Lovely Hearts. Nur ein Lächeln von dir - Polly Harper - E-Book
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Lovely Hearts. Nur ein Lächeln von dir E-Book

Polly Harper

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Beschreibung

Nur ein Lächeln von ihm bringt sie um den Verstand

Die Weltenbummlerin May liebt es, frei und unabhängig zu sein. Doch dann stirbt ihre Schwester, und nichts ist mehr wie zuvor: May soll plötzlich die Vormundschaft für ihre beiden kleinen Nichten übernehmen. Als sie in Colorado ankommt, nimmt sie die Idylle der Kleinstadt Goodville kaum wahr, denn von den Bewohnern schlagen ihr nur Ablehnung und Misstrauen entgegen. Ihre Nichten schließt sie jedoch schnell ins Herz, auch wenn sich Cathy und Lilly ihr nur langsam öffnen. Es schmerzt May zu sehen, wie vertraut die beiden dagegen mit Cole, einem guten Freund der Familie, umgehen. Cole möchte unbedingt selbst für die Mädchen sorgen und ihm scheint jedes Mittel recht, um sein Ziel zu erreichen – während es May immer schwerer fällt, gegen seinen Charme und die spürbare Anziehungskraft zwischen ihnen anzukämpfen …

Teil 1 der neuen Goodville-Love-Reihe.
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Seitenzahl: 450

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POLLY HARPER schreibt leidenschaftlich gern Liebesromane. Schon seit ihrem erfolgreichen Debüt im Jahr 2014 veröffentlicht die Autorin unter dem Pseudonym Greta Milán regelmäßig gefühlvolle Geschichten, die überall auf der Welt spielen. Sie selbst lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und drei Katern im Herzen Deutschlands. Mit Lovely Hearts. Nur ein Lächeln von dir, dem Auftakt ihrer Goodville-Love-Reihe, entführt Polly Harper ihre Leserinnen in die romantischste Kleinstadt Colorados.

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Polly Harper

LOVELY HEARTS

Nur ein Lächeln von dir

Roman

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Copyright © 2021 by Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26952-4V004

www.penguin-verlag.de

Für Mika

Kapitel 1

May

In Goodville, Colorado, gab es genau einen Supermarkt, eine Bar, eine Schule, eine Arztpraxis und eine Anwaltskanzlei.

May hätte diese Liste wohl noch ewig fortführen können. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht. Zumindest laut der Navigations-App auf ihrem Smartphone.

Der klapprige Chief Cherokee hatte zu einer Zeit das Produktionsband verlassen, als derlei Spielereien noch nicht zur Standardausstattung gehörten, aber immerhin hatte er Charakter und war May selbst in den dunkelsten Stunden eine Zuflucht gewesen. Nur heute half nicht einmal der Duft des durchgesessenen Leders, um ihre Nerven zu beruhigen.

Angespannt befeuchtete May die Lippen und musterte die hübsch aneinandergereihten Backsteinhäuser mit den verschiedenfarbigen Markisen. In diesem Straßenabschnitt befanden sich ein Café, ein Souvenirladen mit Poststelle, eine Bäckerei, eine Boutique für Damenbekleidung und ein Bürogebäude.

Für einen Freitag um zehn Uhr morgens war recht wenig los auf der Straße. Ein paar Touristen flanierten über den Bürgersteig und begutachteten die Auslagen in den Geschäften. May wunderte sich, warum sie sich überhaupt hierher verirrt hatten. Schließlich gab es in unmittelbarer Nähe keinerlei Attraktionen.

Etwas weiter hinten steuerte ein älterer Herr einen Laden für Heimwerkerbedarf an. Zwei Frauen unterhielten sich angeregt, während sie ihre Kinderwagen über den Gehweg manövrierten. Vermutlich waren sie unterwegs zum einzigen Spielplatz der Stadt.

May war in ihrem Leben schon viel herumgekommen. Aber noch nie war sie in einem solch verschlafenen Örtchen gelandet. Sie betrachtete das Haus, vor dem sie parkte. Im Erdgeschoss lag ein Versicherungsbüro und direkt darüber die Kanzlei. Das dezente Metallschild, auf dem in filigranen Lettern Sophia Parker geschrieben stand, glänzte in der Frühlingssonne.

Miss Parker war die einzige Anwältin im Ort. Natürlich. Alles andere rentierte sich vermutlich nicht in einer Kleinstadt, die im Umkreis von dreißig Meilen nicht mehr zu bieten hatte als felsige Gebirge im Norden, einen dicht bewaldeten Nationalpark im Süden und einen kleinen Flusslauf im Osten. Außerdem gab es ein Stück weiter westlich noch ein paar Farmen.

Auf der Fahrt hierher hatte May jedes Mal, wenn sie einen Wegweiser sah, gegen den Drang ankämpfen müssen, die nächste Abfahrt zu nehmen und umzukehren. Auch jetzt umklammerte sie den Schaltknüppel, bereit, in den Rückwärtsgang zu wechseln, das Gaspedal durchzutreten und wieder abzuhauen.

Denn dann wäre es vielleicht weniger real.

May könnte sich einfach einreden, dass sich nichts geändert hatte. Ihre Schwester Rose war nach wie vor mit Julian verheiratet. Die beiden zogen gemeinsam zwei bezaubernde Töchter groß. Cataleya war sieben Jahre alt und Lillian vier. Die Familie lebte am Stadtrand in einem hübschen Haus mit weißen Fensterläden und einer bunt bepflanzten Veranda. Ein süßer Golden Retriever tobte im Vorgarten herum und jagte Schmetterlinge. Julians Baufirma lief großartig. Rose kümmerte sich hingebungsvoll um die Mädchen, wenn sie nicht gerade irgendeiner ehrenamtlichen Tätigkeit nachging.

Alles wäre wieder perfekt.

May sah die Bilder so klar vor sich, als hätte sie eine dieser Szenen wirklich erlebt. Aber so war es nicht. Und so würde es auch niemals sein. Dieser Ort und die Menschen, die hier lebten, waren ihr fremd. Und May war eine Fremde für sie.

Spätestens jetzt hätte May wohl Reue empfinden müssen. Doch alles, was sie spürte, war ein dumpfer Schmerz. Sie fühlte sich wie betäubt. Vielleicht weil sie den Schock noch immer nicht überwunden hatte. Schließlich lag der Anruf von Sophia Parker keine vierundzwanzig Stunden zurück.

»Miss Cambell, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Schwester Rose June Avens und ihr Ehemann Julian vor zwei Wochen bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen sind.«

Die Anwältin hatte wie eine Nachrichtensprecherin geklungen. Nüchtern. Sachlich. Als ginge sie das alles im Grunde überhaupt nichts an, sondern als bestünde ihre Aufgabe lediglich darin, den Nachlass zu regeln, was sie erst tun konnte, wenn May persönlich in Goodville erschien.

Während der knapp achtzehnstündigen Fahrt hierher hatte May den Satz in Endlosschleife in ihrem Kopf abgespult. So richtig begriffen hatte sie es trotzdem nicht.

Ihre große Schwester. Tot.

Julian. Tot.

Zwei Leben. Ausgelöscht. Für immer.

Mays Kehle schnürte sich zu. Die Mädchen mussten krank vor Kummer sein. Aber May war wohl der letzte Mensch auf Erden, der die beiden trösten könnte. Sie hatte Cataleya zuletzt gesehen, als sie ein halbes Jahr alt gewesen war, und kannte Lillian lediglich von Fotos.

Vielleicht war es besser, schnell die Formalitäten mit der Anwältin zu klären und sofort wieder zu verschwinden. Die Kinder waren bei Julians Vater Chester sicher in guten Händen. Soweit May wusste, war er vor ein paar Jahren ebenfalls nach Goodville gezogen, um seinen Sohn in der Baufirma zu unterstützen, und bewohnte inzwischen einen Bungalow auf demselben Grundstück. Es wäre vermutlich das Beste für die Mädchen, sie nicht noch mehr aufzuwühlen, wenn eine Fremde in ihr Leben platzte.

Erschöpft rieb May sich über das Gesicht. Sie sollte reingehen und es hinter sich bringen. Es nutzte ja doch nichts, wenn sie die Sache länger hinauszögerte.

Sie atmete tief durch, schnappte sich die bunte Umhängetasche von der Rückbank und stieß die schwere Wagentür auf. Ihre Fußsohlen kribbelten in den blauen Chucks, was wohl nicht weiter verwunderlich war, da sie stundenlang im Auto gesessen hatte. Sie widerstand dem Impuls, ihre steifen Glieder zu dehnen, und hielt stattdessen direkt auf das Bürogebäude zu. Vor dem Eingang blieb sie kurz stehen und wischte sich die schweißnassen Hände an den abgeschnittenen Jeansshorts ab.

Ein paar Leute im Erdgeschoss warfen ihr durch die Fensterscheiben neugierige Blicke zu. Aber May ignorierte sie und drückte die Klingel der Kanzlei. Sogleich summte der Türöffner. Entschlossen setzte May ihren Weg fort.

Rein. Unterschreiben. Raus.

Sie schaffte das.

Obwohl draußen die Sonne schien, war es recht düster in dem schmalen Treppenhaus. Die Holzstufen knarzten unter Mays Füßen. Der Geruch von Reinigungsmitteln hing in der Luft und trieb ihr Tränen in die Augen. Ihr Kinn begann zu zittern.

Liebe Güte! Womit putzten die hier?

May rieb sich über das Gesicht. Sie hatte den oberen Treppenabsatz gerade erreicht, da ging die Tür auf und eine junge Frau erschien. Sie war höchstens Anfang dreißig und trug ein teuer aussehendes graues Kostüm. Die dunkelblonden Haare fielen ihr glatt auf die Schultern. Sie musterte May aus intelligenten braunen Augen, die von einer modischen Hornbrille umrahmt wurden. Sie wirkte ziemlich ungeduldig. Es hätte eigentlich nur noch gefehlt, dass sie mit dem Fuß trommelte. »Miss Violet May Cambell?«

May nickte. »Und Sie sind Sophia Parker?«

»Genau.« Sie lächelte freundlich, aber May wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Blick eher verurteilend über sie glitt. Sie winkte May heran und führte sie vorbei am Empfangstresen, hinter dem eine ältere Frau saß. Das musste wohl ihre Assistentin sein, und dem missbilligenden Blick nach zu urteilen, wusste sie ganz genau, wen sie da vor sich hatte.

Mays Gesicht wurde heiß. Sie senkte den Kopf und folgte Miss Parker durch einen schmalen Gang zu ihrem Büro. Mit den rustikalen Möbeln wirkte die Einrichtung eher konservativ, sodass May sich noch unbehaglicher als ohnehin schon fühlte.

»Nehmen Sie doch Platz.«

Gehorsam ließ May sich auf einen der beiden Besucherstühle sinken, die vor dem monströsen Eichentisch standen. Unzählige Akten stapelten sich dort, daneben lag ein zugeklapptes Notebook.

Die Anwältin umrundete den Schreibtisch, nahm in dem Bürosessel Platz und zog ihr Handy hervor. Dann tippte sie geschwind eine Nachricht, ehe sie den Apparat kommentarlos beiseitelegte.

May zwang ihre Mundwinkel in die Höhe. Mit zittrigen Fingern strich sie ihre geblümte Bluse glatt, die von der langen Fahrt ganz zerknittert war.

Die nervöse Geste entging der Anwältin natürlich nicht. »Wie geht es Ihnen, Miss Cambell?«

Entgeistert sah May sie an. Was sollte sie darauf antworten? Sie wusste es ja selbst nicht. »Ich bin im Moment ziemlich überfordert, ehrlich gesagt.«

Miss Parker nickte. »Natürlich. Das ist sicher alles recht viel für Sie. Ich hätte Sie ja früher über das Unglück informiert, aber ich konnte Sie nirgends erreichen.«

Diesmal war der Vorwurf in ihrer Stimme unüberhörbar. Das konnte May gut nachvollziehen. Immerhin war ihre Schwester gestorben. Sie waren zusammen aufgewachsen und hatten gemeinsam unzählige Höhen und Tiefen durchgestanden, bevor ihre Beziehung zerbrach. Aber trotz der Distanz hätte May doch etwas spüren müssen, als Rose diese Welt für immer verließ. Einen Stich im Herzen oder wenigstens ein ungutes Gefühl. Irgendwas. Doch sie hatte keine Ahnung gehabt.

»Ich habe eine Freundin in San Francisco besucht.«

»Wohnen Sie jetzt dort?« Miss Parker schlug eine grüne Mappe auf und überflog einige Zeilen. »In meinen Unterlagen ist Portland als Ihr letzter gemeldeter Wohnsitz angegeben.«

May schluckte. »In Portland wohnt mein Ex-Freund. Wir haben uns vor ein paar Wochen getrennt.«

Mays Stimme klang neutral, obwohl eine Welle der Empörung über sie hinwegspülte. Andrew hatte sie nach Strich und Faden betrogen, war aber nicht bereit gewesen, die Trennung zu akzeptieren. Er hatte May so lange mit Anrufen und Nachrichten bombardiert, bis sie sich nicht mehr anders zu helfen gewusst hatte, als ihre Telefonnummer zu wechseln, sich ein neues Mail-Postfach einzurichten und sämtliche Accounts in den sozialen Medien zu löschen.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass May sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand. Sie liebte ihre Freiheit, und die Vorstellung, ständig erreichbar zu sein, löste stets ein Gefühl von Beklemmung bei ihr aus. Nun aber zerfraß Bedauern ihr Herz. Denn sie hätte erreichbar sein müssen.

Die Anwältin zog eine Braue in die Höhe. »Dann sind Sie im Moment heimatlos?«

»Mehr oder weniger«, räumte May widerwillig ein. Ihr gesamtes Hab und Gut befand sich derzeit im Kofferraum ihres Wagens sowie in drei Kartons, die noch immer in Olivias Gästezimmer standen. Alles andere hatte sie bei ihrem Ex zurückgelassen. Sie hatte nichts davon behalten wollen.

»Und haben Sie im Moment eine feste Arbeit?«, fragte Miss Parker weiter.

May nickte, obwohl sie nicht verstand, inwieweit diese Frage relevant war. »Ich arbeite in dem Restaurant meiner Freundin.«

»Verstehe.« Ungerührt zog die Anwältin ein Blatt Papier hervor. »Miss Cambell. Ich habe Sie hergebeten, weil das Testament der Eheleute Avens klare Regelungen vorsieht, die auch Sie betreffen.«

May runzelte die Stirn. »Rose hat mich in ihrem Testament bedacht? Wieso? Das gehört doch alles den Mädchen.«

Sichtlich erstaunt sah Miss Parker sie an. »Hat Ihre Schwester nie mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Es hat sich nie die Gelegenheit dazu ergeben.«

Jetzt konnte sich die Anwältin ein ungläubiges Lachen nicht verkneifen. »Es wäre schon von Vorteil gewesen, wenn Sie Bescheid gewusst hätten. Immerhin sind Sie als Vormund für Cataleya und Lillian Avens vorgesehen.«

May spürte, wie ihr jegliche Farbe aus dem Gesicht wich. »Könnten … könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?«

»Laut Testament sollen Sie das alleinige Sorgerecht für die Mädchen erhalten.«

»Nein!« May schoss von ihrem Stuhl hoch, als hätte ihr Hintern Feuer gefangen. »Das kann nicht sein. Da muss ein Irrtum vorliegen. Ich kenne meine Nichten kaum.«

Miss Parker schürzte die Lippen. »Nun, das ist äußerst bedauerlich. Für die Mädchen.«

Vor lauter Scham brannten Mays Wangen, aber sie war zu erschüttert, um sich um die Meinung der Anwältin zu scheren. Ausgerechnet sie sollte die Vormundschaft für die Töchter ihrer Schwester übernehmen? Unmöglich.

»Was ist mit Chester Avens?«, platzte May heraus. »Der Großvater der beiden wäre sicher besser geeignet, um …«

Sie verstummte, als sie die fassungslose Miene der Anwältin registrierte.

Guter Gott! Chester war doch nicht etwa ebenfalls gestorben, oder?

»Chester Avens ist nicht mehr so belastbar, als dass er sich dauerhaft um zwei so kleine Mädchen kümmern könnte.«

May lachte schrill. »Chester ist gerade mal Mitte fünfzig. Er kann sicher mühelos mit den beiden mithalten.«

»Nicht seit er vom Dach der Dawsons gestürzt ist und mit einer schlimmen Beinverletzung zu kämpfen hat. Er muss hochdosierte Schmerzmittel einnehmen, und seine Mobilität ist stark eingeschränkt.«

Na bitte! Wenn das nicht der ultimative Beweis dafür war, dass May eine totale Fehlbesetzung als Vormund war. Sie hatte überhaupt keine Ahnung vom Leben ihrer Nichten.

»Sie sind die einzige andere noch lebende Verwandte der Kinder«, fuhr die Anwältin fort. »Zudem ist es der ausdrückliche Wunsch der Eheleute Avens gewesen, dass Sie sich künftig um die Mädchen kümmern.«

Mays Knie gaben nach, und sie plumpste zurück auf den Stuhl. Fassungslos starrte sie Miss Parker an, die ihre wahren Gedanken hinter einer reglosen Maske verbarg. »Rose und Julian haben gut vorgesorgt«, teilte sie May mit. »Durch die Lebensversicherung sind die Kosten für das Haus und die Beisetzung vollständig gedeckt.«

May zuckte zusammen. »Die Beerdigung hat bereits stattgefunden?«

Die Anwältin lächelte schmal. »In dieser Stadt kümmern wir uns umeinander, Miss Cambell. Auch nach dem Tod.«

»Also ist bereits alles geregelt?«, fragte May mit dünner Stimme.

»In finanzieller Hinsicht ist bestens für die Mädchen gesorgt. Julians Baufirma läuft außerordentlich gut. Sein Partner Cole Baxter wurde als Treuhänder für die Kinder eingesetzt, bis sie volljährig sind. Für ihren Lebensunterhalt werden sie einen festen monatlichen Betrag bekommen.«

Eigentlich hatte May die Beisetzung gemeint. Aber es tröstete sie, dass sie sich wenigstens um das Finanzielle keine Sorgen machen musste.

»Es steht Ihnen natürlich frei, das Testament abzulehnen«, sagte Miss Parker und bedachte sie erneut mit einem dünnen Lächeln.

Übelkeit bündelte sich in Mays Magen. Und was passierte dann mit den Mädchen? Höchstwahrscheinlich würden sie in eine Pflegefamilie kommen, bis sich jemand fand, der sie dauerhaft in ihre Obhut nahm. Sie würden ihr Zuhause verlieren und vielleicht sogar einander.

Die Anwältin lehnte sich ein Stück vor. »Darf ich ganz offen sprechen, Miss Cambell?«

»Natürlich.«

»Cole Baxter war nicht nur Julians Geschäftspartner. Er war auch sein bester Freund. Die Mädchen kennen und lieben ihn. Ich weiß zufällig, dass er sich gern um die beiden kümmern würde. Möglicherweise wäre er die bessere Option.«

Wieder sprach Miss Parker ihre Gedanken so nüchtern aus, als ob sie von einem Auto sprach. Aber Cataleya und Lillian waren keine seelenlosen Gegenstände, die man einfach so herumreichte.

Ganz ehrlich? May liebte Kinder, aber sie wusste nichts über Kindererziehung. Außerdem hatten die Mädchen gerade erst ihre Eltern verloren. Wie ging man überhaupt mit so einem Schicksalsschlag um? Es mochte ja sein, dass Cole ihren Nichten vertrauter war. Zahlreiche Fotos, die May in den letzten Jahren von Rose erhalten hatte, belegten das sogar. Aber nichtsdestotrotz waren die Mädchen alles, was May von ihrer Familie noch geblieben war.

Plötzlich sträubte sich alles in ihr, dieses Kaff wieder zu verlassen, ohne die beiden wenigstens kennengelernt zu haben. Davon abgesehen konnte May sie unmöglich einem Mann überlassen, dem sie noch nie zuvor persönlich begegnet war.

»Was meinen Sie?«, fragte die Anwältin, da May nichts sagte.

May zögerte. Sie hatte seit jeher zu impulsiven Entscheidungen geneigt, aber diesmal hatte sie keinen blassen Schimmer, was sie tun sollte. »Ich muss erst darüber nachdenken.«

Das schien Miss Parker nicht zu gefallen. »Also gut. Dann verbringen Sie am Wochenende etwas Zeit mit den Kindern und kommen am Montag wieder vorbei, um die Formalitäten zu klären.«

Beinahe wäre May in hysterisches Gelächter ausgebrochen. Als würden zwei Tage ausreichen, um mal eben eine solch lebensverändernde Entscheidung zu treffen.

»Haben Sie sonst noch Fragen?«

Das sollte wohl ein Witz sein. May hatte unzählige Fragen. Aber Miss Parker schien weder geduldig noch besonders redselig zu sein. Deshalb schüttelte May den Kopf und erhob sich. »Nein, ich denke, alles Weitere können wir Anfang nächster Woche besprechen.«

Noch immer wacklig auf den Beinen rang May sich zu einem Lächeln durch, das jedoch unerwidert blieb.

»Wissen Sie«, meinte die Anwältin ernst, »es wäre keine Schande, jemandem diese Aufgabe zu übertragen, der etwas … geeigneter wäre.« Sie deutete zur Tür. »Ich begleite Sie noch hinaus.«

Mit hängenden Schultern folgte May ihr. Sie schüttelten sich die Hand.

»Wir sehen uns am Montag, Miss Cambell.«

»Okay«, erwiderte May heiser, ging an ihr vorbei ins Treppenhaus – und erstarrte.

Ein Mann saß auf den Stufen zum zweiten Stock. Er hatte die Ellenbogen lässig auf die Knie gestützt, aber seine Finger waren so fest verschränkt, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er war schlank und vermutlich ziemlich groß. Seine langen Beine steckten in Jeans, darüber trug er ein kariertes Hemd, dessen Ärmel ein Stück hochgekrempelt waren. Das braune Haar stand ihm in alle Richtungen vom Kopf ab, als wäre er mit den Händen unzählige Male durch die wirren Strähnen gefahren. Er hatte markante Gesichtszüge, und obwohl sein Kiefer von unzähligen Stoppeln bedeckt war, bemerkte May, dass er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst hatte. Dunkle Schatten lagen unter seinen grünen Augen. Sie verbargen weder seinen Schmerz noch die Skepsis, die er ihr entgegenbrachte. Er sah anders aus als auf den Fotos, und doch erkannte May ihn sofort wieder. Dieser Mann war Cole Baxter – und er war ihr keineswegs freundlich gesinnt.

Kapitel 2

Cole

Ungläubig musterte Cole die halbe Portion, die soeben an Sophia vorbei ins Treppenhaus getreten war. Sie war blass, ihre Kleidung billig und verknittert. Sie glich Rose kein bisschen. Die Frau seines besten Freundes war groß, schlank und blond gewesen – Violet May Cambell war winzig, besaß eine weibliche Figur und hatte dunkelbraunes Haar mit blauen Strähnchen, das ihr in dichten Wellen über den Rücken fiel. Einzig die riesigen babyblauen Augen, die vor Schreck geweitet waren, erinnerten ihn an Cathy und Lilly.

Rose hatte sich immer lustig darüber gemacht, dass gerade Lilly ihrer Tante mehr ähnelte als ihrer eigenen Mutter.

Cole hatte sie nie für voll genommen. Bis jetzt.

Ein Stich fuhr ihm in die Brust, als das fröhliche Lachen von Julians Frau in seinen Ohren widerhallte.

Gott! Er vermisste sie.

Beklommen verdrängte Cole den Schmerz, der seit Tagen ununterbrochen in ihm wütete. Stattdessen konzentrierte er sich wieder auf Roses Schwester. »Hallo, Violet«, sagte er förmlich und erhob sich.

Blinzelnd legte sie den Kopf in den Nacken, weil er sie nun ein ganzes Stück überragte. »May.«

»Was?«, fragte er irritiert.

»Eigentlich möchte ich lieber May genannt werden.«

Großartig. Das schrie ja förmlich nach einer Existenzkrise. Andererseits kam ihm das vielleicht zugute. »Ich bin Cole.«

Ihre Mundwinkel hoben sich zaghaft. »Das dachte ich mir schon.«

»Sollen wir vielleicht ein paar Dinge besprechen?«

»Sicher.« Sie wandte sich ab und stürmte die Treppe hinunter. Sie schien es kaum erwarten zu können, der Enge des Treppenhauses zu entfliehen.

»Danke, dass du gleich Bescheid gesagt hast«, sagte Cole, sobald May verschwunden war.

»Gern geschehen.« Sophia, die noch immer in der Tür stand, nickte. »Rufst du mich nachher an?«

»Klar.«

»Wir können später auch etwas essen gehen, wenn du möchtest.« Sophia legte ihm sanft die Hand auf den Oberarm. »Ich bin für dich da.«

»Das weiß ich zu schätzen«, erwiderte Cole freundlich, auch wenn ihm ihr Angebot in diesem Moment nicht gleichgültiger hätte sein können. Sophia war eine schöne, intelligente Frau. Sie verdiente etwas Besseres als ein Wrack wie ihn. Davon abgesehen hatte er gerade wirklich andere Sorgen. »Ich melde mich.«

Enttäuschung flackerte in Sophias Blick auf, doch sie lächelte tapfer. »Wann immer du willst.«

Cole verabschiedete sich knapp, ehe er May nach draußen folgte.

Roses Schwester stand mitten auf dem Gehweg. Mit verschränkten Armen betrachtete sie die Umgebung, schien aber nicht wirklich etwas wahrzunehmen. Andernfalls hätte sie sicher bemerkt, dass ihr mehrere Leute neugierige Blicke zuwarfen.

Jeder hier wusste, wer sie war. Und das lag nicht an ihrer merkwürdigen Frisur, sondern weil sich Gerüchte in dieser Stadt wie ein Lauffeuer verbreiteten. Miss Potter lugte sogar aus ihrer Boutique und rümpfte solidarisch die Nase, ehe sie Cole zuwinkte.

Er grüßte zurück. Dann schaute er May an und deutete auf das Eiscafé an der Straßenecke. »Kaffee?«

May biss sich auf die Unterlippe, bevor sie zögernd zustimmte. Sie legten die wenigen Meter in angespanntem Schweigen zurück.

Normalerweise flanierte Cole gern durch die Innenstadt. Gerade im späten Frühling, wenn aus jedem Blumentopf bunte Blüten quollen und die Apfelbäume zu sprießen begannen, besaß dieses Städtchen seinen ganz eigenen Charme. Die Luft war erfüllt von einer schweren Süße. Vogelgezwitscher, lachende Menschen und summende Insekten vermischten sich zu einer Geräuschkulisse. Hin und wieder hupte ein Wagen, weil jemand im Vorbeifahren grüßte.

Aber in diesem Jahr war nichts normal. Obgleich sich an der Szenerie nichts geändert hatte, quälten Cole Trauer, Schmerz und Wut. Er konnte sich nicht an seiner Umgebung erfreuen – und Mays Anwesenheit machte es nur noch schlimmer.

Das Lorenzo’s war wie alle Läden im Ort nicht besonders groß, aber trotzdem zählte das Café zu den beliebtesten Treffpunkten. Unmittelbar hinter dem Eingang befand sich der Tresen, der mehr als zwanzig Eissorten feilbot. An der anderen Wand stand eine lange, mit türkisfarbenem Leder überzogene Bank, dazu passend verteilten sich Metalltische und Stühle im Raum.

Cole war froh, dass sich abgesehen von dem Inhaber niemand im Café befand. Stattdessen genossen die wenigen Gäste Kaffee und Crêpes an den Tischen vor dem Gebäude.

»Hey, Bob«, sagte Cole und ging zu einem Tisch in der hinteren Ecke.

Für das, was er mit May zu besprechen hatte, brauchte er gewiss keine Zeugen. Er machte sich nicht die Mühe, seiner Begleiterin einen Stuhl zurechtzurücken. Schließlich sollte sie gar nicht erst auf den Gedanken kommen, sich hier heimelig zu fühlen. Geschmeidig rutschte er auf die Bank.

May nahm ihm gegenüber Platz. Sie war immer noch käseweiß im Gesicht und hob sich fast schon gespenstisch von der mintfarbenen Wand ab.

Abwägend betrachtete Cole die Frau, die nun offiziell das Recht hatte, ihm die Mädchen wegzunehmen. Allein die Vorstellung erfüllte Cole mit blankem Entsetzen. Sie könnte einfach ihren Kram zusammenpacken und ans andere Ende des Landes ziehen. Niemand würde sie aufhalten.

»Was kann ich euch bringen?«, rief Bob vom Tresen aus.

»Einen Kaffee, bitte«, antwortete May mit heiserer Stimme, ohne sich umzudrehen.

Cole warf Bob einen Blick zu. »Mach zwei draus.«

Der Cafébesitzer nickte, und Cole konzentrierte sich wieder auf die Fremde vor ihm. »Ich nehme an, Sophia hat dich über den letzten Willen von Julian und deiner Schwester informiert«, kam er ohne Umschweife zum Thema.

May zuckte zusammen. »Ja.«

»Und beabsichtigst du, die Vormundschaft für die Mädchen zu übernehmen?«, fragte Cole gepresst.

Halt suchend umklammerte May den Riemen ihrer bunten Hippietasche. »Ich bin mir nicht sicher.«

Vor Erleichterung hätte Cole beinahe aufgestöhnt. Wenn sie jetzt schon zweifelte, könnte er sie bestimmt davon überzeugen, auf die Vormundschaft zu verzichten.

»Cataleya und Lillian sind meine Familie. Vielleicht … vielleicht kann ich helfen. Irgendwie.«

Sofort verpuffte Coles Optimismus und wurde durch Entrüstung ersetzt. Sie wollte helfen? Ernsthaft?

Er ballte die Hände auf seinem Schoß. Nicht einmal ihre Lehrer und Erzieher nannten die Mädchen bei ihrem richtigen Vornamen. Für alle im Ort waren sie Cathy und Lilly, was May wüsste, hätte sie sich wenigstens ein Mal in den letzten Jahren die Mühe gemacht, ihren Hintern nach Goodville zu schwingen. Aber nein! Sie war ja lieber in der Weltgeschichte herumgetingelt. Ohne ein konkretes Ziel.

Rose hatte ihm mehr als einmal ihr Herz ausgeschüttet. Aber selbst wenn sie ihre Sorgen für sich behalten hätte, eine kleine Schwester, die durch chronische Abwesenheit glänzte, konnte man schlecht ignorieren.

May war einfach nie da gewesen. Stattdessen hatte sie Rose jedes Mal irgendeine andere schwachsinnige Ausrede aufgetischt, um sich vor einem Besuch zu drücken.

Als Julian, Rose und er den Abschluss an der University of Colorado Springs gefeiert hatten, war sie Animateurin für ein Hotel auf Hawaii gewesen und hatte keinen Urlaub gekriegt. Die Hochzeit ihrer Schwester ein halbes Jahr später hatte May verpasst, weil sie sich spontan einem Hilfskonvoi in Bolivien angeschlossen hatte. Zu Cathys Geburt war sie an der Uni in New York eingeschrieben und büffelte für ihre Zwischenprüfungen. Beim Umzug nach Goodville brauchte eine Freundin in Kanada ihre Hilfe dringender. In den Wochen nach Lillys Geburt jobbte May auf einem Kreuzfahrtschiff. Und als ihre Mutter vor ein paar Jahren gestorben war, hielt sie sich in Europa auf und kehrte erst zurück, als die Avens bereits abgereist waren.

Cole wusste, dass May ihre älteste Nichte bisher nur einmal gesehen hatte. Damals hatten sie alle noch in Colorado Springs gelebt. Er und Julian waren eine Woche lang bei einer Baumesse in Salt Lake City gewesen. May war ohne jede Vorankündigung aufgetaucht und noch vor ihrer Rückkehr wieder verschwunden, weil ihr damaliger Lover sie mit einem Caravan-Trip auf der Route 66 überrascht hatte. Und das war natürlich wichtiger gewesen.

Bitterkeit peitschte durch Coles Adern. Diese Frau mochte mit Rose verwandt sein, aber sie hatte keine Ahnung von ihrem Leben. Sie war nicht da gewesen, als ihre Nichten zur Welt gekommen waren, und hatte auch nicht miterlebt, wie diese süßen pummeligen Babys zu bezaubernden Mädchen herangewachsen waren, die lieber zu den Foo Fighters anstatt zur Eiskönigin abrockten.

Nicht May, sondern er hatte Cathys ersten Worten gelauscht. Er war dabei gewesen, als sie laufen, schwimmen und Fahrrad fahren gelernt und ihre Leidenschaft für Softball entdeckt hatte. Er hatte zur Schuleinführung im letzten Sommer ihre Schultüte getragen.

Nicht May, sonderner hatte Lilly nächtelang durch die Gegend geschleppt, als Cathy ihre Eltern mit Windpocken angesteckt hatte und sie alle drei flachlagen. Er hatte Lilly früher immer zum Lachen gebracht und dann miterlebt, wie das einst so fröhliche Mädchen vor Kummer über den Tod ihrer Eltern aufhörte zu sprechen. Es hatte ihm das Herz gebrochen.

May hatte verdammt noch mal kein Recht auf diese beiden Kinder, die Cole mehr als alles auf der Welt vergötterte.

Genau das hätte er ihr gern ins Gesicht gebrüllt. Aber May machte eh schon den Eindruck, als würde sie jeden Augenblick aus den Latschen kippen. Sie hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und schwankte geistesabwesend vor und zurück. Sie sah aus, als gehörte sie in eine Klapsmühle.

Prima! Irre war sie also auch noch.

Am liebsten hätte Cole seinem besten Freund eine verpasst. Wieso um alles in der Welt war Julian damit einverstanden gewesen, dieser wildfremden Person seine Töchter anzuvertrauen? Was zur Hölle hatte er sich nur dabei gedacht?

Vermutlich gar nichts.

Wer rechnete schon damit, dass er mit Ende zwanzig auf dem Heimweg von einer langweiligen Dinnerparty an einen Baum krachte und seine Kinder zu Vollwaisen machte?

Verflucht noch mal.

Bevor ihn die Trauer erneut mit voller Wucht übermannen konnte, kam Bob mit dem Kaffee. Er stellte die zwei dampfenden Tassen mittig auf den Tisch und klopfte Cole aufmunternd auf die Schulter. May warf er einen neugierigen Blick zu, bevor er wieder zum Tresen zurückging.

Ein Ruck fuhr durch Mays Körper, und sie legte die Hände um die warme Kaffeetasse. Aufmerksam sah sie Cole an.

Es war ihm unmöglich einzuschätzen, was gerade in ihrem Kopf vorging. Ihre Miene war weder abweisend noch freundlich. Aber offensichtlich wartete sie darauf, dass er etwas sagte.

Entschlossen straffte er die Schultern. »Ich will das Sorgerecht für die Mädchen.«

Sie atmete zitternd aus. »Du redest nicht gern um den heißen Brei herum, was?«

»Warum sollte ich?« Langsam lehnte Cole sich vor. »Julian und Rose waren meine engsten Freunde. Ich liebe ihre Kinder, als wären es meine eigenen. Deshalb will ich mich um sie kümmern.«

Eine kleine Falte erschien auf Mays Stirn. »Es tut mir sehr leid, dass du sie verloren hast.«

»Danke.« Cole konnte sich gerade noch einen zynischen Kommentar verkneifen. Dass May den Tod der beiden nicht als Verlust empfand, sprach Bände. Er würde auf keinen Fall zulassen, dass er auch noch die Mädchen verlor. »Hör zu! Ich weiß, es ist merkwürdig für dich, Cathy und Lilly meiner Obhut zu überlassen. Immerhin kennen wir uns nicht. Aber ich kenne die beiden. Sie wollen bei mir bleiben.« Er lächelte arglos und ließ seine Stimme besonders weich klingen. »Du kannst einfach zurück zu Sophia gehen, die Papiere unterschreiben und wieder abreisen. Den Rest regle ich.«

Zum ersten Mal flackerte Trotz in ihren Augen auf. »Ich gehe auf keinen Fall, ohne meine Nichten wenigstens gesehen zu haben.«

»Wozu? Wenn du sie sowieso wieder verlassen wirst, machst du ihnen nur unnötig das Leben schwer. Sie sind auch so schon verstört genug.«

»Ich werde sie treffen.«

Die plötzliche Schärfe in ihrer Stimme jagte Cole einen Schauer über den Rücken. Allmählich dämmerte es ihm, dass er zu schnell vorangeprescht war. Er hatte ihre Apathie für eine Schwäche gehalten, die er sich zunutze machen wollte. Aber allem Anschein nach hatte er exakt das Gegenteil bewirkt und sie aus ihrem Schockzustand gerissen.

Panik erfasste ihn, die er hinter einem schiefen Grinsen verbarg. »Natürlich willst du die beiden sehen. Das war dämlich. Entschuldige. Ich will die Mädchen bloß beschützen. Das ist alles.«

Mays Brauen schossen in die Höhe. »Vor mir.«

Eine Feststellung, keine Frage.

Cole bewegte sich auf dünnem Eis, das war ihm klar. Allerdings hatte er keinen Zweifel, dass sie seine Lügen durchschaut hätte. Deshalb blieb er bei der Wahrheit. »Seien wir ehrlich, May. Die Mädchen kennen dich nur aus den fantastischen Geschichten, die ihnen ihre Mutter häufig über ihre Tante Violet vor dem Zubettgehen erzählt hat. Und du kennst sie nur von Mails und Fotos, die Rose dir alle paar Monate geschickt hat. Ihr seid praktisch Fremde füreinander.«

»Glaubst du, das ist mir nicht bewusst?«, erwiderte May tonlos.

Immerhin ein Punkt, in dem sie sich einig waren. Das ließ ja hoffen. Cole meinte sogar, einen Anflug von Scham in ihrer Miene auszumachen, bevor sie den Blick auf die Tasse senkte.

»Die Mädchen sind verwirrt und verängstigt«, fuhr er fort und lehnte sich noch ein Stück weiter nach vorn. »Was, glaubst du, wie das für sie ist, wenn du in ihr Zuhause spazierst und verkündest, dass die verschollene Tante Violet von ihren Reisen zurückgekehrt ist? Was wirst du ihnen sagen, wenn sie wissen wollen, ob du dich in Zukunft um sie kümmerst? Und wie willst du ihnen erklären, dass du nicht bleiben wirst, wenn du erst mal erkannt hast, dass das Leben hier nichts für dich ist?« Cole lächelte sie verständnisvoll an, obwohl es innerlich in ihm brodelte. Es fiel ihm schwer, seine Stimme weiterhin sanft klingen zu lassen. »Rose hat mir erzählt, dass du es an keinem Ort je länger als ein paar Monate ausgehalten hast. Du bist eine Weltenbummlerin, immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. Und das ist vollkommen okay. Manche Menschen brauchen einfach ihre Freiheit. Aber das ist nicht das, was Cathy und Lilly brauchen. Sie brauchen feste Konstanten in ihrem Leben.«

Cole legte eine Kunstpause ein, um seinen letzten Satz zu unterstreichen. Er sann sogar kurz darüber nach, ihr die Hand auf den Unterarm zu legen, aber damit hätte er den Bogen wohl überspannt. »Zwing sie bitte nicht, dich auch wieder zu verlieren.«

Wie vom Donner gerührt starrte May ihn an, während er ein Stoßgebet zum Himmel schickte, dass sie sich einsichtig zeigte. Als er ihr Schweigen nicht länger aushielt, versuchte er es erneut mit einem Lächeln. »Und? Was meinst du?«

»Das …« May schluckte. »Das war ein ziemlich beeindruckender Vortrag.«

Gut möglich. Aber reichte das auch aus?

Cole kroch beinahe über den Tisch vor Anspannung. Es machte ihn kirre, dass er Mays Miene nicht deuten konnte. Lag das am Schock, oder war sie grundsätzlich so verschlossen?

»Du hast recht«, sagte sie schließlich.

Gut, dass Cole saß. Sonst wären ihm womöglich vor Erleichterung die Knie eingeknickt. »Dann sind wir uns einig?«

May sah ihn ausdruckslos an. »Nein.«

Cole spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Was?«

»Ich werde das Wochenende mit den Mädchen verbringen und sie kennenlernen.« Mit einer fahrigen Geste zog May einen zerknitterten Fünfdollarschein aus ihrer Hosentasche und legte ihn neben die halb volle Kaffeetasse. Anschließend stand sie auf und schaute Cole an. »Erst danach werde ich mich entscheiden.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte aus dem Café.

Shit! So hätte das nicht laufen sollen.

Cole raufte sich die Haare, bevor er aufsprang und ihr hinterherhetzte. Auf der Straße war nicht viel los. Aber Cole konnte May nirgends entdecken. Sie schien wie vom Erdboden verschluckt.

Fluchend stemmte er die Hände in die Hüften, schloss die Augen und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Licht und Wärme streichelten seine Haut. Hinter seinen Lidern setzte ein Brennen ein, als ihn Angst und Frustration überwältigten.

Er hatte diese Warterei so satt. Er brauchte endlich Gewissheit. Denn er war sich nicht sicher, ob er es ertragen könnte, wenn er Cathy und Lilly auch noch verlor. Er wusste nur eins: Er würde alles daransetzen, damit das nicht passierte.

Kapitel 3

May

Mays Atem ging stoßweise, während sie Cole Baxter durch das Schaufenster des Souvenirladens beobachtete. Wie sie befürchtet hatte, war er ihr sofort hinterhergelaufen, weshalb sie in das benachbarte Geschäft geflohen und hinter einem Postkartenständer in Deckung gegangen war.

Nachdenklich betrachtete sie den Mann, der unbedingt die Vormundschaft für ihre Nichten übernehmen wollte. Er wirkte so angespannt, dass May eine Gänsehaut bekam. Sie wusste nicht so recht, was sie von Cole halten sollte.

Klar war, dass er Cataleya und Lillian liebte und dass er wie ein Löwe um sie kämpfen würde. Aber genau dieser Umstand machte May stutzig.

Sie wusste fast nichts über ihn, abgesehen davon, dass er ursprünglich aus diesem Kaff stammte, Rose und Julian während des Studiums in Colorado Springs kennengelernt hatte und er ein Mitbegründer der Baufirma Avens & Baxter war. Objektiv betrachtet war Cole ein attraktiver Mann im besten heiratsfähigen Alter und Geschäftsführer eines lukrativen Unternehmens. Also warum wollte er keine eigene Familie gründen? War er überhaupt liiert? Falls nicht, mussten die Frauen ihm scharenweise hinterherrennen. Es sei denn natürlich, er wäre schwul.

May runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass Rose je etwas in diese Richtung erwähnt hätte. Aber das musste ja nichts heißen.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Erschrocken wirbelte May herum und prallte fast gegen die Ladenbesitzerin, die unmittelbar hinter ihr stand. Die junge Frau trug ein schlichtes blaues Kleid, war zierlich wie eine Elfe und kaum älter als May. Das hellbraune Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt. Sie musterte May neugierig, aber nicht verurteilend.

May lächelte. »Nein, vielen Dank. Ich sehe mich bloß um.«

»Ich bin Nova.« Die Ladenbesitzerin deutete auf ein riesiges Kopiergerät in der hinteren Ladenecke, auf dem ein Stapel Papiere lag. »Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie einfach.«

»Danke. Das ist sehr freundlich.«

Nova nickte und ließ May allein. Unterdessen warf May einen Blick über ihre Schulter und stellte erleichtert fest, dass Cole inzwischen verschwunden war.

Da der Weg nun frei war, hätte May eigentlich sofort zu den Mädchen fahren sollen. Allerdings fühlten sich ihre Füße bleischwer an.

Erneut brach ihr der Schweiß aus. Was sollte sie bloß zu ihren Nichten sagen?

Panik drohte May zu überwältigen, doch sie schob entschieden jedes Angstgefühl beiseite. Hier ging es nicht um sie, sondern ausschließlich um die Mädchen.

Entschlossen setzte May sich in Bewegung. Sie wollte sich gerade zur Tür wenden, als ihr auffiel, dass sie nicht einmal eine Kleinigkeit für die beiden hatte, mit der sie ihnen vielleicht eine Freude machen könnte. Sie schaute sich um und entdeckte ein kleines Regal mit Spielzeug.

Nach reiflicher Überlegung entschied sie sich für eine handgearbeitete Stoffpuppe für Cataleya. Für Lillian suchte sie einen Teddybären mit Knopfaugen aus. Sie ging zur Kasse, und Nova tippte lächelnd die Preise ein. Spontan beschloss May, noch zwei Schokoriegel mitzunehmen.

Diesmal zögerte Nova.

»Was ist?«, fragte May irritiert.

»Nichts, ich …« Nova biss sich auf die Lippe. »Es geht mich ja nichts an, aber Lilly hat eine Nussallergie.«

May keuchte erschrocken auf, woraufhin pures Mitgefühl in Novas Miene erschien.

»Verzeihung. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Schon gut. Ich bin für jeden Hinweis dankbar.« Angespannt rieb May sich über die Stirn. »Sie wissen also, wer ich bin?«

»Ihre Ankunft hat sich ziemlich schnell herumgesprochen«, erwiderte Nova mit einem entschuldigenden Lächeln.

»Na, großartig.« Missmutig zeigte May auf die bunten Zuckerstangen auf dem Tresen. »Wie steht es damit?«

Nova nickte zustimmend. »Die Mädchen sind ganz verrückt danach.«

»Dann nehme ich zwei.«

»In Ordnung.« Geschickt wickelte Nova die Süßigkeiten in Papier ein und packte sie zu den Spielsachen in eine Plastiktüte. »Das macht siebenunddreißig Dollar.«

May reichte Nova ihre Kreditkarte, während sie den Betrag im Geiste von ihrem Kontoguthaben abzog. Anschließend nahm sie von Nova die Tüte entgegen, bedankte sich und verließ das Geschäft.

Auf der anderen Straßenseite steckten zwei Frauen sogleich die Köpfe zusammen. Sie machten sich gar nicht erst die Mühe, ihr Getuschel zu verbergen, während ihr Blick mit unverhohlener Missbilligung über Mays Erscheinung glitt.

Unsicher sah May sich um und bemerkte in der Nähe ein älteres Pärchen, das sie ebenfalls voller Abneigung taxierte.

Wo lag eigentlich das Problem dieser Leute?

Sie hatte doch bloß ein paar blaue Strähnchen im Haar. In San Francisco hatte es keine Menschenseele interessiert, wie sie herumlief. Hier schien es sich beinahe um ein Kapitalverbrechen zu handeln, wenn man etwas Farbe in sein Leben brachte.

Nicht zu fassen!

May biss die Zähne zusammen und stapfte zu ihrem Wagen. Als sie einsteigen wollte, bemerkte sie einen Zettel unter dem Scheibenwischer. Sie zog ihn heraus und stieg ein, bevor sie das Blatt Papier auseinanderfaltete und versuchte, die krakelige Handschrift zu entziffern.

Ruf mich jederzeit an, falls die Mädchen etwas brauchen oder du Fragen hast. Egal wann.

Cole Baxter

Darunter hatte er nicht nur seine Mobilfunknummer, sondern auch die Durchwahl seines Büros und seinen privaten Festnetzanschluss notiert. Als wollte er sicherstellen, dass May ihn auch ja erreichte, sobald der erste Notfall eintrat.

Kurz war sie versucht, den Zettel einfach wegzuwerfen. Aber sie würde wohl Coles Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Immerhin war sie noch keine Stunde in der Stadt und hätte womöglich ihre jüngste Nichte mit einem Schokoriegel vergiftet.

Seufzend speicherte May die Nummern in ihrem Smartphone ab, bevor sie die Adresse der Avens in die Navigations-App eintippte. Leider vermochte auch die monotone Stimme der Ansage nicht, ihre angespannten Nerven ein wenig zu beruhigen.

Die breite Hauptverkehrsstraße schien der Dreh- und Angelpunkt von Goodville zu sein. Die Gebäude, überwiegend aus dem letzten Jahrhundert, waren allesamt gut in Schuss. Helle Pastelltöne wechselten sich mit schneeweißen Fassaden ab. Nirgends fiel ein Bauwerk optisch aus der Reihe.

Gleiches galt für die Einfamilienhäuser, die auf die Ladenzeile folgten. Jeder Vorgarten glänzte mit einem englischen Rasen, akkurat geschnittenen Hecken und lackierten Zäunen. Je weiter May sich vom Stadtzentrum entfernte, umso größer wirkten die Grundstücke.

Als sie fünf Minuten später vor dem Haus ihrer Schwester hielt, hämmerte ihr Herz gegen ihren Brustkorb, und sie war kurz davor, sich zu übergeben. Ängstlich musterte sie das Anwesen.

Rose hatte ihr vor Jahren Fotos geschickt, als sie und Julian gerade erst mit Cataleya hergezogen waren. Seither schien sich kaum etwas verändert zu haben.

Die Holzfassade des typisch amerikanischen Landhauses war in einem zarten Grau gestrichen, wodurch die weißen Fensterläden und die Verandaumzäunung hervorragend zur Geltung kamen. Links neben der breiten, gepflasterten Einfahrt, in der ein blauer Kleinwagen parkte, führte ein Steinweg zum Hauseingang. Er war gesäumt von kleinen, in einem prächtigen Rosa blühenden Fliederbüschen. Auf dem sorgsam gestutzten Rasen standen zwei Apfelbäume, die allmählich austrieben.

Passend zum Haupthaus befand sich rechts neben der Einfahrt ein kleiner Bungalow. Chesters Heim.

May hatte Julians Vater zuletzt gesehen, als Rose und Julian die Highschool beendet hatten. Schon damals war Chesters aufmerksamen Augen nichts entgangen. Deshalb graute May davor, ihn wiederzusehen. Allerdings lag ihre letzte Begegnung inzwischen mehr als zehn Jahre zurück, und Chester hatte im Moment sicher weitaus größere Sorgen, als sich mit der Vergangenheit zu befassen.

Nervös befeuchtete May ihre trockenen Lippen. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, krallte sich die Tüte mit den Spielsachen vom Beifahrersitz und verließ den Schutz des Chief Cherokee.

Ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an, als sie die Einfahrt hinauflief und links auf den Steinweg abbog. Sie erklomm die Stufen zu der überdachten Veranda und hob die Hand, um zu klopfen. Da wurde die Tür bereits schwungvoll aufgerissen.

Erschrocken fuhr May zusammen. Sie hatte keine Ahnung, wer die ältere Frau war, die vor ihr stand und abfällig die rot bemalten Lippen schürzte. May schätzte sie auf Mitte fünfzig. Kleine Fältchen zierten ihren Mund und die Augenwinkel. Sie hatte ihr Haar zu einem modischen weißblonden Bob frisiert. Unter einer karierten Schürze lugte eine gelbe Bluse hervor. In der Hand hielt sie ein Geschirrtuch. Wie bei Cole war auch ihr Blick reserviert, skeptisch und erfüllt von tiefer Trauer.

»Guten Tag«, brachte May mit zittriger Stimme hervor. »Mein Name ist May Cambell. Ich bin die Tante von Cathy und Lilly.«

Es schien May ratsam zu sein, die Mädchen bei ihren Spitznamen zu nennen, obgleich sie sich wie eine Heuchlerin fühlte.

»Hallo, Miss Cambell«, begrüßte die Fremde sie kühl und wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab. »Ich bin Helen Baxter.«

May riss die Augen auf. »Sie sind Coles Mutter?«

Irritiert runzelte Helen die Stirn. »Hat mein Sohn Ihnen nicht gesagt, dass ich bis zu Ihrem Eintreffen im Haushalt aushelfe?«

»Nein, hat er nicht.« Zu seiner Verteidigung musste May jedoch einräumen, dass sie auch nicht danach gefragt hatte. Sie war einfach davon ausgegangen, dass Chester sich trotz seines Handicaps um alles kümmerte. Sie holte tief Luft und streckte der Frau ihre Hand entgegen. »Bitte sagen Sie May zu mir, Ma’am.«

Helen zögerte einen Moment. Dann ergriff sie Mays Hand und schüttelte sie fest. »Komm herein.«

Sowie May einen Schritt über die Türschwelle gesetzt hatte, fuhr ihr ein scharfer Schmerz in die Brust. Wie oft hatte Rose gebettelt, May möge sie doch endlich einmal in Goodville besuchen, damit sie ihr neues Leben und die Kinder kennenlernen konnte. Aber May hatte es nicht ein einziges Mal über sich gebracht. Nun war sie hier – doch Rose würde es niemals erleben.

»Am besten gehen wir in die Küche.«

Langsam folgte May der älteren Frau durch einen breiten Flur. Rechts führte eine weiße Holztreppe hinauf ins Obergeschoss. An den hellblauen Wänden hingen zahlreiche Bilder. Hastig wandte May den Blick ab.

Die großzügige Küche schien der Mittelpunkt des Hauses zu sein. An der linken Wand waren Einbauschränke mit weißen Holzfronten montiert. Unter dem Fenster befand sich die Spüle und in der Mitte eine Kücheninsel mit einem riesigen Herd, die zugleich als Raumteiler diente. Auf der Arbeitsfläche standen eine große, prall gefüllte Obstschale, ein Tonkrug voller Küchenutensilien und eine extravagante Kaffeemaschine.

Helen bezog im Zentrum der Küche Stellung. »Setz dich«, wies sie May an und deutete auf einen der drei Barhocker.

May gehorchte, während Helen zu dem gigantischen Kühlschrank mit Doppeltüren ging, an dessen Fronten bunte, selbst gemalte Kinderbilder und zahlreiche Listen hafteten. Sie holte eine Packung Orangensaft heraus und schenkte ein Glas ein, das sie May reichte.

»Danke.«

Helen nickte. Sie holte einen Topf aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Herd. Routiniert schaltete sie die Kochplatte ein, angelte einen Holzlöffel aus dem Tonkrug und hob den Deckel. Der würzige Duft des Eintopfes breitete sich in der Küche aus, als Helen umrührte.

Angespannt trank May etwas Saft, obwohl sie überhaupt keinen Durst verspürte. Sie war dermaßen überfordert mit der Situation, dass sie am liebsten schreiend davongerannt wäre. Dabei hatte sie ihre Nichten noch nicht einmal getroffen.

»Wo sind die Mädchen?«, fragte sie, als sie Helens Schweigen nicht länger aushielt.

»Seit dem Unglück sind die beiden täglich im Gemeindezentrum, wo sich ein Psychologe um die Trauerarbeit kümmert. Mein Mann müsste bald mit ihnen zurück sein.« Helen sah May kritisch an. »Was hat mein Sohn dir überhaupt erzählt?«

»Nicht besonders viel.« Betreten schaute May auf das Glas in ihrer Hand. »Genau genommen hat Cole mir sogar davon abgeraten herzukommen, weil er die Vormundschaft für Cathy und Lilly selbst übernehmen will.«

Wieder hüllte Helen sich in Schweigen. Unter dem forschenden Blick von Coles Mutter schrumpfte May innerlich zusammen.

»Ich war nie für die beiden da«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. »Ich kenne sie nicht, und sie kennen mich nicht. Aber glauben Sie mir, ich wünsche mir nur das Beste für meine Nichten. Ihr Sohn ist bestimmt ein toller Mann, und ich habe gemerkt, wie viel die beiden ihm bedeuten, aber ich … ich kenne ihn genauso wenig. Ich kann nicht einschätzen, ob die Kinder bei ihm wirklich besser aufgehoben sind. Abgesehen davon kann ich doch nicht einfach den letzten Willen meiner Schwester ignorieren. Das wäre falsch, oder nicht?« Hilfe suchend starrte May die ältere Frau an, die jedoch noch immer kein Wort sagte. May seufzte frustriert. »Die drei haben schon genug durchgemacht. Ich will niemandem noch mehr wehtun. Aber Rose und Julian …« Sie schluckte. »Sie wollten es so. Sie wollten mich. Dabei bin ich dieser Verantwortung im Grunde überhaupt nicht gewachsen.«

Helen musterte sie einen Moment lang. Dann stieß sie einen leidgeprüften Seufzer aus. »Ab Montag geht Cathy wieder in die Schule, und Lilly besucht den Kindergarten. Der Psychologe ist der Ansicht, dass es das Beste für die beiden wäre, ihren Alltag so schnell wie möglich wieder aufzunehmen, da ihnen das vertraute Umfeld außerhalb ihres Zuhauses etwas Stabilität bietet. Jeden Dienstag und Donnerstag sollen die beiden weiterhin zur Therapie kommen.«

Überrascht guckte May sie an. Sie hatte nun wahrlich nicht erwartet, ausgerechnet von Coles Mutter ein wenig Unterstützung zu kriegen. Aber irgendwie schien sie mit ihrer wirren Rede einen Nerv bei Helen getroffen zu haben.

»Du solltest jeden Morgen spätestens um halb sieben aufstehen«, fuhr Helen fort, während sie den Eintopf umrührte. »Dann hast du genug Zeit, dich fertig zu machen und das Frühstück vorzubereiten. Lilly isst am liebsten getoastete Waffeln. Cathy will für gewöhnlich Schinkensandwiches, auch für ihre Lunchbox. Wahrscheinlich wird Cathy dir erzählen, dass sie alt genug ist und sich selbst etwas kaufen kann. Aber ich rate dir davon ab, dich auf Geschäfte mit der kleinen Halsabschneiderin einzulassen.« Kurz erschien ein sanftes Lächeln auf Helens Gesicht, bevor sie wieder den Faden aufnahm. »Die Kindersitze findest du in der Garage. Am besten bringst du zuerst Cathy in die Schule. Es reicht, wenn ihr um halb acht das Haus verlasst. Lillys Kindergarten befindet sich eine Straße weiter. Für den Anfang solltest du die beiden nach dem Mittagessen abholen und etwas Zeit mit ihnen verbringen, bevor du sie zu ihren Nachmittagsterminen fährst. Cathy hat jeden Mittwoch um drei Uhr Softballtraining. Lilly macht in der Tanzgruppe des Gemeindezentrums mit. Der Kurs ist freiwillig und findet jeden Montag zwischen vier und fünf Uhr statt. Im Moment wissen wir allerdings noch nicht, ob Lilly weiter tanzen will, da sie ja nicht mehr spricht.«

Entsetzt schnappte May nach Luft. »Sie spricht nicht mehr?«

Ein Ausdruck tiefer Trauer huschte über Helens Gesicht. »Lilly war schon immer sehr sensibel. Der Verlust von Rose und Julian …« Sie schüttelte den Kopf, und Tränen glitzerten in ihren Augen. »Das war zu viel für unsere Kleine. Sie hat sich komplett in sich selbst zurückgezogen. Nicht einmal Cathy kommt noch an sie heran.«

Du lieber Gott!

Mays Kehle schnürte sich zu. »Und wie geht Cathy mit allem um?«

»Sie ist in erster Linie wütend und stößt jeden von sich. Du wirst dir ein hartes Fell zulegen müssen, um ihr über die Trauer hinwegzuhelfen.«

»Ich werde es versuchen«, erwiderte May leise.

Zu ihrer Überraschung verzogen sich Helens Lippen zu einem Lächeln. »Das glaube ich auch.«

May wurde warm ums Herz. Plötzlich erschien es ihr gar nicht mehr so unmöglich, die Verantwortung für die Kinder zu übernehmen. Es würde anstrengend und chaotisch werden. Aber vielleicht könnte sie es ja doch schaffen …

»Normalerweise essen die beiden um halb sieben Abendbrot und liegen spätestens um halb acht im Bett«, führte Helen weiter aus. »Zum Einschlafen dürfen sie sich eine Folge Grüffelo und seine Freunde anhören. Nur eine, nicht zwei oder drei – auch wenn Cathy versuchen wird, dir etwas anderes weiszumachen.«

Diesmal konnte May sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es erlosch jedoch sofort wieder, als sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde.

Schritte polterten durchs Haus, und Mays Herz schlug schneller.

Dann stürmte Cathy in die Küche. Als sie May sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.

Mays Magen verknotete sich. Cathy war ein Abbild von Rose. Für ihr Alter war sie groß und wirkte sehr sportlich. Sie trug Jeans, einen blauen Pullover und Turnschuhe. Sie hatte zarte Gesichtszüge und eine Stupsnase. Nur die langen Haare, die am Ende ihres Pferdeschwanzes mehr ins Goldene übergingen, erinnerten an Julians Wuschelkopf. Cathy pustete sich ein paar Strähnen ihres Ponys aus dem Gesicht und sah May mit eisigem Blick an.

»Wer bist du?«, fragte sie, obwohl das Flackern in ihren Augen verriet, dass sie genau wusste, wen sie vor sich hatte.

May beschloss, nicht auf diese Provokation einzugehen. »Ich bin May. Deine Tante.«

»Ich habe keine Tante.«

»Cataleya!«, tadelte Helen das Mädchen, doch May hob die Hand.

»Schon okay.« Sie rutschte vom Barhocker und ging zögernd auf Cathy zu.

Mittlerweile waren auch Lilly und Helens Mann in die Küche gekommen. Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester trug Lilly ein hübsches rosafarbenes Kleid mit einem zarten Blumenmuster. Ihre langen Haare hielt sie mit zwei pinken Spangen aus dem Gesicht. Sie drückte einen zerschlissenen Stoffhund an ihre Brust. In ihrem Blick lag keine Wut, sondern Angst. Stumm lehnte sie sich gegen ihre Schwester, die sogleich schützend vor sie trat.

Genau wie Rose früher.

Wieder fuhr May ein Stich in die Brust. Sie ging vor den beiden in die Knie, um ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. »Ich bin May«, wiederholte sie und war nicht fähig, das Zittern aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Und ich bin euretwegen hier.«

Blanker Hass schlug May entgegen, während Cathy sie anstarrte. Es war offensichtlich, dass das Mädchen sie nicht hier haben wollte.

»Essen ist fertig«, mischte Helen sich ein, die das stumme Duell anscheinend nicht länger mit ansehen konnte.

Trotzig hob Cathy das Kinn und wandte sich von May ab. »Ich habe keinen Hunger.«

Helen schaute betrübt auf sie hinab. »Aber wenn du nichts isst, wird Lilly auch nichts essen.«

Dieses Argument schien Cathy zum Umdenken zu bewegen. Sie ergriff die Hand ihrer kleinen Schwester und führte sie an den großen Esstisch, der sich vor der breiten Fensterfront befand und Platz für sechs Personen bot.

Helen zwinkerte May zu und öffnete den Küchenschrank.

May erhob sich, um Coles Vater zu begrüßen. Aber als sie feststellte, dass seine Miene genauso hart wie die seines Sohnes war, zögerte sie, ihm die Hand zu reichen, sondern beschränkte sich auf ein scheues Winken. »Hallo, ich bin May.«

Coles Vater, von ähnlich beeindruckender Statur wie sein Sohn, straffte die Schultern. »Ich bin Sheriff Mortimer Baxter.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sir.«

Er presste die Lippen aufeinander und musterte sie. Dann wandte er sich ohne eine Erwiderung ab. »Wir sollten uns jetzt auf den Weg machen, Liebes.«

Helen hielt kurz inne, ehe sie nickte und die Teller, die sie gerade aus dem Schrank genommen hatte, auf der Arbeitsplatte abstellte.

»Ach, bitte! Bleiben Sie doch noch zum Essen«, bat May angespannt.

Doch der Sheriff schüttelte entschieden den Kopf. »Sollten Sie nicht allein zurechtkommen, rufen Sie meinen Sohn an. Er erwartet Ihren Anruf.«

May wurde übel, als sie die volle Bedeutung seiner Worte erfasste. Er stieß sie ins kalte Wasser, weil er wollte, dass sie scheiterte und einsah, dass Cole die bessere Wahl für die Kinder war.

Trotz regte sich in May. »Ich denke, das wird nicht nötig sein, aber vielen Dank für das Angebot.«

Entrüstung blitzte in den Augen des Sheriffs auf, bevor er davonstapfte, um sich von den Mädchen zu verabschieden. Leise sprach er auf die beiden ein. Allerdings fiel Cathys Reaktion viel zu heftig aus, um überhört zu werden.

»Ich will aber nicht, dass diese Kuh allein mit uns hierbleibt«, schimpfte das Mädchen. »Sie hat blaue Haare, Morti. Sie sieht aus wie ein Schlumpf.«

Wie nett.

Wieder senkte Coles Vater die Stimme und flüsterte ihnen etwas zu, um sie zu beruhigen. Unterdessen kam Helen aus der Küche. Im Vorbeigehen drückte sie kurz Mays Oberarm. Wahrscheinlich war die Geste ermutigend gemeint, doch das milderte Mays Beklommenheit nicht im Geringsten. Nur ihr Stolz hielt sie davon ab, Coles Eltern schließlich doch noch anzuflehen.

Mortimer nahm eine kleine gepackte Reisetasche und ging ohne ein weiteres Wort hinaus. Seine Frau küsste die Mädchen zum Abschied auf die Stirn und bedachte May mit einem knappen Lächeln, bevor sie ebenfalls das Haus verließ. Die Tür glitt leise hinter ihr ins Schloss.

May war allein mit den beiden Kindern, für die sie nun die Verantwortung übernehmen sollte. Sie saßen noch immer am Esstisch, Cathy schmollend, Lilly unsicher.

Ein Knoten bildete sich in Mays Magen. Was jetzt?

Essen!

Essen war immer eine gute Idee, und außerdem hatte Helen ihnen ja bereits ein Mittagessen zubereitet. Rasch lief May in die Küche, zögerte jedoch in der fremden Umgebung.

Ganz ruhig, May. Du schaffst das. Stell dir einfach vor, du arbeitest beim Catering. Das hast du doch schon tausendmal gemacht. Also, kein Grund durchzudrehen.

Im Stillen sprach May sich selbst Mut zu, bevor sie die Suppenkelle aus dem Tonkrug fischte und etwas von dem Eintopf auf die Teller schöpfte. Als sie die Schubladen nach Löffeln durchsuchte, kam sie sich vor wie ein Eindringling. Doch sie schob dieses Gefühl beiseite und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.

Sie brachte zwei gefüllte Teller an den Tisch und holte Besteck, Gläser und Saft. Erwartungsvoll sah sie die Kinder an. Weder Cathy noch Lilly reagierten. Stattdessen starrten die Mädchen unglücklich auf die Teller.

»Lasst es euch schmecken«, sagte May und überlegte, ob sie sich zu ihnen setzen sollte. Vielleicht war das keine gute Idee. Andererseits fühlte es sich auch falsch an, die Kinder einfach sich selbst zu überlassen. Also setzte sie sich auf den Stuhl, der gegenüber von Cathy stand.

Zorn flackerte in ihrer Miene auf. »Das ist Moms Stuhl.«

May schoss nach oben, als hätte ihr Hintern Feuer gefangen. »Tut mir leid. Das wusste ich nicht.«

Cathy schnaubte, und May tippte unsicher auf den Stuhl neben ihr. »Und dieser hier? Ist das der Stuhl von eurem Dad?«

Tränen traten in Cathys Augen, doch sie kämpfte verbissen dagegen an und senkte den Blick.