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Logan ist Manhattans Good-Guy. Jeder will ihn. Doch er will nur Grace. Grace, die ihn seit Kindertagen hasst und nie an sich heranlassen würde. Oder? Ein gefühlvoller Enemies-to-Lovers-Roman für alle Fans der Bestsellerautorin Grace Bishop ist ein Upper-East-Side-Girl und Teil von Manhattans Elite. Mit ihrem Abschluss der New York University Business School in der Tasche und der Aussicht auf eine sichere Zukunft als Hotelerbin scheint ihr Leben perfekt zu sein. Doch die Realität sieht anders aus. Grace fühlt sich schon lange nicht mehr wohl in einer Welt, in der alles vorherbestimmt ist. Deshalb schmiedet sie eigene Pläne. Pläne, die ihre Eltern niemals akzeptieren würden. Dabei kommt ihr Logan in die Quere, einer der reichsten Söhne Manhattans, der jeder Frau das Herz bricht. Logan, den sie seit ihrer Kindheit verabscheut … »Forbidden Lies« ist der zweite Teil der »East Side Elite«-Trilogie von Ayla Dade. Die Bände sind lose verknüpft und unabhängig voneinander lesbar.
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Triggerwarnung: ungewollte Schwangerschaft, toxische Familienverhältnisse
© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2023 Piper Verlag GmbH,
Korrektorat: Michaela Retetzki
Bei diesem Werk handelt es sich um die überarbeitete Wiederveröffentlichung des Titels »Haunted Love – Perfekt war gestern« von Ayla Dade erschienen 2019 im Piper Verlag
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
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Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle, die das Gefühl haben, nicht perfekt zu sein.Ihr seid es. Jeder von euch.
A Little Too Much – Shawn Mendes
An Wunder – Wincent Weiss
Book Of Love – Peter Gabriel
Down On Me – Jeremih
Everything I Need – Skylar Grey
Havana – Camila Cabello
Ich lass für dich das Licht an – Revolverheld
Impossible – James Arthur
Kaum erwarten – Wincent Weiss
Mad World – Gary Jules
Next – Ariana Grande
Save Tonight – Eagle-Eye Cherry
Sit Still, Look Pretty – Daya
Sweet But Psycho – Ava Max
Talk Dirty – Jason Derulo
That’s What Friends Are For – Dionne Warwick, Elton John
Was du Liebe nennst – LNMOP, ZOË
Wiggle – Jason Derulo
You And Me (In My Pocket) – Wincent Weiss
Zu dir – Lea
Grace
Seit fünfundvierzig Minuten starre ich auf diesen Namen.
Miss Cervelat.
In zwei Wochen wird ihre Cousine bei uns im Plaza heiraten, und Miss Cervelat besteht darauf, einen neuen Platz zugewiesen zu bekommen. Die Tatsache, dass die Sitzordnung seit fast sieben Monaten in trockenen Tüchern ist, scheint sie nicht zu interessieren. Ehrlich gesagt, denke ich, sie interessiert sich momentan für gar nichts außer für den Schoß von Mr Shaw, denn urplötzlich will Miss Cervelat nicht mehr neben ihrem eigentlichen Lover sitzen. Und genauso urplötzlich käme für sie nur noch der Platz neben Mr Shaw infrage, der, nebenbei bemerkt, der Mann der besten Freundin ihrer Cousine ist.
Wenn jemand meint, das wäre das Komplizierteste an der Sache, der hat sich bisher nicht diese Sitzordnung angesehen. Ich kann Mr Shaws Frau auf keinen Fall wegsetzen. Infrage käme nur, seine Schwester neben Cervelats Lover, oder vielmehr Ex-Lover, zu platzieren. Meiner Meinung nach die einzig logische Vorgehensweise. Ich würde mir ja anerkennend auf die Schulter klopfen und endlich dieses stickige Büro verlassen, aber Miss Cervelat sagt nope. Das hat sie mir wirklich so gesagt. Am Telefon.
Sie meinte: »Miss Bishop, was soll ich sagen? Nope.«
Dann habe ich es wiederholt, hauptsächlich deshalb, weil sie mich damit überrumpelt hat. Also meinte ich: »Nope?«, und sie noch einmal: »Richtig. Nope.«
Auf meine Frage, wo denn das Problem liege, hat sie erst einmal theatralisch meinen Namen geseufzt. Auf eine Art und Weise, als würde sie seit Stunden mit mir in einem Versicherungsbüro sitzen und mir zum x-ten Mal erklären, weshalb ein Schadenersatz nicht infrage käme.
»Miss Bishop«, sagte sie also. Ganz lang gezogen natürlich. »Ich habe nur diesen Abend, um mir den Mann zu angeln. Das kann ich nicht, wenn pausenlos diese Zecke an ihm haftet. Wenn Sie einmal dreiundfünfzig sind, werden Sie an mich und meine Worte denken, glauben Sie mir.«
Das wollte ich mir nicht wirklich vorstellen. Also habe ich diesen Gedanken verdrängt und mich auf die Frage konzentriert, wo ich Mrs Shaw hinsetzen und was für eine Begründung dies rechtfertigen könnte, aber leider kann ich seit geschlagenen zwanzig Minuten nicht aufhören, mir Mr Shaw vorzustellen, der mit einer Wurstscheibe tanzt. Cervelatwurst.
Meine Produktivität ist heute im Keller. Ganz eindeutig.
Gerade schiebe ich meine Finger unter mein breites Seidenhaarband, um mir die Kopfhaut zu massieren, da klingelt mein Handy. Ich war selten so erfreut über eine Ablenkung.
»Ja?«
»Hey. Kommst du voran?« Hazel. Meine beste Freundin. Es ist, als könnte mich allein der Klang ihrer Stimme mit neuer Energie aufladen.
Lächelnd lehne ich mich zurück, schlage die Beine übereinander und fokussiere die Spitze meiner Jimmy Choo Heels. Am liebsten würde ich mir bequeme Schuhe anziehen, aber Mom bekäme einen Tobsuchtsanfall, wenn sie wüsste, dass ich den Weg vom Büro bis hoch in unsere Suite ohne Jimmy Choos gegangen bin.
»Wir haben einen Ruf zu verlieren, Grace«, würde sie sagen. Und natürlich herablassend mit der Zunge schnalzen, wie meine Mutter es immer tut, wenn sie mir zeigen will, welch inakzeptables Verhalten ich wieder einmal an den Tag lege.
»Was soll ich sagen? Nope«, antworte ich, darum bemüht, Miss Cervelats rauchige Stimme gekonnt wiederzugeben.
Hazel kichert. Wir haben vorhin schon einmal telefoniert, irgendwann zwischen meinem Gespräch mit der Cervelatwurst und weiteren verzweifelten Versuchen, Mr Shaw von seiner Frau zu trennen, die Miss Cervelat so liebevoll als Zecke betitelt hat. Wirklich höflich. Ich meine, wer würde nicht gern ein kleines fettes Vieh mit gekrümmten Beinen sein? Ich zumindest wäre wunschlos glücklich.
»Die arme Braut«, sagt Hazel. »Wenn ich eine Cousine wie Miss Cervelat hätte, die mir meine Hochzeit verdirbt, würde ich ihr Tage vorher Enthaarungscreme ins Shampoo mischen.«
Sofort stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. »Hey, dafür bin ich zuständig. Als deine Trauzeugin ist es mein Auftrag, dir jedes Biest vom Hals zu halten, ohne dass du etwas von dem Stress mitbekommst.«
Ich kenne Hazel so gut, dass ich am Klang ihrer Stimme ein Lächeln heraushören kann. »Wie traurig, dass die Cousine von der Wurst keine Grace Bishop hat.«
»Hat sie ja«, widerspreche ich und beginne, mich in dem ergonomischen Drehstuhl langsam um meine eigene Achse zu drehen. »Nur leider hat die das Pech, die Zecke zu sein. Sie ist das Angriffsziel der Cervelatwurst.«
»Ich glaube, ich werde nie wieder Salami essen können.«
»Du bist ja auch Vegetarierin.«
»Stimmt. Aber selbst wenn ich keine wäre. Cervelatwurst käme nie wieder infrage.«
Ich lächle. »Wie sieht es denn bei dir mit den Save the Date-Karten aus?«
Hazel seufzt. Es klingt, als würde sie sich aufs Sofa plumpsen lassen. Vor zwei Wochen ist sie zu ihrem Verlobten Caleb West in sein luxuriöses Penthouse gezogen, das er sich als international bekannter Schauspieler natürlich leisten kann.
»Es geht. Ich hätte nie gedacht, dass Cal so anspruchsvoll sein kann, was die Planungen der Hochzeit betrifft. Weißt du noch, die Idee der schlichten weißen Karten in den goldenen Umschlägen, die wir auf Pinterest gefunden haben?«
Ich nicke, bis mir einfällt, dass sie es nicht sehen kann. »Klar. Die waren süß.«
»Genau da liegt das Problem. Caleb findet sie zu süß. Er möchte etwas Eleganteres.«
Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, weil ich förmlich vor mir sehe, wie Hazel genervt die Augen verdreht und anschließend die kleine Stupsnase kräuselt.
»Schlag ihm mal Karten in Mittelalteroptik vor, mit verbrannten Ecken und Wachssiegel. Nur um seine Reaktion aufzunehmen und sie dann in deiner Instagram-Story zu posten.«
Hazel gluckst. »Das wäre der Hit. Ich glaube, ich mach das jetzt ernsthaft. Soll ich dich verlinken?«
»Ich bitte darum.«
»Gut. Wir sehen uns dann morgen früh vor dem Businessgebäude?«
»Wie immer, beste Freundin.«
Wir legen gerade in dem Moment auf, als ich meine letzte Drehung mit dem Stuhl mache und plötzlich fast einen Herzanfall erleide, als ich die leibhaftige Geiergestalt meiner Mutter vor mir erblicke.
»Hast du mich erschreckt.«
Sie zieht eine ihrer dünnen Brauen hoch, die sie immer so dick nachmalt, dass sie nicht künstlicher aussehen könnten. »Ich darf also annehmen, die Sitzordnung ist fertig?«
Als hätte ich einen Plan, was ich tue, blättere ich mit geschäftigem Blick in den Unterlagen herum. »Und was genau verleitet dich zu dieser Annahme, Mutter?«
Das Klackern ihrer Absätze auf dem gefliesten Marmorboden verrät mir, dass sie zwei Schritte näher gekommen ist. Ich will nicht aufsehen, weil ich plötzlich keine Lust auf einen zweiten Blick auf ihre dicken Brauen habe, obwohl ich sie jeden Tag sehe.
»Dein Telefonat mit Hazel.«
Ich presse die Lippen aufeinander. »Ja. Ich bin fertig.«
Die Cervelatwurst bleibt, wo sie ist. Ganz bestimmt will ich nicht der Grund für eine Ehekrise zwischen Mr Shaw und seiner Zecke sein. Wenn Miss Cervelat damit ein Problem hat, soll sie das mal ihrer heiratenden Cousine erklären.
»Gut«, antwortet meine Mutter in einem Tonfall, der nicht offensichtlicher verraten könnte, dass sie auch nichts anderes akzeptiert hätte. »Dein Vater und ich gehen aus.«
Erst jetzt hebe ich den Blick. Meine Mutter zupft imaginäre Fussel vom Kragen ihres Burberry-Mantels.
»Wie schön, dass er sich immerhin Zeit für dich nimmt.«
»Ich bitte dich, Grace«, entgegnet Mom. Sie schnalzt mit der Zunge. Natürlich. »Erst letzte Woche wart ihr zwei gemeinsam shoppen.«
Hauptsächlich, um etwas zu tun zu haben, sammle ich die auf der Tischplatte verteilten Unterlagen zusammen und hefte sie in den dicken schwarzen Ordner. Ich lasse die Metallbügel stärker zusammenschnappen als gewollt, ehe ich mit hochgezogenen Brauen meine Mutter ansehe.
»Dad hatte Anprobe für seinen Anzug und hat mich mitgeschleppt, damit ich währenddessen seinen Termin beim Steuerberater wahrnehmen konnte. Shoppen sieht für mich anders aus.«
Mom zuckt die Achseln und schiebt sich anschließend die Henkel des kleinen Täschchens, das ich grottenhässlich finde, höher auf die Schulter. Es sieht aus wie ein zu groß geratenes, viereckiges Brillenetui. Ein schweineteures Brillenetui.
»Da musst du mit deinem Vater drüber sprechen, Grace.«
Mit Sicherheit. Der Zug ist für mich nur schon lange abgefahren. Als ob ich um seine Aufmerksamkeit betteln würde. Allein der Gedanke daran entlockt mir ein unglaubwürdiges Grunzen. »Schon gut. Viel Spaß euch beiden.«
Meine Mutter macht ein Gesicht, als hätte ich ihr den Abend verdorben. Dabei meine ich es ernst. Aber das glaubt sie mir natürlich nicht. Sie glaubt nie etwas, das gut gemeint ist. Einfach weil sie selbst es nicht so meinen würde und immer von ihrem Verhalten auf andere schließt.
»Dein Vater hat wenig Zeit. Irgendwann wirst du dieses Hotel übernehmen und ihn dann verstehen.«
Danach geht sie. Und ich bin dankbar dafür.
Ihre Worte haben mir einen so heftigen Stich verpasst, dass ich den schwarzen Ordner von mir schiebe.
Irgendwann wirst du dieses Hotel übernehmen und ihn dann verstehen.
Das ist der Plan meiner Eltern, aber … es ist nicht meiner.
Schon die Vorstellung, es in meiner Zukunft pausenlos mit Menschen wie der Cervelatwurst zu tun zu haben, lässt mich schaudern. Mein Magen verkrampft sich, wenn ich bloß daran denke, morgen wieder vor dem Businessgebäude zu stehen und ein weiteres Seminar über International Management zu besuchen, obwohl ich ganz genau weiß, dass es nicht das ist, was mein Herz tun will.
Aber das weiß niemand. Nicht einmal Hazel. Sogar ich hatte bis vor Kurzem keine Ahnung, dass der Weg, den meine Eltern für mich vorgesehen haben, nicht der ist, den ich mir wünsche. Doch wie soll ich es schaffen, einen Weg zu verlassen, dessen Route genau vorherbestimmt ist? Aus einem Käfig auszubrechen, dessen Türen vor Jahren verschlossen wurden? Meine Eltern würden niemals verstehen, was ich ihnen zu sagen versuchen würde. In ihrem Käfig sitzt das falsche Tier.
Logan
Zum hundertsten Mal an diesem Abend gehe ich die Liste durch. Sie liegt locker in meiner Hand, während ich in der anderen ein Glas mit achtzehn Jahre altem Whisky halte. Chivas Regal. Auf Eis. Mein dritter in der vergangenen Stunde.
Jeder aus meinem Jahrgang, der nicht gerade eine Karriere am Broadway anstrebt, besitzt dieses Stück Papier. Wir nennen es alle bloß die Liste. Als wäre es ein geheimnisvolles Schriftstück aus einem Dan Brown-Roman, das uns mit einer atomaren Katastrophe vernichten könnte, wenn wir es nicht mit Vorsicht behandeln. Wozu wohl auch gehört, auf den Gängen der Uni den Namen nur zu wispern, aus Angst, hochexplosives Uran könnte beim zu lautem Klang der Liste freigesetzt werden und eine Explosion verursachen.
Meine Finger werden steif, weil ich zu lange in derselben Position verharrt habe und das Eis im Glas meine Nervenenden betäubt. Also nehme ich einen großen Schluck, stelle das leere Glas auf den Beistelltisch neben meiner Chaiselongue und beuge mich vor. Mit meinen kalten Fingern glätte ich die Furchen in meiner Stirn, die sich in der letzten Stunde, seit ich unaufhörlich die Liste angestarrt habe, dort fast eingebrannt haben.
Zwölf Castings.
Das ist es, was diese Scheißliste enthält. Mehr nicht. Und dennoch bereitet sie mir einen solchen Druck, dass ich mich nachts hin und her wälze und wach liege. Über den Sinn dieser neuen Po-Dusche nachdenke, die gerade den Markt erobert. Ja wirklich, Po-Dusche. Ich meine, wer gibt bitte Geld für eine handliche Wasserkanone aus, um sich nach dem Geschäft nicht mit Toilettenpapier säubern zu müssen, weil das ja ach so viel Geld sparen würde? Keine Ahnung. Ich komm nicht drauf. Aber genauso wenig komm ich drauf, weshalb ich mir nachts stundenlang über solch hirnrissige Dinge Gedanken mache, bloß um nicht an die Liste zu denken.
Oder an Grace.
Fuck, ich verstehe einfach nicht, wie sie das gemacht hat. Wie sie sich seit letztem Sommer in mein Hirn eingeschlichen und sich dort ein gemütliches Plätzchen gesucht hat, um bloß nicht mehr daraus zu verschwinden.
Es ist ein Sommer vergangen, der uns geprägt hat. Hazel und Calebs Sommer. Es war eine seltsame Zeit. Monate, in denen sich so vieles in meinem Leben verändert hat. Plötzlich hatte ich mehr mit Hazel und Grace zu tun als in meinem ganzen bisherigen Leben, und das, obwohl wir seit Kleinkindalter dieselben Schulen besuchten. In diesem Sommer habe ich mehr Worte mit Grace Bishop gewechselt, als ich es je zuvor getan hatte. Und obwohl die Gespräche nicht viel mehr als Wortgefechte und Schlagabtausche waren, habe ich mich plötzlich dabei erwischt, wie ich jeden Abend ihren Instagram-Feed stalkte und mein Herz zu klopfen anfing, sobald sie eine neue Story hochgeladen hatte. Selbst wenn es nur der schwankende Bumerangeffekt ihres Cosmopolitan in einer Bar oder ein Bild ihres müden Gesichts samt Schmolllippen am Morgen war. Ich konnte nicht mehr aufhören, sie zu stalken.
Und dann kam der Herbst. Unsere Wortgefechte wurden weniger. Sie begann über meine Witze zu lachen, obwohl es noch derselbe trockene Humor war, über den sie damals ständig die Augen verdreht hatte. Sie begann mir Nachrichten zu schreiben. Zwar harmlos, nichts Privates, immer nur Reaktionen auf meine Instagram-Storys oder Antworten in dem Gruppenchat, den Hazel mit Caleb und uns gemacht hatte, um Treffen besser planen zu können. Wir gingen abends alle zusammen essen, feierten Fall Break in einem Club, und Calebs Vater veranstaltete eine Halloween-Party, auf der wir vier in Partnerkostümen erschienen und eine Gruppe von The Walking Dead darstellten. Der Herbst war schön. Wenn ich jetzt an ihn zurückdenke, spüre ich Glück und Freude und das Gefühl, breit lächeln zu wollen. Der Herbst war die Zeit, in der ich es langsam guthieß, dass Grace es sich in meinem Kopf gemütlich machte. Ich verlor die Unsicherheit darüber. Aber statt der Sache auf den Grund zu gehen, nahm ich es schlichtweg hin und setzte mich nicht weiter damit auseinander. Es gab keine Annäherungen zwischen mir und Grace, außer denen, als sich unsere Finger berührten, wenn wir uns beim Essen das Salz reichten oder ich sie so heftig zum Lachen brachte, dass sie sich an meiner Schulter festkrallen musste.
Auf den Herbst folgte der Winter. New York ist ein schöner Ort für diese Jahreszeit. New York im Winter ist gemütlich. Es ist romantisch. Und es wäre die beste Zeit gewesen, dass Grace und ich uns näherkamen. Aber das taten wir nicht. Im Gegenteil. Es wurde die Zeit, in der wir uns voneinander entfernten. Ich glaube, sie spürte es langsam. Dieses Knistern zwischen uns. Und genau wie mir machte es ihr Angst. Vor allem im Winter. Wenn der Himmel seine dicken Schneeflocken auf die kahlen Äste wirft und die Menschen mit roten Wangen im Central Park Schlittschuh laufen. Wenn die Luft nach gebrannten Mandeln duftet und der betörende Geruch von Zimtaroma zu einem herüberschwebt.
In diesem Winter machten wir kaum etwas zu viert. Hazel wurde überhäuft mit Model-Aufträgen für die neue Kollektion, und Caleb war fast durchgehend in Mosambik, wo er einen neuen Film drehte. Mehrmals erwischte ich mich dabei, wie ich Grace’ Namen in mein Handy eingab und minutenlang auf den leeren Chat starrte. Ich tippte oft eine Nachricht und löschte sie wieder. Nicht weil ich mich vor ihrer Antwort fürchtete, sondern davor, dass ich plötzlich mehr von einer Frau wollte. Dass ich plötzlich bereit war, einer Frau Vertrauen zu schenken.
Mitte Dezember, zum Winter Break, flog Grace mit ihrer Familie in die österreichischen Alpen. Als ich am Heiligen Abend auf der Weihnachtsfeier meines Vaters saß, mit unzähligen versnobten Menschen, die ich nicht mochte und die nur da waren, weil ihr Unternehmen einen hohen Aktienkurs besaß oder sie sonst viel Geld auf ihrem Schweizer Konto besaßen, starrte ich sehr lange ins knisternde Feuer. Selbst dann noch, als die meisten Gäste gegangen waren und die Kohle bloß noch schwach glühte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich niemals so sein wollen würde. Ich wünschte mir ein Weihnachtsfest, bei dem ich mit meiner Frau und meinen Kindern vor einem großen Baum saß, wir Maronentee tranken, in den wir unsere Kekse dippten, Lieder über Schneemänner hörten und uns dabei mit glühenden Augen ansahen, weil wir uns liebten und unsere Kinder das Schönste waren, was dieses Leben uns beschert hatte.
Grace kam im Januar wieder. Ich fragte sie, ob wir ausgehen wollten. Sie lehnte ab. Ich fragte sie weiter und weiter und weiter, aber sie reagierte immer gleich. Ein verhaltenes Lächeln mit einem knappen Kopfschütteln, das deutlich verriet, wie sehr sie dieses Date eigentlich wollte. Trotzdem gab ich nicht auf. Ich klebte ihr an den Fersen wie ein treuer Hund seinem Herrchen, weil mir endlich klar wurde, was ich wollte.
Inzwischen brach der Frühling herein, und Grace und ich sahen uns immer seltener. Der Abschluss stand bevor. Wir hatten keine Zeit, uns mit unseren Wünschen und Zweifeln zu beschäftigen. Vielleicht danach. Vielleicht später.
Vielleicht irgendwann.
Aber nicht heute.
Ich fahre mir mit den Fingern von den Furchen meiner Stirn weiter zu meinem Haaransatz, wo sie sich in den Strähnen verlieren und sich scheinbar selbstständig dazu entscheiden, mir einen Jimmy Neutron-Look zu verpassen.
Die Liste in meiner Hand enthält alle Castingtermine, die bis zum Ende des Semesters noch anstehen. Und damit auch bis zu meinem Abschluss. Vier von ihnen sind schon verstrichen, ohne dass ich vorgesprochen hatte. Nicht etwa, weil ich nicht wollte. Vermutlich hätte ich schon Luftsprünge bis nach Tahiti gemacht, wenn ich nur bei einem dieser vier Termine hätte vorsprechen können.
Aber es kam keine Einladung.
Jeden Tag habe ich unsere Haushälterin Brenda gebeten, mich sofort anzurufen, sobald die Post gekommen war. Und jedes Mal sagte sie dasselbe, immer eingeleitet mit einem melancholischen Seufzer, als wäre es ihre eigene Schuld und sie würde sich dafür schwere Vorwürfe machen.
»Heute ist leider nichts dabei, Logan.«
Sechs Termine auf der Liste sind offene Castings. Dort könnte jeder hingehen und vorsprechen, was bereits impliziert, dass keiner aus unserem Jahrgang dort hinwill. Es ist quasi der Notfallplan. Eine Hintertür, die man nehmen kann, wenn kein anderer Ausweg mehr zugänglich ist. Niemand will zu den offenen Castings. Sie sind Müll. Selbst wenn man vorsprechen und eine Rolle bekommen würde, wäre man hinterher vermutlich in einem Dokumentarfilm zu sehen. Oder, schlimmer noch, in einem Horrorfilm, der von Amateuren gedreht wird – mit schrecklichen Gruselszenen, die an den ersten Halloween-Film erinnern. Der mit Donald Pleasence.
Wenn jemand aus unserem Jahrgang bei einem offenen Casting war, sickerte das sofort durch. Irgendwie kommt das immer raus. Da ist dann zum Beispiel die Tante der Cousine des Freundes der besten Freundin oder so, die einen gesehen hat, und schon geht das rum. Keine Ahnung, wie das immer so schnell die Runde macht, aber solche Informationen verbreiten sich an der Uni wie ein Lauffeuer. Dann wird auf den Fluren und Gängen über nichts anderes geredet, wieder in diesem schrecklichen Wisperton, in dem auch über die Liste gesprochen wird. Denn natürlich ist diese Neuigkeit wie das zweite Fass Uran, das zusammen mit der Liste den heißesten Gesprächsstoff bietet.
Ich würde niemals zu einem offenen Casting gehen. Nicht wegen der Angst, dass die Leute reden könnten, sondern weil ich etwas erreichen will. Ich bin begabt. Wirklich. Wenn ich eines gut kann, dann ist es, in eine Rolle zu schlüpfen, meine Identität aufzugeben und mich völlig neu zu erfinden. Was vielleicht daran liegt, dass es mir regelmäßig eine derbe Erleichterung verschafft, einmal nicht ich selbst sein zu müssen.
Ich will in die Kinos. Und ich werde in die Kinos kommen.
Problem jedoch ist, dass nur noch zwei weitere Castingtermine anstehen, die wichtig genug sind, um eine Rolle für einen Blockbuster zu bekommen. Und wenn mich die vorherigen vier schon nicht eingeladen haben, stehen die Chancen nicht gerade gut, dass es die anderen beiden noch tun werden.
Das Papier zittert in meiner Hand. Aus Gewohnheit greife ich nach meinem Whiskyglas, nur um dann festzustellen, dass es bereits leer ist. Ich könnte mir ein weiteres einschenken. Ich könnte den ganzen Abend hier sitzen und die Liste anstarren, so wie ich es all die Abende zuvor auch getan habe. Jedes Mal schwand die Hoffnung mehr, wenn ein weiterer Castingtermin verstrich.
In der Uni mache ich einen auf geheimnisvoll. Wenn mich die Jungs fragen, ob ich schon bei einem Termin war, zucke ich nur die Achseln und sage: »Ein Gentleman genießt und schweigt«, wobei ich mich jedes Mal wie ein vollkommener Depp fühle, weil ich so tue, als hätte ich bereits mehrere Angebote in der Tasche, dabei habe ich gar nichts. Die Jungs schlagen mir dann mit der Faust gegen die Schulter, mit einem Blick, der in etwa sagt: »Wir sind uns sicher, dass du schon ein Rollenangebot bekommen hast. Du bist der Beste, Mann. Und dann ist Caleb West auch noch dein Cousin.«
Und ich würde mir dann jedes Mal gern vor die Füße kotzen. Nicht weil ein Hollywood-Schauspieler mein Cousin ist, sondern weil alle davon ausgehen, durch ihn wäre meine Karriere schon in trockenen Tüchern und ich müsste mir keine Sorgen machen.
Viele Produzenten wissen nicht einmal, dass Caleb und ich verwandt sind. Wir tragen andere Nachnamen. Seiner ist West, meiner Cunningham. Cals Vater, Thomas, hat mir angeboten, mit den Produzenten zu sprechen. Und ich weiß auch, dass es eine Erleichterung für mich wäre, weil dann mit ziemlicher Sicherheit eine Einladung zum Casting kommen würde.
Aber das will ich nicht. Ich möchte, dass die Produzenten von allein auf mich aufmerksam werden, wenn sie sich die Jahrgangslisten der Uni und die Empfehlungen einholen. Sie sollen von selbst auf mich kommen und mir ein Rollenangebot nur wegen meines Könnens unterbreiten, und nicht weil ich Calebs Cousin bin. Das Letzte, was ich will, ist, in seinem Schatten zu stehen. Die Leute sollen mich als eigenständige Person sehen – jemand, der es allein und ohne Hilfe nach oben geschafft hat. Doch diese Zukunft liegt in den Händen der letzten beiden Termine. Wenn ich meinen Abschluss mache, ohne wenigstens ein Vorsprechen bei einem geschlossenen Casting gehabt zu haben, kann ich danach auch gleich an den Broadway gehen. Produzenten müssen nur einen Blick in Sedcard und Unterlagen werfen, sehen, dass der Abschluss ohne Castingtermin oder nur mit einem offenen erfolgte, und schon landet die Mappe im Müll.
Ich will gerade aufstehen, um an die Bar in meinem Zimmer zu gehen und mir einen weiteren Whisky einzugießen, da klopft es an der Tür. Sie öffnet sich und Dad kommt herein. Sein dunkelbraunes Haar wird mehr und mehr durch graue Strähnen ersetzt, die im warmen Licht meiner Deckenlampe silbern schimmern. Er trägt einen blauen Anzug mit Seidenkrawatte und so glänzenden Lackschuhen, dass sie aussehen, als wären sie vorher mit Erdnussbutter eingeschmiert worden und ein Hund hätte jede kleinste Stelle mit akribischer Obsession abgeleckt.
»Kommst du?«, fragt er.
Verwundert sehe ich ihn an, in einer Hand den Chivas Regal, in der anderen die Liste. »Wohin?«
Mein Vater zieht die Brauen zusammen. So dicht, dass sie sich beinahe berühren und aussehen wie eine dicke, mit Edding gemalte Linie. Sein Stirnrunzeln macht sogar meinem Konkurrenz, und das, obwohl ich seit Tagen stundenlang auf eine hochexplosive und atomare Liste starre.
»Zum Flughafen. Deine Mutter abholen.«
Meine Gesichtszüge entgleisen. Beinahe wäre mir sogar die Liste heruntergefallen. Im Kopf gehe ich in Lichtgeschwindigkeit alle Möglichkeiten durch, die veranlassen könnten, dass meine Mutter den weiten Weg aus Japan auf sich nimmt, um bei ihrer Familie zu sein. Da es seit Jahren immer nur zwei Anlässe gibt, nämlich meinen Geburtstag und den Hochzeitstag meiner Eltern, dauert die Arbeit der kleinen Rädchen in meinem Kopf kaum eine Millisekunde.
»Morgen ist euer Hochzeitstag«, spreche ich laut aus. Hauptsächlich deshalb, weil ich so verwundert darüber bin, dass ich es vergessen habe. Normalerweise bereite ich mich wochenlang darauf vor, dass meine Mutter zu uns kommt. Nicht etwa weil ich ein armes kleines Scheidungskind bin, das seine Mom nur selten sieht und jede Sekunde festhalten will. Tatsächlich sind meine Eltern noch immer zusammen, obwohl sie sich so gut wie nie sehen.
Die Wahrheit ist, dass ich meine Mutter nicht ausstehen kann. Ehrlich gesagt, ist selbst das noch zu harmlos ausgedrückt.
Ich verachte sie.
Das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, in der ich sie geliebt habe. Das war, bevor ich jeden Tag miterleben musste, wie sie Dads besten Freund in dem Ehebett meiner Eltern gevögelt und dabei geschrien hat, als würde sie gerade Achterbahn fahren. Was sie in gewisser Weise auch getan hat. Mit meinem so wertvollen und so fragilen Kinderleben.
Natürlich habe ich sie darauf angesprochen. Mein fünfzehnjähriges Ich hat sie gefragt, warum sie Dad betrügt. Mit Mike. Seinem Geschäftspartner und bestem Freund – heute noch.
Sie hat mir gesagt, dass es mich nichts anginge und ich nichts davon verstehen würde, wenn sich eine Ehe irgendwann einfährt. Das würde nicht bedeuten, dass sie Dad nicht mehr lieben würde, sondern einfach, dass sie ab und zu Abwechslung bräuchte. Einen Kick.
Und dann hat sie gesagt, ich solle verflucht noch mal den Mund halten, wenn ich nicht wollen würde, dass unsere Familie kaputtginge. Also habe ich den Mund gehalten. Dad weiß bis heute nichts davon. Seit sieben Jahren lache ich diesem Dreckskerl Mike ins Gesicht, wenn Dad mich darum bittet, mit ihm und seinem Partner das Footballmatch anzusehen.
Ich habe auch den Mund gehalten, als sie nach Japan abgehauen ist, um dort ihr Unternehmen für Beautyprodukte aufzubauen. Mein Vater hat sich für sie gefreut. Er hat sie unterstützt und für ihren Mut gelobt, diesen Schritt zu wagen. Ehrgeizig hat er sie genannt. Voller Tatendrang.
Vermutlich würde er das nicht mehr sagen, wenn ich ihm die Wahrheit darüber erzählen würde, weshalb sie abgehauen ist. Wenn ich ihm erzählen würde, dass sie von seinem besten Freund geschwängert wurde und das Kind anschließend in Japan zur Welt gebracht hat.
Vermute ich. Ich habe meine Mutter nie über das Baby befragt, und ich denke, sie weiß auch nicht, dass ich damals den Schwangerschaftstest in ihrer Handtasche gefunden habe, als ich mir fünf Dollar aus ihrem Geldbeutel nehmen wollte.
Wenn sie hier ist, tue ich so, als ob alles gut wäre. Ich tue es, damit es Dad gut geht. Damit er glücklich ist und denkt, er hätte eine tolle Frau und einen guten Sohn. Eine heile Familie. Und jedes Mal zerreißt es mir das Herz, wenn ich daran denke, dass mein Vater an eine Lüge glaubt. Seit sieben Jahren mit einer verfickten Lüge lebt, von der er keine Ahnung hat.
Nun es ist zu spät, es ihm zu sagen. Er würde mir Vorwürfe machen, weshalb ich ihn sieben Jahre seines Lebens in dem Glauben gelassen hatte, es sei alles in Ordnung. Ihn sieben Jahre lang mit seinem besten Freund und Partner habe lachen lassen, obwohl der Wichser seine Frau regelmäßig flachgelegt und anschließend geschwängert hat.
Ich kann es ihm nicht sagen. Nicht mehr.
Dad lacht. »Natürlich ist morgen unser Hochzeitstag, Junge. Wie jedes Jahr. Also, kommst du?«
Meine Kehle brennt. Ich weiß nicht, ob es vom Chivas Regal oder von der Galle kommt, die der Ekel an die Erinnerungen hervorgerufen hat. Als mir bewusst wird, dass meine Gesichtszüge krampfhaft verzogen sind, zwinge ich mir ein Lächeln auf und schüttle den Kopf. »Ich muss noch einen Text lernen.«
Mein Vater strahlt. Er lehnt sich mit seiner bulligen Schulter gegen den Türrahmen und verschränkt in einer stolzen Geste die Arme vor der Brust. »Hast du einen Castingtermin?«
»Noch nicht«, sage ich, wobei ich mir mein verfluchtes Lächeln am liebsten aus dem Gesicht reißen würde. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich für Das Leben des Donavan Parker eine Einladung bekomme.«
Lüge. Das wäre die größte Rolle der gesamten Liste, und wenn ich schon für die anderen vier Castings keine Einladung bekommen habe, dann sicher auch nicht für den Donovan Parker-Film. Aber es ist der einzige Grund, der triftig genug ist, um ihn nicht zum Flughafen begleiten zu müssen.
Dad nickt. »Natürlich kriegst du die. Ich bin so stolz auf dich, Junge.«
Ich kann ihn nicht länger ansehen. Schon wieder glaubt er an eine Lüge. Lebt in einer schwebenden Wolke, geschützt vor all den harten Tatsachen der Realität, und lebt so beständig in ihr, weil ich derjenige war und bin, der sie regelmäßig mit dem festen Garn der Lügen umspinnt.
»Wartet nicht auf mich«, sage ich. »Vielleicht geh ich noch mit den anderen Jungs was trinken, wenn wir zusammen den Text lernen.«
Dad wirkt zufrieden. Er nickt wieder und wieder, das fröhliche Lächeln unaufhörlich auf seinem markanten Gesicht, dann geht er und schwebt in seiner dichten Lügenwolke dahin, um seine untreue Frau vom Flughafen abzuholen.
Eine Weile bewege ich mich nicht. Ich starre auf die Liste, in der anderen Hand immer noch die Flasche Whisky, dann knalle ich beides auf die marmorne Tresenplatte und fluche. Plötzlich habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Ich reiße an meiner Krawatte, bis der Knoten gelöst ist, und öffne die ersten beiden Knöpfe meines Hemds. Dann schnappe ich mir meinen Blazer und laufe bereits durch das schmiedeeiserne Tor unserer riesigen Einfahrt, ohne dass ich den Weg durchs Haus richtig mitbekommen habe.
Seltsamerweise geht mir lediglich durch den Kopf, wie frei und erleichtert ich mich fühle, jetzt, wo die urangeschwängerte Liste nicht mehr in meinen Händen liegt, sondern ungeschützt auf dem Tresen meiner Bar. Vielleicht wünsche ich mir sogar, dass der Chivas Regal durch ungeahnte Kräfte umkippt und seinen Inhalt über dieses mächtige Stück Papier gießt, einfach damit es seine Macht verliert.
Ich laufe ziellos durch die Straßen der Upper East Side und überquere die Straßen in einer riskanten Gleichgültigkeit. Die vielen gelben Taxen setzen zu einem wahren Huporchester an, manche Fahrer stecken die Köpfe aus den Fenstern und brüllen mir etwas zu, andere zeigen mir den Mittelfinger.
Ich quittiere es mit einem Lächeln. Die Ablenkung tut gut.
Auf der anderen Straßenseite komme ich an Cafés und Restaurants vorbei, in denen sie alle in ihren teuren Anzügen und Kleidern sitzen und vermutlich über nichts anderes reden als hochgestochene High-Society-Scheiße. Wieder einmal merke ich, dass ich nicht von diesen Menschen umgeben sein will. Dass es mich anwidert zu wissen, wie jeder von ihnen seine eigenen Intrigen plant und durchzieht. Und ich frage mich gleichzeitig, wie viele Frauen in diesen Restaurants wohl so sind wie meine Mutter.
Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs bin. Ich sehe nicht auf die Uhr und hole auch mein Handy nicht heraus. Das Einzige, was ich tue, ist laufen. So lange, bis ich in irgendeiner belebten Kneipenstraße in Queens, Long Island City angekommen bin. Kurz wundere ich mich darüber, dass ich nicht einmal bemerkt habe, am Empire State Building vorbeigekommen zu sein, geschweige denn mich dazu entschieden zu haben, über die Brooklyn Bridge zu gehen.
Trotzdem schlendere ich weiter. Meine Hände leuchten in den bunten Farben, die von den Lichtreklamen ausgehen. Ich stecke sie in die Hosentaschen. Vor einer Kneipe mit schwarz-türkiser Beleuchtung bleibe ich stehen. Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, innezuhalten, aber irgendetwas an der Ausstrahlung dieser Bar fasziniert mich. Vielleicht ist es der Kontrast der Farben, oder der gemütliche Charme.
Entweder habe ich keine Lust oder keine Kraft mehr, mich der Anziehung zu widersetzen, also gehe ich die wenigen Stufen hinauf und will die Tür öffnen. Doch gerade als ich den Blick hebe und durch die mit Lichterketten beklebte Scheibe blicke, bleibe ich kerzengerade stehen und …
… kann nicht glauben, wen ich in dieser Kneipe auf der Bühne sehe.
Grace
Manchmal denke ich, ich bin nicht genug.
Manchmal denke ich, dass ich nur existiere, um geformt zu werden. Wie ein Knetball für die Hände, an dem wieder und wieder gezogen wird, bis der Ball den Druck nicht mehr aushält und die ersten Löcher den Verfall aufweisen. Dann wird er beiseitegelegt und nicht mehr beachtet, weil er nun ungeeignet ist, sich mit ihm zu beschäftigen. Und obwohl der Ball selbst nichts für diese Löcher kann, wird doch ihm die Schuld daran gegeben, dass er zerrissen ist.
Paradox.
Aber es gibt Heilung. In den unterschiedlichsten Formen gibt es sie.
Der Ball könnte geflickt werden. Geklebt. Genäht. Er könnte mit Tesafilm umwickelt werden, dann hätte er zwar eine raue Haut, aber wäre trotzdem wieder funktionsfähig.
Lebendig.
Um meinen Tesafilm kümmere ich mich selbst. Niemand weiß, dass er mich umgibt wie ein schützender Nebel auf der Flucht vor Gefahren. Für jeden außer mir ist der Tesafilm unsichtbar.
Ich fokussiere den rotbraunen Perserteppich unter meinen Jimmy Choos. Ein Kontrast, der mir fremd vorkommt.
Unnatürlich.
Jimmy Choos kennen keine Perserteppiche. Sie kennen Marmor und Granit, Sandstein und Parkett.
Aber alles auf dieser Welt ist anpassungsfähig. Schuhe können teurer sein, wenn sie einen gewissen Namen tragen, aber sie sind dennoch bloß Schuhe. Und meine Jimmy Choos lieben diesen Perserteppich. Sie kennen ihn. Fügen sich in die einzelnen Fasern und werden umschmeichelt vom warmen Trost der Geborgenheit.
Ich umschließe das Mikrofon mit festem Griff, genieße das Gefühl von kaltem Metall auf der Haut. Und ich …
… ich singe.
Mit allem, was ich habe, und mit allem, was ich bin, singe ich. Heute ist es ein Song von Gary Jules. Mad World. Ich liebe dieses Lied. Liebe den Klang der einzelnen Töne, wie sie erst tief und einsam wirken, bis sie schneller und kräftiger werden.
Die Melodie des Lebens.
Meine Lippen bewegen sich, ich höre meine Stimme, konzentriere mich aber nicht auf sie. Achte nicht darauf, wie ich singe, wie ich atme, wie ich stehe. Die Technik ist mir egal. Ich tu es einfach. Ohne nachzudenken.
Und es ist das schönste, befreiendste und leichteste Gefühl dieser Welt. Als würde ich schweben. Auf einer Wolke mitten am Himmel über den Köpfen dieser Erde, wo alle nicht wissen, wie man fliegt. Vielleicht ist es auch keine Wolke, auf der ich mich befinde – sondern dieser Perserteppich, auf dem ich stehe. Mit meinen Jimmy Choos. In diesem Augenblick. Vielleicht erheben wir uns gemeinsam, während ich meine Seele im Klang der Melodie heilen lasse und mir die starren Gesichter auf den Straßen ansehe, die alle nur geradeaus sehen, immer weiter- und weiterlaufen, nicht stehen bleiben und genießen, was sie sehen. Oder sich fragen, wer sie überhaupt sind. Sich fragen, ob sie vielleicht alle Marionetten einer höheren Macht sind, die Macht der Gesellschaft, die sie antreibt und scheucht wie ein Hirtenhund die fetten Kühe.
Ich denke, Kühe wissen auch nicht wirklich, wer sie sind. Sie fressen, schlafen, gebären und geben Milch. Sie tun, was von ihnen erwartet wird. Unterscheiden wir uns also so sehr von ihnen?
Ich schon. In diesem Augenblick tue ich es.
Weil ich singe. Weil ich heile. Weil ich mich selbst mit Tesafilm umwickle, um meine Löcher zu flicken.
Der Song endet. Erst jetzt, wo die letzten Töne verklingen, nehme ich meine Umgebung wieder wahr. Applaus der Gäste an den abgenutzten runden Holztischen brandet auf, und ich kann nicht anders, als zu lächeln.
»Danke«, sage ich ins Mikro, dann stecke ich es zurück in den Ständer und achte darauf, nicht über das Kabel zu stolpern, als ich von der Bühne gehe.
Mir ist heiß. Meine Kopfhaut juckt unter meinem breiten Haarband, aber ich kann mich nicht überwinden, es abzunehmen. Es geht einfach nicht. Einmal habe ich es versucht, das war auch in dieser Bar. Im Keira’s. Ich habe es abgestreift und überdeutlich gespürt, wie mir die einzelnen Strähnen ins Gesicht gefallen sind, da habe ich plötzlich Herzrasen bekommen. Keine Ahnung wieso, aber es war grauenhaft. Mir wurde schwindlig, und meine Fingerspitzen haben angefangen zu kribbeln. Ich konnte einfach nicht aufhören zu denken, dass ich etwas Falsches getan habe. Als ob ich mich neu erfunden und meinen Eltern den Rücken zugekehrt habe.
Es fühlte sich an wie ein Verrat.
Natürlich ist das krank. Es ist ja nur ein Haarband. Und das weiß ich auch. Aber mein Unterbewusstsein ist zu stark. Das innere Kind in mir will meinen Eltern genügen. Ihren Ansprüchen gerecht werden. Ich weiß nicht, ob ich das jemals ändern kann. Und das macht mir Angst.
»Danke, Grace«, spricht Keira hinter der Bar in ihr Mikrofon. Sie lächelt mich an. »Du warst wunderbar, wie immer. Ryan, du bist der Nächste auf der Liste. Heute Abend hat er sich für Next von Ariana Grande entschieden. Na, auf den Song in seiner rauchigen Version bin ich jetzt mal gespannt.«
Erst jetzt merke ich, wie trocken meine Kehle ist. Ich setze mich an den Tresen und bedanke mich mit einem Lächeln, als Keira mir wortlos ein Sprudelwasser mit Strohhalm über die Theke schiebt. Meine Wangen glühen.
Ryan beginnt zu singen. Obwohl man meinen sollte, der Song passt absolut gar nicht zu einer männlichen Stimme, die klingt, als hätte sie heute bereits eine ganze Lkw-Ladung Zigaretten gequalmt, finde ich seine Version gut.
Ryan ist Mitte dreißig. Er hat vier Kinder, arbeitet in einer Logistikfirma, die den ganzen Tag nichts anderes tut, als Stempelkissen in Kartons zu verpacken, und hat eine teigige Haut. Ich finde, sie passt zu ihm. Genauso wie seine rauchige Stimme.
Früher hätte ich das nicht gesagt. Vielleicht hätte ich mir im Stillen gedacht, dass er dringend ein scharfes Gesichtswasser benutzen sollte, um seiner Haut den Überschuss an Fett zu entziehen. Aber von dem Tag an, an dem ich diese Bar gefunden habe, hat mein inneres Ich eine Veränderung durchgemacht. Ich sehe die Menschen nun anders. Als hätte ich plötzlich einen Röhrenblick, der darauf wartet, die inneren Werte zu entdecken, bevor er über das Äußere urteilt.
Ryan ist schön. So wie er ist. Mit teigiger Haut. Sie gehört zu ihm, genauso wie seine sympathische Art, mit seinem trockenen Humor ein Lächeln hervorzulocken. Er hat mich schon oft aufgeheitert, wenn ich einen üblen Tag hatte. Und dafür werde ich ihm auf ewig dankbar sein.
Also scheiß auf teigige Haut.
Keira beugt sich zu mir vor. Sie hat dicke Arme und gelbe Haare. Nicht blond, gelb. So wie es aussieht, wenn eine billige Färbung wieder und wieder genutzt wird, um den Ansatz zu überfärben, und die Strähnen sich dazu entscheiden, einen Farbton wie cremigen Eierpunsch anzunehmen. Natürlich sind ihre Spitzen auch im Arsch. Meine Mutter würde bei dem Anblick erschrocken nach Luft schnappen und sich benehmen, als hätte sie gerade ein Rhinozeros in der Ferne entdeckt, das Anlauf genommen hat und sie überrennen will.
Mir gefällt es. Es ist Keiras Stil. Anders wäre sie vielleicht nicht so, wie ich sie damals kennengelernt habe.
Früher war sie eine Puffmutter. Vielleicht würde ich den Ausdruck nicht verwenden, wenn sie ihn nicht selbst gesagt hätte. Ich glaube, sie ist stolz darauf, weil sie sich mit dem Geld diese Bar geleistet hat.
An diesem Tag ging es mir nicht gut, weil mein Vater wollte, dass ich mit ihm die aktuellen Finanzen des Plaza durchging. Er meinte, ich müsse anfangen zu verstehen, was genau wofür steht, weil die Zeit bekanntlich immer schneller verstreicht als man denkt, und ehe ich es mich versehe, läge das Hotel bereits in meinen Händen. Da hat er gelacht, keine Ahnung wieso. Vielleicht weil er die Vorstellung seltsam findet, dass ich das Plaza führe. Nicht greifbar.
Dann haben wir wenigstens eine Sache gemeinsam.
An dem Abend hat Keira mit ihrem Wurstfinger vor meinem Gesicht gewackelt. Sie sagte: »Ich sehe, dass du traurig bist. So was merke ich immer. Ich war mal eine richtige Puffmutter, weißt du.«
Ehrlich gesagt, weiß ich bis heute nicht, wie das im Zusammenhang damit steht, zu erkennen, wann jemand traurig ist. Vermutlich weil sie die Aufsicht über alle Prostituierten in dem ehemaligen Bordell und dafür zu sorgen hatte, dass es ihnen gut ging.
Ist mir auch egal. Keira ist ein guter Mensch. Das ist, was zählt.
Ihr Gesicht ist mir nah. Die abgebrochenen Spitzen ihrer Strähnen kräuseln sich an ihrem Kinn, und natürlich kann ich nicht verhindern, auf ihre Lippen zu starren, die so dick sind wie ein dreifaches Schlauchboot.
»Hast du schon mit deinen Eltern geredet?«
»Ich werde nicht mit ihnen reden, Keira. Das weißt du.«
Sie hebt eine ihrer tätowierten Brauen. Wirklich, die sind tätowiert. Eine braune gestochene Linie. Sie hat mir erzählt, damals war es der letzte Schrei, die dünnsten Augenbrauen zu haben. Keira hat es dann übertrieben und sich alle Härchen ausgezupft. Sie meinte, eine Weile war jeder Kerl deshalb scharf auf sie. Ich kann mir das nur schwer vorstellen. Vielleicht weiß ich auch nur nichts von dem Zauber nicht existenter Augenbrauen.
»Wir wissen beide, dass das Bullshit ist.«
Manchmal drückt sich Keira wie ein breiter Boxer mit tiefer Stimme aus. Ihr Blick ist dann ernst, und sie hat sogar dieses knappe dominante Nicken drauf. Meistens kommt mir dabei Bruce Willis in den Sinn. Ich glaube, wenn sie ein Mann wäre, dann wäre Keira Bruce Willis. Keine Frage.
»Stell dir einen Chihuahua vor. Einen mit Glitzerhalsband und Burberry-Anzug. Was kommt dir dabei in den Sinn?«
Keiras Blick ruht auf mir, ohne dass sie eine Miene verzieht. Dann sagt sie: »Eine bissige Töle.«
Ich nicke. »Genau. Mit spitzen Zähnen. Und jetzt stell dir vor, es kommt ein kleiner niedlicher Pudel mit wedelndem Schwanz und will ohne Leine spielen. Wie, denkst du, reagiert der Chihuahua?«
»Das Vieh beißt den Pudel. Weil es ein abgefucktes Miststück in Designerklamotten ist und nur Hunde ihresgleichen akzeptiert.«
»Hart gesagt, aber ja.« Ich nippe an meinem Wasser. »Der Chihuahua ist meine Mom. Und ich will mich nicht freiwillig beißen lassen.«
Keira gluckst. »Du bezeichnest dich selbst als niedlichen Pudel?«
»Passt doch, oder?«
Keira wirbelt herum, um sich einen Lappen zu schnappen und eine Bierlache am anderen Ende des Tresens aufzuwischen, die der betrunkene Burt gerade verursacht hat. Burt sieht aus wie ein Gnom, mit Glatze und dreifacher Falte im Nacken, und ist ausnahmslos immer sternenhagelvoll.
»Schätzchen, vergiss den Pudel. Du bist ein eigensinniger Terrier, der verfolgt, was er einmal im Visier hat. Nur weißt du das noch nicht.«
Ich entgegne nichts. Stattdessen lächle ich in mich hinein und stochere mit dem Strohhalm in meinem Wasser, während ich fasziniert beobachte, wie sich die einzelnen Kohlensäureblasen bewegen. Mein Bleistiftrock zwickt mich im Sitzen schon die ganze Zeit über in die Hüfte, und ich ziehe gerade den Bund ein wenig höher, da …
»Hey.«
Ich zucke so erschrocken zusammen, dass ich mit dem Ellbogen gegen das Wasserglas stoße und es umkippt. Sein Inhalt ergießt sich auf meinen Rock, aber ich bin zu perplex, um aufzustehen. Nicht einmal bewegen kann ich mich.
Mit großen Augen und geöffnetem Mund starre ich Logan Cunningham an.
Logan
Grace sieht mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihr Gesicht ist kalkweiß, wodurch sich ihre schokoladenbraunen Strähnen und Augen besonders hervorheben. Ich bin versucht, meine Hand auszustrecken und ihr über die Wangenknochen zu streichen, doch stattdessen setze ich mich neben sie. Wortlos starrt sie mich an. Als wäre ich eigentlich tot, und sie könnte es nicht fassen, mich zu sehen.
Mit einem Lächeln stelle ich das Wasserglas wieder auf den Tresen und deute auf ihren Rock. »Jetzt siehst du aus, als hättest du dich eingepinkelt.«
Grace folgt meinem Blick. In Zeitlupentempo sieht sie an sich herunter, und als hätten die vielen Wasserflecken ihren Verstand wachgerüttelt, presst sie plötzlich die Lippen aufeinander und nimmt sich ein paar Servietten von der Theke, um den Stoff trocken zu tupfen.
Ich nehme mir eine Salzstange aus dem Glas vor mir und beobachte sie stumm. Dann sage ich: »Du solltest einen Kurs eröffnen. Tupftechnik für Anfänger – die Art, dein Leben in den Griff zu kriegen.«
Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum ich das sage. Ich weiß, dass es nicht witzig ist. Aber Grace bringt mich durcheinander. Ich bin unsicher, weil ich sie inzwischen mehr als einmal um ein Date gebeten habe und sie nicht den Anschein macht, dass sie es will. Obwohl ich weiß, dass sie es will.
Als ich sie gefragt habe, ob sie jedes Mal ablehnen würde, auch wenn ich sie noch zehn Jahre lang frage, hat sie nur gelacht und ist dann in ihr Seminar gehuscht. In dem Moment konnte ich nicht aufhören, ihren Rücken anzustarren. Keine Ahnung, ob ich mir je zuvor Gedanken über die Ästhetik eines Rückens gemacht habe. Aber als ich Grace in ihrer kurzärmligen, rückenfreien Neckholderbluse gesehen habe, musste ich schlucken. Diese Frau geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Und ich denke, Grace weiß das.
Sie tupft weiter ihren Rock ab und zieht bei meiner Bemerkung bloß die Brauen zusammen. Grace hat schöne Brauen. Solche mit perfektem Knick. Nicht so, dass es nachgezeichnet ist und aussieht wie ein Nike-Zeichen, sondern natürlich. Gerade erwische ich mich dabei, wie ich mir vorstelle, mit dem Finger die Form nachzuzeichnen, da sieht sie auf.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
Ich nehme mir eine weitere Salzstange und glätte meinen Blazer. »Wusste ich nicht. Das war Zufall.«
Grace schnaubt. Mit verärgertem Blick verschränkt sie die Arme vor der Brust und drückt die Schultern durch. »Du bist nie in Queens, Logan. Manhattan ist für dich wie das Baumhaus eines Kindes. Dein sicherer Hafen. Und selbst wenn du zufällig hier gewesen bist, warum gerade diese Bar? Es gibt Hunderte!«
»Ich weiß, du glaubst mir nicht. Ist mir aber egal, weil es tatsächlich so war. Witzigerweise.« Mit einer lässigen Handbewegung winke ich die Frau mit den gelben Haaren zu mir heran, um mir ein Bier und für Grace ein weiteres Wasser zu bestellen. Sie erinnert mich stark an eine Schauspielerin, deren Name mir entfallen ist. Stiflers Mom aus American Pie.
Ihr Blick fällt auf Grace’ nassen Rock, woraufhin sie sich mit einem Arm auf die Theke stützt, eine widerliche Kaugummiblase macht und dann sagt: »Brauchst ’nen Föhn, Schätzchen?«
Grace lehnt dankend ab. Wie bei mir, als ich sie um das Date gebeten habe. Darin ist sie echt ein Meister, im Dankend-ablehnen.
Als Stiflers Mom die Getränke gebracht hat und anschließend den nächsten Sänger auf der Bühne ankündigt, dreht sich Grace so abrupt zu mir herum, dass sie beinahe schon wieder ihr Glas umgestoßen hätte.
»Ich finde es nicht in Ordnung, dass du mich verfolgst.«
»Ich verfolge dich nicht.«
Sie presst die Lippen aufeinander. »Und dann auch noch lügst, obwohl es offensichtlich ist.«
»Es ist nicht offensichtlich.«
»Hör auf, mir zu widersprechen!«
Ich grinse. »Wenn du aufhörst, mir etwas vorzuwerfen, was nicht stimmt.« Daraufhin sieht sie mich bloß noch wütender an, also seufze ich. »Im Ernst, Grace. Ich habe dich nicht verfolgt. Das hier ist ein dummer Zufall und mehr nicht. Es tut mir leid, wenn ich dir damit deine Privatsphäre genommen habe, aber das war sicher nicht meine Absicht.«
Erst sieht sie aus, als würde sie mir gern das Gesicht zerfleischen, und dann, als würde das innere Biest in ihr gerade absterben und ihre Züge erschlaffen lassen. Zurück bleibt ein trauriger Ausdruck in ihrem Gesicht, den ich am liebsten auf der Stelle in ein Lächeln verwandelt hätte.
»Du hast mich singen gehört.«
Ich nicke. »Ja. Habe ich.«
Sie atmet tief ein. »Bitte erzähl es keinem. Du musst mir schwören, es niemandem zu sagen, Logan.«
»Wegen deiner Eltern?«
»Wegen allem.« Ihre Hand wandert zu ihrem Haarband, als würde sie es abnehmen wollen, doch dann lässt sie sie wieder auf den Schoß sinken. »Mein Leben ist durchstrukturiert. War es schon immer. Keiner zweifelt daran, dass ich auf festem Boden stehe und weiß, was ich will. Ich möchte nicht, dass sich daran etwas ändert.«
Ich runzle die Stirn. »Warum sollte sich daran etwas ändern, wenn die Leute wissen, dass du in diese Bar gehst und singst?«
Grace zuckt die Achseln. »Ich will es einfach nicht.«
»Das Hotel, nehme ich an.«
Sie wirbelt herum. »Was?«
Mein Blick wandert über Grace’ Schulter, vorbei an ihrem fassungslosen Gesichtsausdruck. Einen Moment lang beobachte ich die dunkelhäutige Sängerin auf der Bühne und folge dem Klang ihrer Stimme, ehe ich mich wieder Grace zuwende.
»Du hast dich gerade selbst verraten. Niemand würde daran zweifeln, dass du weißt, was du willst, nur weil du ab und zu in einer Karaokebar auf der Bühne stehst. Sie würden es nur tun, wenn sie wüssten, dass du es leben willst. Mehr als alles andere. Wenn du bereit dazu wärst, einen ganz neuen Weg einzuschlagen und deinen eigenen Traum zu verfolgen. Du hast Angst, dass die Leute es erfahren, weil du wüsstest, dass dir dann keine Ausrede mehr bliebe, es nicht zu tun.«
Grace sieht mich lange an. So offen, wie ich sie noch nie habe starren sehen. Normalerweise ist sie gefasst. Und schlagfertig.
»Na los«, sagt sie. So leise, dass sich ihre Lippen kaum bewegen und ich Schwierigkeiten habe, sie überhaupt zu verstehen. »Sag es.«
Ich nehme einen Schluck Bier. »Was soll ich sagen, Grace?«
»Dass ich mir den Kinderkram aus dem Kopf schlagen, nach Hause gehen und mich mit den wichtigen Dingen des Lebens befassen sollte.«
Ich lächle. »Sind das hier denn nicht die wichtigen Dinge des Lebens?« Als sie nichts entgegnet, füge ich hinzu: »Für dich sind sie das mit Sicherheit. Ich würde sagen, das zählt mehr, als ein Hotel zu führen, das man gar nicht führen will.«
Grace wirkt verzweifelt. Ich kann sie verstehen, weil wir in derselben Welt aufgewachsen sind. Es ist nicht leicht, auszubrechen und zu sein, wer man wirklich sein will.
»Bitte erzähl es keinem«, wiederholt sie.
»Das ist nicht meine Aufgabe, Grace. Es ist dein Leben. Nur du entscheidest.«
Das scheint sie zu beruhigen. Zumindest so weit, dass sie sich dazu durchdringt, ein schwaches Lächeln aufzusetzen und einen Schluck von ihrem Wasser zu nehmen.
»Wenn du willst, erzähle ich dir auch ein Geheimnis. Über mich. Eins, das keiner weiß.« Ich stelle mein Bier ab und streiche über die Falten meines Blazers, um meine Nervosität zu überspielen. »Vielleicht geht es dir dann besser.«
»Das musst du nicht«, sagt Grace. In ihrer Stimme schwingt ein Hauch Traurigkeit mit. So als würde ich ihr die Antworten einer Klausur anbieten, die sie aus Höflichkeit ablehnt, obwohl sie sie eigentlich gern annehmen würde.
Mein Herz schlägt schneller, dabei weiß ich nicht einmal warum. Allein beim Gedanken an diese bescheuerte Liste mit den Castingterminen schüttet mein Herz Überdosen von Adrenalin und Noradrenalin aus, als stünde ich kurz davor, von einem fünfzig Yard hohen Turm zu springen, in der Hoffnung, mir im Wasser nicht alle zweihundertundsechs Knochen zu brechen.
»Kennst du die Geschichte der Liste an der New York University?«
Grace runzelt die Stirn. »Meinst du die, die du damals mit Nathaniel Jones zusammen ins Leben gerufen hast? Das schwarze Buch mit der Liste von Mädchen, für die es unterschiedliche Punkte gab und sich jeder mit Beweisfoto eintragen sollte, um die meisten Punkte zu sammeln?«
Ich verziehe das Gesicht bei der Erinnerung. Beinahe hätte ich das schwarze Buch der heißen Mädchen vergessen. Und auch was für ein Arschloch ich eine lange Zeit gewesen bin.
»Nein. Das meinte ich nicht.«
»Sondern?«
Für einen Moment lenkt ein Typ meine Aufmerksamkeit auf sich, weil er so besoffen ist, dass er beinahe vom Hocker gefallen wäre. Sein Aussehen erinnert mich an Tom, den zahnlosen Wirt aus dem tropfenden Kessel von Harry Potter.
Als ich mich wieder Grace zuwende, sieht sie mich immer noch erwartungsvoll an. Eine ihrer glatten Strähnen hat sich aus dem Haarband gelöst und kitzelt ihren Wangenknochen. Ich muss mich zurückhalten, sie ihr nicht hinters Ohr zu streichen. Grace merkt, dass ich sie anstarre, und wird rot. Ich kratze mich am Nacken und räuspere mich. »Jeder Schauspieljahrgang bekommt in seinem letzten Semester eine Liste mit den Castingterminen, die bis zum Abschluss noch stattfinden. Für ein paar von ihnen braucht man Einladungen, andere sind offen. Dabei ist jedem klar, dass es so etwas wie ein freiwilliger Schuss ins Aus wäre, wenn man da hingeht. Für den Durchbruch braucht man die guten Castings. Die, bei denen Darsteller für Kinofilme gesucht werden. Verstehst du?«
Grace nickt. »Klar. Und weiter?«
Mit den Handflächen streiche ich mir über die graue Chino. »Ich habe noch keine Einladung bekommen. Und es sind bloß noch zwei Termine übrig.«
Grace sieht mich an, als hätte ich ihr gerade eröffnet, mich auf die Bühne zu stellen und eine Opernballade zu singen.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Mein voller Ernst.« In mir toben gemischte Gefühle. Einerseits pocht mein Herz unangenehm schnell, weil es sich wie ein Verbot anfühlt, darüber zu sprechen, andererseits sacken meine Schultern vor Erleichterung herunter, als wäre die Last eines Schwertransporters von ihnen gewichen.
»Aber du bist gut«, beteuert Grace. Ihre Stimme trieft vor Unverständnis. »Richtig gut. Und Caleb …«
Meine Hand geht schneller hoch, als mein rasendes Herz einen Schlag machen kann. »Sag es nicht. Ich will es nicht hören.«
Ich muss ihr nicht erklären, was ich meine. Grace weiß, was es heißt, etwas aus eigenen Kräften schaffen zu wollen. Sich selbst einen Namen machen zu wollen.
»Tut mir leid«, sagt sie, beißt sich auf die Unterlippe. »Kannst du irgendetwas tun?«
Ich zucke die Achseln und stecke den Zeigefinger unter meinen Hosenträger, um den schwarzen Gummizug vor- und zurückfedern zu lassen. »Nur abwarten. Und hoffen, dass die Empfehlungen meiner Dozenten sie noch überzeugen werden.«
Grace wirkt bedrückt. Und das, obwohl ich sie eigentlich von ihrem Kummer ablenken wollte. Ich bin echt beschissen im Umgang mit Frauen.
Ihr Handy klingelt. Als sie sich zu ihrer Tasche beugt, die zu ihren Füßen am Vorsprung des Tresens liegt, streift sie mit ihrer Schulter meinen Arm. Es dauert nur eine Sekunde, aber bei der Berührung rast ein so heftiger Stromschlag durch meinen Körper, als würde ich während eines Gewitters mit einer Eisenstange auf einem Footballfeld stehen. Sie kommt wieder hoch und achtet dieses Mal darauf, zwischen uns einen Spalt frei zu lassen. Ihre langen Haare verdecken das Display ihres iPhones, doch als sie sich in einer abweisenden Geste ein paar Strähnen hinters Ohr schiebt, erhasche ich einen Blick darauf. Und wünschte sofort, es nicht getan zu haben.
Grace’ Miene wirkt genauso schockiert, wie ich mich fühle. Vielleicht sogar noch schlimmer. Sie sieht aus wie eine Wachsfigur bei Madame Tussauds. Bei dem Namen des Anrufers wundert es mich nicht.
Es ist Lucas. Lucas Graham ruft sie an.
Grace
»Bitte sag ja, bumble bee.«
Bumble bee. Mir wird kalt, als ich Lucas meinen Spitznamen aussprechen höre. Er hat ihn erfunden, als wir dreizehn und auf irgendeinem extraordinären Gartenfest waren, das man kaum mit einem richtigen Gartenfest vergleichen konnte, weil Terrence Hill alle Möbel vom Haus nach draußen hat schleppen lassen.
»Très chic«, hatte sie dann gemurmelt und ist mit ihrem fest getackerten Dauergrinsen durch die Menge geschwebt. Terrence Hill ist eine plumpe Frau mit einem Haufen Geld, das sie aus dem Fenster rausschmeißt. Sie ist eine schwarze Witwe, organisiert eine Upper East Side Party nach der anderen und denkt, sie sei der Hit. Dabei merkt sie nicht, wie alle hinter vorgehaltener Hand über sie lästern, sobald sie in einem ihrer übertriebenen Kleider vorbeirauscht. Mom natürlich am schlimmsten.
Lucas und ich saßen damals abseits an einem handgeschnitzten und silbern lackierten Mahagoniesstisch, der mitten im gestutzten Gras stand. Ich musste die ganze Zeit niesen, weil sich meine Pollenallergie bemerkbar machte und neben uns eine ganze Reihe bunter Azaleen blühte. Sie strahlten so schön, dass die nächste Biene nicht lange auf sich warten ließ. Vermutlich hatte sich besagte Biene zuvor schon bei vielen anderen Blüten den Bauch vollgeschlagen, denn sie war bloß noch ein fettes gelbes Ding, das sich kaum noch in der Luft halten konnte.
»Eine Hummel«, habe ich also gesagt, gerade in dem Moment, als diese ihr eigenes Gewicht wohl nicht mehr halten und auf den Tisch abgestürzt ist. Lucas, der heilige Samariter, ist natürlich sofort aufgesprungen und hat sie sich auf den Finger geschoben. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, zweifle ich nicht daran, dass er dem Tier eine Mund-zu-Mund-Beatmung gegeben hätte – natürlich vor allen Anwesenden, damit jeder ihn hätte bewundern können.
So ist Lucas.
»Das ist eine Biene«, hat er dann lachend gesagt und den Kopf in einer Art und Weise geschüttelt, als würde er mich für mein Unwissen tadeln. »Sie ist zwar fett, hat aber kein buschiges Fell. Außerdem sind Bienen eher braun-schwarz gestreift und nicht gelb-schwarz.«
Schon damals hätte mich sein besserwisserischer Verstand alarmieren sollen. Wäre ich bloß einfach aufgestanden und gegangen, dann wäre alles anders gekommen. Stattdessen wollte ich meine Scham überwinden und witzig sein, deshalb habe ich gesagt: »Dann ist es halt eine Hummelbiene.«
Daraufhin hat Lucas gelacht, die nun tote Biene in Terrence Hills Pflaumenbeet begraben und mich anschließend auf den Mund geküsst. Das war unser erster Kuss.
»Du bist eine Hummelbiene«, hat er danach gesagt. In den nächsten sieben Jahren hat er mich nur noch so genannt. Bumble bee.
»Nein«, zische ich als Antwort in mein Handy. Ich kann nicht aufhören, in dem kleinen Hinterhof der Bar auf und ab zu laufen. Die Mülltonnen stinken bestialisch, und ich frage mich, wann sie wohl zuletzt geleert wurden. »Was willst du überhaupt von mir?«
»Einfach nur reden.« Lucas’ Stimme klingt locker und unbeschwert. So als hätten wir uns niemals getrennt und er mich einfach nur versetzt und nicht mit einem anderen Kerl betrogen.
»Ich denke nicht, dass Thomas das begrüßen würde«, entgegne ich. Dabei lasse ich mich auf der hüfthohen Backsteinmauer nieder, erhebe mich aber sofort wieder, weil ich mich auf eine alte Bananenschale gesetzt habe.
Lucas schnalzt mit der Zunge. »Wir sind nicht mehr zusammen. Und ich weiß ganz genau, dass du gerade deinen arroganten Blick gemacht hast. Lass das.«
»Arroganter Blick?«
»Ja. Der, bei dem du eine Braue so hochziehst und deine Augen diesen herablassenden Ausdruck bekommen.«
Ein Kichern rutscht mir heraus, das ich abrupt im Keim ersticke und dabei klinge wie ein röchelndes Meerschweinchen. Ich hasse Lucas’ Wirkung, die er auf mich hat. Die er auf jeden Menschen hat und schon immer hatte. Wenn er in den Raum kommt, ist es, als wäre der hundert Jahre verschollene Revolutionsheld zurückgekehrt. Egal was er sagt, er sagt immer das Richtige. Jeder lacht. Jeder ist gerührt. Jeder bewundert ihn. Oft habe ich mich gefragt, ob er nur mit mir zusammen ist, damit ich in seinem Schatten stehe und er glänzen kann. Eine Freundin, die noch mehr Licht und Ansehen ausstrahlt als er, könnte Lucas niemals gebrauchen. Er will die Nummer eins sein. Immer.
»Ich habe dein Lachen vermisst«, sagt er leise.
Mein Griff um das iPhone wird fester, und ich bin kurz davor, es auf den Boden zu werfen und mit den Absätzen meiner Jimmy Choos darauf herumzutreten. Tief durchatmend lehne ich mich gegen die Hauswand und male mit dem Finger ein Graffitizeichen nach, das aussieht wie ein Alienkopf.