Silver Springs. Sunshine on Your Skin - Polly Harper - E-Book

Silver Springs. Sunshine on Your Skin E-Book

Polly Harper

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sweet & spicy: Eine Enemies-to-Lovers-Romance vor der überwältigenden Kulisse der Rocky Mountains

Wenn es in deinem Herzen noch stärker knistert als am Lagerfeuer …


Estelle möchte auf der Stelle umkehren, als sie vor dem Eingang von Camp Silver Springs in den Wäldern der Rocky Mountains steht. Doch sie muss für mehrere Wochen Sozialstunden im Camp ableisten – dabei hat sie mit Kindern und Natur nichts am Hut. Ihre Laune sinkt noch mehr, als sie den Campleiter Reed kennenlernt, der ihr sehr deutlich zeigt, was er von ihr hält. Estelle beschließt, ihn einfach zu ignorieren – und nach ein paar Tagen muss sie zugeben, dass sie sich an dem idyllischen Ort mit seinen gemütlichen Holzcottages am Seeufer immer wohler fühlt. Mehr noch: Der Camp-Alltag und die Ausflüge zu den Wasserfällen beginnen ihr sogar Spaß zu machen. Und als sie am Lagerfeuer eine überraschende Seite an Reed kennenlernt, ist ihr Herz vollends verwirrt über den charmanten Eindringling ...

Die Montana-Love-Reihe im Überblick:

1. Silver Springs. Sunshine on Your Skin
2. Silver Springs. Thunder in Your Soul

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 486

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Polly Harper schreibt leidenschaftlich gern Liebesromane. Nach ihrer beliebten Goodville-Love-Reihe erzählt sie in ihrer neuen Montana-Love-Reihe süchtig machende Liebesgeschichten voller Leidenschaft und Romantik vor der atemberaubenden Kulisse der Rocky Mountains. Auch unter dem Pseudonym Greta Milán veröffentlicht die Autorin regelmäßig gefühlvolle Romane und Jugendbücher, die überall auf der Welt spielen. Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und drei Katern im Herzen Deutschlands.

Außerdem von Polly Harper lieferbar:

Die Goodville-Love-Reihe:

Lovely Hearts. Nur ein Lächeln von dir

Lovely Dreams. Nur ein Kuss von dir

Lovely Nights. Nur ein Traum von dir

Lovely Kisses. Nur eine Berührung von dir

www.penguin-verlag.de

Polly Harper

Sunshine on Your Skin

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31404-0V001

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Deshalb findet sich auf dieser Seite eine Triggerwarnung.Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Polly Harper und der Penguin Verlag

Playlist

Torii Wolf – June Lake

Duplex Heart – All the Lovers

Alex Kehm – Sorry

Frida Amundsen – Told You So

OTE feat. Erik Fernholm – What a Way

Taylor Swift – Anti-Hero

DNCE – Cake by the Ocean

Benson Boone – In The Stars

Passenger – Life’s For The Living

Paisley Pink – Blood Red Moon

Christopher – Led Me To You

Imagine Dragons – Walking the Wire

Für Mama,

mit der ich den Zauber eines Sommercamps

zum allerersten Mal erlebt habe

und der ich so unendlich viel verdanke.

Mit all meiner Liebe.

Kapitel 1

Estelle

Kies knirschte, als Pierce den fetten schwarzen Bentley von der Hauptstraße auf einen gewundenen Schotterweg lenkte, der direkt in mein Verderben führte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich an diesen Punkt gelandet war. Das hieß, eigentlich wusste ich es doch, aber ich wollte lieber nicht näher darüber nachdenken. Ich fühlte mich auch so schon elend genug.

Mit jedem Meter, den der Luxuswagen an diesem herrlichen Sommernachmittag auf dem Schotterweg zurücklegte, klopfte mein Herz hektischer in meiner Brust. Ich wollte nicht hier sein. Andererseits, ins Gefängnis wollte ich noch viel weniger.

Was das betraf, hatte sich der Anwalt meiner Mutter unmissverständlich ausgedrückt: Entweder ich arbeitete volle zwei Monate als Praktikantin im Camp Silver Springs, oder er buchte das Geld zurück, das meine Mutter bereits für meine Freiheit hingeblättert hatte, und sorgte persönlich dafür, dass der Richter einen Haftbefehl gegen mich erließ.

Was für eine Mutter so etwas tat?

So eine wie Moira Sinclair, die mit süßen zwanzig Jahren ein Multimillionen-Dollar-Unternehmen aus eigener Kraft aus dem Boden gestampft hatte. Mit Fleiß, Zielstrebigkeit und Disziplin, wie sie nicht müde wurde zu betonen.

Ich konnte das alles nicht mehr hören, und noch weniger konnte ich diese elenden Frühstücksflocken sehen, die die Sinclair Corporation auf Platz drei der größten Süßwarenhersteller des Landes katapultiert hatten. Ganz Amerika liebte Happy Crush – mir hingegen drehte sich jedes Mal der Magen um, wenn ich an diese krachsüßen Dinger dachte.

Kalter Schweiß bedeckte meine Stirn, als der Bentley schließlich auf den Parkplatz fuhr. Von der Rückbank aus wagte ich einen Blick durch die getönten Scheiben und zuckte zusammen, als ich das Chaos erblickte.

Busse und Autos standen kreuz und quer, Erwachsene schleppten Koffer, Kinder schrien, weinten und lachten. Alles war bunt und laut und schrill. Nichts an diesem Ort war idyllisch, so wie es die Fotos auf der Website behauptet hatten, und von dem tiefblauen Silver Lake war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht war er ja inzwischen ausgetrocknet.

Die Homepage des Camps war jedenfalls völlig veraltet. Auf meinem Smartphone wurde sie zerstückelt angezeigt, und der Text enthielt aufgrund einer falschen Codierung jede Menge Sonderzeichen. Alles, was ich herausgefunden hatte, war, dass es sich bei Silver Springs um ein ganzjährig geöffnetes Camp handelte und dass sich in der näheren Umgebung lediglich ein kleiner Ort namens Lexington befand. Sonst waren da nur Berge und Bäume und … ach ja, noch mehr Bäume.

Innerhalb des Camps gab es niedliche Blockhütten, in denen je ein Dutzend Kinder mit einem Betreuer untergebracht war, dazu kleinere Gästehäuser und ein zweistöckiges Verwaltungsgebäude, in dem sich der Speisesaal, eine Aula, verschiedene Werkstätten und Ateliers sowie Büros und Besprechungsräume befanden.

Das Highlight war das zweimonatige Sommercamp im Juli und August. Den Kindern wurde inmitten der Rocky Mountains ein Mix aus Sport und Kultur geboten, zahlreiche Themenfeste und Wettbewerbe, kurz gesagt: meine persönliche Hölle, denn ich war weder sportlich noch kreativ, und mit Kindern kannte ich mich erst recht nicht aus …

Pierce hüstelte, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Soll ich Sie hineinbegleiten, Miss?«

Der alte Mann machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen. Zweifellos gefiel es ihm, dass ich mich nun den Konsequenzen meines Handelns stellen musste. Wahrscheinlich sah der alte Griesgram es im Geiste bereits vor sich, wie ich auf meinen Prada-Pumps durch den Wald stöckelte, meinen Glitzerkoffer hinter mir herzerrte und auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude von einhundert Mücken attackiert wurde.

Aber ich war nicht von gestern. Ich trug einen dünnen Kaschmirpullover, Skinny-Jeans und Dockers mit Blumenprint. Außerdem hatte ich von vornherein auf meinen Lieblingsduft von Chanel verzichtet, um die lästigen Viecher gar nicht erst in Versuchung zu bringen. Das Einzige, was noch an mein altes Ich erinnerte, war mein Make-up, das im Wesentlichen aus dramatisch geschminkten Augen bestand.

Meine Mutter hatte sich oft über diese »Kriegsbemalung« aufgeregt. Sie meinte, die dunkel geschminkten Augen wären unpassend für eine junge Frau. Die Ironie dabei war, dass sie nie begriffen hatte, wie richtig sie mit dieser Beschreibung lag. Denn mein Make-up war genau das: eine Maskerade, die ich brauchte, um mich stark zu fühlen.

Meistens funktionierte es.

Heute … eher nicht.

Glücklicherweise schenkte mein Handy mir unverhofft ein wenig Aufschub. Ich wühlte es aus meiner Birkin Bag und warf Pierce einen entschuldigenden Blick zu, der vor Unaufrichtigkeit nur so triefte. Dann nahm ich das Gespräch an.

»Hallo?«

»Hey, Zuckerpuppe«, schnurrte Mason. »Lust auf einen Drink?«

Ich runzelte die Stirn. »Es ist vier Uhr nachmittags.«

Mason lachte leise. »Also höchste Zeit für ein bisschen Action. Wie sieht’s aus? Treffen wir uns gleich im Jenga, oder willst du vorher zu mir kommen und wir amüsieren uns ein bisschen zu zweit, ehe wir losziehen?«

Seine Angebote waren auch schon verlockender gewesen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich heute verreise, Mase«, antwortete ich angespannt. »Ich bin für ein paar Wochen unterwegs.«

»Ach, echt?« Er klang ehrlich überrascht.

Verärgert presste ich die Lippen zusammen. Mason war weder mein fester Freund, noch hegten wir tiefere Gefühle füreinander. Trotzdem hatten wir in den letzten Monaten viel Zeit miteinander verbracht und waren nach diversen Clubbesuchen regelmäßig miteinander im Bett gelandet. Zwar war das letzte Mal schon eine Weile her, trotzdem sollte man doch meinen, dass er wenigstens ein Mindestmaß an Interesse an mir aufbrachte. Aber offensichtlich war das ein Irrtum.

Er brummte unzufrieden. »Na gut, dann rufe ich Jenny an.«

»Mach das«, erwiderte ich gleichmütig. »Sie freut sich sicher.«

Mason gluckste. »Eifersüchtig, Zuckerpuppe?«

Gott! Ich hasste diesen Spitznamen, und ich war auch nicht eifersüchtig. Stattdessen beschämte es mich, dass ich mich an einen Kerl verschwendet hatte, der in mir lediglich ein austauschbares Partyhäschen sah.

»Jetzt zick nicht rum«, sagte Mason in versöhnlichem Tonfall, obwohl ich meinen Unmut gar nicht kundgetan hatte. »Melde dich einfach, sobald du wieder in Seattle bist. Dann lassen wir es krachen, ja?«

»Sicher.« Nicht. »Mach’s gut, Mason.«

Ich legte auf, bevor er noch etwas sagen konnte. Schließlich wusste ich ganz genau, dass Mason sich ohnehin nicht erkundigt hätte, wo ich überhaupt steckte. Genau genommen hatte das keiner meiner Freunde.

Als sie von der Gerichtsverhandlung erfahren hatten, hatten die meisten bloß gemeint, Mommy würde das schon regeln, und damit war die Sache erledigt. Niemand fragte, wie ich damit klarkam, ob die Schuld mich innerlich auffraß. Denn das wäre ein absoluter Stimmungskiller gewesen.

Mit einem Mal brannten Tränen in meinen Augen. Ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt. Sogar Pierce, der dafür bezahlt wurde, mich hierherzubegleiten, schien es nicht erwarten zu können, mich endlich loszuwerden. Er begann, unruhig auf dem Fahrersitz herumzurutschen.

Abermals sah ich aus dem Fenster, betrachtete das Gewimmel aus aufgeregten Kindern und nervösen Eltern, das sich vor meinen Augen abspielte.

Nun, ein Gutes hatte das Ganze wohl: Am Ende des Tages würde ich mich vielleicht einfach in der Menge auflösen, und dann würde dieser verdammte Schmerz in meinem Inneren endlich aufhören … obwohl ich das nicht verdient hatte.

Kapitel 2

Reed

»Bitte sag mir, dass das nicht dein Ernst ist, Hazel«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während ich meine Schwester musterte.

Hazel setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Das, bei dem ich ihr nie etwas abschlagen konnte, bei dem ihre haselnussbraunen Augen glänzten.

Verdammt! Sie meinte das wirklich ernst.

Ich stöhnte. »Wir haben doch auch so schon genug zu tun!«

»Komm schon, Reed, ich konnte unmöglich ablehnen.« Hazel lehnte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme. Wenn sie das tat, sah sie immer aus wie eine geborene Anführerin. Niemand würde je auf die Idee kommen, mit welchen Zweifeln sie sich tagtäglich herumplagte. Dabei machte sie einen verdammt guten Job als Campleiterin. »Moira Sinclair hat mir persönlich zugesichert, dass sie die komplette Sommersaison sponsern wird – und wir reden hier nicht nur von ein paar Packungen Happy Crush fürs Frühstück, sondern von allem, was die Firma zu bieten hat: Cini Pops, Twerkies, Snizzlers, Caramel Gums, Coco Nuts und so weiter.« Sie riss die Augen auf. »Die Kids werden ausrasten.«

»Die Eltern auch, wenn wir ihre Goldschätze mit Diabetes zurück nach Hause schicken«, murrte ich und rieb mir genervt über das Gesicht. Ich überlegte, mich auf einen der zwei Stühle vor Hazels Schreibtisch zu setzen, blieb aber stehen, weil ich eigentlich gar keine Zeit für dieses Gespräch hatte. Am Anreisetag war immer die Hölle los, und da draußen ging es zu wie in einem Bienenstock.

Insgesamt bestand das Betreuungsteam aus sechs Gruppenbetreuern. Früher hatten wir noch ein oder zwei Springer gehabt, die je nach Bedarf eingesetzt wurden. Allerdings hatten wir in dieser Saison zugunsten einer Ergotherapeutin auf die Zusatzstellen verzichtet, und auch wenn alle neuen Mitarbeiter bereits am Vortag angereist waren und nach einem umfangreichen Briefing wussten, was sie zu tun hatten, wäre ich trotzdem lieber bei ihnen gewesen. Ungeduldig schaute ich auf meine Armbanduhr.

Hazel lachte. »Keine Sorge! Dotty wird aufpassen, dass die Kids auch etwas Gesundes essen. Außerdem könnte der Zeitpunkt gar nicht besser sein. Du weißt selbst, dass uns die Renovierungsmaßnahmen im Frühling eine ganze Stange Geld gekostet haben.«

Das stimmte wohl.

Wir hatten das Camp vor ein paar Jahren von unseren Eltern übernommen, die seither durch Europa tingelten und nur selten nach Hause kamen. Ich freute mich für die beiden. Sie hatten das Camp fast dreißig Jahre erfolgreich geführt, und inzwischen genoss es einen ausgezeichneten Ruf. Aber die Buchungen hätten durchaus zahlreicher sein können. Für den Herbst waren bislang nur ein paar Klassenfahrten hierher geplant. Mehr nicht.

»Mit Sinclairs Angebot können wir neue Kanus kaufen«, fuhr Hazel mit leuchtenden Augen fort.

Ich winkte ab. »Ein frischer Lack tut’s auch. Dann halten sie noch für eine Saison.«

Meine Schwester stöhnte. »Es ist doch bloß für zwei Monate, Reed. Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt.«

Ungläubig sah ich sie an. »Du warst aber schon anwesend, als wir uns darauf geeinigt haben, diesen Sommer keine Praktikumsstellen zu vergeben, oder?«

Hazel zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war ich diesbezüglich etwas voreilig.«

»Wir hatten in den letzten Monaten vier Praktikanten, die allesamt eine absolute Katastrophe waren.«

Unglücklich verzog Hazel das Gesicht. »Das war bloß Pech.«

»Pech?« Entgeistert schüttelte ich den Kopf. »Muss ich dich wirklich an den Typen aus Oklahoma erinnern? Er hat einen Joint geraucht, während die Kids mit Schnitzmessern herumhantiert haben. Es war pures Glück, dass sich niemand einen Finger abgehackt hat. Oder dieses Mädel, das völlig ausgeflippt ist, weil sie ein paar Mückenstiche an der Stirn hatte.«

Hazel presste die Lippen aufeinander, konnte sich aber ein Kichern nicht verkneifen. »Ihr Abgang war wirklich filmreif.«

Sie war heulend aus dem Camp geflohen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Hazel hatte ihr das Gepäck mit der Post nachschicken müssen.

Ich wollte wirklich nicht alle Praktikanten über einen Kamm scheren. Schließlich hatte es in den letzten Jahren immer wieder Lichtblicke gegeben. Aber die meisten Bewerber hatten gedacht, sie würden ein paar Kids im Auge behalten und dafür einen traumhaften Sommerurlaub inmitten der Rockys kriegen. Sobald sie dann jedoch feststellten, dass dieser Job harte Arbeit war, ließen sie jede Verantwortung fahren, wurden leichtsinnig und unzuverlässig. Das konnte ich wirklich nicht gebrauchen. Die nächsten Wochen brachten schon genug Herausforderungen mit sich.

»Wir haben diesen Sommer fünf neue Leute dabei«, sagte ich. »So viele wie noch nie.«

Hazels Wangen wurden tiefrot, und sie senkte den Blick. »Es tut mir leid, okay?«

Das glaubte ich ihr sogar. Streng genommen war es nicht mal ihre Schuld. Hazel hatte einfach etwas an sich, das die Männer faszinierte. Sie war selbstbewusst, immer gut drauf und ließ sich – wenn überhaupt – nur auf lockere Affären ein. Denn für sie gab es nur eine große Liebe: ihre Tochter Maila.

Dummerweise verknallten sich die Kerle trotzdem immer wieder in sie, was im Frühjahr zu einer ganzen Reihe von Dramen und Kündigungen geführt hatte.

»Ich bin ab jetzt ganz brav«, versprach sie verlegen. »Kannst du mir also bitte diesen Gefallen tun?«

Ich schüttelte erneut den Kopf. »Sorry, Schwesterchen. Ich werde schon genug damit zu tun haben, die Neuen anzulernen. Da kann ich wirklich keine Praktikantin gebrauchen, die mir auf den Wecker geht. Wenn du sie nicht mehr loswerden kannst, schick sie zu Dotty. In der Küche wird immer Hilfe gebraucht und den Naschkram kriegen wir trotzdem.«

Schuldbewusst biss Hazel sich auf die Unterlippe.

Ich kannte diesen Gesichtsausdruck – und er verhieß nichts Gutes. »Was verschweigst du mir?«

»Na ja.« Hazel wischte einen imaginären Staubfussel von der Tischplatte. »Die Vereinbarung gilt nur, wenn sich Miss Sinclair aktiv am Campalltag beteiligt.« Sie zögerte. »Und es gibt da noch etwas, das du über Estelle wissen solltest.«

Ein Pochen setzte in meiner Schläfe ein. »Was denn?«

»Praktikantin ist zwar die offizielle Bezeichnung, inoffiziell ist es allerdings eher so, dass sie … dass sie …« Hazel holte tief Luft. »… ein paar Sozialstunden abbrummen muss.«

»Sie ist vorbestraft?« Ich starrte meine Schwester finster an. »Hast du den Verstand verloren?! Wir können keine Straftäterin auf unschuldige Kinder loslassen. Sie könnte ein Drogenproblem haben oder zu Gewaltausbrüchen neigen oder …«

»Es ist nichts dergleichen«, unterbrach Hazel mich schnell. »Es war eine einmalige Sache, für die sie nun geradesteht.«

Eine einmalige Sache.

Mein Magen verkrampfte sich, und ich spürte, wie mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich. Ich brauchte mehrere Anläufe, um weiterzureden. »Vor fünf Jahren hat eine einmalige Sache mein ganzes Leben zerstört. Du weißt das. Wie zur Hölle kommst du darauf, dass ich dabei mitspiele?«

Mitgefühl flackerte in Hazels braunen Augen auf. »Das hier hat nichts mit Savannah zu tun, Reed. Estelle ist mit einem Cop aneinandergeraten und ausfällig geworden. Der Typ hat die Sache persönlich genommen und sie verklagt.«

Beamtenbeleidigung? Was für ein Klischee.

»Hör zu«, sagte Hazel in versöhnlichem Tonfall. »Estelle wird ihre Sozialstunden ableisten, obwohl sie sich problemlos hätte freikaufen können, das ist doch gut.«

Ein zynisches Grinsen hob meine Mundwinkel. »Und trotzdem zahlt ihre Mom lieber diese nette, kleine Praktikumsstelle inmitten der Natur, anstatt zuzulassen, dass die Prinzessin sich in einer Großküche oder bei der Straßenreinigung die Hände schmutzig machen muss.«

Beklommen rieb Hazel sich über die Stirn. »Mir ist vollkommen klar, dass dir das nicht gefällt. Wenn du dich absolut nicht in der Lage siehst, dich ihrer anzunehmen, sage ich eben wieder ab. Du bist der Teamleiter dieses Camps. Du entscheidest.«

Ich schnaubte. Es war mir scheißegal, dass diese Frau bereit war, sich ein, zwei Fingernägel abzubrechen. Manche Dinge waren einfach unverzeihlich. Ich öffnete schon den Mund, um meiner Schwester mitzuteilen, dass sich die Prinzessin den Weg hierher sparen konnte, als ein Klopfen an der Tür erklang.

Hazel sprang von ihrem Stuhl auf. »Herein?«

Genervt über die Unterbrechung fuhr ich zur Tür herum.

Eine schlanke Blondine Mitte zwanzig stand darin. Ihr Haar fiel ihr in dicken Wellen über die schmalen Schultern. Einige Strähnen umrahmten ihr herzförmiges Gesicht, ließen es weich erscheinen, obwohl die dunkel geschminkten, tiefblauen Augen eine gewisse Aggressivität ausstrahlten. Ihr kühler Blick wanderte durch Hazels Büro, registrierte in Sekundenschnelle jedes Detail: das alte Bücherregal an der linken Wand, das mit Ordnern und Prospekten bestückt war, den Schreibtisch vor dem Fenster mit einem herrlichen Ausblick auf den Silver Lake, die alte Kommode, die Bilder an den Wänden.

Als sie fertig war, wandte sie sich mit undurchdringlicher Miene an Hazel. »Ich bin Estelle Sinclair.«

Im Geiste stieß ich eine Verwünschung aus, weil Hazel bis zum letzten Moment gewartet hatte, mich über diesen verfluchten Deal zu informieren. Zur Krönung lächelte sie Estelle auch noch freundlich an, während sie hinter ihrem Schreibtisch hervortrat.

»Herzlich willkommen! Mein Name ist Hazel.« Die Frauen schüttelten sich die Hände. »Und das ist mein Bruder Reed.«

Estelle drehte sich zu mir um und wollte mir ebenfalls die Hand reichen, aber ich war nicht in Stimmung für höfliches Getue. Dazu kotzte es mich viel zu sehr an, dass diese Tussi ihren stinkreichen Hintern bereits hergeschleppt hatte.

Demonstrativ verschränkte ich die Arme. »Hi.«

Während Estelle langsam die Hand sinken ließ, musterte sie mich auf die gleiche Weise, wie sie zuvor den Raum inspiziert hatte, und runzelte die Stirn, als könnte sie sich keinen Reim darauf machen, warum ich derart abweisend war. Sie wandte sich Hazel zu. »Wenn ich störe, kann ich später wiederkommen.«

»Nein, nein, schon gut«, antwortete Hazel und zeigte auf den Besucherstuhl. »Setz dich.«

Estelle drückte den Rücken durch. »Wenn es okay ist, würde ich lieber stehen.«

»Natürlich.« Hazel verzichtete ebenfalls darauf, sich zu setzen, weshalb wir nun alle wie Idioten mitten im Raum standen. »Ich freue mich, dass du da bist. Es ist doch in Ordnung, wenn ich du sage, oder? Wir haben hier alle einen sehr lockeren Umgang miteinander.«

Estelle nickte. »Sicher.«

»Großartig.« Hazel strahlte. »Deine Mutter hat mir bereits deinen Lebenslauf gemailt. Aber du verstehst hoffentlich, dass wir trotzdem noch ein paar Fragen haben.«

Ich hätte schwören können, dass Estelle blass wurde.

»Was für Fragen?«

»Zum Beispiel, was deinen beruflichen Werdegang betrifft«, antwortete Hazel und nahm ein ausgedrucktes Blatt vom Schreibtisch. »Ich vermute, da hat sich ein Zahlendreher eingeschlichen, denn hier steht, dass du erst vor neun Monaten die Seattle University verlassen hast, was ja bedeuten würde, dass du beinahe sechseinhalb Jahre studiert hast.«

Gleichmütig zuckte Estelle mit den Schultern. »Ich habe ein paarmal das Hauptfach gewechselt.«

Nur mühsam unterdrückte ich ein abfälliges Schnaufen, während ich an den horrenden Kredit dachte, den ich noch immer abbezahlen musste, obwohl ich mein Pädagogikstudium in der regulären Studienzeit abgeschlossen hatte.

»Oh.« Hazel blinzelte. »Und welche Fächer hast du belegt?«

»Betriebswirtschaft, Wirtschaftspsychologie, Biochemie, Marketingkommunikation, Ingenieurwissenschaften, Sozialökonomie und Finanzwesen.«

Mir klappte die Kinnlade runter, und auch Hazel starrte sie einen Moment lang entgeistert an. Sie fing sich aber schnell wieder. »Wow. Das sind aber sehr gegensätzliche Themen.«

Ein Lächeln, das ein wenig zynisch wirkte, hob Estelles Mundwinkel. »Zumindest weiß ich jetzt, was ich nicht will.«

»Du hättest auch einfach einen Blick in ein Fachbuch werfen können«, bemerkte ich, weil ich mich beim besten Willen nicht zurückhalten konnte. »Wäre sicher billiger gewesen, und hätte weitaus weniger Lebenszeit gekostet.«

Estelle versteifte sich. »Danke für den Tipp. Beim nächsten Mal ziehe ich es in Erwägung.«

Diese Arroganz …

»Dann ist es also auch kein Fehler, dass du das College ohne Abschluss verlassen hast?«, erkundigte Hazel sich freundlich.

»Nein.« Mehr sagte die Dame nicht dazu.

Ratlos drehte Hazel das Blatt um, doch die Rückseite war leer.

Das war ja wirklich vielversprechend.

»Hast du nach dem College irgendwelche Praktika absolviert oder anderweitig Berufserfahrung gesammelt?«, fragte ich, damit meine Schwester hinterher nicht behaupten konnte, ich hätte überhaupt kein Interesse an Estelle aufgebracht.

»Nein«, antwortete sie ohne einen Funken Scham angesichts ihrer offenkundigen Bequemlichkeit.

Das Bild von der verwöhnten Upperclass-Prinzessin, die das Geld ihrer Familie mit beiden Händen zum Fenster rauswarf, festigte sich immer mehr in meinem Kopf. Hätte Estelle mich direkt angesehen, hätte sie meine Missbilligung zweifellos bemerkt, aber nicht mal, als ich weiter nachbohrte, ließ sie sich dazu herab, den Kopf zu drehen. »Gibt es wenigstens irgendwelche Hobbys oder Freizeitaktivitäten, denen du nachgehst?«

»Auch nicht, nein«, erwiderte sie tonlos.

Gütiger Gott! Was war bloß los mit dieser Frau? Hatte sie keine Ziele im Leben?

Hazel schien die Hoffnung, dass ich einknickte, noch nicht aufgegeben zu haben, denn sie wechselte nun ihre Strategie. »Wir haben hier sechs Kinder- und Jugendgruppen, und jeder Stammbetreuer ist auf eine Aktivität spezialisiert«, erklärte sie und lächelte Estelle warmherzig an. »Jade gibt Tanzkurse, Scott studiert mehrere kleine Bühnenstücke mit den Kids ein, Brianna unterrichtet Malerei, bei Quill werden Skulpturen aus unterschiedlichen Materialien gebastelt, Selma ist verantwortlich für die Sportspiele, und Glen bietet Survivalkurse an. Außerdem organisieren alle Betreuer gemeinsam verschiedene Feste unter Reeds Leitung. Klingt hiervon etwas interessant für dich?«

Estelle schwieg. Wahrscheinlich hatten sie schon die paar Namen und Aktivitäten überfordert, was einmal mehr bewies, wie unfähig sie war. Einer Frau wie ihr konnte man keine Verantwortung übertragen.

Im Geiste sah ich es ganz deutlich vor mir, wie sie sämtliche meiner Nerven zerfetzte, weil sie im Weg rumstand, blöde Fragen stellte und mir und meinen Leuten noch mehr Arbeit aufbürdete. Ich warf Hazel einen ungeduldigen Blick zu, damit sie dieser Farce endlich ein Ende bereitete und diese Frau wieder nach Hause schickte. Nicht einmal eine Wagenladung Happy Crush war diesen Stress wert.

Da entschloss sich die Prinzessin, doch noch den Mund aufzumachen. »Ich bin flexibel. Setzt mich ein, wo immer ihr wollt. Ich werde mein Möglichstes tun, um euch zu unterstützen.«

Es war die Entschlossenheit in ihrer Stimme, die Hazel weichkochte. Ich sah es in ihren Augen. Sie flehte mich praktisch an, Estelle eine Chance zu geben.

Fuck!

Ich wollte diesen Klotz am Bein nicht haben. Außerdem verstieß es gegen meine Prinzipien, dass Estelles Mutter ihr diese Stelle praktisch gekauft hatte. Das war einfach nicht richtig. Andererseits war es vielleicht Zeit, dass die Dame lernte, wie Normalsterbliche ihr Geld verdienten.

Ich war nicht neidisch auf die Millionärstochter. Dazu mochte ich mein eigenes, bodenständiges Leben viel zu sehr. Aber selbst nach all der Zeit hatte ich es nicht geschafft, meinen Groll gegen privilegiertere Mitglieder der Gesellschaft abzulegen. Wut, Trauer und Schmerz brodelten nach wie vor in mir, hatten mich wohl auch ein wenig bitter werden lassen. Vielleicht war das ja meine Chance, endlich meinen Rachedurst zu stillen, damit ich mit der Sache von damals abschließen konnte.

Der Gedanke gefiel mir.

»Also gut«, sagte ich, woraufhin Hazel erleichtert ausatmete. »Dann komm mal mit. Ich zeige dir deine Unterkunft.«

Estelle nickte. Es war unmöglich zu sagen, was in ihrem – wie ich zugeben musste – hübschen Kopf vor sich ging. Sonderlich viel konnte es allerdings nicht sein.

Kapitel 3

Estelle

Reed Dixon war ein Arschloch.

Das wusste ich mit absoluter Gewissheit, denn er hatte nur einen flüchtigen Blick auf mich geworfen und ein Urteil über mich gefällt, noch bevor ich überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Ich konnte solche Leute nicht ausstehen, und mir graute davor, zwei Monate lang für ihn zu arbeiten. Andererseits hatte ich Schlimmeres verdient als diesen selbstgerechten Vollidioten.

Während ich meinem neuen Boss durch das Verwaltungsgebäude folgte, musterte ich seine breiten Schultern und seinen verwuschelten Hinterkopf. Der Kerl war riesig und ziemlich gut gebaut, wie ich zugeben musste. Hinzu kam, dass sein Gesicht geradezu lächerlich attraktiv war. Er hatte markante Züge, eine gerade Nase und dichte Wimpern, die seine dunkelgrünen Augen betonten. Sicher flippten etliche Frauen aus, wenn er ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte.

Ich hingegen wollte am liebsten unsichtbar für ihn sein, und letztlich spielte es keine Rolle, was dieser Typ von mir hielt. Ich musste ihn nach diesen zwei Monaten ohnehin nie wiedersehen. Trotzdem brannten meine Wangen noch immer vor Scham, nachdem er mir nicht gerade subtil meine Unfähigkeit vor Augen geführt hatte.

Es war demütigend gewesen, mit dem eigenen Versagen konfrontiert zu werden, obwohl es mir immerhin gelungen war, nicht die Fassung vor den Geschwistern zu verlieren oder mich in peinliche Ausreden zu flüchten, warum ich diesen oder jenen Studiengang abgebrochen und danach weitere Monate verplempert hatte. Ich wünschte, ich hätte wenigstens eine plausible Erklärung vorbringen können. Aber die traurige Wahrheit war, dass es keine gab. Selbst mit Mitte zwanzig hatte ich immer noch keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.

Die schiere Masse an Möglichkeiten überforderte mich, und nach zahlreichen gescheiterten Versuchen hatte ich Panik, schon wieder eine falsche Entscheidung zu treffen. Also hatte ich einfach gar nichts getan, was zugegebenermaßen wirklich nicht besonders clever war.

Vermutlich hätte ich an meinem Lebensstil auch nicht das Geringste verändert, wenn ich an jenem tristen Aprilmorgen nicht diesen schrecklichen Fehler begangen hätte.

Seltsam, dass Hazel und Reed mich gar nicht mit der Strafanzeige konfrontiert hatten. Gerade für ihn wäre das doch ein gefundenes Fressen gewesen, mich noch mehr fertigzumachen. Andererseits sollte ich vermutlich froh darüber sein, denn ich wollte sicher nicht mit Reed Dixon über den schlimmsten Tag meines Lebens sprechen.

Erinnerungen stürmten auf mich ein und sorgten dafür, dass sich meine Kehle zuschnürte. Ich keuchte leise auf, was Reed zweifellos bemerkte. Aber abgesehen davon, dass er sein Schritttempo minimal verringerte, reagierte er nicht weiter auf mich, sondern setzte seinen Weg durch das riesige Gebäude schweigend fort.

Durch die hohen Fenster schien die Nachmittagssonne und tauchte alles in warmes Licht. Abgesehen von ein paar Büros und Gruppenräumen war ein großer Teil des oberen Stockwerkes offen gestaltet und bot zahlreiche Freizeitaktivitäten für die Kids für den Fall, dass das Wetter mal nicht mitspielte. Jetzt waren die Billardtische, Sofas und Leseecken verwaist, und jeder Schritt hallte laut in meinen Ohren wider, als wir eine breite Treppe nach unten gingen.

Im Erdgeschoss nahmen Küche und Speisesaal den gesamten linken Gebäudeteil ein. Folgte man dem Gang auf der rechten Seite, gelangte man laut der Beschilderung an der Wand zu verschiedenen Werkstätten, Ateliers und Gruppenräumen. Geradeaus führte eine große, doppelflügelige Tür auf den Versammlungsplatz, wo sich immer noch Dutzende Kinder jeden Alters tummelten.

Vorhin war ich mit gesenktem Kopf durch die Menschenmasse gehuscht, und ich hoffte, auch jetzt das Chaos schnell überwinden zu können. Meine Hoffnungen wurden allerdings zunichtegemacht, als wir aus dem Gebäude traten und jemand nach Reed rief.

»Ich brauche dich mal kurz«, rief die junge Frau und winkte ihn hektisch zu sich. Sie schien asiatische Wurzeln zu haben, war gertenschlank und bewegte sich anmutig wie eine Tänzerin. Sie musste eine der Betreuerinnen sein, denn sie trug ein grünes Poloshirt mit dem Camplogo auf der Brust.

»Was ist los, Jade?«, fragte Reed und trat zu ihr, natürlich ohne auf mich zu warten.

Da ich sowieso nicht davon ausging, dass er plötzlich zum Gentleman mutiert war und mich bei der Gelegenheit vorstellte, wandte ich mich ab und holte meinen Rollkoffer, den ich neben der Eingangstür des Gebäudes abgestellt hatte, damit ich ihn nicht sinnlos durch die Gegend zerren musste. Er war nicht besonders groß, beinhaltete aber alles, was ich für diesen kleinen Survivaltrip in der Wildnis brauchte.

Zumindest hoffte ich das.

Zögerlich bahnte ich mir meinen Weg zu Reed, der immer noch in das Gespräch mit Jade vertieft war. Gemeinsam überprüften sie eine Liste, und Reed nickte zufrieden. Dann drehte er sich zu einer Horde von kleinen Mädchen um, die neben den beiden auf ihren Koffern saßen und ungeduldig warteten.

Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie waren, da ich mich mit Kindern generell nicht gut auskannte. Aber gemessen an den anderen Kids waren diese Mädchen eindeutig am jüngsten. Manche wirkten so, als wollten sie sich am liebsten sofort in  Campabenteuer stürzen, andere saßen mit eingezogenen Schultern da und beobachteten Reed und Jade schüchtern aus den Augenwinkeln.

»Willkommen, Rotluchse!«, rief er und stellte sich vor, woraufhin die eine Hälfte der Mädchen mit großen Augen zu ihm hochstarrte und die andere anfing, zu kichern. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da er mir den Rücken zugewandt hatte. Aber so, wie die Mädchen auf ihn reagierten, hatte er offenbar auch freundliche Mienen drauf. Selbst seine Stimme war nun sanfter. »Ich freue mich, dass ihr hier seid. Jade habt ihr ja schon kennengelernt. Sie wird euch jetzt erst mal zu eurer Hütte bringen, damit ihr in Ruhe auspacken könnt. Später treffen wir uns alle zum großen Willkommensbarbecue, okay?«

»Okay«, tönte es zurück, und die Mädchen rappelten sich auf.

Reed wollte seinen Weg gerade fortsetzen, als ein junger Mann auf ihn zustürzte. Er reichte Reed gerade mal bis zu den Schultern und wirkte regelrecht schmächtig neben ihm. Andererseits traf das wohl auf die meisten Typen in Reeds Nähe zu.

Auch er war einer der Betreuer und hielt ein Klemmbrett in der Hand. Allerdings wirkte er nicht ansatzweise so gelassen wie Jade, sondern sah aus, als würde er Reed gleich vor die Füße kotzen.

»Ich kann Bowie nicht finden«, stieß er hervor, die braunen Augen weit aufgerissen. Er raufte sich die Haare, woraufhin sie ihm wild vom Kopf abstanden. »O Mann, das tut mir so leid. Mein erster Tag und schon verliere ich ein Kind.«

Ich rechnete fest damit, dass Reed nun verächtlich die Lippen verzog, wie er es zuvor bei mir getan hatte. Doch er klopfte dem jungen Mann gelassen auf die Schulter.

»Immer mit der Ruhe, Scott. So leicht kommt uns hier kein Kind abhanden.«

Der arme Scott war immer noch fix und fertig. »Ich schwöre, er war gerade noch da.«

Zu meiner Überraschung blieb Reed gelassen. »Dann kann er ja noch nicht weit gekommen sein.«

Die beiden sahen sich um, und auch ich hielt nach einem Jungen Ausschau, der womöglich ähnlich verloren wirkte, wie ich mich fühlte.

Ein Rundweg führte um den großen Versammlungsplatz herum, von dem mehrere Pfade zu gemütlich aussehenden Holzhütten abzweigten. Über jeder Eingangstür befand sich ein rustikales Schild, in den ein Name eingebrannt war, daneben das passende Bild dazu: Ochsenfrösche, Tigersalamander, Steinkäuze, Weißkopfadler, Rotluchse und Graufüchse.

Am hinteren Ende des Platzes zog eine ältere Jungsgruppe, angeführt von einem breitschultrigen Mann im Holzfällerhemd, johlend in Richtung Weißkopfadler. Manche trugen Reisetaschen, andere zerrten Koffer hinter sich her, die über den Kies ratterten. Sobald die letzten beiden den Pfad zur Hütte betreten hatten, entdeckte ich einen kleinen Jungen, der am Wegesrand im Gras kauerte. Er trug blaue Kopfhörer mit bunten Stickern und schien völlig vertieft in etwas, das sich zu seinen Füßen abspielte.

»Ist er das dort?«, fragte ich und zeigte in seine Richtung.

Scott wirbelte irritiert zu mir herum, bevor er meinem Hinweis folgte. Erleichterung flackerte über seine Züge. »Ja!«

»Na siehst du«, sagte Reed in gönnerhaftem Tonfall.

Eilig setzte Scott sich in Bewegung, hielt aber noch einmal auf halbem Weg inne und schenkte mir ein freundliches Lächeln. »Danke.«

Ich nickte, froh, dass ich ihm hatte helfen können.

»Reed!« Ein weiterer Betreuer winkte von Weitem. »Hast du eine Sekunde?«

»Klar«, erwiderte er lässig und wandte sich deutlich unfreundlicher an mich. »Warte hier. Bin gleich zurück.«

Während er davonstapfte, spielte ich mit dem Gedanken, ihm nachzurufen, dass er sich ruhig Zeit lassen konnte. Aber ich beschloss, mir den Atem zu sparen, und beobachtete stattdessen, wie Scott vor dem Jungen in die Knie ging, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Obwohl der junge Mann eben noch völlig aufgelöst gewesen war, nahm er sich nun alle Zeit der Welt, um irgendwelche Krabbelviecher auf dem Boden zu inspizieren, die den Jungen zu faszinieren schienen. Dabei redete er auf Bowie ein, der schließlich den Kopf hob und ihn zaghaft musterte.

Scott erhob sich lächelnd und reichte dem Jungen die Hand. Doch Bowie ignorierte sie und kam selbst auf die Beine. Gemeinsam gingen sie zu ihrer Gruppe zurück, wo Scott noch einmal durchzählte. Anschließend machten sie sich ebenfalls auf den Weg zu ihrer Hütte.

Eine Viertelstunde später hatten alle sechs Kinder- und Jugendgruppen den Versammlungsplatz verlassen, um ihre Unterkünfte zu beziehen – und von Reed Dixon fehlte jede Spur.

Fantastisch.

Da ich keine Lust hatte, länger blöde in der Gegend rumzustehen, zog ich meinen Koffer zu einer Bank am Rand des Versammlungsplatzes und setzte mich. Ich war froh, dass der Tumult inzwischen abgeebbt war. Aber still war es deswegen noch lange nicht. Von überallher prasselten Geräusche auf mich ein. Vogelgezwitscher in den hohen Baumwipfeln; ein Specht, der eifrig einen Holzstamm bearbeitete; das Rascheln von Nagern im Gebüsch; summende Insekten, die an meinem Kopf vorbeizischten; Gelächter aus den Blockhütten; das Hupen eines Wagens auf dem Parkplatz; Rufe aus dem Verwaltungsgebäude …

Etwas entfernt legte eine ältere Mutter eine dramatische Abschiedsszene hin, indem sie ihre Tochter so fest an sich drückte, als wollte sie sie nie wieder loslassen. Hinter ihr stand ihr Mann und schaute genervt auf seine Armbanduhr, die in der Sonne funkelte. Ein Stück weiter stand eine blonde Frau mit einem anderen Elternpaar zusammen, und sie unterhielten sich gut gelaunt. Drei der älteren Jungs schienen beschlossen zu haben, später auszupacken und stattdessen eine Runde Football zu spielen. Sie stürmten grölend auf den Versammlungsplatz.

Mir war das alles zu viel.

Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. Aber ich wusste, dass ich dann die vielen Düfte noch intensiver wahrgenommen hätte, die nicht minder penetrant auf mich einströmten. Kiefernholz, Flieder, Seewasser, Grillkohle, Deodorant, Fruchtgummis, die zu meinen Füßen schmolzen.

Obwohl ich mittlerweile im Schatten saß, war die Hitze unerträglich. Ich überlegte, meinen Kaschmirpullover auszuziehen, aber da ich darunter nur ein dünnes Hemdchen trug, behielt ich ihn lieber an und konzentrierte mich wieder darauf, die Fülle von Sinneseindrücken auszublenden.

Mit mäßigem Erfolg.

Ein Rattern lenkte mich von der Folter ab. Ich schaute auf und entdeckte ein Mädchen, das mit einem hellblauen Rollkoffer entschlossen über den Versammlungsplatz marschierte. Ihr ganzer Kopf schien nur aus wilden braunen Locken zu bestehen, die ihr fast bis zu den schmalen Hüften reichten. Unter ihrem Arm klemmte ein Kuscheltier, das so zerschlissen war, dass man nicht mehr erkennen konnte, welches Tier es ursprünglich dargestellt hatte.

Als mich das Mädchen bemerkte, blieb es stehen. »Wer bist du?«

Ich nahm an, dass die Kleine einfach nur neugierig war, trotzdem war ihr Ton überraschend forsch. »Ich bin Estelle.«

»Maila«, stellte sie sich knapp vor, ehe sie auch schon mit der nächsten Frage rausplatzte. »Willst du jemanden besuchen?«

»Eigentlich bin ich hier, um zu arbeiten.« Ich schenkte ihr ein Lächeln, bevor ich leicht überfordert auf meine Uhr schaute. Inzwischen war es fast sechs. Reed ließ mich nun schon über eine Stunde hier schmoren. Idiot.

Maila legte den Kopf schief. »Du bist keine Betreuerin.«

»Korrekt.«

»Dann bist du eine Springerin?«

Ich runzelte die Stirn. »Ich weiß gar nicht, was das ist.«

»Na, das sind die, die einspringen, wenn die anderen frei haben oder krank sind.«

Ah, das ergab Sinn.

Meine Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen. »Glaub mir, ich springe nirgendwohin.«

Zumindest hoffte ich, dass ich nirgends einspringen musste, denn ich fühlte mich keinesfalls in der Lage, auf zwölf Kinder gleichzeitig aufzupassen.

»Was arbeitest du dann?«, hakte die kleine Nervensäge weiter nach. »Dotty hat schon eine Küchenhilfe, und Mom hat gesagt, in diesem Jahr gibt es keine Praktikanten mehr. Außerdem bist du eh schon zu alt dafür.«

Na, wenn das nicht schmeichelhaft war.

Ich wusste nicht, ob ich beleidigt oder amüsiert sein sollte. »Du kennst dich aber aus.«

Maila nickte. »Ich wohne hier.« Mit einer lässigen Geste deutete sie auf einen Holzbungalow, der schräg hinter uns direkt am Ufer des Sees stand. »Da drüben. Meiner Mom und Onkel Reed gehört das Camp.«

Ich hatte Mühe, meine Überraschung zu verbergen. Das Mädchen musste etwa neun oder zehn Jahre alt sein. Hazel hatte auf mich aber nicht älter als Mitte zwanzig gewirkt, was hieß, dass sie ihre Tochter in sehr jungen Jahren bekommen haben musste. Ob Mailas Vater auch hier arbeitete?

Bevor ich nachhaken konnte, ging die Tür des Verwaltungsgebäudes auf und Reed kam heraus. Anscheinend hatte er doch noch beschlossen, mich zu meiner Unterkunft zu bringen. Mit einem Bündel weißer Wäsche unter dem Arm schlenderte er zu uns.

»Mist! Ich muss weg«, murmelte Maila, zog den Kopf ein und wollte verschwinden, doch Reed hatte sie bereits bemerkt und stieß einen schrillen Pfiff aus, woraufhin Maila sich stöhnend aufrichtete. Mit demselben trotzigen Gesichtsausdruck, den auch ihr Onkel draufhatte, drehte sie sich zu Reed um.

»Was soll das werden, Flipper?«, fragte er mit irritierend sanfter Stimme und deutete auf den Koffer.

Maila schob trotzig das Kinn vor. »Jade hat gesagt, dass Tracy McDougal mit Windpocken im Bett liegt und doch nicht ins Camp kommen kann. Deshalb nehme ich ihr Bett.«

Reed schüttelte den Kopf. »Du hast schon eins.«

»Aber das ist bei Mom.« Aus Mailas Mund klang das Wort wie ein Fluch. »Ich will auch bei den Rotluchsen schlafen. Nur ein Mal. Bitte, Onkel Reed.«

Er dachte einen Moment darüber nach. »Tracy wäre nur für zwei Wochen geblieben. Danach müsstest du sowieso wieder ausziehen.«

»Das mache ich.« Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde so flehend, dass ich ihr vermutlich alles erlaubt hätte – was nur einer von zahlreichen Gründen war, warum ich eine katastrophale Betreuerin abgeben würde. Obendrein faltete Maila die Hände wie zum Gebet. »Ohne Theater! Ich versprech’s. Ehrenwort.«

Nachdenklich rieb Reed sich über das Kinn. »Deiner Mutter wird das nicht gefallen.«

»Ich werde keinen Ärger machen«, schwor die Kleine. »Ich will einfach nur Zeit mit meinen neuen Freundinnen verbringen. Du hast ja keine Ahnung, wie ätzend das ist, wenn ich jeden Abend in mein eigenes Zimmer muss. Ich will nicht schon wieder alles verpassen. Bitte, bitte, bitte.«

Reeds Miene wurde weich, eine Wandlung, die ich zutiefst verstörend fand. Plötzlich wirkte er regelrecht charismatisch, während er ein ergebenes Seufzen ausstieß. »Ach, was soll’s. Na gut. Sag Jade Bescheid, dass das in Ordnung geht. Ich kläre den Rest mit deiner Mom.«

Maila strahlte über das ganze Gesicht. »Wirklich?«

»Ja«, brummte Reed und winkte sie weg. »Und nun geh schon, bevor ich es mir anders überlege.«

Unbeeindruckt von der Drohung sprang Maila mit einem Satz in seine Arme. »Danke! Du bist der allerbeste Onkel der Welt.«

Schmunzelnd stellte Reed sie wieder auf die Füße. »Ich bin der einzige, den du hast.«

»Korrekt.«

Ich zuckte zusammen, weil mich die Kleine soeben nicht nur zitiert, sondern auch in derart kühlem Ton imitiert hatte, dass sie fast schon herablassend klang. Hatte ich mich zuvor etwa genauso angehört?

Reeds Augen wurden schmal, als hätte er denselben Gedanken gehabt.

»Bis später«, flötete Maila und machte sich glücklich auf den Weg.

Ich stand auf und nahm meinen Koffer. Kurz überlegte ich, Reed auf sein unprofessionelles Verhalten hinzuweisen. Aber ich wollte nicht auch noch Öl ins Feuer gießen. Zumal ich mir sicher war, dass er ohnehin keine Einsicht zeigen würde.

»Komm mit«, wies er mich knapp an und stapfte los. Natürlich wartete er auch diesmal nicht auf mich. Wozu auch?

Missmutig folgte ich ihm auf den Rundweg. Von da bog er auf einen Pfad ab, der vorbei an Hazels Bungalow und einem weiteren Privathaus führte. Darauf folgte eine Rechtskurve, und dann führte der Weg zu mehreren Holzhütten. Das schienen die Gästehäuser zu sein, die auf der Website erwähnt wurden.

Reed steuerte gleich das erste an. Es lag etwas abseits von den übrigen Hütten und war umgeben von Holunderbüschen, die ihrem Umfang nach schon eine ganze Weile nicht mehr geschnitten worden waren. Tatsächlich musste Reed sogar einen sperrigen Ast aus dem Weg schieben, als er drei unebene Stufen hochstieg, die auf eine überdachte Veranda führten. Sie war von dicken Baumstämmen umsäumt, was dem Look des Hauses zusätzlich etwas Rustikales verlieh. Die Tür war nicht verschlossen.

Ich zerrte meinen Koffer hoch und ging ins Haus, wo ich prompt erstarrte.

Direkt hinter der Tür gab es einen kleinen offenen Bereich mit einem Ledersofa, das schon deutlich bessere Zeiten erlebt hatte. Die Blumentapete wies unterschiedlich große Flecken auf, die ich lieber nicht näher betrachten wollte. Ein schmaler Tresen, an dem ein Barhocker stand, trennte den Wohnbereich von einer winzigen Küchenzeile ab. Die Schränke waren früher vermutlich in fröhlichem Sonnengelb erstrahlt, jetzt erinnerten sie an vergilbtes Papier. Es gab keine Herdplatten, aber immerhin eine Mikrowelle, mit der ich mir meinen heiß geliebten Käsedip aufwärmen konnte. Das beste Frustfutter überhaupt.

»Die Mikrowelle ist kaputt«, informierte Reed mich beiläufig und bog in einen schmalen Gang ab.

Fein, dann also kein warmer Käsedip.

Reed stieß die linke Tür auf und zeigte in den Raum. »Hier ist dein Zimmer.«

Ich hatte Angst, hineinzusehen.

Spott glitzerte unverhohlen in Reeds Augen, als er sich zu mir umdrehte. »Das Haus ist leider etwas renovierungsbedürftig. Aber etwas Besseres kann ich dir auf die Schnelle nicht bieten. Ich hoffe, das genügt deinen hohen Ansprüchen.«

Verärgert biss ich die Zähne zusammen und ging an ihm vorbei. Der Raum war nicht größer als neun Quadratmeter und überaus spärlich ausgestattet. Neben dem Einzelbett, das vor dem Fenster stand, gab es einen Nachtschrank mit einer Tischleuchte sowie einen Schreibtisch ohne Stuhl. Gleich neben der Tür stand ein zweitüriger Kleiderschrank, der aussah, als wäre er aus den 1980ern in dieses Zimmer gepurzelt.

Ich war den Tränen nahe. Aber ich verbot es mir, vor Reed auch nur die kleinste Schwäche zu zeigen. Unbeeindruckt sah ich ihn an. »Immerhin ist es sauber.«

Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer, doch er reagierte nicht auf meinen Kommentar, sondern warf die Wäsche auf das Bett. Das Bündel fiel auseinander und offenbarte Bezüge für Matratze, Decke und Kissen. »Gegenüber ist das Badezimmer. Der Boiler hat eine Macke. Daher rate ich dir, beim Duschen schnell zu sein. Das andere Zimmer nutzen wir im Moment als Lagerraum. Da sollte noch ein Stuhl drin sein, falls du einen brauchst. Sonst noch Fragen?«

Da ich meiner Stimme nicht traute, schüttelte ich nur stumm den Kopf.

Reed trat an mir vorbei zur Tür, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. »Komm morgen früh um sieben in mein Büro. Bis dahin erstelle ich dir eine Liste mit deinen Aufgaben.«

Ich nickte knapp.

»Großartig«, murmelte Reed sarkastisch, wandte sich ab und verschwand, bevor sich die erste Träne aus meinem Augenwinkel stahl.

Kapitel 4

Reed

»Bist du vollkommen übergeschnappt?«, fauchte Hazel und knallte die Bürotür hinter sich zu, dass es nur so schepperte.

Betont gelassen schaute ich von der Fensterbank auf, auf der ich seit geschlagenen zwanzig Minuten hockte, auf den See hinausstarrte und mit meinem schlechten Gewissen rang, das offenbar der Ansicht war, dass ich es mit Estelle ein wenig übertrieben hatte.

Empört baute Hazel sich vor mir auf. »Wir haben Gästehaus Fünf seit über einem Jahr nicht mehr vermietet, und das aus gutem Grund. Wie kommst du dazu, Estelle ausgerechnet in diesem Loch unterzubringen?«

Das war eine verdammt gute Frage.

Ich hatte Estelle vom Verwaltungsgebäude aus beobachtet, während sie auf der Bank gesessen und auf mich gewartet hatte. Einfach alles an ihr hatte pure Ablehnung ausgedrückt. Ihr Gesichtsausdruck war regelrecht angewidert gewesen, während sie ihre Umgebung musterte, als wäre Silver Springs unter ihrem Niveau. Ihre Arroganz war mir so sehr an die Nieren gegangen, dass ich spontan beschlossen hatte, sie umzuquartieren. Womit ich möglicherweise ein wenig über das Ziel hinausgeschossen war.

Allerdings konnte ich das vor meiner kleinen Schwester unmöglich zugeben. Stattdessen zuckte ich nur mit den Schultern. »Sie hat sich nicht beklagt.«

»Natürlich nicht.« Hazel verdrehte die Augen. »Schließlich will sie beweisen, dass sie aus ihren Fehlern gelernt hat.«

Nun, das wagte ich zu bezweifeln. »Ich bitte dich! Diese Frau hat einen Beamten beleidigt. Wenn überhaupt ist sie eher genervt als von Reue erfüllt.«

Hazel stöhnte. »Versuch doch wenigstens, deine Vorbehalte gegen sie abzulegen. Ich bin mir sicher, sie ist nett.«

»Sie ist nicht nett, sondern eine reiche, verwöhnte Tussi, die sich für etwas Besseres hält.«

»Woher willst du das wissen? Du hast doch bisher kaum mehr als drei Worte mit ihr gewechselt.«

Ich stieß ein abfälliges Schnaufen aus. »Was ich gesehen habe, reicht mir völlig.« Und ich hatte noch nicht mal die Beiträge auf einschlägigen Social-Media-Plattformen zur Sprache gebracht, durch die ich gerade gescrollt hatte.

Normalerweise war ich nicht der Typ, der Frauen im Internet stalkte. Aber ich hatte einfach wissen wollen, wie Estelle sich in der Öffentlichkeit präsentierte. Schließlich sagte das viel über einen Menschen aus.

Natürlich hatte mich mein erster Eindruck nicht getrogen. Zwar hatte Estelle lediglich ein paar Selfies gepostet, auf denen ihr Gesicht seltsam verschwommen war, dafür war sie allerdings auf unzähligen Fotos markiert, auf denen sie beim Feiern in Seattles elitären Clubs zu sehen war. Dabei schien ihre bevorzugte Garderobe aus lächerlich winzigen, glitzernden Designerfummeln und zentimeterhohen Stilettos zu bestehen. Auf jedem Bild hatte sie einen quietschbunten Cocktail in der manikürten Hand und lächelte süffisant in die Kamera. Da war dieses selbstgefällige Funkeln in ihren blauen Augen, das den Betrachter des Bildes zu verspotten schien.

Ich hatte versucht, vorurteilsfrei zu sein. Aber diese Frau war wirklich das wandelnde Klischee einer Upperclass-Prinzessin. Da gab es nichts schönzureden. Ich ging sogar jede Wette ein, dass sie nur hier war, weil ihre einflussreiche Mutter glaubte, Camp Silver Springs wäre ein Kids-Spa inmitten der Natur. Aber da lag sie leider komplett daneben.

»Jetzt sei doch nicht so stur!«, rief Hazel aufgebracht und riss mich aus meinen Grübeleien. »Ja, ihre Mutter hat Geld, aber das heißt noch lange nicht, dass Estelle genauso ist wie dieser Scheißkerl, der Savannah …«

Schmerz explodierte in meiner Brust. »Stopp!« Mit einem Satz sprang ich von der Fensterbank und starrte meine Schwester an. Mein Herz raste. »Tu dir selbst einen Gefallen und bring diesen Satz nicht zu Ende.«

Bestürzt schüttelte meine Schwester den Kopf. »Es tut mir leid, Reed. Ich wollte nicht …« Bedauernd verzog sie das Gesicht. »Mir ging es bloß darum, deutlich zu machen, dass Estelle vielleicht gar nicht so übel ist. Trotz ihres Vermögens. Gib ihr doch wenigstens eine Chance.«

Ich biss die Zähne zusammen. Manchmal raubte Hazel mir mit ihrer Gutgläubigkeit wirklich den letzten Nerv. Dabei sollte man eigentlich meinen, sie hätte aus ihren Erfahrungen gelernt. »Ich habe zugestimmt, die Prinzessin ins Team aufzunehmen, damit du den Deal mit Mommy Sinclair nicht platzen lassen musst. Der Rest ist meine Sache.«

»Aber …«

»Im Ernst, Hazel«, unterbrach ich sie schroff. »Entweder du hältst dich raus, oder du kannst sie gleich nach Hause schicken. Ich werde nicht länger darüber diskutieren.«

Trotz flackerte in Hazels braunen Augen auf, aber sie wusste, wann sie eine Schlacht verloren hatte. Seufzend ließ sie die Schultern sinken. »Also schön. Aber das heißt nicht, dass ich dein Verhalten ihr gegenüber gutheiße.«

»Zur Kenntnis genommen.« Ungeduldig deutete ich zur Tür »Wir sollten gehen. Das Barbecue fängt gleich an.«

Sichtlich frustriert presste Hazel die Lippen zusammen und marschierte an mir vorbei aus dem Büro.

Schon am Vormittag, bevor die Kids angereist waren, hatte das ganze Team die Terrasse des Verwaltungsgebäudes, die an den Speisesaal im Erdgeschoss grenzte und einen traumhaften Ausblick auf das nahe gelegene Seeufer bot, festlich geschmückt. Zwar hatte die Dämmerung längst noch nicht eingesetzt, trotzdem waren die Lichterketten bereits eingeschaltet, als wir nach draußen traten. Bunte Lampions hingen in den Bäumen, die den hinteren Teil der Terrasse flankierten.

Ich ging an den hübsch mit bunten Servietten und Konfetti gedeckten Tischen vorbei zum Ende der Terrasse und blieb am oberen Treppenabsatz stehen. Geradeaus führte ein Pfad direkt zum Silver Lake. Zu meiner Linken lag unsere Bunny Farm, in der insgesamt sechs Zwergkaninchen hausten. Rechts von mir war der Grillplatz.

Die Kids waren noch mit Auspacken beschäftigt. Aber Grover hatte bereits den Grill angeworfen und nahm gerade ein Tablett mit Burgerpatties von seiner Frau Dotty entgegen. Die beiden waren unsere ältesten Angestellten und schon hier beschäftigt, seit Hazel und ich selbst Kinder waren.

Dotty, die eigentlich Dorothea hieß, war als Küchenchefin perfekt organisiert und strenger als jeder Feldwebel. Vor allem, wenn es ums Gemüseschneiden ging, kannte sie keine Gnade. Trotzdem liebten die Kids die Dienste bei ihr – weil sie die besten Brownies der Welt backte, auch bekannt als Allheilmittel gegen Heimweh, Liebeskummer oder Campstress aller Art.

Mit den Jahren war Dottys einst nussbraunes, kurzes Haar weiß geworden. Den knallroten Lippenstift von früher trug sie aber immer noch. Gerade wischte sie sich die Finger an der farblich passenden Schürze ab, während sie mit ihrem Mann darüber diskutierte, ob der Grill schon heiß genug war.

Grover verdrehte genervt die Augen hinter der schwarz umrahmten Brille, bevor er ein Stofftaschentuch aus der Seitentasche seiner Latzhose zog und damit über seine verschwitzte Halbglatze tupfte. »Und wenn ich es dir doch sage, Dot. Es ist heiß genug. Noch heißer als in der Hölle.«

»Also willst du das gute Fleisch verkohlen lassen?«, fragte Dotty pikiert.

»Was? Nein!« Grover stöhnte auf. Da entdeckte er mich am oberen Treppenabsatz und winkte mich ungeduldig heran. »Komm her, Junge. Sag dieser Tyrannin, dass sie aufhören soll, mir reinzureden.«

Lachend schüttelte ich den Kopf. »Sorry, Grover. Ich werde mich hüten, mich einzumischen.«

»Er verbrennt die Burger«, beschwerte Dotty sich und verschränkte die Arme.

Mit einer Grillzange in der Hand deutete Grover auf seine Frau. »Das Einzige, was hier verbrennt, ist meine Geduld mit dir.«

Belustigt musterte ich die zwei. Ich kannte kein Paar, das so oft stritt wie die beiden, und doch war die Liebe zwischen ihnen nahezu mit Händen greifbar. Es war die Art von Liebe, die man heute nur noch selten fand und die so tief reichte, dass man praktisch eins miteinander wurde.

Ich hatte diese Liebe auch schon erlebt. Savannah war mein Ein und Alles gewesen. Wir hatten gleich nach dem Collegeabschluss heiraten wollen. Aber dann war alles anders gekommen, und obwohl das mittlerweile über fünf Jahre her war, verging kein Tag, an dem mich der Schmerz nicht von innen heraus auffraß und meine gequälte Seele nach Vergeltung schrie.

Mein Magen verkrampfte sich, doch eine sanfte Hand auf meinem Oberarm lenkte mich ab, bevor ich mich in düsteren Gedanken verlor. Dotty war neben mir aufgetaucht und musterte mich aufmerksam. »Alles in Ordnung, Schätzchen?«

»Klar.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, während ich in Richtung Küche deutete. »Brauchst du noch Hilfe, bevor die hungrige Meute eintrifft?«

Es war eine überflüssige Frage, denn wie ich unsere Küchenchefin kannte, standen die Schüsseln mit Pommes, Salaten und weiteren Burgerzutaten längst bereit. Nachdenklich schüttelte Dotty den Kopf. »Nein, danke. Aber du siehst aus, als könntest du einen Brownie vertragen.«

Ich stieß ein raues Lachen aus. »Warum sollte ich jetzt schon Nervennahrung brauchen? Das Sommercamp hat doch noch nicht mal richtig angefangen.«

»Hazel hat mir erzählt, dass wir spontan Verstärkung im Team bekommen haben.« Dotty verzog ihre knallrot geschminkten Lippen zu einem süffisanten Grinsen. »Überaus hübsche Verstärkung.«

Ich schnaubte. Es stimmte schon, dass Estelle verdammt gut aussah, aber für mich zählten die inneren Werte – und bisher hatte ich diesbezüglich nichts Schönes bei der Prinzessin entdecken können. Ganz im Gegenteil.

»Hat meine gesprächige Schwester dir auch erzählt, dass sie vorbestraft ist?«, fragte ich schroff.

Dottys Augen wurden groß. »Nein, davon hat sie nichts erwähnt.«

Natürlich nicht.

Ich fühlte mich ein bisschen mies, weil ich Estelles Geheimnis offenbart hatte. Andererseits vertraute ich Dotty, und streng genommen gab es keinen Grund, diese Information vor ihr zu verbergen.

»Was hat sie getan?«, wollte Dotty wissen. »Doch nichts, was den Kindern schaden könnte, oder? So etwas würde Hazel niemals billigen.«

»Natürlich nicht. Angeblich hat sie einen Beamten beleidigt.«

Dotty runzelte die Stirn. »Deshalb ist man doch nicht gleich vorbestraft.«

Irgendwie kam mir das auch seltsam vor. Wenn ich genauer darüber nachdachte, musste wohl doch noch ein bisschen mehr dahinterstecken. Aber was könnte das sein? »Vielleicht hat sie dem Typen obendrein eine gescheuert.«

Dotty nickte. »Eine Ohrfeige gilt bereits als Körperverletzung. Bei Gesetzeshütern wird das besonders hart bestraft.«

»So oder so ist es eine Straftat, auf einen anderen loszugehen.«

Wie üblich blieb Dotty von meinem scharfen Tonfall unbeeindruckt. »Kennst du denn schon ihre Version der Geschichte? Vielleicht ist das alles bloß ein dummes Missverständnis gewesen.«

Ich verzog verächtlich den Mund. »Da gibt es eigentlich nicht besonders viel falsch zu verstehen.«

»Womöglich hat sich der Beamte ihr gegenüber auch nicht ganz korrekt verhalten«, wandte Dotty ein. »So was kommt vor.«

Skeptisch schüttelte ich den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein kleiner Cop es wagt, einer Millionärstochter dumm zu kommen.«

»Vielleicht hat er sie nicht erkannt.«

Ich biss die Zähne zusammen, während ich daran dachte, wie Estelle mir zum ersten Mal gegenübergetreten war. Das Kinn erhoben, die Schultern gestrafft und dann dieser affektierte Ton, mit dem sie ihren Namen verkündet hatte. Als ginge sie davon aus, dass alle Welt wüsste, wer sie war.

Was zum Teil sogar stimmte.

Selbst hier war der Name Sinclair bekannt und unverrückbar mit der Marke Happy Crush verknüpft. So wie Steve Jobs mit Apple oder Hilton mit der Hotelkette.

Nichtsdestotrotz brachten mich Dottys Einwände zum Nachdenken. Zwar glaubte ich nicht, dass ich mit meiner Einschätzung falschlag, erwog aber dennoch, der Sache auf den Grund zu gehen. Andererseits lohnte sich die Mühe vielleicht gar nicht. Wahrscheinlich hielt die Prinzessin maximal drei Tage im Camp durch. Allerhöchstens vier.

Ich könnte ihr natürlich einen kleinen Schubs geben. Aber Hazel würde mir den Kopf abreißen, wenn sie herausfand, dass ich Estelle mit Absicht das Leben schwer machte. Egal, wie verlockend es war …

Meine Überlegungen wurden vom Eintreffen der Kinder zerstreut, die mit unglaublichem Getöse die Terrasse stürmten. Wie üblich ging mir das Herz auf, als ich all die glücklichen Gesichter sah. Die Aufregung war den Kids deutlich anzumerken, und ich freute mich darauf, den Sommer mit ihnen zu verbringen. Ich liebte Kinder und wünschte bei Gott, mir wäre das Glück vergönnt gewesen, inzwischen selbst Vater zu sein. Doch all meine Pläne und Hoffnungen waren in einem einzigen, schrecklichen Moment zunichtegemacht worden.

Dotty, die von meinem Schmerz nichts bemerkte, lachte. »Man könnte meinen, sie hätten seit Tagen nichts gegessen.«

»Auspacken ist ja auch anstrengend.«

»Ich werde zusehen, dass das Essen schnell auf den Tisch kommt.« Dotty wandte sich ihrem Gatten zu und erhob die Stimme. »Wehe, du lässt die Burger verbrennen!«

»Jaja«, grummelte er mit einem liebevollen Lächeln, ohne sich zu seiner Frau umzudrehen.

Dotty eilte davon, während ich zusah, wie die Kinder um die Tische wuselten. Es dauerte nicht lange, bis jeder einen Platz gefunden hatte und Hazel an meine Seite trat. Sie lächelte die Kids freundlich an.

»Herzlich willkommen, meine Lieben. Wir freuen uns sehr, dass ihr alle da seid.«

Mehr als siebzig Augenpaare musterten meine Schwester gespannt, die die Aufmerksamkeit nutzte, um eine kleine Einführung zu geben. Sie stellte die einzelnen Gruppen und das Campteam vor und bat alle Kinder, sich gleich noch für die Aktionen des nächsten Tages in die Listen am Schwarzen Brett einzutragen, das neben dem Schaukasten im Foyer hing. Während des langweiligen Teils mit der Belehrung über Campregeln und Brandschutz ließ ich den Blick durch die Menge schweifen. Ich wusste selbst nicht genau, nach wem ich eigentlich suchte. Trotzdem fühlte ich mich seltsam ertappt, sobald ich auf Estelles eisblaue Augen traf.

Ihre Miene war vollkommen ausdruckslos, während sie an der Terrassentür lehnte und mich betrachtete. Es war unmöglich, zu sagen, was in ihrem Kopf vorging. Ich selbst hatte jedoch reichlich Mühe, meine Überraschung zu verbergen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie herkommen würde, nachdem ich so unfreundlich zu ihr gewesen war. Stattdessen war ich davon ausgegangen, dass sie bereits mit ihren Freunden telefonierte und ihnen ihr Leid klagte.

Trotzig erwiderte ich ihren Blick, doch Estelle blieb vollkommen unbeeindruckt.

Was mich tierisch nervte.

Plötzlich klatschte Hazel in die Hände, und ich fuhr erschrocken zusammen. »In fünf Minuten gibt es Essen!«

Natürlich brach sogleich tosender Beifall aus. Hazel verbeugte sich lachend, bevor sie schnurstracks zu Estelle marschierte.

Empörung machte sich in mir breit. Ich verstand ja, warum meine Schwester scharf auf den Deal mit Moira Sinclair war. Aber wo war ihr Stolz, verdammt noch mal? Estelle hatte den Job. Das war mehr, als sie verdiente.

Missmutig verfolgte ich, wie Hazel die neue Praktikantin neben sich auf eine Holzbank zog und ihr eifrig den Korb mit den Brötchen unter die Nase hielt.

Estelle beäugte die kross gebackenen und mit Sesamkernen bestreuten Brötchen, als wären sie vergiftet, und schüttelte langsam den Kopf. Wahrscheinlich waren Burger unter ihrem Niveau.

Mit einem Schnaufen stieß ich mich vom Geländer ab und marschierte an den Tischen vorbei in den Speisesaal. Die kalte Luft der Klimaanlage schlug mir ins Gesicht, half aber kaum dabei, die Hitze in meinem Inneren abzukühlen. Meine Schritte hallten durch den großen Saal, während ich in Richtung Küche stapfte. Vielleicht brauchte ich doch so einen dämlichen Brownie.

Ich hatte den Tresen fast erreicht, da fiel mir eine Gestalt auf, die einsam und verlassen an einem einzelnen Tisch vorm Fenster saß.

Abrupt blieb ich stehen und starrte den kleinen Jungen an. Es war derselbe Junge, nach dem Scott gleich nach seiner Ankunft panisch gesucht hatte und der ihm offenbar erneut entwischt war.

Bowie.

Im Geiste machte ich mir eine Notiz, meinen neuen Mitarbeiter darauf hinzuweisen, dass der Kleine offenbar gern stiften ging.

»Hey, Bowie.« Ich trat an den Tisch heran. »Was machst du hier drin?«

Der Junge reagierte nicht. Weder antwortete er, noch drehte er sich zu mir um. Stattdessen starrte er stumm aus dem Fenster.

Er war zum ersten Mal hier im Camp Silver Springs. Aber ich wusste genau, welche Kinder den Sommer in unserer Obhut verbrachten. Obwohl Bowie erst acht Jahre alt war, trug er ein blaues Hemd, darüber ein beiges Tweed-Jackett und eine passende, knielange Hose. Seine Füße stecken in weißen Socken und Sandalen. Er sah aus wie ein kleiner Lord. Allerdings stammte er aus Salt Lake City.

Weil Bowie immer noch nicht reagierte, zog ich ein Stuhl zurück und setzte mich ihm gegenüber, als hätte ich alle Zeit der Welt.

Minuten vergingen, doch obwohl Bowie meine Anwesenheit zweifellos bemerkt hatte, blieb er stumm.

»Hast du gar keinen Hunger?«, fragte ich sanft.

Endlich drehte der Junge das Gesicht in meine Richtung, und meine Brust zog sich zusammen, als ich die großen, traurigen Augen erblickte.

Wahrscheinlich hatte er Heimweh. Das war nicht ungewöhnlich in den ersten Tagen. Vor allem die Kleinsten hatten ihre Schwierigkeiten, sich von ihren Eltern zu lösen. Aber ich wusste, dass es besser wurde, sobald die ersten Freundschaften geschlossen waren.

Ich lächelte Bowie an. »Komm mit nach draußen zu den anderen. Sie fragen sich sicher schon, wo du steckst. Außerdem sind die Burger fast fertig.«

Er zögerte. Aber letztlich schien der Hunger zu überwiegen und er schob sich von seinem Stuhl.