbällen, sonntägliche High-Society-Brunches und etliche Partys geschleift wurde, jedes Mal mit der Devise »Sitz still, und sieh hübsch aus«, kommt einem der gesellschaftliche Klatsch wohl irgendwann wie selbstverständlich vor.

Als Grace meinen Blick sieht, fängt sie sich schnell wieder und wedelt mit einer unbedeutenden Handgeste durch die Luft. »Nicht wichtig. So ein neuer Schauspieler, der letztes Jahr durch eine megageile Buchverfilmung international berühmt wurde. Jedes Mädchen steht auf ihn, alles dreht sich nur noch um diesen Kerl. Wann er einkaufen geht, wo er seine nächste Frisur schneiden lässt, wie lange er auf dem Klo saß …«

»Okay«, unterbreche ich sie schnell, bevor noch Einzelheiten kommen, und wechsle das Thema. »Hey, ist dir aufgefallen, dass Logan irgendwie vollere Lippen hat? Ich wette mit dir, der hat da was machen lassen. Chirurgisch, meine ich.«

Grace legt sich mit einer anmutigen Handbewegung die braunen Haare über eine Schulterseite, sieht verschwörerisch nach links und rechts und beugt sich dann zu mir vor. Ich liebe diese geheimnisvollen Insidernews, die sie immer zu berichten hat, als würde sie mir verraten, wo sich Edward Snowden versteckt hält.

»Hat er tatsächlich. Letzte Woche, glaube ich. Mein Dad hat beim Abendessen davon berichtet, dass Logans Mom zu Besuch aus Japan da war und direkt gemeint hat, es sei gerade der totale Trend, sich die Lippen ein bisschen voller machen zu lassen. Daraufhin sind alle drei, also Logan, Mr und Mrs Cunningham losgezogen und haben sich die Spritze geben lassen.«

Ich stupse sie gegen den Arm und lache. »Wenn du es erzählst, klingt es, als hätten sie sich Heroin gespritzt. Außerdem … lass sie doch, wenn sie wollen.«

Belustigt zuckt sie die Achseln, und ich sehe auf meine Armbanduhr. »O Gott, ich muss los«, sage ich und stoße mich von der Wand ab. »Treffen wir uns später bei mir?«

»Da ist er wieder«, seufzt Grace mit einem versonnenen Augenaufschlag, »der panische Unterton in der Stimme meiner Streber-besten Freundin, wenn sie zu spät zum Seminar kommt. Wie hab ich das vermisst.«

»Jaja«, sage ich kichernd und will schon losgehen, da drehe ich mich noch einmal um. Grace will gerade in den Raum gehen. »Du hast mir noch nicht verraten, was mit Leslie Anderson passiert ist.«

Sie grinst, eine Hand auf der Türklinke. »Sie kam auf eine Party ins Verbindungshaus, weil ein Kerl sie gefragt hat. Irgend so ein heißer Typ, soll wohl eine Wette gewesen sein. Ich hab sie dort abgefüllt, und irgendwann hat sie total betrunken auf dem Tisch getanzt, mit einer Wodkaflasche als Mikro und nur noch in Unterwäsche. Es wurden Fotos gemacht und überall in den Gängen aufgehängt und verteilt, das war so krass.«

Ich verziehe das Gesicht und schüttle den Kopf. »Das war nicht cool. Die Arme. Mach so was nicht wieder, Grace.«

Sie seufzt. »Ja, weiß ich jetzt auch. Glaub mir, danach hatte ich ein schlechtes Gewissen des Todes.« Sie lächelt ihr süßes Grace-Lächeln und macht einen Luftkuss. »Ach, Hazel?«, ruft sie mir noch hinterher, als ich schon die Hälfte des Flurs hinter mir gelassen habe.

Ich drehe mich um.

»Ja?«

Sie sieht mich mit einem Blick an, wie man einen kleinen Welpen anguckt, der gerade seine eigene Scheiße gefressen hat. Mitleidig und gleichzeitig nachsichtig, nach dem Motto: Das muss doch jetzt nicht sein, aber ich verzeihe dir, weil du ein kleiner unwissender Scheißer bist, der noch einiges von mir zu lernen hat. »Laut meines Stylisten sind Riemchenpumps seit letztem Jahr out. Aber dir stehen sie trotzdem, Süße.«

Ich verdrehe die Augen und schneide ihr eine Grimasse, ehe ich mich umdrehe und mich auf dem Weg zum Schauspielhaus mache. Was sie nicht mehr sieht, ist, dass mein Lächeln verblasst, sobald ich ihr den Rücken zugekehrt habe.

3

Ich werfe meinen Rucksack durch den Flur und streife meine Pumps im Gehen ab. Dabei falle ich fast vornüber und muss mich an dem Palisandersideboard abfangen.

»Mom?«

»Oben!«, brüllt ihre klare Stimme zurück. »Oben« ist gut. Meine Mutter ist praktisch eine Zimmernomadin. Sie wandert bestimmt hundertmal täglich von Raum zu Raum, um »ein bisschen Abwechslung in den Alltag zu bringen«. Unser Geld reicht nicht für ein externes Büro, deshalb macht sie schon seit Ewigkeiten Homeoffice. Manchmal ist es nervig, weil täglich irgendwelche fremden Menschen ein und aus gehen. Gelegentlich verirren sie sich in mein Zimmer, und ich fühle mich dann wie eine automatische Maschine, die auf Knopfdruck die Worte: »Wieder raus, den Flur links, vier Türen weiter«, aufsagt.

»Marco?«, rufe ich, während ich die hölzerne Treppe unseres kleinen Reihenhauses hochrenne. Oder eher hochpoltere.

Ihre Antwort kommt aus dem Arbeitszimmer. »Polo!«

Ich laufe über den mit Babyfotos übersäten Flur, schlittere dabei mindestens ein Yard mit dem weißen Läufer, bei dem die Rutschmatte fehlt, über das Parkett und öffne schließlich die Tür. »Hey.«

Meine Mutter sitzt hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch und brütet über einem Stapel Unterlagen, sich mit einem Kuli im steten Rhythmus gegen die Lippen tippend. Ich erkenne bereits unzählige blaue Punkte in ihrem Gesicht, das von ihrem blonden Haar umrahmt wird.

»Gewürztes Hackfleisch mit vier Buchstaben?«

Okay, doch keine Unterlagen. Ein Kreuzworträtsel. »Äh, keine Ahnung. Mett?«

Sie zeigt mit dem Kugelschreiber auf mich. »Du bist der Wahnsinn, Hazel Evans. Ein Wörterbuch auf zwei Beinen.«

Lächelnd lasse ich mich in den Sessel vor ihr sinken und klaue mir einen Keks vom Tisch. Es ist immer noch schwierig für mich, und während ich kaue, gehe ich bereits die Kalorien und Kohlenhydrate in meinem Kopf durch, aber ich versuche, es zu ignorieren. Ich will unbedingt an mir selbst arbeiten.

»Wie immer stolz auf deine Brut, was?« Krümel fallen mir beim Reden auf den Jeansrock, und ich wische sie zur Seite, wo sie in die Rillen des Ledersessels fallen und dort wahrscheinlich von nun an jahrelang ihr Dasein fristen werden.

Meine Mutter schreibt das Wort in die Zeitschrift, klappt sie anschließend zu und sieht mich mit ihren großen grünen Augen an. Die habe ich von ihr geerbt, keine Frage.

»Wie war’s zurück in der Anstalt für Reiche?«

So nennt meine Mutter die NYU seit jeher. Die Uni ist eine teure Privatschule, voll mit hochnäsigen reichen Kindern, die alles in den Hintern gestopft bekommen. Ich bin wohl die Einzige von ihnen, die aus mittelständischen Verhältnissen kommt. Abgesehen von den Stipendien-Nerds natürlich.

Meine Mom ist Anwältin, aber nicht gerade eine von denen, die mit teuren Designeranzügen durch New York City laufen und sich an jedem zweiten Kaffeestand einen Bagel kaufen. Nein, sie reißt sich um jeden Auftrag, den sie kriegen kann. Und dann geht das meiste Geld dafür drauf, dass sie mir diese teure Uni finanziert und das Haus abbezahlt. Wir leben in der teuersten Stadt der Welt, und selbst die schlimmsten Bruchbuden Brooklyns kosten schon ein Vermögen.

Jeden Tag aufs Neue wünsche ich mir, mich irgendwie bei ihr revanchieren zu können. Alles, was sie macht, das macht sie für mich. Eine Zeit lang habe ich die Zeitung ausgetragen, aber da habe ich gekündigt, weil es einfach zu früh morgens und damit direkt vor der Schule war. Dann hat mich eine Freundin meiner Mom in ihrem Modegeschäft jobben lassen, aus dem sie mich nach einem halben Jahr leider wieder entlassen musste, weil sich die Kunden über meine »inadäquate Beratung« beschwert haben. Na ja, immerhin hat sie es nett ausgedrückt. Sie hätte ja auch »stillose und fürchterliche Beratung« oder so sagen können. Ich bin mir sicher, die Kunden haben sich schlimmer ausgedrückt. Eine Frau hat mich mal als maßlos unverschämt beschimpft und gesagt, ich gehöre eher in eine Nähfabrik als in ein Modegeschäft, nur weil ich ihr eine gelbe Strumpfhose mit einem geblümten Sackkleid von ROKEDISS empfohlen habe. Seitdem arbeite ich in einer kleinen Buchhandlung, die hauptsächlich Nerds und ältere Damen besuchen, aber immerhin scheine ich bei denen als kompetent genug für den Job durchzugehen. Halleluja.

»Logan hat sich seine Lippen aufspritzen lassen«, antworte ich mit einem verschmitzten Lächeln.

Auf dem Gesicht meiner Mom erscheint ein breites Grinsen, und sie runzelt amüsiert ihre Stupsnase. Sie liebt Klatsch. »Ist nicht wahr.«

Ich nicke belustigt. »Doch wahr. Ist ja nicht schlimm, ich weiß. Vermutlich bin ich einfach auf Klatsch-Entzug.«

»Kein Wunder. Das Interessanteste, was du mir von da erzählt hast, war der Karnevalsumzug, als du von den Tänzern versehentlich mitgerissen wurdest.«

Ich erhebe mich lachend. »Du bist unmöglich.«

Sie hält abwehrend die Hände in die Luft und schüttelt unschuldig den Kopf.

Vor der Tür drehe ich mich noch einmal zu ihr um. »Grace kommt gleich. Wenn was ist, wir sind im Zimmer.«

»Okay«, murmelt meine Mutter, die bereits wieder mit dem Kopf über ihre Unterlagen gebeugt ist. Arbeitsunterlagen, vermute ich dieses Mal. »Wenn ich Zeit finde, komme ich kurz und knutsche sie.«

Ich kichere, als ich den Raum verlasse. Meine Mom liebt Grace und findet sie »ganz fantastisch und herzallerliebst«. Sie sagt immer, es grenze an ein Wunder, dass sie nicht nach ihren Eltern schlage. Deshalb ist es für sie auch kein Problem, dass Grace fast täglich bei uns ist, meistens sogar bis nach dem Abendessen. Ich bin eher selten bei ihr. Die Wohnsuite von ihnen ist viel zu riesig und irgendwie so unpersönlich und kalt. Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass mich ihre Eltern sonderlich mögen. Sie tolerieren mich lediglich, weil sie meine Mom von der Uni damals kennen – sie alle drei waren ebenfalls auf der NYU. Mom hat mir erzählt, dass sie sogar gut mit Alice Bishop, also Grace’ Mom, befreundet war, bis diese mit Harold, also Grace’ Dad, zusammenkam, die beiden nach der Uni voll durch die Decke gingen und das Plaza Hotel plus das Four Seasons führten. Seitdem beschränkte Mrs Bishop die Kommunikation mit Mom, wenn sie früher Grace zu Besuch brachte, auf Küsschen links, Küsschen rechts, dabei etepetete die rechte Hand in einer scheinbar anmutigen Pose in der Luft (für mich sah es immer so aus, als hätte sie ihre Hand gebrochen) und einem »Norma holt sie dann um sieben wieder ab. Ciao, Ciao.«

Oh, und Grace hat ein Auto. Also ist sie schneller bei mir, als wenn ich mit dem Fahrrad eine Stunde bis in die 57th fahre.

Als ich in mein Zimmer trete, bekomme ich beinahe einen Herzinfarkt und springe erschrocken in die Luft. Ein Fremder steht vor mir und sieht so fehl am Platz vor meinem weißen Schnörkelbett aus, dass ich gelacht hätte, wenn mir das Herz nicht fast aus der Brust springen würde.

»Verzeihung«, sagt er höflich und hält beide Hände entschuldigend in die Höhe. »Ich suche …«

»Wieder raus, den Flur links, vier Türen weiter«, höre ich meine innere Aufnahmekassette sprechen, ehe der Herr auch schon freundlich nickt und mein Zimmer verlässt.

Seufzend lasse ich mich auf mein Bett fallen, während ich mich von dem Schock erhole. Man sollte meinen, nach so vielen Jahren hätte ich mich endlich daran gewöhnt. Fehlanzeige.

»Der Kerl ist total gruselig«, sage ich und halte Grace die Chipstüte hin, nach der sie gerade geschnipst hat – Sour Cream and Onion. Ich muss mir Breakfast Club mit ihr ansehen, weil ich ihr das schon versprochen habe, als ich noch in Portugal war.

Sie steckt ihre Hand in die Tüte und krümelt das halbe Bett voll. »Finde ich nicht. Das liegt nur an seinem seltsamen Mantel.«

»Wenn du meinst.«

Grace seufzt, knüllt die leere Tüte zusammen und zieht die Schüssel Popcorn zu sich heran. Ich beneide sie so sehr dafür, dass sie essen kann, was sie will, und nie zunimmt. Vielleicht liegt es auch an ihrem Personal Trainer daheim, könnte natürlich sein. Und obwohl ich trotz meiner neu gewonnenen Pfunde noch ein wenig dünner als sie bin, komme ich mir stattdessen wie eine gemästete Kuh neben einer filigranen und anmutigen Ballerina vor.

»Hast du in Portugal eigentlich jemanden kennengelernt?«, fragt sie, während ich noch immer ihre Figur anstarre.

Nicht das schon wieder. Ihre ewige Leier, dass ich als elende Jungfrau sterben würde. Nachdenklich lege ich den Kopf schief. »Gewissermaßen.«

Grace wendet den Kopf ruckartig zu mir, und ich habe die Befürchtung, ihr heiß geliebter Haarreif könnte ihr vom Kopf fallen. »Wen?«

Achselzuckend strecke ich die Beine aus. »Keine Ahnung, wie der hieß. War auf so einer Party. Er meinte, ihm gefällt mein Lipgloss, der würde meine Lippen so betonen.«

Grace starrt mich fasziniert an und schaufelt das Popcorn in sich hinein. Der Film scheint sie plötzlich nicht mehr zu interessieren. »Und?«, hakt sie aufgeregt nach. »Was hast du gesagt?«

»Ich meinte, der Glanz wäre das Chipsfett.«

Grace’ Hand erstarrt mitten in der Luft, auf dem Weg zum Mund.

»O Hazel. Sag, dass das nicht wahr ist, bitte.«

Unbeirrt nehme ich die Platte mit dem Gemüse von der Fensterbank neben meinem Bett. »Ich fand ihn eh komisch, und außerdem …«

»Nein«, unterbricht sie mich schlagartig.

Mit gerunzelter Stirn und einer Karotte in der Hand sehe ich sie an. »Nein?«

Grace schüttelt den Kopf. »Du musst endlich damit aufhören, alle Männer für die absoluten Vollidioten zu halten. Nur weil dein Vater ein Arschloch war und deine Mom vor der Geburt verlassen hat, ist nicht jeder so.«

Ich verdrehe genervt die Augen. »Lucas hat dich mit Thomas betrogen, Grace. Einem Kerl. Und du willst mir erzählen, die Männer sind nicht alle so?«

Grace öffnet betroffen den Mund und wendet betreten den Kopf ab. Sofort bekomme ich Schuldgefühle. Ich werfe die Karotte zurück auf den Teller und lege ihr eine Hand auf die Schulter.

»Grace, ich …«

Sie lächelt aufgesetzt. »Schon gut. Du hast ja recht.«

In ihren Augen glitzern Tränen. Sie hat Lucas echt geliebt, immerhin waren sie fast sieben Jahre zusammen gewesen, bis sie ihn schließlich auf einer Benefizveranstaltung im Plaza mit Thomas in einem Zimmer erwischt hatte. In flagranti. Sie war monatelang vollkommen fertig gewesen. Fairerweise muss ich dazu sagen, dass es immerhin kein One-Night-Stand war. Die beiden Jungs sind seitdem ein Paar, und wirklich, wirklich süß zusammen, aber das könnte ich vor Grace niemals sagen. Betrügen bleibt betrügen, und was Lucas getan hat, war unter aller Sau.

»Nein«, sage ich und streiche ihr eine Strähne hinters Ohr. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur … Keine Ahnung, ich glaube, ich war irgendwie wütend.«

Grace streicht sich die Chipskrümel von ihrem Kleid und sieht mich mit verwirrtem Gesichtsausdruck an. Feine Tränen glitzern an den Spitzen ihrer langen dunklen Wimpern. »Warum denn?«

Im Hintergrund brüllt der Typ mit dem Mantel aus Breakfast Club ziemlich übel, also schalte ich die Lautstärke etwas runter und seufze. »Weiß ich nicht«, entgegne ich wahrheitsgemäß. Mein Blick bleibt an dem Bild an meiner grauen Wand hängen, und es verschwimmt vor meinen Augen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag. Es entstand an meiner Einschulung, und ich stehe dort mit dicker Brille und Schultüte in der Hand, während mein breites Grinsen eine süße Zahnlücke offenbart. Auf meinem blonden Haarschopf trage ich ein pinkes Cap, das ich mir zur Feier des Tages am Abend zuvor aussuchen durfte, und ich fühlte mich so unendlich schön damit. Als wir dann in die Klassen aufgeteilt wurden, hat Logan sie mir vom Kopf gerissen und lachend gemeint, mein Gesicht sei hässlich, ich hätte abstehende Ohren und eine Schweinenase. Dann hat er mir die Mütze wieder aufgesetzt und gesagt, das Pink passe zu mir, weil ich ein dickes Schwein sei.

Ich habe das Cap nie wieder getragen.

Seufzend lehne ich mich gegen das Kopfteil meines Bettes. »In meinem Leben war Tony bisher der einzige Mann, dem ich wirklich vertrauen konnte. Ansonsten habe ich mir immer Beleidigungen von Jungs anhören müssen, oder sie haben mich gar nicht erst beachtet. Ich meine, mein Dad wollte nicht mal etwas von mir wissen, obwohl ich noch gar nicht auf der Welt war. Sie haben einfach kein Interesse an mir.«

Grace legt betrübt den Kopf schief, so wie sie es immer tut, wenn sie betroffen ist. »Das stimmt nicht. Das mit deinem Vater ist verdammter Mist, Hazel, aber so sind sie nicht alle. Du kannst die Männer nicht verurteilen, nur weil einer von ihnen Scheiße gebaut hat. Und außerdem hast du doch gerade gesagt, dieser Portugiese fand dich gut.«

»Jaah«, antworte ich gedehnt und pule am Saum meines gelben T-Shirts herum. »Der war wirklich echt komisch, Grace. Ich meine, so richtig komisch. Kam mit einem Bauarbeiterhelm auf die Party und meinte, es sei eine Vorsichtsmaßnahme, falls er zu betrunken wäre und hinfallen würde. Und dann trug er den ganzen Abend eine Orange bei sich und hat sie nicht aus der Hand gegeben, weil sie sein Glücksbringer war, um Mädchen kennenzulernen.«

»Oh«, sagt sie und sieht mich mit ausdruckslosem Blick an, den sie anscheinend krampfhaft halten muss. Ihre Mundwinkel zucken, ich stupse sie in den Bauch und verdrehe belustigt die Augen.

»Na los, lach schon.«

Dann prustet sie los, und ich stimme lauthals mit ein, bis uns der Bauch wehtut und der komische Mantel-Typ aus dem Film draußen auf einer Wiese die Faust in die Luft streckt, fast so, als wollte er sagen: »Na, geht doch!«

4

 

Mit dem Finger umkreise ich den oberen Rand meines Glases, aber anscheinend will meine Cola Light heute keinen coolen Sound von sich geben. Tony steht hinter dem Tresen und putzt Gläser, dabei kann ich ganz genau erkennen, wie er mich von der Seite her beäugt. Außer mir ist bloß ein weiterer Gast da, ein kleiner untersetzter Mann mit Glatze, der einem Miniaturtroll gleicht und mit den Lippen stumm den Foo Fighters folgt, die im Hintergrund das Lied Pretender grölen.

»Okay«, sagt Tony schließlich seufzend, stellt das Glas beiseite und lehnt sich mit den Ellbogen vor mir auf die Marmorfläche. »Was ist los?«

»Wie kommst du darauf, dass was los ist?«, frage ich, ohne von meiner Cola Light aufzusehen. Mit den schwarzen Riemchenpumps tippe ich im steten Rhythmus gegen den Tresen (ich habe nicht auf Grace gehört und sie dennoch angezogen) und spüre weiterhin Tonys eindringlichen Blick auf mir.

»Erstens«, sagt er, legt mir den Zeigefinger unters Kinn und hebt meinen Kopf an, »bist du von deinem heiß geliebten Colaweizen wieder auf diese zuckerfreie Chemiescheiße umgestiegen …«

Ich will protestieren und eine Diskussion mit ihm anfangen, wie immer, wenn er mich wegen der »tödlichen Mörderchemie« in Cola Light aufzieht, aber er hebt den Finger und bedeutet mir zu schweigen. Der Typ am anderen Ende des Tresens schnipst mit den Fingern, um etwas zu bestellen, Tony beachtet ihn nicht. Manchmal frage ich mich, wie er es überhaupt schafft, dass der Laden abends immer so gut besucht ist.

»Und zweitens machst du ein Gesicht, als wenn du alle deine Bücher verschenken musstest.«

Wenn ich das tun müsste, würde ich denjenigen, der mich dazu gezwungen hat, den Arsch abfackeln. Ein Kichern entfährt mir bei diesem Gedanken, und sofort hellt sich Tonys Miene wieder auf. Sofort überfällt mich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihm Sorge bereitet habe. »Entschuldige«, nuschle ich, während im selben Moment der Miniaturtroll brüllt: »He, Tony Makkaroni, noch ein Summer Ale!«

Tony verdreht die Augen, stellt ihm einen neuen Drink vor die Nase und wendet sich wieder mir zu. »Also, Miss. Raus mit der Sprache. Und hör auf, gegen den Tresen zu treten, du machst noch Löcher rein.«

»Ich habe keine Stahlfüße!«, protestiere ich mit einem Lächeln. In meinem Kopf überschlagen sich gerade die Gedanken, ob ich Tony eine Antwort auf seine Frage geben oder es geschickt umgehen soll. »Okay«, sage ich schließlich seufzend und fühle mich ein wenig unbeholfen, weil ich so ein Thema noch nie mit ihm hatte. Unruhig nestle ich an dem Untersetzer meines Glases herum.

»Grace war heute bei mir«, fange ich an, während sich das Lied automatisch wiederholt und gerade wieder aus den Lautsprechern ertönt.

Tony grunzt. »Wenn das alles war, bin ich schwer enttäuscht. Grace ist immer bei dir. Sie ist praktisch dein siamesischer Zwilling oder so.«

»Ich habe sie ziemlich verletzt, glaube ich.« Tony entgegnet nichts, also fahre ich einfach fort. »Wir haben … na ja … Gott, ist das komisch. Okay, also wir haben irgendwie über Jungs geredet, und darüber, dass ich mich nie mit welchen treffe. Dann hat sie plötzlich von Dad angefangen und gemeint, ich solle aufhören, wegen ihm jeden anderen Kerl direkt als Mistkerl abzustempeln. Das hat mich wütend gemacht, verstehst du?«

Tony öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. Jetzt, wo ich erst so richtig in Fahrt bin, kann ich gar nicht mehr aufhören.

»Na ja, jedenfalls hab ich dann die Lucas Thomas-Sache hochgeholt, du weißt schon. Das war ziemlich mies von mir.«

Mit gerunzelter Stirn zwirbelt er das Geschirrtuch, nur um es wieder aufzurollen. »Lucas Thomas-Sache?«

»Tu nicht so. Ich hab’s Mom erzählt, die quasi die Plapperkönigin im Klatschnest ist und sich regelmäßig mit dir austauscht. Du weißt es.«

Abwehrend hält er die Hände in die Höhe und gluckst belustigt. »Schon gut, schon gut. Ich weiß es. War ’ne ziemlich heftige Nummer, oder?«

Ich nicke betroffen, lege meinen Arm auf den Tresen und bette seufzend mein Kinn darauf. Der kleine Teufel in meinem Kopf flüstert mir zischend zu, wie viel Speck sich doch auf meine Knochen gelegt hat, redet mir ins Gewissen, dass ich unbedingt wieder hungern solle. Er wird lauter, immer lauter, schreit beinahe, und ich will ihm schon fast glauben, aber … nein. Ich darf nicht. Darf nicht, darf nicht, darf nicht. Kurz kneife ich die Augen zu, schüttle den Kopf und sehe dann zu Tony auf. »Ausgerechnet ich muss meiner besten Freundin Salz in die Wunde streuen.«

Der Miniaturtroll lässt einen sehr männlichen und absolut widerlichen Rülpser von sich hören, ehe er den New York Yankees im Bildschirm ihm gegenüber zubrüllt, sie sollen sich verdammt noch mal endlich in den Arsch treten, sonst würde er auf der Stelle ins Stadion rennen und es selbst tun. Ich bezweifle, dass er mit seinem dicken Bauch und den kurzen Beinen dort wäre, ehe das Spiel beendet ist.

»War sie denn sauer?«, fragt Tony und reißt mich damit vom Anblick des Trolls weg.

»Hm? Äh, nein. Glaube nicht. Erst war sie verletzt, und dann haben wir geredet, und es ging.«

»Okay. Dann ist doch alles klar.«

»Schätze schon«, sage ich achselzuckend.

Tony deutet auf das Glas neben mir und bringt mich schließlich dazu, wieder den Kopf zu heben. »Und was hat es mit der Colaweizen-Krise auf sich?«

Wieder brüllt der Troll neben mir den Yankees irgendwelche Beschimpfungen zu, und weil ich das Spiel deshalb jetzt selbst verfolgen will, krame ich meine Brille aus der Tasche. Ich mag es nicht gern, sie zu tragen, weil sie mit ihren großen viereckigen Gläsern so nerdig aussieht, aber hier bei Tony kennt mich eh keine Sau.

»Colaweizen hat total viele Kalorien«, antworte ich schließlich, während ich mir die Brille auf die Nase schiebe, und rümpfe ein paarmal die Nase, um mich an das Gestell zu gewöhnen. »Das kann ich mir momentan nicht erlauben, nachdem ich eine Reisbombe in meinem Körper deponiert und platzen lassen habe.«

Jetzt ist es an Tony, genervt die Augen zu verdrehen. Er geht zum Laptop, stellt endlich eine neue Playlist an und sagt schließlich: »Darüber brauchen wir nicht sprechen, oder? Du weißt, weshalb deine Mom wollte, dass du das Auslandssemester in Portugal machst und wegkommst von diesen …«

Bevor er weiterreden kann, hebe ich eine Hand und bringe ihn mit einem bösen Funkeln sofort zum Schweigen. Er weiß, dass ich nicht darüber reden will, warum ich nach Portugal musste. Zum Glück akzeptiert er das und schüttelt bloß den Kopf.

»Wie auch immer. Ich bin froh, dass du wieder da bist, Hazel. Du hast hier echt gefehlt.«

»Ja?«, entgegne ich lächelnd, während ich beobachte, wie Gary Sanchéz einen perfekten Fang macht, der Troll in der Ecke rumbrüllt wie ein Bekloppter, seine Flasche in Siegerpose erhebt und dabei sein ganzes Bier verschüttet.

»Keine fröhliche Gesellschaft, die mich ersetzen konnte?«

Tony nimmt sich ein Glas aus dem Regal und füllt es mit Leitungswasser, ehe er einen Schluck trinkt.

»Nope«, entgegnet er schließlich. »Nur dieser seltsame neue Kerl, der hier plötzlich ständig auftaucht. Redet nie, sitzt einfach nur da und trinkt seinen Drink. Manchmal bleibt er sogar mehrere Stunden, bis es zu voll wird, dann geht er. Aber immerhin zahlt er gut, also von daher.«

Feixend hebe ich den Zeigefinger. »Dein Kerker hier könnte genauso gut ein Treffpunkt für Vampire und Werwölfe sein, so düster ist es hier. Da darfst du dich nicht über seltsame Kundschaft wundern. Vielleicht ist er ja Mitglied von Anonymous oder so.«

Lachend verdreht Tony die Augen und wirft mir eine frische Scheibe Zitrone in mein Glas. »Hazel, du liest zu viel Fantasy.«

»Und du zu viele Sachbücher.«

Er schmunzelt, und eine Weile schweigen wir, während ich dem Troll bei seinen Beschimpfungen zuhöre und ab und zu im Takt der Musik mitpfeife, als plötzlich die Türglocke bimmelt.

Tonys Blick hebt sich, seine Brauen wandern die Stirn hoch. »Da ist er ja.«

Der Kerl, der da gerade die Bar betritt, ist so was von kein Mitglied von Anonymous. Mir schleierhaft, weshalb gerade das mein erster Gedanke ist, aber Anonymous-Mitglieder tragen in meiner Vorstellung keine Lederjacke und Doc Martens-Bikerstiefel. In Filmen wäre das jetzt so ein Moment, in dem der ganze Hintergrund plötzlich verschwimmt und unwichtig wird, während der Kerl aufsieht und sich nicht mehr von mir losreißen kann. Tja, das Leben ist kein Film. Und er sieht auch nicht auf, kein einziges Mal, bis er an seinem Platz am Tresen sitzt.

Aus irgendeinem Grund kann ich nicht aufhören, ihn anzustarren. Ich will, dass er den Kopf hebt, damit ich sein Gesicht sehen kann, aber er sieht stumm auf die Maserung im Marmor.

»Hast du heute schon gegessen?«

Tonys Stimme reißt mich von dem Typ weg, und einen Augenblick blinzle ich ihn zerstreut an. »Hä? Ach so … Nein. Ich meine, ja.« Ich war schon immer eine schreckliche Lügnerin, und ich tue es nicht gern, besonders nicht bei Tony, aber ich will nichts essen. Schließlich muss ich erst die fest platzierte Reisbombe in mir wieder loswerden. Und würde ich doch etwas essen, dann … na ja, würde es in etwas enden, das ich unbedingt vermeiden will. Gegen das ich seit einem verdammten Jahr ankämpfe und das momentan heftig in mir kribbelt. Wie brodelnde Lava im Vulkan, die unbedingt rauswill, aber von einer imaginären Faust krampfhaft hinuntergedrückt wird.

Tony stellt dem düsteren Kerl ein Summer Ale hin, ehe er sich mit der Hüfte an die Spüle hinterm Tresen lehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. »Das heißt Nein. Warum nicht?«

»Keine Zeit«, nuschle ich, nehme schnell einen Schluck meiner Cola Light und schütte mir aus Versehen einiges davon auf mein Shirt. Als ich seinem Blick begegne und er den Mund aufmacht, um etwas zu sagen, weiß ich schon, was jetzt kommt. Es ist immer dieselbe Leier. Abwehrend hebe ich die Hände. »Schon gut! Ich esse was.« Tief Luft holend drehe ich mich auf meinem Barhocker zur Seite und sage: »Würdest du mir vielleicht …«

»Nein!«, fährt mich der seltsame Typ an und wirft mir einen so bedrohlichen Blick zu, dass ich eine Gänsehaut bekomme.

Im ersten Augenblick bin ich zu perplex, um etwas zu sagen, und starre mit verwirrtem Blick in seine kristallblauen Augen. Mein Gott, sind die blau.

Als der Miniaturtroll im Hintergrund den Fernseher anschreit, fange ich mich schließlich wieder und schüttle den Kopf. »Was hast du denn für ein Problem? Ich wollte doch nur die Salzstangen neben dir haben!«

Erst wandert sein Blick zu der Tasse mit den Salzstangen neben sich, dann wieder zu mir. Dabei starrt er mich an, als müsste er sich verhört haben. »Die Salzstangen?«

Gott, ist der Kerl schwer von Begriff. Entnervt verdrehe ich die Augen. »Ja. Du bist echt seltsam, weißt du das?«

Als er nichts erwidert und mich immer noch ansieht, als wäre ich ein genmanipulierter Alien mit Schweinekopf, füge ich stirnrunzelnd hinzu: »Hattest du einen schlechten Tag oder so?«

Er schüttelt stumm den Kopf, und mittlerweile wünschte ich, mir die Salzstangen einfach selbst geholt zu haben. Mit den Fingern pule ich den Untersetzer meiner Cola Light auseinander, ohne den verwunderten Blick von ihm abzuwenden.

»Wie auch immer.« Die Salzstangen sind mir, ehrlich gesagt, inzwischen ziemlich egal. »Ich bin Hazel Evans, und du?«

Kurz wendet er seinen Blick wieder ab und starrt beinahe schockiert auf das Etikett seines Summer Ale, als hätte ich ihn gerade abgrundtief beleidigt. Er umklammert die Flasche und rutscht ein Stück auf seinem Hocker vor, sodass das Licht über ihm auf seine dunkelblonden Haare fällt. Ich denke schon, er bekommt gleich irgendeinen Anfall oder so, da wendet er sich urplötzlich wieder mir zu – diesmal ein amüsiertes Grinsen im Gesicht.

»Hazel?« Seine schockierte Miene ist wie weggewischt. »Du hast blonde Haare, grüne Augen, und dein Name ist Hazel?«