Lovely Kisses. Nur eine Berührung von dir - Polly Harper - E-Book
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Lovely Kisses. Nur eine Berührung von dir E-Book

Polly Harper

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Beschreibung

Endlich noch mehr große Gefühle in der romantischsten Kleinstadt Colorados!

Nur eine Berührung von ihm und sie vergisst den Rest der Welt


Seit dem Tod ihres Zwillingsbruders Jonah hält die Erzieherin Josephine ihre Gefühle fest verschlossen. Doch als Aiden nach Jahren der Funkstille in die idyllische Kleinstadt Goodville zurückkehrt, bekommt ihre sorgsam errichtete Fassade allmählich Risse. Schließlich war die Mutprobe, die Jonah damals das Leben kostete, Aidens Idee. Josephine kann und will ihm nicht verzeihen, dass er sie nach dem Unfall mit ihrem Schmerz allein ließ. Um sich abzulenken, stürzt sie sich mit Feuereifer in neue Freizeitprojekte mit ihren Freundinnen. Trotzdem merkt sie schnell, dass Aidens Nähe selbst nach all der Zeit ihr Herz zum Flattern bringt – vor allem, als sie in dem attraktiven Rebellen den Jungen erkennt, der ihr einst so viel bedeutet hat …

Lust auf noch mehr romantisches Goodville-Feeling? Dann lesen Sie auch die weiteren unabhängigen Bände der Reihe:

Lovely Hearts. Nur ein Lächeln von dir
Lovely Dreams. Nur ein Kuss von dir
Lovely Nights. Nur ein Traum von dir
Lovely Kisses. Nur eine Berührung von dir

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POLLYHARPER schreibt leidenschaftlich gern Liebesromane. Auch unter dem Pseudonym Greta Milán veröffentlicht die Autorin regelmäßig gefühlvolle Geschichten, die überall auf der Welt spielen. Sie selbst lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und drei Katern im Herzen Deutschlands. Mit ihrer vierbändigen Goodville-Love-Reihe beschert sie ihren Leser*innen ein romantisch-prickelndes Leseerlebnis.

Außerdem von Polly Harper lieferbar:

Lovely Hearts. Nur ein Lächeln von dir

Lovely Dreams. Nur ein Kuss von dir

Lovely Nights. Nur ein Traum von dir

Polly Harper

LOVELY KISSES

Nur eine Berührung von dir

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung- und abbildungen: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29404-5V003

www.penguin-verlag.de

Für meine Leserinnen und Leser.Vielen herzlichen Dank für eure Begeisterung.Habt eine tolle Zeit in Goodville.

Prolog Aiden

Wenn man siebzehn Jahre alt war, gab es in einer Kleinstadt wie Goodville inmitten von Colorados Einöde nicht sonderlich viel zu erleben. Schon gar nicht an den Wochenenden. Für Mitte Juli war es unerträglich heiß an diesem Tag. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel herunter und sorgte dafür, dass Aiden ein wenig schwindelig wurde, obwohl er bereits im Schatten einer alten Eiche am Ufer des Avon River saß. Seine Sicht verschwamm, weshalb die Skizze, an der er seit zwei Stunden arbeitete, ebenfalls unscharf wurde. Er kniff die Lider zusammen und rieb über das Blatt. Leider waren seine Finger so verschwitzt, dass die Bleistiftlinien verwischten.

»Mist!«, grummelte er und wedelte mit der Hand in der Hoffnung, dass die Luft den Schweiß schnell trocknen würde.

»Mir ist langweilig.« Jonah lag ausgestreckt neben Aiden auf der Decke. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, kaute auf einem Grashalm und blinzelte träge in die Sonne. Sein blonder Haarschopf kringelte sich über den Ohren zu feuchten Strähnen. »Lass uns irgendwas machen.«

Vielsagend deutete Aiden auf die Zeichnung. »Ich mache was, Mann.«

Jonah verdrehte die Augen. »Wann wirst du endlich aufhören, dich so zu stressen? Du wirst diesen Studienplatz kriegen. Wir beide werden das.«

Aiden wünschte sich, er könnte Jonahs Zuversicht teilen. Er war selbstbewusst genug zu behaupten, dass sie beide ausreichend Talent besaßen, um am Rocky Mountains College of Art and Design in Lakewood angenommen zu werden. Sie wollten dort gemeinsam Kunst studieren, um eines Tages ihren Kindheitstraum vom eigenen Comic zu verwirklichen. Aber selbst wenn sie die Studienplätze bekamen, blieb immer noch ein Problem.

Angst knotete Aidens Magen zusammen, während er auf seine Zeichnung starrte. Es zeigte eine Superheldin. Seine Superheldin. »Du weißt, dass es nicht nur um den Studienplatz geht.«

Jonah stöhnte genervt. »Ich zahle dir hundert Mäuse, wenn du endlich aufhörst, dir wegen dem Stipendium in die Hose zu machen. Du wirst es hundertpro bekommen. Sie wären absolut bescheuert, es dir nicht zu geben. Und selbst wenn nicht, finden wir schon eine Lösung.«

Aiden stieß ein schnaubendes Lachen aus. Jonah hatte leicht reden. Er war schließlich nicht auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Seine Eltern Ilsa und Otis Carter gehörten zu den Gründerfamilien und damit zu den reichsten Einwohnern der Stadt. Sie lebten in einer schönen Villa im Süden und besaßen so viel Land in der Gegend, dass sie einfach nur auf dem Hintern sitzen und warten mussten, bis die Pacht der Farmer fällig wurde.

Aiden hingegen wohnte in einem winzigen Häuschen, das seine besten Tage längst hinter sich hatte. Die Fassade brauchte einen neuen Anstrich, und auch das Dach würde den nächsten Winter vermutlich nicht überstehen. Aber sein Dad steckte jeden Cent in die Bar, die er nun schon seit Jahren betrieb. Da blieb nicht viel übrig für Aiden oder seine kleine Schwester Lauren.

Wäre seine Mom noch hier gewesen und hätte ein zweites Einkommen in die Familie eingebracht, lägen die Dinge vielleicht anders. Aber sie hatte schon vor Jahren entschieden, dass das Kleinstadtleben nichts für sie war, und war mit einem Trucker auf Nimmerwiedersehen durchgebrannt.

Wie jedes Mal, wenn Aiden daran dachte, zog sich die Wut zu einem kleinen, harten Knoten in seinem Bauch zusammen. Plötzlich von Rastlosigkeit erfüllt, warf er den Block beiseite und streckte sich, weil sein Rücken ganz steif vom langen Sitzen war. »Du hast recht. Lass uns was machen.«

Sofort kam Bewegung in Jonah, und er sprang auf die Füße. Dann sah er sich auf der Suche nach einem Abenteuer am Ufer um.

Der Avon River glitzerte in der Sonne, während das Wasser träge dahinplätscherte. Selbst der Fluss schien an diesem Tag zu faul zu sein, um sich groß zu bewegen. Grashalme wehten sanft im Wind. Enten schnatterten abseits im Schilf. Es war ruhig, friedlich.

Jonahs Schultern sanken herab, und er stöhnte erneut. »Gott! Diese Idylle ist echt zum Kotzen.«

Lachend stand Aiden auf und trat neben seinen besten Freund. Wenn sie direkt nebeneinanderstanden, war Aiden ein ganzes Stück größer als Jonah und auch schlaksiger, weil er im Gegensatz zu Jonah dankend abgelehnt hatte, als man ihn für die Footballmannschaft gewinnen wollte. Inzwischen besetzte Jonah den Stammplatz als Runningback in der hiesigen Highschool. Eine Tatsache, die Aiden zutiefst verabscheute, weil er permanent Angst um Jonahs begnadete Hände hatte. Schließlich ließ es sich mit gebrochenen Fingern schwer zeichnen.

Und – Mann! – hatte dieser Kerl Talent!

Es war unglaublich, was er innerhalb von ein paar Sekunden aufs Papier bringen konnte. Jonah besaß eine Leichtigkeit beim Zeichnen, die Aiden schon immer bewundert hatte. Dagegen waren seine Striche viel überlegter, weniger aus dem Bauch heraus. Genau deshalb waren sie ein perfektes Künstlerduo.

Obwohl sie ihre Comics früher mal als Trio konzipiert hatten. Die Texte hatte jemand anders beigesteuert …

Aidens Mund wurde trocken, wann immer er an das Mädchen dachte. Früher war sie Jonah und ihm nie von der Seite gewichen. Aber das hatte sich in den letzten Wochen geändert. »Wo steckt deine andere Hälfte?«

Das war durchaus wörtlich gemeint, denn die beiden waren Zwillinge, und obwohl sie sich in vielen Dingen unterschieden, waren sie doch so eng miteinander verbunden, wie es nur zwei Menschen sein konnten, die seit Anbeginn ihrer Existenz zusammen waren.

Jonah verdrehte die Augen. »Sie ist mit Harris und ein paar anderen aus dem Footballteam losgezogen. Ich glaube, sie wollten zur Falkon Bridge oder so.«

Eifersucht kochte durch Aidens ohnehin schon erhitzten Leib. »Dieser Typ ist so ein Arschloch.«

»Nicht immer«, widersprach Jonah und schob die Hände in die Taschen seiner Badeshorts. »Er hat auch eine nette Seite, weißt du?«

»Ach ja?«, brummte Aiden.

Jonah nickte. »Du kannst wütend auf ihn sein, so viel du willst. Aber mach ihm keinen Vorwurf daraus, dass er sein Glück bei meiner Schwester versucht. Du solltest endlich aus dem Quark kommen. Man ist nur einmal jung, mein Freund.«

Es kostete Aiden einige Mühe, seinen Gesichtsausdruck unbeteiligt zu halten. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»O Mann«, murmelte Jonah und schüttelte nun sichtlich amüsiert den Kopf. »Wir haben in den letzten zehn Jahren fast jeden Tag miteinander verbracht. Glaubst du ernsthaft, ich hätte nicht mitgekriegt, wie Josephine in deinen Augen von einer Nervensäge zur Traumfrau mutiert ist?«

Eigentlich hatte Aiden sich schon für clever genug gehalten, seine Gefühle für Josephine zu vertuschen, was ganz offensichtlich ein Irrtum war. »Das wusste ich nicht.«

»Alter!« Jonah stieß ein Lachen aus. »Du nennst sie Phee.«

Dieser Logik konnte Aiden nun doch nicht folgen. »Na und. Das tue ich, seit wir sieben sind.«

Jonah zog eine Braue hoch. »Es gibt genau zwei Menschen in deinem Leben, denen du einen besonderen Namen verpasst hast, und das sind Laurie und Phee. Nicht einmal ich war dir wichtig genug für diese Ehre.«

Aidens Herz klopfte schneller. Er fühlte sich ertappt und gleichzeitig peinlich berührt, weil er nicht wollte, dass sich sein bester Freund zurückgesetzt fühlte. »Ich kann dich Jony nennen, wenn du willst, oder Jayjay?«

Jonah prustete los. »Echt jetzt?«

Ein Grinsen zupfte an Aidens Mundwinkel. »Jonsie?«

»Bitte nicht!« Belustigt schüttelte Jonah den Kopf, bevor er wieder ernst wurde. Er sah Aiden nachdenklich an. »Tu euch beiden einen Gefallen und bitte sie endlich um ein Date, ja? Diese aufgeladene Stimmung zwischen euch ist echt kaum zu ertragen.«

Allein der Gedanke sorgte dafür, dass Aiden erneut schwindelig wurde. Er runzelte die Stirn. »Solltest du mich nicht eher warnen, die Finger von deiner Schwester zu lassen?«

»Was laberst du für einen Mist? Ich kenne dich besser als irgendjemand sonst. Deshalb weiß ich auch, dass du zwar eine große Klappe hast, aber tief in deinem Inneren ein totales Weichei bist. Du betest ja jetzt schon den Boden an, auf dem sie geht. Ich könnte mir keinen besseren Kerl für sie wünschen. Also lass dir endlich ein paar Eier wachsen und frag sie.«

Aiden nickte benommen, während sein Herz völlig ausflippte vor Begeisterung. Ihm brach der Schweiß aus. Er hatte schon so viel Zeit mit Phee verbracht, aber sie waren nie zu zweit unterwegs gewesen. Jonah war immer dabei gewesen. Was, wenn es zwischen ihnen seltsam wurde oder sie plötzlich keine Themen mehr hatten, über die sie reden konnten? Was, wenn er sich am Ende des Tages als größerer Trottel erwies als Trevor Harris?

»Cool«, sagte Jonah, der von Aidens Zweifeln zum Glück nichts mitbekam. Er klopfte ihm auf die Schulter. »Lass uns zur Falkon Bridge fahren und Harris die Tour vermasseln.«

Dieser Plan gefiel Aiden durchaus. »Okay. Los geht’s.«

»Lindsay ist sicher auch da.« Jonah wackelte vielsagend mit den Brauen. »Ich glaube, sie steht auf mich.«

»Klar tut sie das«, erwiderte Aiden, als sie zurück zur Decke gingen. »Genau wie Trisha und Evie. Du solltest dich lieber mal für eine entscheiden, Casanova. Sonst sprengst du noch das Cheerleading-Team.«

Jonah lachte wieder, während er die Decke vom Boden fischte und ausschüttelte. »Keine Sorge! Ich hab das im Griff.«

Was das betraf, hegte Aiden gewisse Zweifel. Jonah wollte sicher keines der Mädchen verletzen, hatte aber dennoch in den letzten Monaten versehentlich das ein oder andere Herz gebrochen. Nichtsdestotrotz zählte er zu den beliebtesten Schülern der Lincoln High. Es gab nur einen Jungen, der ihm in Sachen Popularität das Wasser reichen konnte: Cole Baxter.

Aiden hatte nicht viel mit Cole zu tun, aber er war ebenfalls im letzten Jahr und so weit ganz in Ordnung. Man munkelte, er habe bereits eine Zusage von der University of Colorado in der Tasche, wo er Architektur studieren wollte. Danach würde sicherlich sein kleiner Bruder Ryan den Thron der Highschool besteigen. Er war in Laurens Jahrgang und schon jetzt Everybody’s Darling.

Manchen Leuten war die Beliebtheit einfach in die Wiege gelegt. Leider zählte Aiden nicht dazu. Er war zwar kein totaler Außenseiter, aber gemessen an der Tatsache, dass er der Sohn eines Barbesitzers war, könnte seine Fanbase durchaus größer sein. Stattdessen galt er unter seinen Mitschülern eher als rebellischer Eigenbrötler, von dem sich die Leute lieber fernhielten. Oder er sich von ihnen. So ganz genau wusste Aiden das manchmal selbst nicht.

Die beiden schwangen sich auf ihre Mountainbikes und fuhren flussabwärts bis zur Falkon Bridge östlich von Goodville.

Schon von Weitem war Gelächter zu hören, und es dauerte nicht lange, bis Aiden die Gruppe auf der anderen Seite des Ufers entdeckte. Das halbe Footballteam hatte sich dort versammelt. Dazwischen saßen vereinzelt Cheerleaderinnen in knappen Bikinis – und Phee.

Selbst wenn sie nicht als Einzige einen blauen Badeanzug getragen hätte, hätte Aiden sie sofort erkannt. Ihr Haar war genauso goldblond wie Jonahs, nur reichte es ihr in üppigen Wellen bis hinab auf den unteren Rücken.

Erneut ballte sich Aidens Magen vor Eifersucht zusammen. Normalerweise trug Phee ihr Haar nie offen. Deshalb hatte er angenommen, er wäre der Einzige, dem das Privileg zuteilwürde, diesen traumhaften Anblick zu genießen.

Jemand stieß einen schrillen Pfiff aus. »Hey, Carter! Was geht?«

Harris, dieser Penner, saß direkt neben Phee. Er hatte die Arme um ihre schmalen Schultern gelegt. Er berührte ihre nackte Haut.

Aidens Blick huschte in Phees Gesicht. Er wollte herausfinden, ob sie sich damit wohlfühlte. Aber ihre großen, blauen Augen nahmen ihn gefangen, sodass er sie nur anstarren konnte.

Sie war wunderschön. Nicht auf diese unnatürliche Supermodelart, sondern auf ihre ganz eigene Weise.

Sie hatte einen schlanken, eher drahtigen Körper, dessen Kurven nicht so ausgeprägt waren wie die ihrer Freundinnen. Ihre Brüste waren klein und verdammt sexy. Sie hatte einen niedlichen Leberfleck direkt auf ihrer linken Wange. Und unterhalb ihres Haaransatzes zog sich eine feine Narbe über ihre linke Stirnseite, weil ihr ein Brett gegen den Kopf geknallt war, als sie mit Jonah und Aiden das Baumhaus gebaut hatte. Die Wunde hatte mit sechs Stichen genäht werden müssen. Außerdem gab es noch eine Narbe rechts unterhalb ihres Bauchnabels, wo sie mit zwölf Jahren am Blinddarm operiert worden war.

Damals war sie in der Schule mit Bauchschmerzen zusammengebrochen. Es war nach der Kopfverletzung das zweite Mal gewesen, dass Aiden richtig Angst um sie gehabt hatte. Er hatte an jenem Tag so lange Theater gemacht, bis sein Dad schließlich nachgegeben und ihn spätabends noch in die Klinik nach Silverton gefahren hatte, wo er sich in ihr Zimmer geschlichen und stundenlang ihre Hand gehalten hatte. Sie wusste bis heute nichts davon, weil sie tief und fest geschlafen hatte.

In jener Nacht hatte Aiden begriffen, dass sie für ihn mehr war als Jonahs Zwillingsschwester. Allerdings war er viel zu jung und unerfahren, um seine Gefühle richtig einzuordnen. Außerdem hatte er panische Angst davor, seine beiden besten Freunde zu verlieren. Also hatte er geschwiegen …

Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper. Der Lenker zog scharf nach rechts. Sekunden später landete Aiden auf dem Boden. Schmerz explodierte in seinen nackten Knien, als sich Schmutz und kleine Steinchen in seine Haut fraßen. Auch seine Hände rissen auf.

»Oh, verdammt!«, rief Jonah, während die Idioten am anderen Ufer losjohlten.

Aidens Kopf fühlte sich kochend heiß an, und er wusste, dass er vor lauter Verlegenheit feuerrot geworden war. Die Farbe biss sich sicher herrlich mit seinem kupferroten Haarschopf.

Jonah stieg von seinem eigenen Fahrrad ab und warf es achtlos beiseite, bevor er neben Aiden in die Hocke ging. »Alles in Ordnung?«

»Klar«, murmelte Aiden missmutig und wischte sich grob über die Knie. »So in Ordnung, wie es nur sein kann, wenn man sich gerade vor der halben Schule zum Trottel gemacht hat.«

»So schlimm war es gar nicht«, versuchte Jonah, ihn zu beruhigen.

»Hey, McGreedy, sollen wir die Feuerwehr rufen?«, brüllte Harris, woraufhin seine Kumpels erneut in Gelächter ausbrachen.

Jonah reckte sich ein Stück. »Klappe da drüben! Sonst stelle ich mich beim nächsten Spiel gegen South Fork vielleicht ein bisschen zu blöd an, den Ball zu fangen.«

Schon war Ruhe auf der anderen Seite.

Aiden spähte über die Schulter. Phee saß nicht mehr am Ufer. Stattdessen stand sie mit den Füßen im Wasser, als wäre sie vor Schreck aufgesprungen. Sorge schimmerte in ihren blauen Augen.

»Bist du verletzt?«, fragte Jonah.

Aiden verzog das Gesicht. »Nur mein Stolz.«

»Und dein Bike«, ergänzte sein Freund und deutete auf das verbogene Vorderrad. »Du bist direkt gegen den Stein da gebrettert.«

Ja, weil er zu beschäftigt damit gewesen war, Phee anzuglotzen.

Echt klasse!

Aiden stöhnte genervt auf. »Wenn ich das Bike jetzt schleppen muss, lachen sich die Blödmänner da drüben tot.«

»So übel sind die Jungs gar nicht.«

Aiden schnaubte. »Dich respektieren sie ja auch.«

Missmutig ließ er den Blick durch die Gegend schweifen. Er überlegte schon, wieder nach Hause zu gehen, als seine Aufmerksamkeit bei der Falkon Bridge hängen blieb. Die Zeit hatte die alte Steinbrücke dunkel verfärbt, aber das Eisengeländer hatte erst im letzten Jahr einen neuen marineblauen Anstrich erhalten. Die Brücke befand sich gut sechs Meter über der Wasseroberfläche und war unter den Jugendlichen stadtbekannt. Ein Sprung von dort in den Avon River galt als ultimative Mutprobe.

Aiden kam die zündende Idee. »Ich wüsste da was, um meine Ehre wiederherzustellen.«

Jonah folgte seinem Blick. »Du willst von der Brücke springen?«

»Warum nicht? Das wollten wir doch schon immer mal machen. Jetzt wäre die ideale Gelegenheit dafür.«

Übermut glitzerte in Jonahs Augen, als er Aiden wieder ansah. »Okay, tun wir’s.«

Froh über die Ablenkung hob Aiden eine Braue. »Sicher? Ich will dich zu nichts zwingen oder so. Nicht dass du nachher wieder rumjammerst wie damals, als wir Regenwürmer gegessen haben.«

Lachend warf Jonah den Kopf in den Nacken. »Das war ja auch das Widerlichste, was wir je gemacht haben.«

Das stimmte allerdings.

Deutlich besser gelaunt, befreite Aiden seine langen Beine von dem Bike und stand auf.

Jonah war bereits dabei, sich das Shirt über den Kopf zu ziehen, woraufhin von drüben weibliches Gekicher erklang. Breit grinsend ließ er seine Muskeln spielen. »Wenn wir das durchziehen, ist mir die dritte Base bei Lindsay sicher.«

Aiden verdrehte die Augen. »Vielleicht wechselst du erst mal drei Worte mit ihr, bevor du ihr gleich an die Wäsche gehst.«

»Na gut.« Jonah winkte zum anderen Ufer. »Hey, Lindsay. Alles klar?«

Sie zwinkerte ihm zu. »Mir geht’s super. Und dir?«

»Ebenfalls.« Jonah warf Aiden einen zufriedenen Blick zu. »Das waren sogar mehr als drei Worte.«

»Vier«, erwiderte Aiden trocken. »Du hast vier Worte zu ihr gesagt. Was bist du nur für eine Plappertasche.«

Jonah gluckste. »Was soll ich sagen, mein Freund? Wenn ich einmal in Fahrt bin, bin ich eben schwer zu bremsen.«

Aiden lachte. Das Geplänkel mit seinem Freund tat ihm so gut, dass er seine aufgeschürften Knie kaum mehr spürte und auch seine Verlegenheit merklich nachließ. Trotzdem reizte ihn die Vorstellung immer noch, von der Falkon Bridge zu springen. Er zog sich ebenfalls bis auf die Badehose aus, ehe er mit Jonah den bewachsenen Hang hinaufkletterte und auf die Planken stieg.

Kurz darauf hatten sie die Mitte der Brücke erreicht. Phee stand die ganze Zeit über am Ufer und beobachtete sie. Plötzlich wünschte Aiden sich, er hätte in den letzten Jahren mehr Sport getrieben. Er war nicht unzufrieden mit sich. Allerdings waren seine Muskeln längst nicht so ausgeprägt wie die von Jonah oder der anderen Sportskanonen. Und seine Haut war zwar nicht so bleich und hypersensibel wie die von Lauren, die wahnsinnig empfindlich gegen die Sonne war und sofort überall Sommersprossen bekam, aber etwas mehr Bräune könnte er schon vertragen.

Ob Phee gefiel, was sie sah?

»Nach dir«, sagte Jonah fröhlich und deutete eine Verbeugung an.

Aidens Puls begann zu rasen, als er seine langen Beine über das Geländer schwang. Wie aus weiter Ferne hörte er Applaus von den Kids, die die Szene nun voller Begeisterung verfolgten. Vergessen war sein peinlicher Stunt.

»Jawoll«, rief Murdoch, ein bulliger Kerl mit kurz geschorenen Haaren. »Endlich passiert mal was in diesem Kaff.«

»Wenn dir langweilig ist, spring du doch von der Brücke«, zischte Phee.

Murdoch brüllte mehr, als dass er lachte. »Hast du sie noch alle? Ich würde wie ein Stein bis auf den Grund krachen. Ich hab viel zu viel Muskelmasse, Baby.«

»Ruhe!«, donnerte Harris, ehe er seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf Jonah und Aiden richtete. »Na los! Traut euch!«

Ein Zittern durchlief Aidens Körper, als er nun hinab in den Fluss starrte. Sechs Meter waren keine unüberwindbare Höhe, und das tiefe Wasser würde den Aufprall locker abfangen. Trotzdem sah die Strömung von hier oben viel kraftvoller aus als vom Flussufer.

Jonah kletterte neben Aiden über das Geländer. Sowie er nach unten schaute, stieß er ein ersticktes Geräusch aus. »Na, das war ja echt eine spitzenmäßige Idee.«

»Wir können immer noch einen Rückzieher machen«, erwiderte Aiden, hin- und hergerissen, zwischen dem Wunsch, sich vor den anderen zu beweisen, und seinem Instinkt, der ihn anbrüllte, sofort wieder auf die sichere Seite zurückzuklettern.

Aber genau darum ging es ja bei einer Mutprobe. Aiden wollte diese Grenze überwinden. Nicht nur, um seinen Mitschülern zu zeigen, was er draufhatte, sondern auch sich selbst. Nachdem er den Sprung gewagt hatte, wäre es ein Klacks, Phee um ein Date zu bitten – und sie würde Ja sagen, weil er einfach so verdammt tough war.

Jonah schüttelte entschieden den Kopf. »Wir können uns nie wieder irgendwo blicken lassen, wenn wir jetzt den Schwanz einziehen.«

Aiden nickte nervös. »Ich zuerst?« Er sah seinen besten Freund an. »Oder du?«

Einige Sekunden verstrichen, ehe Jonah den Mund öffnete, um zu antworten.

Aber Aiden sollte nie erfahren, wie seine Entscheidung ausgefallen war, denn plötzlich schrie sein Freund auf und bog den Rücken durch. »Au! Verdammt.«

Alles passierte so schnell.

Eine Wespe schoss an Aidens Ohr vorbei, und er riss den Kopf zurück, damit ihm das Vieh nicht ins Gesicht klatschte. Gleichzeitig schlug Jonahs rechte Hand gegen seinen Brustkorb. Aiden begriff zu spät, dass er Halt suchte.

Jonah verlor das Gleichgewicht.

Phee schrie.

Aiden streckte die Hand aus – doch Jonah stürzte bereits in die Tiefe, wo ihn der Avon River verschlang.

Kapitel 1 Josephine

»Grundgütiger!«, stieß Josephine aus und blieb wie angewurzelt stehen.

Normalerweise war der Clubraum der Soul Sisters, dem berüchtigten Ladies Club von Goodville, dem auch Josephine angehörte, ein Paradebeispiel für schlichte Eleganz. Weiße Ornamenttapete zierte die Wände. Die hohen Fenster wurden von hellgrauen Vorhängen eingerahmt. Das Sofa, die drei Ohrensessel sowie die Hocker waren mit einem hellen Leinenstoff bezogen, und daneben stand ein Schreibtisch mit einer hübschen antiken Lampe. Stets war es ordentlich und gemütlich. Nur heute herrschte hier drin das pure Chaos.

Unzählige bunt verpackte Kartons stapelten sich auf dem kleinen Sofatisch, dem Schreibtisch und auf dem Boden. Es mussten mindestens fünfzig sein. Hinter einem der Stapel lugte May grinsend hervor. »Lauren hat darauf bestanden, dass wir sie gemeinsam öffnen.«

»Etwa alle?«, fragte Josephine entgeistert, woraufhin May fröhlich nickte.

Mit ihr hatte die ganze Sache mit dem Ladies Club angefangen. Die lebenslustige Frau mit den blau gesträhnten Haaren war nach Goodville gekommen, nachdem sie das Sorgerecht für ihre Nichten Cathy und Lilly erhalten hatte. Das wiederum hatte Cole überhaupt nicht gefallen. Er zählte zu den beliebtesten Bürgern der Stadt und liebte die Mädchen wie seine eigenen Kinder und hatte May das Leben hier anfangs zur Hölle gemacht.

Zum Glück war May zäh. Statt sich von Cole einschüchtern zu lassen, hatte sie sich mit Nova und Lauren angefreundet, die seinerzeit ebenfalls als Außenseiterinnen galten.

Nova führte den hiesigen Souvenirshop, war stets freundlich und zuvorkommend, aber auch unsagbar schüchtern, weshalb sie nie wirklich Anschluss an die Gemeinde gefunden hatte.

Lauren war das exakte Gegenteil. Sie war laut, selbstbewusst und besaß – sehr zum Missfallen des Stadtrates – die einzige Bar in der Gegend, das Nowhere, in dem sich auch besagter Clubraum befand.

Ursprünglich hatten May, Nova und Lauren den Ladies Club gegründet, um sich gegenseitig zu unterstützen, aber es dauerte nicht lange, bis sie die ersten sozialen Projekte aufzogen. Für diese Initiative hatte Josephine die drei von Anfang an bewundert. Allerdings hatte sie lange mit sich gehadert, dem Club beizutreten, da Lauren nicht nur Feinde im Stadtrat hatte, sondern zu allem Überfluss auch Aidens kleine Schwester war.

Aiden.

Jonahs bester Freund.

Josephines Magen krampfte sich so stark zusammen, dass sie sich vornüberbeugte. Glücklicherweise merkte May nichts davon, weil in ebenjenem Moment Lauren und Nova hereinkamen. Nova balancierte ein Tablett, auf dem ein Krug Eistee und sieben Gläser standen, und Lauren folgte ihr mit ihrem Baby auf dem Arm. Ihre Augen, die ohnehin schon vor Glück strahlten, leuchteten auf, als sie die Geschenkeberge erblickte.

Cameron Baxter McGreedy war inzwischen vier Wochen alt und das jüngste Mitglied in der Gemeinde, zu dessen Ehren die Soul Sisters am Vortag eine riesige Babyparty geschmissen hatten.

»O mein Gott! Sieh dir das an, Flummy«, flötete Lauren und küsste ihr schlafendes Baby auf die Stirn. »Das ist alles für dich. Ist das nicht irre? Daddy wird sicher einpaarmal fahren müssen, um das ganze Zeug abzuholen.«

»Ich kann auch Jax anrufen«, bot Nova lächelnd an. »Auf der Ladefläche seines Pick-ups ist genug Platz.«

May lachte. »Oder wir sagen Cole Bescheid. Er hat sicher noch einen Lkw in der Firma.«

Schweigend ließ Josephine sich in den Sessel sinken und beobachtete die drei Frauen, die eifrig darüber diskutierten, welchem ihrer Männer nun die Ehre zuteilwürde, mit anzupacken. Sie wünschte, sie hätte die Hilfe ihres Ehemannes ebenfalls anbieten können. Aber Trevor packte nie irgendwo mit an, schon gar nicht für den Ladies Club, und er hielt auch nicht viel von den Frauen, die daran beteiligt waren.

Manchmal fragte Josephine sich, wann aus dem Jungen, der ihr in ihren dunkelsten Stunden nicht von der Seite gewichen war, dieser mürrische Mann geworden war, mit dem sie jetzt ihr Leben teilte. Aber dann machte sie sich bewusst, dass er ihre Familie wenigstens nicht im Stich ließ, und war zufrieden. Sie konnte sich aufrichtig für May freuen, die in Cole einen zuverlässigen Gefährten gefunden hatte, und für Nova, die bis über beide Ohren in Jax verliebt war, und auch für Lauren, die mit Coles Bruder Ryan und ihrem Baby ihr Glück gefunden hatte.

Liebe bestand eben nicht immer nur aus Hochs, sondern auch aus gelegentlichen Tiefs. Sie hoffte, eines Tages würden Trevor und sie diese schwierige Phase überwinden. Wobei sich seine Laune täglich zu verschlechtern schien, seit Aiden in die Stadt zurückgekehrt war.

Erneut krampfte sich Josephines Magen zusammen, und sie schlängelte sich an den Geschenketürmen vorbei zum Sofa, um sich zu setzen. Aus reiner Gewohnheit wollte sie sich einreden, dass ihre Bauchschmerzen am verpassten Mittagessen lagen. Aber sie wusste es längst besser.

Aiden wieder in Goodville zu wissen, setzte ihr zu. Allein ihn zu sehen, beschwor Bilder in ihrem Kopf herauf, die sie seit Jahren in einer Schublade ganz tief in ihrem Inneren verschlossen hatte.

Wie Jonah von der Brücke stürzte.

Wie Aiden ihm hinterhersprang.

Wie alle in den Fluss rannten, um Jonah zu suchen.

Wie sie ihn etwa hundert Meter weiter aus dem Wasser zogen. Bewusstlos und mit blutverschmiertem Kopf.

Wie sie stundenlang in der Klinik ausgeharrt und um Jonahs Leben gebangt hatten.

Wie der Arzt aus der Intensivstation kam und ihnen sagte, dass Jonahs Kopfverletzungen zu schwer gewesen waren und er es nicht geschafft hatte.

Wie ihre Mutter weinend zusammenbrach.

Wie ihr Vater vor Wut tobte.

Wie ein Teil von Josephine ebenfalls starb.

Und wie Aiden schweigend davonging.

Er war am Tag von Jonahs Beerdigung verschwunden. Anfangs hatte Josephine geglaubt, er brauchte einfach Zeit, um den Tod seines besten Freundes zu verarbeiten. Aber aus Tagen wurden Wochen, dann Monate und schließlich Jahre.

Fünfzehn Jahre lang keine Erklärung, kein Lebenszeichen, kein »Es tut mir leid«.

Nichts.

Und dann hatte Josephine ihm an Weihnachten urplötzlich wieder gegenübergestanden, und alles, was es gebraucht hatte, um ihr das Herz erneut zu brechen, waren zwei Worte.

Zwei Worte.

Mehr nicht.

Hallo, Phee.

Das war alles, was er gesagt hatte.

Ihn zu sehen war ein Schock gewesen. Er hatte sich sehr verändert seit damals. Aus dem schlaksigen Teenager war ein Mann geworden mit breiten Schultern, einer kräftigen Statur und einem scharf geschnittenen Gesicht. Sein kupferrotes Haar fiel ihm ins Gesicht und verlieh ihm etwas Wildes, Ungezähmtes.

Josephine hatte gehört, dass ihn viele Frauen im ersten Moment faszinierend fanden, doch der kalte, leere Blick aus den silbergrauen Augen hatte sie stets abgeschreckt.

Sie hatten recht. In diesen Augen war kein Leben mehr, keine Freude. Nicht einmal Kampfgeist. Aiden nahm abschätzige Blicke und Beleidigungen gleichmütig hin. Es schien ihn schlichtweg nicht zu interessieren, dass manche Einwohner Goodvilles nicht vergessen hatten, wer für die Tragödie verantwortlich war. Andererseits trug seine Ignoranz wenigstens dazu bei, dass er sich von Josephine fernhielt. Denn nichts anderes wollte sie.

»Hallo, Erde an Josephine«, zwitscherte May und wedelte vor ihrem Gesicht herum. »Bist du noch da?«

Mehr oder weniger.

Josephine warf ihren Freundinnen, die sie nun besorgt musterten, ein entschuldigendes Lächeln zu. »Tut mir leid. Ich war gerade nicht ganz bei der Sache.«

»Offensichtlich«, erwiderte May und legte den Kopf schief. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Josephine griff nach einem Glas Eistee. »Mein Tag war nur ein bisschen stressig.«

Nova nahm neben ihr Platz. »War viel los im Kindergarten?«

Belustigt schüttelte Josephine den Kopf. »Nichts, was ich nicht in den Griff gekriegt hätte.«

Wobei es der Schreianfall der dreijährigen Poppy durchaus in sich gehabt hatte. Außerdem hatten Luca und Elias beim Mittagessen eine Essenschlacht angezettelt, Brady hatte mit voller Absicht in die Sandkiste gepinkelt, und die vierjährige Hannah war vom Klettergerüst gefallen.

Okay – na schön, vielleicht war ihr Tag doch etwas mehr als bloß ein bisschen stressig gewesen. Aber trotzdem liebte Josephine ihren Job als Erzieherin und wollte ihn um nichts in der Welt tauschen. »Morgen wird es sicher wieder ruhiger.«

Zumindest hoffte Josephine das.

Die Tür ging auf und zwei weitere Mitglieder des Ladies Clubs kamen herein.

Helen war die Mutter von Cole und Ryan, eine angesehene Bürgerin Goodvilles und eine unglaublich liebenswerte Person. Ihr Mann, Sheriff Mortimer Baxter, war vor ein paar Wochen in den Ruhestand gegangen, weshalb Helen die Zeit mit den Frauen noch viel mehr genoss als zuvor. Diesmal jedoch hatte sie andere Prioritäten und streckte sogleich die Hände in Camerons Richtung aus. »Wie geht’s meinem Enkelsohn?«

Mit einem seligen Gesichtsausdruck übergab Lauren ihr Baby an Helen. »Hervorragend. Er isst, kackt und schläft, wie es sein soll.«

Sophia, die gleich neben den beiden stand, rümpfte die Nase, woraufhin ihre modische Hornbrille verrutschte. Sofort rückte sie sie wieder zurecht. »Das waren definitiv zu viele Informationen«, bemerkte sie trocken und wich ein wenig zurück, als Helen anfing, Cameron auf ihren Armen zu wiegen.

Sophia war die einzige Anwältin in Goodville, was sich als ungemein praktisch für den Club erwiesen hatte. Sie war vergleichsweise zugeknöpft, schien sich aber in der Gruppe ebenfalls sehr wohlzufühlen. Sie räusperte sich leise. »Payton lässt sich entschuldigen. Sie muss länger arbeiten.«

Nun ja, das war keine besondere Überraschung. Schließlich war Payton die Ex-Freundin von Ryan. Es hatte sie hart getroffen zu erfahren, dass Laurens Baby von ihm war. Insofern konnte Josephine gut verstehen, warum sie dieses Treffen ausließ.

Lauren verzog das Gesicht. »Ich wollte sie nicht verletzen.«

»Das wissen wir«, antwortete Nova sofort. »Sie braucht einfach noch etwas Zeit.«

Die anderen Frauen nickten.

»Sollen wir anfangen?«, fragte May und klatschte in die Hände. »Immerhin haben wir heute viel vor.«

Josephine runzelte die Stirn. »Was steht denn abgesehen von den hundert Päckchen noch auf dem Programm?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Lauren geistesabwesend, während sie den Blick über die bunten Geschenke schweifen ließ. Wahrscheinlich überlegte sie bereits, welches sie zuerst aufreißen wollte.

»Äh, das Blütenfest?«, schlug Nova vor.

Stimmt! Sie waren so mit der Planung von Laurens Babyparty beschäftigt gewesen, dass das am letzten Maiwochenende stattfindende Blütenfest total in den Hintergrund gerückt war. Dabei fand es schon in gut vier Wochen statt, wenn Pfingstrosen, Taglilien und Lavendel in voller Blüte standen.

»Oh!«, rief Lauren aus. »Das habe ich total vergessen.«

»Ich sag nur Stilldemenz«, flötete May gut gelaunt.

Josephine musste lächeln. Nach der Geburt ihrer Tochter Vada hatte sie auch immer alles vergessen. Heute konnte sie sich kaum noch an die schlaflosen Nächte erinnern. Aber sie wusste noch, wie glücklich sie gewesen war, wenn sie nachts im Schaukelstuhl saß und das kleine Wunder in ihrem Arm betrachtet hatte.

Lieber Himmel! War das wirklich schon zwölf Jahre her?

Lauren wurde rot. »Ich stille ja gar nicht. Es hat einfach nicht so richtig geklappt.«

Helen schnalzte mit der Zunge. »Nach allem, was du durchgemacht hast, ist das nun wirklich kein Wunder, Liebes.«

Das stimmte wohl. Immerhin wäre Lauren bei der Geburt fast gestorben.

Unweigerlich fragte Josephine sich, wie Aiden wohl reagiert hatte, als er davon erfuhr. Sie war ihm nach Camerons Geburt nie im Krankenhaus begegnet, weil sie ihre Besuche stets angekündigt hatte. Zuletzt hatte sie ihn bei der Babyparty gesehen. Allerdings hatte sie sich da bewusst nicht in seiner Nähe aufgehalten und hatte es auch vermieden, ihn anzusehen.

»Trotzdem hätte ich es wenigstens gern versucht«, erwiderte Lauren bedrückt.

Es war offensichtlich, dass sie diesbezüglich noch immer mit ihrer Enttäuschung rang, weshalb May hastig einlenkte.

Sie warf ihrer Freundin einen betretenen Blick zu. »Tut mir leid. Das war taktlos von mir.«

»Schon okay.« Lauren zog einen Mundwinkel hoch und zuckte mit den Schultern. »Auf diese Weise kann Ryan nachts auch mal aufstehen, um Cameron zu füttern. Das ist schon auch eine große Entlastung.«

Einen Moment lang versuchte Josephine sich vorzustellen, wie es wohl gewesen wäre, wenn Trevor in jenen Nächten zu ihr gekommen wäre und ihr Vada abgenommen hätte, damit sie auch etwas schlafen konnte. Aber es gelang ihr nicht. Eine solche Geste entsprach einfach nicht Trevors Charakter.

Das hieß nicht, dass er ein schlechter Vater war. Ganz im Gegenteil. Er liebte Vada über alles. Sie war sein kleines Mädchen. Allerdings hatte er eine klare Vorstellung davon, wie die Rollenverteilung in einer Familie auszusehen hatte, und die war eher konservativer Natur. Er war der Mann im Haus, der Versorger, der das Geld verdiente. Josephine war für den Haushalt und die Erziehung ihrer Tochter verantwortlich.

May kicherte. »Ryan, der Superdaddy. Wer hätte das gedacht?«

»Ich!«, erwiderte Helen mit einer Überzeugung, wie sie wohl nur eine Mutter empfinden konnte. »Ich wusste immer, dass er es in sich hat, auch wenn dieser Dummkopf das selbst nicht einsehen wollte.«

Helens Empörung war so süß, dass die Frauen in Gelächter ausbrachen.

»Tja, besser spät als nie, was?«, erwiderte Lauren gut gelaunt und setzte sich in einen der Ohrensessel. Erneut schweifte ihr Blick über die Geschenke, aber sie hielt ihre Neugier im Zaum und sah die anderen reihum an. »Also, das Blütenfest. Irgendwelche Ideen?«

Natürlich schnippte Mays Arm sofort in die Höhe. Im Ladies Club wurde sie als Universalgenie verehrt, weil es im Grunde nichts gab, was sie nicht konnte. Sie liebte es, sich kreativ auszutoben, vor allem bei Feierlichkeiten – und davon gab es in Goodville reichlich, seit Ashlyn Johnson vor ein paar Jahren die Leitung des Festkomitees übernommen hatte.

Belustigt hob Josephine eine Braue. »Möchtest du etwas vorschlagen, May?«

Sie grinste breit. »Wie wäre es mit einem Motto?«

Lauren runzelte die Stirn. »Blüten ist doch ein Motto.«

»Aber es ist so schrecklich allgemein«, versetzte May. »Wir könnten uns doch als Soul Sisters ein bisschen abheben und etwas Besonderes kreieren.«

Sofort sah Josephine die lebhaften Kinder vor sich, die sie den ganzen Tag betreute. »Wie wäre es mit Blütenfeen und -prinzen? Wir könnten Kostüme basteln.«

Helen gluckste. »Ich finde die Idee wunderbar, Liebes. Aber das ist eher etwas für Kinder. Mich wirst du ganz sicher nicht in ein Feenkostüm kriegen. Beim besten Willen nicht.«

»Mich auch nicht.« Sophia warf Josephine ein entschuldigendes Lächeln zu. »Da würde mich ja keiner mehr als Anwältin ernst nehmen.«

Das war in der Tat ein gutes Argument.

»Und wie wäre es mit Blumenkränzen?«, schlug Nova vor. »Weiß jemand, wie man welche macht?«

Wenig überraschend nickte May. »Wir könnten einen Stand aufbauen, an dem wir fertig gebundene Kränze verkaufen oder den Leuten die Möglichkeit bieten, sie selbst anzufertigen.«

»Eine Auswahl frischer Blumen sollte sich an diesem Tag leicht besorgen lassen«, meinte Josephine. »Allerdings finde ich es immer schade, wenn die Blumen dann verblühen.«

»Na, dann nehmen wir getrocknete Blüten.« Lauren nickte in Sophias Richtung. »Außerdem könnte Sophia den Leuten zeigen, wie man Papierblüten faltet. Schließlich ist sie unsere Origami-Meisterin. Und Josephine, du kennst doch sicher auch ein paar Bastelanleitungen für Blumen, oder?«

»Das dürfte kein Problem sein.« Josephine schaute zu May. »Meinst du, wir könnten auch mit Draht und kleinen Metallblättchen arbeiten?«

Mays Augen leuchteten auf. »Du meinst solche, wie Bräute sie oft im Haar tragen? Auf jeden Fall.«

»Man kann auch Blüten häkeln«, warf Helen ein, der diese Idee wesentlich besser zu gefallen schien. »Ich könnte ein paar vorbereiten. Das dauert nicht lange.«

»Das klingt großartig«, erwiderte Nova lächelnd.

Einen Moment lang herrschte Stille, während alle die Idee sacken ließen. Dann schaute May nachdenklich in die Runde. »Und wie binden wir die Männer ein?«

Josephine blinzelte irritiert. »Wie meinst du das?«

»Na ja, bisher hatten wir auch immer etwas weniger Feminines im Angebot«, stimmte Lauren zu. »Rustikale Weihnachtskränze, Vogelhäuschen zimmern und so was …«

»Na und?« Betont gelassen zuckte Josephine mit den Schultern. »Wir sind schließlich ein Ladies Club. Ich finde es nicht schlimm, wenn es mal etwas weiblicher zugeht. Davon abgesehen können ja auch Männer eine Blütenkrone tragen.«

Lauren warf Josephine einen skeptischen Blick zu. »Nenn mir einen, der das freiwillig macht.«

Zugegeben, da musste Josephine erst mal nachdenken.

»Oh!«, rief May plötzlich aus. »Wie wäre das: Wir knüpfen die Aktion an eine Challenge, so was wie: Kröne deine Blütenkönigin!«

Helen lachte. »Also, darauf würde sich mein Mann schon eher einlassen, solange es die Kränze zu kaufen gibt und er nicht selbst einen flechten muss.«

Nun ja, Trevor sicher weniger. Aber Vada würde vielleicht mitmachen.

»Also, ich finde das gut«, sagte Nova und lächelte. »Es legt ja niemand fest, wer wen krönt. Ich könnte einen Kranz für Granny basteln. Darüber würde sie sich sicher freuen.«

»Ich will einen von Ryan.« Grinsend warf Lauren ihr feuerrotes Haar zurück. »Immerhin habe ich mein Leben riskiert, um sein Kind zu gebären. Da steht mir ja wohl die schönste Krone überhaupt zu.«

»Das ist allerdings wahr«, erwiderte Josephine belustigt, und die Frauen begannen mit der Planung.

Da das Blütenfest stets ein riesiges Spektakel mit Theateraufführungen und anderen Attraktionen war, beschlossen die Frauen, an den beiden Wochenenden vor dem eigentlichen Festtag einen Workshop anzubieten, bei dem interessierte Anwohner schon mal in die Kunst des Blütenkranzflechtens reinschnuppern konnten. Dafür galt es zunächst, eine Liste mit den nötigen Materialien zusammenzustellen und Einladungen zu entwerfen und zu verteilen.

Nach unzähligen Festen und Workshops, die der Ladies Club für die Gemeinde konzipiert hatte, waren die Frauen ein eingespieltes Team. Diesmal führte Josephine das Protokoll, um konzentriert zu bleiben.

Allerdings änderte das leider auch nichts daran, dass ihr Herz plötzlich einen Satz machte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, während sie auf den Block in ihrem Schoß starrte. Sie musste nicht auf die Uhr schauen. Sie wusste auch so, was sich verändert hatte.

Aidens Schicht begann.

Kapitel 2 Aiden

»Hey, Stacy«, grüßte Aiden die Stammkellnerin des Nowhere knapp, nachdem er hinter den Bartresen getreten war. Ihm brummte der Schädel. Er hatte gerade stundenlang im hinteren Büro die Buchhaltung und anderen Papierkram erledigt. Seine Laune war also noch beschissener als an normalen Tagen, und sie wurde noch schlechter, als er hörte, dass irgendein schmalziger Countrysong aus der Anlage plärrte.

Er überlegte, diese akustische Folter umgehend zu beenden. Aber Stacy war ganz in Ordnung, und sie trug keine Schuld an dem Scherbenhaufen, der sich sein Leben schimpfte. Sie war sogar eine der wenigen, in deren Miene Aiden nach seiner Rückkehr keine Abscheu hatte erkennen können, obwohl sie schon vor fünfzehn Jahren hier gearbeitet hatte und bestens über alles Bescheid wusste. Insofern sollte Aiden sich wohl zusammenreißen und ihr den Countrymist lassen.

»Hey, Hübscher.« Stacy warf ihm ein Lächeln zu, bevor sie an den Zapfhahn trat und unaufgefordert ein Bier für Old Mick zapfte, der sich in diesem Moment auf seinen üblichen Platz an der Bar schob. Der alte Mann suchte nie Blickkontakt oder kaute Aiden ein Ohr ab. Deshalb kamen sie ganz gut miteinander klar.

Ansonsten war die Bar noch recht spärlich besetzt. Abgesehen von einem Pärchen, das sich am anderen Ende des Tresens gegenseitig mit den Augen auszog, brütete eine Gruppe Backpacker an einem der runden Tische über einer Landkarte. Ansonsten gab es noch den alten Edison, der wie jeden Montag mit zwei Farmern aus der Gegend Skat spielte.

»Noch nicht besonders viel los heute«, bemerkte Stacy, nachdem sie Old Mick versorgt hatte.

Aiden antwortete nicht. Warum sollte er etwas kommentieren, was für alle offensichtlich war? Davon abgesehen war es Montag kurz nach sechs, und draußen schien die Sonne. Da warfen die Leute lieber den Grill an, statt im Nowhere abzuhängen. Aiden sollte das nur recht sein. Ein lauer Abend brachte die Bar nicht in Schwierigkeiten. Dazu lief sie an den Wochenenden viel zu gut.

Kurz überlegte Aiden, Stacy wieder nach Hause zu schicken. Aber dann müsste er die Gäste bedienen, und das war etwas, was er zu vermeiden versuchte. Er blieb lieber hinter der Bar.

Das Elend des Countrysängers nahm endlich ein Ende, und kurz herrschte Stille. Aiden wollte schon erleichtert aufatmen, als er das Gelächter hörte, das im Clubraum der Soul Sisters losbrach.

Jeder Muskel in seinem Körper versteifte sich. Als er am Morgen bei Laurie und seinem Neffen vorbeigeschaut hatte, hatte sie nicht erwähnt, dass sie sich heute mit ihren Freundinnen treffen würde. Deshalb hatte Aiden angenommen, sie würden eine Pause einlegen, nachdem sie erst am Tag zuvor diese riesige, absolut übertriebene Babyparty für Cam geschmissen hatten. Anscheinend war das ein Irrtum.

Angespannt starrte Aiden auf die Tür.

Phee war gleich dahinter.

So nah und doch unerreichbar.

Rein äußerlich hatte sie sich kaum verändert in den letzten Jahren. Ihre Gesichtszüge waren noch immer die der jungen Phee aus seiner Erinnerung. Aber ihr Körper war nun etwas kurviger, und sie hatte die Haare auf Schulterhöhe zu einem langen Bob abgeschnitten. Allerdings vermochte Aiden nicht zu sagen, ob sich ihr Gesicht im Detail verändert hatte, denn abgesehen von ihrer allerersten Begegnung, hatte er ihr nicht noch einmal in die Augen gesehen.

Er konnte es einfach nicht. Da waren zu viel Schmerz und Wut gewesen.

Mehr als er ertragen konnte.

Aidens Lippen verzogen sich zu einem zynischen Grinsen. Jonah hätte ihm wahrscheinlich in den Hintern getreten für seine Feigheit. Aber Jonah war nicht mehr da. Und das war allein Aidens Schuld.

Die Tür ging auf, und Trevor Harris kam gefolgt von Dick Burton und Nigel Graham in die Bar. Soweit Aiden wusste, arbeiteten die drei in dem Versicherungsbüro auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Im Gegensatz zu Phee hatte Harris sich in den letzten Jahren merklich verändert – und zwar nicht zu seinem Vorteil. Sein einst volles, braunes Haar war dünn geworden, und anstelle des Sixpacks von damals füllte ein Wohlstandsbauch das zerknitterte Hemd aus, das er über einer grauen Stoffhose und braunen Slippern trug. Sein Gesicht war aufgedunsen von den vielen Drinks, die er sich im Laufe der Zeit genehmigt hatte. Aber seine Augen waren noch genauso klein und stechend wie früher. Unverhohlener Spott schimmerte darin, als er zu Aiden an die Bar trat.

»Na, du Bastard, bist ja immer noch hier.«

Aiden wich weder zurück, noch würdigte er den Idioten einer Antwort, denn er wusste, dass es Harris ganz verrückt machte, wenn seine dummen Sprüche ins Leere liefen.

Sofort stand Stacy neben Aiden. »Hey, Trevor, was darf’s sein?«

»Drei Bier für mich und meine Freunde.« Er deutete in einer ausladenden Geste hinter sich zu dem Tisch, den Dick und Nigel inzwischen besetzt hatten, ohne Aiden aus den Augen zu lassen. »Du weißt doch, was Freunde sind, oder, McGreedy?«

Aiden schwieg weiter, woraufhin Harris sich theatralisch die fleischige Hand vor die Stirn klatschte. »Ach, richtig, das hatte ich fast vergessen. Du hältst ja nicht viel von Freundschaften.« Sein Grinsen wurde grausam. »Den einzigen Typen, der je so dämlich war, dir zu vertrauen, hast du immerhin von der Falkon Bridge geschubst.«

Stacy schnappte nach Luft, aber Aiden schaffte es, ruhig zu bleiben, obwohl es ihn einige Mühe kostete, nicht über den Tresen zu springen und dem Kerl eine reinzuhauen. Stattdessen hob er spöttisch eine Braue. »Bist du fertig?«

Als Harris begriff, dass Aiden nicht auf seine Provokation eingehen würde, wurde er rot vor Verärgerung. »Noch lange nicht, Arschloch.«

Davon war Aiden auch nicht ausgegangen.

»Setz dich schon mal«, sagte Stacy schnell. »Ich bin gleich mit euren Bieren da.«

Es war offensichtlich, dass sie versuchte, die Situation zu deeskalieren. Aber sie hätte sich die Mühe sparen können. Aiden würde sich niemals von einem Honk wie Trevor Harris aus der Reserve locken lassen. Vielleicht sollte er das später noch einmal klarstellen, wenn sie wieder unter sich waren.

Nichtsdestotrotz schlug Stacy einen sanften Tonfall an. »Komm schon, Trevor. Mach keinen Ärger. Die Woche hat gerade erst angefangen.«

»Das hatte ich nicht vor«, antwortete Harris, bevor er Aiden angrinste. »Ich bin bloß hier, um meine Frau abzuholen. Wir haben noch Pläne für heute Abend. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber sie wird definitiv genießen, was ich mit ihr vorhabe.«

Okay, na schön, vielleicht ließ Aiden sich doch aus der Reserve locken. Sein Puls begann jedenfalls zu kochen, sobald die Sprache auf Phee kam.

Stacy lachte. »Wenn du dabei an eine Fußmassage denkst, mit Sicherheit.«

Phee war kitzlig an den Füßen. Deshalb konnte sie es nicht leiden, wenn sie jemand dort berührte.

»Meine Frau steht nicht auf Fußmassagen.« Harris leckte sich über die Unterlippe. »Sie will lieber an anderen Stellen gekitzelt werden.«

Aiden ballte die Hände zu Fäusten. Im ersten Moment wusste er nicht, was ihn mehr ankotzte: die Tatsache, dass Harris diesen lustigen Spleen von Phee kannte oder die Bilder, die ihm Harris mit seiner Äußerung in den Kopf gepflanzt hatte. Aber bei genauerer Überlegung … Letzteres.

Definitiv Letzteres.

»Jetzt hör schon auf anzugeben«, sagte Stacy. Sie klang belustigt, aber Aiden kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie sich gerade keineswegs amüsierte. Schon gar nicht über derart geschmacklose Witze auf Kosten anderer. Ungeduldig winkte sie Harris weg. »Ich komme in einer Minute zu euch.«

Obwohl Aiden inzwischen vor Wut kochte, schaute er Harris ungerührt an, bis dieser endlich einknickte und zu seinen Freunden stolzierte. Die klopften ihm sogleich für seine witzigen Kommentare auf die Schulter.

Gott! Es war genau wie früher.

Angewidert wandte Aiden den Blick ab. »Ich bin im Büro, falls was sein sollte«, sagte er zu Stacy, wartete ihre Antwort jedoch nicht ab, sondern marschierte wieder nach hinten. Er hatte wirklich vor, bei der nächsten Tür in den Raum auf der rechten Seite abzubiegen. Aber stattdessen lief er geradeaus weiter und durch die Hintertür hinaus in den Hof.

Die Luft war angenehm kühl. Trotzdem vermochte sie es nicht, Aiden zu beruhigen. Also lief er einfach weiter. Er überquerte erst den Hinterhof, dann die Hauptstraße und marschierte am Park vorbei, ohne überhaupt nach links oder rechts zu sehen.

Ihm war es egal, was die Leute von ihm hielten. Sie hatten sich ihre Meinung über ihn sowieso vor langer Zeit gebildet.

Seht her! Da ist Aiden McGreedy. Er hat seinen besten Freund getötet.

Ein Stich jagte durch Aidens Brust, und er beschleunigte leise zischend sein Tempo. Die Versuchung war groß, zu rennen. Aber wenn er einmal damit anfing, würde er so schnell nicht mehr damit aufhören können, und so, wie er gerade drauf war, standen die Chancen gut, dass er Goodville meilenweit hinter sich lassen würde.

Die Straße führte nach Westen, wo sich fein säuberlich Privatgrundstücke aneinanderreihten. Natürlich waren auch diese Häuser mit grässlichen Pastellfarben gestrichen, die Rasen in den Vorgärten fein säuberlich gestutzt, und alles schrie nur so nach Idylle.

Ein bitteres Lachen platzte aus Aiden heraus.

Jonah hatte diese Idylle geliebt, auch wenn er andauernd das Gegenteil behauptet hatte. Das Leben hier war unspektakulär gewesen. Aber dafür konnten Jonah, Phee und Aiden den ganzen Tag durch die umliegenden Wälder streifen, ohne dass ihre überfürsorgliche Mom deswegen ausflippte.

Und dann starb Jonah ausgerechnet in einem Fluss.

Aidens Brust schnürte sich so stark zusammen, dass er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Wäre er normal gewesen, wäre er jetzt vermutlich der Panik nahe. Aber ihm war der Schmerz vertraut. Immerhin lebte er seit gut fünfzehn Jahren jeden verdammten Tag damit.

Manchmal fragte Aiden sich, wann die Zeit endlich anfangen würde, seine Qualen zu lindern. Doch dann lachte ihm das Schicksal ins Gesicht und setzte ihm Typen wie Trevor Harris vor die Nase.

Was für ein Wichser.

Aufgewühlt kickte Aiden einen Stein aus dem Weg, der gegen einen Lattenzaun knallte und den Pfad entlangkullerte, welcher sich zwischen zwei Grundstücken erstreckte. Aiden folgte ihm.

Was zur Hölle hatte Phee sich bloß dabei gedacht, diesen Vollidioten zu heiraten?

Diese Frage quälte Aiden nun schon, seit er in diese verfluchte Stadt zurückgekehrt war. Aber selbst nachdem er die beiden aus der Ferne beobachtet hatte, verstand er es nicht.

Harris behandelte Phee die meiste Zeit wie Luft, es sei denn, er heuchelte vor den Deppen aus dem Stadtrat den fürsorglichen Gatten. Es gab sogar Gerüchte, die ihm nicht nur eine, sondern gleich mehrere Affären unterstellten. Allerdings waren das Geschichten, deren Ursprung auf Klatschweiber wie Ashlyn Johnson oder Patty Graham zurückzuführen waren. Insofern konnten sie genauso gut totaler Müll sein.

Aiden hatte überlegt, Lauren zu fragen, ob etwas an dem Gerede dran war. Schließlich war sie inzwischen gut mit Phee befreundet. Aber er hatte sich gerade noch davon abhalten können. Schließlich ging es ihn nichts an, was Phee tat.

Der Trampelpfad führte direkt in den Waldstreifen, der die Stadt von einem südlichen Ausläufer des Avon River trennte. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages brachen zwischen den Rotbuchen, Pappeln und Tannen hindurch und tauchten alles in warmes Licht. Zwischen den Bäumen verteilten sich Holunder- und Beerensträucher. Einige blühten bereits, und ihr süßlicher Duft vermischte sich mit dem würzigen Aroma des Holzes. Efeu rankte sich über den Boden. Vereinzelt konnte Aiden auch das Rascheln der Tiere hören, die über ihm durch die Baumkronen schossen oder nicht weit entfernt über den Boden wuselten.

Zweige knackten unter seinen Schuhsohlen, während er querfeldein durch das Dickicht wanderte. Erst als er schon sehr weit in das Innere des Waldes vorgedrungen war, blieb er abrupt stehen und starrte auf die Büsche vor ihm. Er wusste genau, was sich dahinter befand. Sein Herz begann zu rasen, als ihm klar wurde, dass er unbewusst genau zu jenem Ort gegangen war, den er seit seiner Rückkehr konsequent mied.

Zu dem Baumhaus, das er mit Jonah und Phee gebaut hatte.

Über zwanzig Jahre war das jetzt her. Trotzdem waren Aidens Erinnerungen an diese unbescholtene Zeit noch so präsent, als hätten sie erst gestern die Holzlatten durch das Dickicht geschleppt.

Er sollte umkehren.

Zu sehen, dass der glücklichste Platz seiner Kindheit komplett verrottet oder vielleicht sogar abgerissen worden war, würde ihm nur noch mehr zusetzen. Dabei wusste er jetzt schon nicht, wie er den Abend mit Trevor – Schwachkopf – Harris ertragen sollte, während Phee sich gleich nebenan mit ihren Freundinnen amüsierte.

Nicht dass Aiden ihr das nicht gönnte.

Phee hatte immer viele Freundinnen gehabt, obwohl sie nie jemand gewesen war, der aktiv nach Aufmerksamkeit suchte.

Im Gegensatz zu Jonah.

Er hatte es geliebt, von allen bewundert zu werden. Dennoch hatte er Aiden niemals hängen lassen, um mehr Zeit mit den beliebteren Kids der Highschool zu verbringen. Stattdessen war er jeden Nachmittag zum Baumhaus gekommen. Er war ein wirklich guter Freund gewesen.

Und wie hatte Aiden es ihm gedankt?

Schmerz und Schuldgefühle krampften seinen Magen zusammen. Doch statt den Rückzug anzutreten, trugen ihn seine Beine vorwärts. Er war sich sicher, dass ihr einstiger heiliger Ort inzwischen kaum mehr zu erkennen war. Zumindest hoffte er, dass es so war. Denn er verdiente es nicht anders.

Allerdings täuschte er sich.

Karmesinrot blitzte zwischen den Zweigen auf, und wie paralysiert streckte Aiden die Hand aus, um sich einen Weg zu bahnen. Er musste mehrfach blinzeln, bis er glauben konnte, was er sah.

In etwa fünf Metern Höhe, zwischen zwei uralten Buchen, befand sich keine abgerockte Holzruine, sondern ein hübsches, buntes Häuschen auf einem breiten Holzplateau. Die Seitenwände waren rot gestrichen, die Fensterrahmen grün, das Dach violett, und die kleine Veranda, die die Vorderseite des Hauses umschloss, bestand aus blauen und gelben Latten. In denselben Farben waren die Sprossen der provisorischen Leiter gehalten, die hinaufführte. Eine Lichterkette zog sich unterhalb der weißen Dachrinne entlang, und auf einem Eckpfosten stand ein Blumentopf, in dem eine Pflanze mit gelben Blüten wuchs.

Gelb war Jonahs Lieblingsfarbe gewesen.

Ob das Phees Werk war? Oder nutzten inzwischen andere Kinder diesen Ort?

Aidens Herz begann zu rasen, während ihn die Neugier weiter vorantrieb. Er wollte unbedingt wissen, wie das Haus von innen aussah. Deshalb stieg er auf die untere Latte und zog sich langsam hoch. Das Holz knarzte unter seinem Gewicht, hielt ihn aber sicher.

Er kletterte sieben Sprossen hinauf und reckte den Kopf, um in das Haus zu spähen, doch bevor er irgendetwas erkennen konnte, erklang ein schriller Schrei, und etwas traf ihn hart vor den Kopf.

Bevor Aiden realisieren konnte, was passierte, folgte ein Tritt gegen seine Schulter, und schon flog er rücklings von der Leiter. Diesmal schoss ein Stich ganz anderer Qualität durch sein Steißbein, als er hart auf dem Hintern landete.

Für einen kurzen Moment klingelten ihm die Ohren. Erst glaubte er, das lag daran, dass er mit dem Hinterkopf gegen einen Baumstamm geknallt war. Dann wurde ihm klar, dass da oben im Baumhaus noch immer jemand schrie.

Ruckartig hob Aiden den Kopf.

Ein schlankes Mädchen hockte auf der Plattform. Wahrscheinlich hatte Aiden sie zu Tode erschreckt. Aber sie hatte keine Angst, sondern war fuchsteufelswild. Sie holte aus und warf das Buch in ihrer Hand nach Aiden, und er musste tatsächlich ausweichen, damit sein Schädel nicht schon wieder einen Schlag kassierte.

»Hau sofort ab!«, schrie das Mädchen. »Ich warne dich!«

Aiden richtete sich auf, um ihr zu sagen, dass sie keine Angst haben musste. Doch da kam bereits ein Chuck angeflogen. Zum Glück war der Schuh weich, denn diesmal war er zu langsam und wurde am Arm getroffen.

»Los! Verschwinde!«

Entgeistert starrte Aiden zu dem Mädchen hinauf. Er war sich sicher zu träumen. Ihr langes, blondes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, und ihre feinen Gesichtszüge ähnelten Phees so sehr, dass Aiden glaubte, wieder zwölf Jahre alt zu sein. »Phee?«

Das Mädchen, das gerade dabei war, sich den zweiten Chuck vom Fuß zu ziehen, hielt plötzlich inne und lugte über die Kante der Plattform. Ihre Stirn war gerunzelt, aber ihre Augen … das war unverkennbar Josephine.

Aber wie war das möglich?

Sie legte den Kopf schief. »Ich kenne dich.«

Gütiger Gott! Sie klang sogar wie Phee. Aiden stieß ein ersticktes Lachen aus. Hatte er sich bei dem Sturz das Genick gebrochen und wider Erwarten den Weg in seinen Himmel gefunden?

»Du bist Aiden McGreedy«, fuhr sie fort und reckte das Kinn. Trotz schimmerte in ihren blauen Augen. »Dad sagt, du bist schuld an Onkel Jonahs Tod.«

Jeglicher Muskel in Aidens Körper versteifte sich. Nicht aufgrund ihrer Worte, sondern weil ihm endlich dämmerte, wen er hier vor sich hatte.

Das war nicht Phee, sondern Vada. Ihre Tochter.

Natürlich! Wie dumm von ihm.

Er hatte das Mädchen bisher nur zweimal aus der Ferne gesehen, aber sie nie genauer betrachtet. Das war etwas, das er einfach nie über sich gebracht hatte.

»Kannst du nicht sprechen?«, fragte das Mädchen.

Kraftlos lehnte Aiden sich an den Baumstamm in seinem Rücken und schaute zu ihr empor. »Doch.«

»Und warum sagst du dann nichts?«

Aiden zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.« Außer dass er tatsächlich die Schuld am Tod ihres Onkels trug. Allerdings hätte er sich eher die Zunge abgebissen, als Trevor Harris recht zu geben.

Sie musterte ihn argwöhnisch. »Warum hast du mich Phee genannt?«

Weil ich dachte, du wärst das Mädchen meiner Träume …

Aiden war sich ziemlich sicher, dass das keine adäquate Antwort war. Aber so wie Vada ihn ansah, hatte sie das schon einmal gehört. »Woher kennst du diesen Namen?«

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, klopfte sie auf das Holz. »Er steht hier.«

Nach all den Jahren?

Voller Unglauben starrte Aiden sie an. Er wäre am liebsten auf die Füße gesprungen, um es selbst zu sehen. Aber er wollte das Mädchen nicht verschrecken.

»Und steht da noch mehr?«, fragte er heiser.

Vada zögerte. »Da ist eingeritzt: Dieses Haus gehört Light Knight, Red Rider und Phantastic Phee.« Sie funkelte ihn kampflustig an. »Ich habe das Haus letzten Sommer gefunden. Als niemand kam, hab ich angefangen, es zu renovieren. Jetzt gehört es mir.«

»Verstehe.« Es war Vada anzumerken, dass sie Angst hatte, diesen Ort wieder zu verlieren. Aber die musste sie nicht haben. »Phee«, sagte Aiden langsam, und ein Schauer rieselte seinen Nacken hinab. Es war das erste Mal seit Monaten, dass er diesen Namen wieder laut aussprach. »Das war der Spitzname deiner Mutter, als wir jung waren.«

Vadas Augen weiteten sich. »Soll das heißen, Phantastic Phee ist meine Mom?«

»Jepp.« Wehmut krampfte Aidens Herz zusammen. »Und Light Knight war Jonah.«

Vada musterte seinen rostroten Haarschopf. »Und du bist Red Rider?«

»Ja.« Aiden lachte leise auf. Der Laut klang fremd in seinen Ohren. »Aber nicht wegen meiner Haarfarbe, sondern weil ich damals ein ziemlich cooles rotes Bike hatte.«

Zum ersten Mal hoben sich Vadas Lippen zu einem zaghaften Lächeln. »Du kanntest meinen Onkel.«

Aiden nickte. »Er war mein bester Freund.«

Unzählige Fragen erschienen im Gesicht des Mädchens. Aber Aiden war nicht gewillt, sich ihnen zu stellen. Er überlegte aufzustehen und zu gehen. Das wäre sicher am klügsten gewesen. Andererseits war sie Phees Tochter, und in Aiden regte sich ein Hauch von Neugier, wie sie wohl war. Sein Blick fiel auf das Buch, mit dem sie nach ihm geworfen hatte. Es lag nur einen halben Meter von ihm entfernt.

Reflexartig streckte Aiden die Hand aus. Eigentlich interessierte es ihn nicht sonderlich, was eine Zwölfjährige las. Allerdings war dieses Thema sicher das kleinere Übel verglichen mit Jonahs Tod. Dem schwarzen Leineneinband nach musste es sich um ein älteres Buch handeln, denn soweit Aiden wusste, war neuere Jugendliteratur mit aufwendigen Covern gestaltet.

»Hey! Was machst du da?«, rief Vada erschrocken.

Aiden ignorierte sie und klappte das Buch auf. Die erste Seite enthielt allerdings nicht den Buchtitel, sondern eine Zeichnung – und zwar eine verdammt gute.

Sie zeigte die Berkin Bridge, eine alte, überdachte Holzbrücke im Norden von Goodville, die zu Aidens Highschoolzeit besonders beliebt unter Liebespärchen gewesen war, weil sie inmitten des Waldes eine äußerst romantische Atmosphäre bot.

Schon auf den ersten Blick war zu erkennen, dass Vada einen ähnlichen Zeichenstil besaß wie Jonah. Ihre Striche waren leicht und fließend, und die Details waren erstaunlich präzise für eine Zwölfjährige.

»Du hast eine gute Beobachtungsgabe«, stellte Aiden fest und schaute nun wieder zu dem Mädchen auf. »Das ist eine großartige Zeichnung.«

Ziemlich sicher war das das Netteste, was er seit langer Zeit von sich gegeben hatte.

Vadas Wangen nahmen einen zarten Rotton an, während sie lässig mit den schmalen Schultern zuckte. »Ist doch nix Besonderes.«

Da war Aiden anderer Meinung. Er hob das Buch ein Stück höher. »Darf ich?«

Sie biss sich unschlüssig auf die Unterlippe, nickte jedoch, woraufhin er neugierig weiterblätterte. Die nächsten Seiten zeigten verschiedene Naturstudien. Blüten, Blätter, Tannenzapfen und auch ein paar Bäume. Sie waren in ihrer Textur unglaublich gut ausgearbeitet, obwohl Vada Licht- und Schatteneffekte oft vernachlässigte.

Erneut musste Aiden lächeln. Mit Jonah war das auch immer so ein Kampf gewesen, weil er oft zu faul war, alles aus einer Zeichnung herauszuholen. Er war wesentlich genügsamer mit seinen Bildern gewesen als Aiden.

»Und?«, fragte Vada, während er die Zeichnung, an der sie zuletzt gearbeitet hatte, aufmerksam betrachtete. Sie hatte an einem komplex verzweigten Wurzelwerk an einem Hang gearbeitet. »Wie findest du es?«

Nachdenklich ließ Aiden das Buch sinken und hob den Kopf.

Vada wirkte genauso selbstbewusst wie Jonah. Sie wusste, dass die Zeichnungen gut waren. Und doch schimmerte auch ein Hauch Unsicherheit in ihren Augen.

»Wirklich gut.« Aiden hob einen Mundwinkel. »Du bist genauso begabt wie Jonah.«

Eigentlich war Aiden überzeugt, das Mädchen würde sich über das Kompliment freuen. Doch sie runzelte irritiert die Stirn. »Mein Onkel hat gezeichnet?«

Sofort fiel Aidens kleines Lächeln wieder in sich zusammen. Er war nicht minder verwirrt. »Wusstest du das nicht?«

»Nein.« Vada verzog das Gesicht. »Mom redet nicht über ihn.«

Entsetzen machte sich in Aiden breit. »Was?«

»Ich glaube, es tut ihr zu sehr weh«, erklärte Vada und verschränkte angespannt die Arme. »Bei Grandma stehen ziemlich viele Fotos von ihm. Auf dem letzten war er vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Er sah nett aus.«

»Das war er.« Aiden schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter und schaute unsicher zu dem Mädchen empor. »Was ist mit deinen Großeltern? Sprechen sie nie von ihm?«

Vada zögerte. »Ich kenne meinen Großvater nicht. Er hat Grandma verlassen, nachdem das passiert ist, und sie ist jedes Mal wütend geworden, wenn ich sie nach Jonah gefragt habe. Also hab ich es irgendwann nicht mehr getan.« Betrübt zuckte sie mit den Schultern. »Im Grunde weiß ich also gar nichts über ihn.«

Aiden hatte Mühe, seinen Schock zu verbergen. Früher waren die Carters für ihn das Sinnbild einer perfekten Familie gewesen. Deshalb hatte Aiden sich bei ihnen immer am wohlsten gefühlt.