Lynnwood Falls – Sommer der Liebe - Helen Paris - E-Book
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Lynnwood Falls – Sommer der Liebe E-Book

Helen Paris

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Beschreibung

Wo die Liebe auf dich wartet ...

Hope ist erfolgreiche Tierärztin in New York und führt ein schönes Leben mit ihrem Freund Colin. Bis ein familiärer Notfall sie dazu zwingt, in ihre Heimatstadt zurückzukehren: Lynnwood Falls. Hope will vorübergehend in der Tierarztpraxis ihrer Eltern aushelfen, in der auch Ryan arbeitet - ihre erste große Liebe. Doch die Beziehung ist vor Jahren im Streit auseinandergebrochen. Viele Dinge stehen zwischen ihnen, weshalb sie immer wieder aneinandergeraten. Hope will so schnell wie möglich wieder zurück nach New York. Gleichzeitig fühlt sie sich in der beschaulichen Kleinstadt seit langem erstmals wieder geborgen. Und dann bringt ausgerechnet Ryan ihre Vorsätze zum Schmelzen ...

Der erste Band der romantischen Reihe rund um die kleine Stadt Lynnwood Falls in Maine, in der verlorene Herzen ein Zuhause finden.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Leseprobe

1. Kapitel

Über dieses Buch

Hope ist erfolgreiche Tierärztin in New York und führt ein schönes Leben mit ihrem Freund Colin. Bis ein familiärer Notfall sie dazu zwingt, in ihre Heimatstadt zurückzukehren: Lynnwood Falls. Hope will vorübergehend in der Tierarztpraxis ihrer Eltern aushelfen, in der auch Ryan arbeitet – ihre erste große Liebe. Doch die Beziehung ist vor Jahren im Streit auseinandergebrochen. Viele Dinge stehen zwischen ihnen, weshalb sie immer wieder aneinandergeraten. Hope will so schnell wie möglich wieder zurück nach New York. Gleichzeitig fühlt sie sich in der beschaulichen Kleinstadt seit langem erstmals wieder geborgen. Und dann bringt ausgerechnet Ryan ihre Vorsätze zum Schmelzen ...

Über die Autorin

Helen Paris liebt das Abtauchen in fremde Welten, ob virtuell in Geschichten oder auf ihren Reisen rund um den Globus. Seit knapp zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann zeitweise auf ihrem Segelkatamaran und ist auf allen Weltmeeren unterwegs. Eine halbjährige Reise quer durch Nordamerika mit Schiff und Wohnmobil hat ihre Liebe zu diesem vielseitigen Kontinent geweckt.

Helen Paris

Lynnwood Falls – Sommer der Liebe

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras

Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer

Covergestaltung: © Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven © iStockphoto: PeopleImages; © shutterstock: icealien | tomertu | Tanya Sun

e-Book-Produktion: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-9415-3

be-ebooks.de

lesejury.de

Kapitel 1

Hope

New York

Die Wirkung der Narkose ließ allmählich nach. Die großen Ohren der Französischen Bulldogge bewegten sich leicht, als Hope sich zu ihr hinunterbeugte, ihren massigen Hals kraulte und ihr zuraunte: »So, jetzt hast du es geschafft, meine Gute. Nun müssen wir nur noch sehen, wie wir deiner Mummy möglichst schonend beibringen, dass sie dich vernünftiger ernähren soll.«

Hope sah auf die Uhr, die kurz vor halb drei anzeigte, und nickte ihrer TFA Lara, der Tiermedizinischen Fachangestellten, zu, um deren Mundwinkel ein Schmunzeln zuckte. »Der Venenkatheter kann gezogen werden. Und geben Sie bitte Mrs Carrington Bescheid, dass sie ab circa fünfzehn Uhr vorbeikommen kann, wann immer es ihr zeitlich passt. Lassen Sie mich bitte informieren, wenn sie unten am Eingang ist.«

Lara lächelte. »In Ordnung, Doktor Archer.«

Hope blieb somit noch genug Zeit, sich die Ergebnisse der zurückliegenden Kernspintomografie anzusehen und sich den Papieren auf ihrem Schreibtisch zu widmen. Das Quietschen ihrer Sohlen auf dem schieferfarbenen Linoleum übertönte die dezenten Klassikklänge, die aus den verborgenen Lautsprechern drangen, als sie den Gang in Richtung ihres Büros hinuntereilte. Von irgendwoher zog Kaffeeduft zu ihr herüber. Genießerisch hob sie die Nase und sog den Geruch ein. Sie könnte jetzt auch einen Kaffee gebrauchen.

Sie bat ihre Sekretärin um einen Cappuccino und schloss die Bürotür hinter sich. Die makellosen weißen Möbel wurden vom hereinfallenden Sonnenlicht in einen hellen Schein getaucht. Heute war ein herrlicher Tag, endlich war das Wetter dem Mai würdig.

Hope trat ans Fenster. Nicht nur hier drin wirkte durch die elegante Einrichtung alles hell und freundlich, auch draußen schimmerte der nördliche Central Park wie frisch gewaschen nach dem Dauerregen der letzten Wochen. Hope riss sich nur widerwillig von dem Anblick des sonnigen Tages los und ließ sich in das weiche, weiße Leder des Bürostuhls sinken. Sie kippte ihn nach hinten und schloss für einen Moment die Augen.

Der Vormittag war anstrengend gewesen, vor allem die Operation am Kreuzband einer Bordeaux Dogge. Nur schwerlich widerstand Hope der Versuchung, die Füße auf den gläsernen Schreibtisch zu legen, doch ihr Kaffee wurde sicherlich gleich gebracht. Resolut setzte sie sich auf, es gab genug zu tun. Sie zog das Smartphone aus der Hosentasche. Ihre Uhr, die mit dem Telefon verbunden war, hatte vorhin einen Anruf vermerkt, als keine Zeit gewesen war, sich darum zu kümmern. Vielleicht hatte Colin sich gemeldet? Doch das Display zeigte nicht die Nummer ihres Freundes, sondern einen verpassten Anruf ihrer Mutter an.

Kurz überlegte sie, den Rückruf auf den Abend zu verschieben, aber vielleicht war es wichtig. Normalerweise rief ihre Mutter sie tagsüber nur in seltenen Fällen an. Unruhe überkam Hope, und sie drückte die Rückruftaste.

Mary Archer nahm direkt beim ersten Läuten ab, als hätte sie am Telefon gesessen. Was gut möglich war. Die Tierarztpraxis ihrer Eltern war schließlich quasi dauerhaft besetzt.

»Sweetheart! Wie schön, dass du anrufst!« Ihre Mutter klang auch mit fünfundfünfzig noch wie ein junges Mädchen, und die Freude war ihrer Stimme deutlich anzuhören. Wenigstens war sie wohl nicht besorgt! Erleichterung durchflutete Hope.

»Hi, Mom! Ich hatte gesehen, dass du versucht hast, mich zu erreichen. Gibt‘s etwas Wichtiges?«

Ihre Mutter lachte, doch in der Fröhlichkeit schwang ein Unterton mit, den Hope nicht deuten konnte. »Muss es etwas Wichtiges geben, damit ich mich bei meiner Tochter melden darf?«, fragte sie in gutmütigem Spott.

»Nun ja, du rufst sonst selten bei der Arbeit an.« Hope versuchte, mit einem Lachen den leichten Vorwurf zu kaschieren, den sie selbst heraushörte.

»Oh, du arbeitest am Samstag? Gab es einen Notfall?«

Hope schob unwillig die Unterlippe vor. Glaubte ihre Mutter denn, es wäre das Privileg einer Landarztpraxis wie der ihrigen, Tag und Nacht erreichbar zu sein? Hätte ihre Tochter auf einem Nine-to-five-Job beharrt, wäre sie nicht mit dreißig Jahren zur Leiterin der Orthopädie-Abteilung in einer der renommiertesten Tierkliniken im gesamten Nordosten der Vereinigten Staaten ernannt worden. Ansässig in der Upper East Side in New York – das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen! Auch sie musste hart für den Erfolg arbeiten. Das zahlte sich schließlich aus; ihr Name wurde bereits lobend in Fachzeitschriften erwähnt. Dr. Hope Archer war jemand, über den man sprach! Doch das sagte sie besser nicht.

»Einen Notfall?«, echote sie stattdessen.

Waren Haltungsschäden eines Löwenäffchens, hervorgerufen dadurch, dass der Schneider seine Weste zu eng genäht hatte, wirklich dringlich? Oder die schiefe Gangart eines Chihuahuas, weil seine Krallen durch das ständige Herumtragen im Täschchen zu lang waren? War die Französische Bulldogge ein Notfall, nur weil ihre Besitzerin Mrs Carrington gerade heute von ihrem Wohnsitz aus Long Island vorbeikam, um sie untersuchen zu lassen? Weil sie samstags immer in der dem Klinikum angrenzenden Fifth Avenue einkaufen ging und ihren Liebling nicht allein in der Obhut der Hundesitterin zur Untersuchung schicken wollte, da sie selbst später die Ergebnisse besprechen wollte?

»Ich hatte heute Morgen eine OP«, murmelte Hope schließlich, ohne zu erwähnen, dass es ein Kreuzband gewesen war, das im Grunde nicht so dringlich gewesen wäre, dass es am Samstag hätte operiert werden müssen. Aber sie hatte sich nach den Terminen der finanzstarken Besitzer zu richten, da kamen Ausnahmen durchaus vor. So nahe sie sich standen und obwohl sie von ihren Eltern nie einen Vorwurf gehört hatte – ja, die beiden ermunterten sie sogar zu ihrer Karriere –, so spürte sie doch instinktiv, dass es ihnen lieber gewesen wäre, wenn sie in die elterliche Praxis eingestiegen wäre, wie ursprünglich zu Beginn ihres Veterinärmedizin-Studiums geplant.

Bevor ihre Mutter näher darauf eingehen und sie nach ihren Fällen fragen konnte, setzte Hope schnell hinzu: »Wie läuft es bei euch? Was macht Pops?«

»Der alte Hank hat eine trächtige Elchkuh angefahren. Dein Vater und Ryan sind noch dort. Ich denke, sie mussten das Kalb holen.«

»Ach, herrje!«, gab Hope bestürzt zurück und redete sich ein, dass ihr Herzschlag sich durch den Gedanken an das Unglück beschleunigt hatte und nicht durch Erwähnung ihres Ex-Freundes. Der nun an ihrer statt in die Praxis ihrer Eltern eingestiegen war. Ryan. Ihre Jugendliebe. Ihr erster richtiger Freund. Unwillkürlich vermeinte sie, den Duft nach Kiefern zu riechen, spürte den weichen Waldboden in ihrem Rücken, hörte das sanfte Murmeln des Williams Creek und das Rauschen des Windes in den Bäumen. Sah Ryans zerzauste kastanienbraune Haare und das übermütige Grinsen vor sich, das ihm stets einen verschmitzten Ausdruck verlieh und seine dunklen Augen zum Funkeln brachte. Sah die tiefe Zuneigung in seinem Blick, als er sich zu ihr hinunterbeugte …

»Weißt du schon mehr über die Elche?«, warf sie schnell ein und fragte sich, warum bei Gesprächen mit ihrer Mutter stets sämtliche Überlegungen über ihr Leben über sie hereinbrachen.

»Nein, ich werde es nachher erfahren, wenn die Männer heimkommen«, kam es pragmatisch wie immer zurück. Obwohl ihr das Leid der Tiere sehr naheging, würde ihre Mom es nie zeigen, dazu war sie als TFA professionell genug.

In dem Moment klopfte es an der Tür, und Hopes Sekretärin kam mit einer Kaffeetasse herein, die sie auf dem Schreibtisch abstellte. In den Milchschaum war ein Farnblatt gezeichnet. Hope lächelte ihr zu und formte mit den Lippen ein »Danke«.

»Mom, ich muss noch ein paar Sachen erledigen. Lass uns heute Abend …«, da fiel ihr ein, dass sie mit ihrem Freund einen Termin hatte, »nein, heute Abend bin ich mit Colin bei einem Violinkonzert im Madison Square Garden. Eingeladen von wichtigen Förderern unserer Klinik.« Den Stolz konnte sie nicht ganz aus ihrer Stimme fernhalten. Schließlich stand auch ihr eigener Name auf den Einladungen, seit sie selbst eine der leitenden Fachtierärzte war, und sie war nicht mehr nur das Anhängsel des großen Dr. Colin Harper, des Chef-Kardiologen der Veterinärklinik.

»Oh, wie schön!« Doch eine echte Begeisterung schwang nicht in den Worten mit.

Hope unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Sie spürte selbst, wie sich ihre Interessen hier in der Großstadt zunehmend von denen ihrer Eltern auf dem Land entfernten. »Lass uns morgen noch mal telefonieren, okay?«

Die Antwort ließ auf sich warten. »Natürlich, Liebes. Und wenn du am Wochenende zu beschäftigt bist …«

»Ich finde schon Zeit zum Telefonieren«, unterbrach Hope sie und schaffte es nicht ganz, die Ungehaltenheit zu unterdrückten.

»In Ordnung. Dann mach’s gut.« Klang ihre Mutter enttäuscht?

»Ich hab dich lieb, Mom«, lenkte sie ein. Und das kam von Herzen.

»Ich dich auch, Sweetheart.« Nun sprach wieder Wärme aus ihrer Stimme.

Als Hope aufgelegt hatte, fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, was ihre Mutter eigentlich von ihr gewollt hatte. Unterschwellig war da etwas Wichtiges gewesen. Doch das würde sie lieber in Ruhe herausfinden; zum Grübeln blieb jetzt keine Zeit. Eine Mrs Carrington ließ man nicht warten, auch wenn das Wartezimmer der Klinik vom Ambiente her eher einer mondänen VIP-Lounge glich, mit Sesseln, in denen man regelrecht versinken konnte.

Hope schaffte es gerade, sich die Röntgenbilder und die Ergebnisse des MRT ihres nächsten vierbeinigen Patienten anzusehen und die wichtigsten beiden Berichte für ihre Sekretärin zu diktieren, die am Montag auf dem Tisch des Chefarztes liegen mussten, als Lara sie rief. Schnell schlüpfte sie in ein frisches Oberteil.

Auch der vorwiegend in Hellblau gehaltene Aufwachraum wirkte eher wie ein gemütliches Wohnzimmer mit einer kuscheligen Sitzecke. Die Hündin lag bereits davor auf einer weichen Decke und blinzelte verschlafen, als Mrs Carrington, eingehüllt in eine Wolke teuren Parfüms, hereingerauscht kam. Vermutlich waren diverse exquisite Duftwässerchen in die Einkaufstaschen gewandert, die sie bei sich trug. Die kleine drahtige Frau verströmte für ihr Alter – sie war sicherlich weit über sechzig – eine ansteckende Energie, die einen unwillkürlich mitriss.

Hope beugte sich nach unten und tätschelte die überdimensionalen Speckringe der Französischen Bulldogge. »Schau mal, Whoopey, deine Mummy ist da!«

»Hat mein Darling eine schlimme Krankheit, Doktor Archer?« Die Angst um ihren Liebling stand Mrs Carrington ins Gesicht geschrieben. Sorgenfalten gruben sich in die glatt geliftete Stirn. Nervös ließ sie sich auf der Sesselkante nieder und drehte die lange Perlenkette um ihren Zeigefinger.

Die Hündin spitzte die großen Ohren, als wollte sie kein Wort von der Antwort verpassen. Sie röchelte mitleiderregend. Hope kraulte sie am Hals, wofür die Kleine ihr dankbar die Hand leckte und mit dem Stummelschwänzchen wackelte.

Es kostete Hope Kraft, die wahren Gedanken hinter Professionalität zu verstecken. Zu gern hätte sie die selbst so schlanke Dame gefragt, warum sie eigentlich ihren Hund so mästete; das grenzte schon an Tierquälerei. Von dem sonst eher drahtigen Körperbau einer Französischen Bulldogge war bei Whoopey nichts mehr zu sehen. Die Hündin glich mehr einem Mops. Hope riss sich zusammen und lächelte die Hundebesitzerin an. »Es gibt erste Anzeichen von Arthrose, aber es zeigen sich noch keine relevanten Schädigungen.« Doch die Ermahnung durfte sie Mrs Carrington zum Wohl der Hündin nicht ersparen. »Whoopeys starkes Übergewicht ist Gift für ihre Gelenke. Sie sollten in nächster Zeit unbedingt auf die Ernährung achten. Es gibt spezielle Diät-Hundefutter, die …«

»Meine Köchin bereitet die Mahlzeiten für Whoopey selbst zu«, fiel Mrs Carrington ihr empört ins Wort und spitzte die dezent rosa geschminkten Lippen.

»Das ist hervorragend«, lobte Hope. »Dann lasse ich Ihnen einen Diätplan ausdrucken.«

Während sie Mrs Carrington Tipps zur Ernährung und Steigerung der Bewegung gab, hing deren Blick wie festgenagelt an dem abstrakten Hundegemälde an der Wand, als hätte sie den Basset mit Hut noch nie gesehen. Fühlte sie sich durch die Ratschläge kritisiert? Schließlich lag die Fettleibigkeit doch in der Verantwortung der Besitzerin; da gab es nichts zu beschönigen, auch wenn Hope die Vorwürfe so dezent wie möglich formulierte.

Abschließend fuhr sie fort: »Ich schlage vor, Ihre Köchin richtet sich für vier Wochen nach dem Fütterungsplan, und Sie lassen sie häufiger ausführen. Sollte sich bei der folgenden Untersuchung irgendeine Ungereimtheit zeigen, wird sich unser Kardiologe, Doktor Colin Harper, auch Whoopeys Herz genauer ansehen. Falls vorher Schwierigkeiten auftreten, kommen Sie natürlich unverzüglich.«

Die Erwähnung von Colin schien Mrs Carrington zu versöhnen, sie nickte gnädig.

Als Hope nach dem bordeauxfarbenen Ensemble aus Wolle griff, das Whoopey bei ihrer Ankunft getragen hatte, winkte die alte Dame ab. »Warten Sie, ich habe ihr etwas Frisches zum Anziehen mitgebracht.« Stolz blitzte in den wässrig blauen Augen auf, und die blond gefärbten Löckchen wippten, als sie eifrig nickte. »Wissen Sie, ich häkle die Kleidung für meine Prinzessin immer selbst.«

Einer Prinzessin glich Whoopey weniger, eher einem rosa Drops, nachdem man sie in das mit Rüschen verzierte Etwas gezwängt hatte. Das überschwängliche Lob über Mrs Carringtons Häkelkünste kam Hope nur schwer über die Lippen.

Immerhin strahlte die alte Dame nun. »Vielen Dank.«

Nachdem Hope Whoopey noch einmal gekrault und ihr Frauchen mit einer erneuten Ermahnung zur Diät für ihre Hündin in die Hände ihrer kompetenten Assistentin entlassen hatte, öffnete sie den Lamellenvorhang und genoss einen Moment die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht.

Zorn überkam sie, als sie an ihre vierbeinige Patientin dachte. Wieso mussten es manche Tierbesitzer so »gut« meinen? Merkten sie denn nicht, dass sie vor lauter Egoismus ihre Kleinen zu Tode liebten? Hope schüttelte sich, dann rief sie sich zur Vernunft. Sie sollte nicht lamentieren.

Es war Zeit, nach ihrer eigenen Hündin, Miss Sophie, zu sehen, die sie während ihrer Arbeitszeit in einem weitläufigen Raum im Untergeschoss unterbringen konnte, der mehr einem Spielzimmer für Hunde glich. Sie war froh, dass das Klinikpersonal sich um die Labradorhündin kümmerte, wenn sie selbst länger nicht dazu kam, nach ihr zu sehen. Von dem Leid, das Miss Sophie im Tierheim erfahren hatte, aus dem Hope sie geholt hatte, war nichts mehr zu spüren, als sie nun voller Euphorie über das Wiedersehen an ihr hochsprang, als wären sie nicht nur wenige Stunden, sondern Jahre getrennt gewesen.

Lachend kraulte Hope sie hinter den Ohren und duldete es einen Augenblick, dass sie ihr übers Kinn leckte, bevor sie ihren Liebling mit einer Ermahnung von sich schob. »Du sollst doch nicht hochspringen, meine Süße!«

Nach einem Blick auf ihre Fitness-Armbanduhr, die kurz nach vier anzeigte, beschloss sie, das traumhafte Wetter auszunutzen und die gute Stunde nach Hause zu laufen. Das würde ihnen beiden guttun. Heute über Mittag war sie nicht, wie sonst meist, mit Miss Sophie im Central Park gewesen. Sie hatte noch genug Zeit, bevor sie sich für das Violinkonzert im Madison Square Garden zurechtmachen musste. Kurz überlegte sie, bei Colin vorbeizusehen und sich zu verabschieden, doch ihr Freund mochte es nicht, wenn er bei der Arbeit gestört wurde, und so verwarf sie den Gedanken wieder. Sie würde ihn schließlich am Abend sehen.

Der typische Verkehrslärm, vermischt mit Gesprächsfetzen und begleitet von dem Geruch nach Abgasen, empfing sie, als sie mit Miss Sophie an der Leine durch den Hauptausgang auf die Madison Avenue trat. Der warme Sonnenschein umhüllte sie wie eine wohlige Weste. Es herrschten sicherlich um die fünfundzwanzig Grad. Wie ein Schwamm sog Hope das New Yorker Straßenleben in sich auf. Ganz nach dem hiesigen Motto Keep on moving folgte sie dem Strom der Passanten, die über die überfüllten Gehsteige eilten. Immer darauf bedacht, niemals stehen zu bleiben, lieber die Straßenseite zu wechseln, als an einer roten Ampel zu warten. Stillstand war hier, wo man alle denkbaren Sprachen hörte, ein Fremdwort. In der Stadt, die niemals schlief, befand man sich direkt am Puls des Lebens. Sie wirkte wie Champagner in der Blutbahn. Hope war inzwischen ein Teil dieses multikulturellen Schmelztiegels geworden. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, wie sie jemals hatte in einer Kleinstadt leben können, so sehr sie Maine und ihre Heimat Lynnwood Falls liebte und ihre Familie vermisste.

Mit großen Schritten bog sie in die 97. Straße Ost in Richtung Fifth Avenue ab. Das Grün des Central Parks leuchtete ihr entgegen. Es schien, als wäre ganz New York an diesem ersten sonnigen Tag seit Wochen in »seinem« Park unterwegs. Hundesitter, teilweise mit fünf oder mehr Schützlingen an der Leine, zogen an ihnen vorbei, doch wie immer scherte sich Miss Sophie nicht darum. Die Labradordame fand es spannender, den Boden nach aufregenden Spuren abzuschnüffeln.

Ein Paar Mitte fünfzig, das sie irgendwie an ihre Eltern erinnerte, stand eng umschlungen da. Die beiden hoben die Gesichter in die Sonne, während sie einem Gitarrenspieler lauschten, der eine ganz eigene Version von Blowing in the Wind spielte. Sichtbares Glück ließ ihre Züge erstrahlen. Unwillkürlich musste Hope lächeln.

Die gute Stimmung hielt an, bis sie bei ihrem Apartment an der 23. Straße Ost eintraf. Das Klinikum besaß einige der oberen Stockwerke in dem Wolkenkratzer, der mit Klinkersteinen verkleidet war, und so hatte Hope das Glück, eine der begehrtesten Wohnungen in Manhattan, mit freiem Blick auf das nördlich liegende Empire State Building, zu ergattern, was sonst ein Ding der Unmöglichkeit war.

Der Fahrstuhl ruckelte mal wieder bedenklich, doch inzwischen machte es ihr nichts mehr aus. Hauptsache, er funktionierte, denn den einundzwanzigsten Stock hatte sie ein Mal zu Fuß erklimmen müssen. Das Gebäude war alt, ihre Bleibe nicht groß, insgesamt fünfundzwanzig Quadratmeter, Wohnküche, Schlafzimmer und Bad, aber selbst die waren normalerweise hier unbezahlbar. Zum Glück trug die Klinik einen Teil der Kosten, denn der Eigenanteil ihrer Miete von zweitausend Dollar schlug gut zu Buche, obwohl sie als Leiterin der Orthopädie-Abteilung nun ordentlich verdiente. Es würde nicht für ewig sein. Colin besaß ein komplett neu renoviertes, elegantes Apartment in Brooklyn, und über kurz oder lang würde sie sicherlich zu ihm ziehen. Auch wenn das bislang noch kein Gesprächsthema zwischen ihnen gewesen war.

Hitze schlug ihr entgegen, als sie die Tür zu ihrem Apartment öffnete. Die Heizung, die sich leider lediglich über das Öffnen und Schließen der Fenster regulieren ließ, lief noch auf vollen Touren, da die letzten Abende kühl gewesen waren. Hope eilte zu den Fenstern und öffnete sie sperrangelweit. Selbst hier, hoch oben über der Stadt, war der Verkehrslärm, begleitet von Hupen und Menschen, die ihre Stimmen hoben, um sich gegen den Krach verständlich zu machen, noch deutlich zu hören. Er wurde nur von Miss Sophies Hecheln übertönt, der es wohl ebenfalls zu warm war.

Schnell ließ Hope ihr eine Schale mit Wasser volllaufen, das die Labradordame gierig aufschlabberte.

Hope wusch sich die Hände, nahm eine Dose Hundefutter aus dem Schrank, füllte den Napf der bereits ungeduldig wartenden Miss Sophie und nahm sich dann selbst einige Babykarotten aus dem Kühlschrank. Das Violinkonzert, zu dem sie eingeladen waren, begann erst um neun Uhr. Essen würde es im Anschluss geben, doch sie wollte nicht vorher vor Hunger sterben. Sie fand auch noch einen Butterfinger in der Kühlschranktür und ließ den mit Erdnussbutter gefüllten Schokoriegel auf ihrer Zunge zergehen. Zum Glück kam sie nach ihrer schlanken Mutter und musste nicht auf die Figur achten. Auch die widerspenstigen braunen Haare und die bernsteinfarbenen Augen hatte sie von ihr geerbt, während sie ihren teilweise etwas schrägen Humor, der nicht jedermanns Nerv traf und den sie zum Glück bei der Arbeit inzwischen im Griff hatte, wohl eher von ihrem Vater übernommen hatte.

Die Zeit verflog wie im Nu. Sie gönnte sich noch einen Snack aus einem mächtigen Sandwich mit Schinken, Käse und Tomaten, dazu eine Flasche eiskaltes Yuengling Lager. Eilig polierte sie einige Fingerabdrücke von der hochglänzenden Oberfläche der schwarz-weißen Küchenschränke. Es sah zwar elegant aus, sie hatte beim Kauf auf Colins Rat gehört, der fand, diese ältere Wohnung brauchte ein paar schicke Accessoires, aber die glänzende Oberfläche war super empfindlich und verzieh keine Berührung.

Colins mahnenden Blick vor Augen, der es gern elegant hatte, legte sie einen Korkuntersetzer unter den Teller auf den Glastisch und lümmelte sich, so gut es ging, auf der »Chaiselongue«, wie Le Corbusier das Sofa nannte, das Colin ihr vermacht hatte. Es war zwar todschick, aber leider nicht übermäßig bequem, vor allem zusammen mit Miss Sophie, die sich – natürlich! – zu ihr quetschte. Doch lange konnte Hope bei ihrem vollen Terminplan meist sowieso nicht hier verweilen.

Nach dem Duschen schlüpfte sie in die dunkelblauen Seidendessous, die Colin ihr zu Ostern geschenkt hatte. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Nicht schlecht, musste sie sich selbst eingestehen. Das Bustier hob ihre Brüste vorteilhaft hervor, und auch der Slip saß wie angegossen. Colin hatte ein gutes Augenmaß. Wärme stieg bei dem Gedanken in ihr auf, wie viel Mühe er sich wohl damit gegeben hatte, etwas so Passendes zu finden.

Make-up trug sie nur dezent auf. Strähne für Strähne zog sie über das Glätteisen und fasste die Haare zu einem strengen Dutt zusammen, auch wenn sich schon wenig später die ersten vorwitzigen Löckchen wieder um ihre Ohren ringelten. Sie seufzte. Schon längst hatte sie den Versuch aufgegeben, sie vollkommen zu bändigen. Es blieb auch keine Zeit mehr. Draußen dämmerte es schon, der Himmel überzog sich kurz vor Sonnenuntergang mit leuchtend roten Streifen. Es war gleich acht.

Ihr Blick fiel aus dem Fenster, wo soeben die Spitze des Empire State Building in hellem Licht erstrahlte. Doch nicht wie normalerweise in Weiß, sondern in den Amerika-Farben Rot, Weiß und Blau, wie es zu besonderen Feiertagen der Fall war. Hope wurde es gleichzeitig heiß und kalt.

Verdammt! Es war das letzte Wochenende im Mai. Am Montag war Memorial Day, der Feiertag, an dem die im Krieg gefallenen Soldaten geehrt wurden. Der Tag, an dem die Familie etwas zusammen unternahm. Sie hatte ursprünglich zu ihren Eltern nach Lynnwood Falls fahren wollen. Auch wenn sie sich nur noch selten sahen, gab es einige wenige Feiertage wie Thanksgiving oder die Weihnachtsfeiertage, an denen sie normalerweise nach Hause fuhr. Und eben der Memorial Day. Das Picknick an diesem Tag war obligatorisch und allen in ihrem Heimatort, in dem es auch einige Kriegsveteranen gab, quasi heilig. Vor lauter Arbeit und dem Streben, auf der Karriereleiter ganz nach oben zu kommen, hatte Hope es völlig verschwitzt. Deshalb hatte ihre Mutter angerufen! Und vermutlich gehofft, es würde ihrer Tochter selbst einfallen. Inzwischen hatte sie es wohl aufgegeben, sie zu bitten.

Das schlechte Gewissen drückte Hope, doch gerade als sie das Handy ergreifen wollte, um ihre Mutter nochmals anzurufen, kläffte Miss Sophie, und es läutete an der Tür. Hope hatte Colin zwar einen Schlüssel aufgenötigt, aber er benutzte ihn nie. Für einen Moment überlegte sie, sich etwas überzuwerfen, doch ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie ein paar Minuten abzwacken konnten. Der Schalk überkam sie. Vielleicht könnte sie noch etwas Zweisamkeit mit ihrem Freund genießen?

Sie hielt sich hinter dem Türblatt verborgen, steckte nur den Kopf um die Ecke, als sie öffnete. Colins Anblick in dem blütenweißen Hemd und dem dunkelblauen Maßanzug von David Reeves Bespoke, der die eisblauen Augen zur Geltung brachte und im selben Farbton wie die leicht gemusterte Krawatte war, ließ ihre Knie weich werden. Dieser Mann war einfach der personifizierte Stil. Das schwarze Haar trug er wie immer sorgfältig gescheitelt, und er war glatt rasiert, was das markante Kinn hervorhob. Der aufregend herbe Herrenduft von Dolce & Gabbana umfing sie. Das einzig Unattraktive war der leicht missbilligende Zug um die Lippen, als Colin sie in ihrer Unterwäsche musterte.

»Du bist noch nicht fertig?«

Hopes Arme, die sie soeben gehoben hatte, um ihm um den Hals zu fallen, sackten nach unten. Sie verdammte sich dafür, dass sie sich in seiner Gegenwart manchmal wie ein kleines ungezogenes Mädchen fühlte, das Schelte bekommen hatte. Schließlich war er nur sechs Jahre älter als sie.

Herausfordernd hob sie das Kinn. »Wie wäre es, wenn du mich erst einmal richtig begrüßt?«

Er riss sich sichtlich aus dem Tatendrang-Modus, in dem er fast immer steckte. »Natürlich! Entschuldige, Honey!«

Und endlich lag sie in seinen Armen. Spürte seine warmen Lippen auf ihren. Der Anzugstoff rieb an ihrem nackten Bauch. Viel zu früh schob er sie von sich.

»Wir sollten gleich los, ich möchte nicht zu spät kommen. Das Taxi wartet unten. Die Coldwells sind aktive Unterstützer unseres Klinikums; wir sollten sie keinesfalls warten lassen. Das Konzert ist ausverkauft, es gibt sicherlich viel Verkehr vor dem Madison Square Garden.«

Nein, zu spät würde der große Doktor Colin Harper wohl niemals kommen. Er war die Zuverlässigkeit in Person. Bei ihm lief alles geradlinig. Doch war es nicht genau diese Art, die ihr an ihm gefiel? Die ihr selbst zu ihrem Erfolg verholfen hatte? Sein unerbittliches Streben nach Perfektion. Sie hatte ihm so viel zu verdanken!

Versöhnlich nickte sie. »Du hast recht, ich ziehe mir gleich etwas über.« Dennoch konnte sie sich den Augenaufschlag und die Bemerkung nicht verkneifen: »Gefalle ich dir wenigstens in deinem Geschenk?«

Aus Colins Kehle drang ein unterdrücktes Stöhnen, das ihr unter die Haut ging. »Und wie! Wenn der Abend vorbei ist, werde ich dir zeigen, wie sehr.«

Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus und verdrängte die aufkommende Enttäuschung. Sie hätte es besser wissen müssen. Colin war nicht der spontane Typ. Aber genau diese Zuverlässigkeit und seine Zielstrebigkeit waren es, was sie an ihm so schätzte. Immerhin stand sie für später auf seinem Plan. Sie würde am Ende des Abends auf ihre Kosten kommen. Gut in allem, was er tat, war Colin auch ein guter Liebhaber. Es wäre unter seiner Würde, etwas schlecht zu machen, zu versagen.

Nachdem sie in ein ehemals sündhaft teures blaues Cocktailkleid geschlüpft war, das sie vergangenen Herbst bei einem Ausverkauf in der Fifth Avenue zu einem halbwegs finanzierbaren Preis erstanden hatte, und die Perlenkette ihrer Großmutter umgelegt hatte, kehrte ihr Selbstbewusstsein zurück. Und als Colin sie anerkennend musterte und ihr sagte, sie sehe wunderschön aus, war sie wieder vollends versöhnt.

Sie kraulte Miss Sophie ein letztes Mal das helle Fell, schlüpfte in die hohen Riemchensandalen, schnappte ihr silbernes Abendtäschchen und hakte sich gut gelaunt bei Colin ein.

Als sie im Aufzug standen, fielen Hope ihre Eltern wieder ein. »Was war das am Montag für ein Segeltrip in Long Island? Könnten wir das verschieben? Ich würde so gern zum Memorial Day meine Eltern besuchen. Wir könnten nach Portland fliegen, das sind nur knapp eineinhalb Stunden Flugzeit, und von dort ist es bloß eine Dreiviertelstunde mit dem Mietwagen nach Lynnwood Falls.«

Ihre Eltern und ihr Freund standen sich zwar nicht nahe, aber das würde mit der Zeit sicherlich noch kommen, wenn sie Colin besser kennenlernten. Hope hegte den Verdacht, dass ihre Antipathie daher rührte, dass sie ihn dafür verantwortlich machten, dass ihre Tochter nicht zurück in ihre Heimatstadt kam, auch wenn das natürlich Unsinn war. Vielleicht könnte so ein Feiertag in entspannter Umgebung dazu beitragen, dass sie sich näherkamen?

Colin musterte sie stumm. Niemand, den sie sonst kannte, schaffte es, durch so minimale Gesichtsregungen so viel Missbilligung auszudrücken. Die Augenbrauen hoben sich nur geringfügig, die Lippen waren unmerklich geschürzt. Auch der Tadel im Tonfall klang nicht wirklich deutlich heraus, als Colin sagte: »Es sollte eine Überraschung sein. Wir sind auf die Jacht von Paul Edwards eingeladen. Dabei sprechen wir über die Finanzierung der neuen Physiotherapie-Abteilung für dich, die er sponsern wird. Ich nehme an, das ist dir wichtig?«

Scham wallte in ihr auf. Colin opferte seinen freien Tag für sie, um ihr zu der erwünschten Abteilung zu verhelfen! Die weiterführende Behandlung war für ihre Patienten so wichtig. Wie großartig war ihr Freund? »Du bist der Beste, danke!«, murmelte sie betreten.

»Du wirst ein andermal fahren können«, erwiderte er milde lächelnd. Die verhohlene Missbilligung war jedoch noch nicht ganz aus seinem Blick verschwunden.

Hope zwang sich zu einem Lachen. »Da hast du recht. Der Segeltörn wird bestimmt wundervoll. Ich freue mich schon riesig darauf.« Es gelang ihr überraschend gut, Begeisterung in ihre Stimme zu legen. »Hoffentlich können wir Paul Edwards überzeugen.« Doch Colin würde das bestimmt gelingen.

Dann mussten ihre Eltern eben warten. Wie so oft. Besser, sie richtete ihre Konzentration jetzt auf den bevorstehenden Abend, der sie auf ihrer steilen Karriereleiter wieder ein Stückchen nach oben bringen konnte; das war sie Colin schuldig. Schließlich gab er alles für sie.

Ryan

Lynnwood Falls

Mit der grünen Sechs verschwand die dritte volle Kugel in Serie im Billardtisch. Lauthals schmetterte Brandon den Michael-Jackson-Song Beat it mit, der aus den altertümlichen Boxen des The Eighties dröhnte, und tanzte um seinen Queue. Die Discokugel an der Decke warf dabei bunte Punkte auf sein blondes Haar und den hellen Bart.

Ryan hielt sich lachend die Ohren zu. »Hör bloß auf! Das ist Körperverletzung! Du konntest noch nie singen.«

Brandon zuckte mit den Schultern. »Du hast doch nur Angst, dass ich dich schlage. Drei auf einen Streich. Beat it, Doc Cooper!« Ungerührt summte er weiter, während er sich nach vorn beugte und die Lage der Kugeln einschätzte. Das moosgrüne T-Shirt mit dem stilisierten Biber, dem Logo der Beavers, spannte sich dabei über seinen breiten Oberkörper, als er mit der weißen Kugel die rote Drei anvisierte. Nur knapp verfehlte er das Loch, die Kugel prallte von der Kante ab, begleitet von Brandons Fluch.

»Schlagen? Du mich? Das glaubst du doch selbst nicht. Das wäre diesen Monat ja das erste Mal«, konnte sich Ryan das Frotzeln nicht verkneifen.

Brandon hob die Augenbrauen, seine grauen Augen blitzten. »Herausforderung angenommen!«

Bevor Ryan sich an die halben Kugeln machen konnte, trat Susan zu ihnen. Auch heute trug sie Röhrenjeans, Cowboystiefel und ein Karohemd, das nicht zu hundert Prozent der aktuellen Mode entsprach, aber zum Ambiente ihrer Achtzigerjahre-Kneipe passte – und die Kleidung stand ihr super, selbst mit Mitte fünfzig war ihre Figur noch mädchenhaft. Die langen blonden, dauergewellten Locken hingen ihr offen über den Rücken. Sie selbst betitelte sich immer als »Kind der Achtziger«. Sehr passend, wie Ryan innerlich schmunzelnd zustimmen musste.

Es faszinierte ihn immer wieder, wie lange sich diese Kneipe schon als In-Treff von Lynnwood Falls hielt. Susan hatte sie zusammen mit ihrem Mann Curtis vor fast zwanzig Jahren eröffnet. Der Laden lief seitdem bombastisch – und zwar bei allen Altersgruppen. Die stickige Luft war erfüllt vom Stimmengewirr zahlloser Gäste, doch das gehörte dazu.

Gedankenverloren ließ Ryan die Blicke schweifen. Die Einrichtung war schon in die Jahre gekommen, aber durch und durch authentisch. Regale voller CDs zierten die Wände, auch wenn die Musik inzwischen von einem Streaming-Dienst kam. Dazwischen hingen Bilder von Culture Club, Madonna, Michael Jackson und George Michael, dazu Filmausschnitte aus Top Gun, Flash Gordon und Dirty Dancing. Neben den beiden Billardtischen gab es einige Flipper und andere Spielautomaten. Auf der anderen Seite reihten sich Sitzgruppen auf mit schweren Eichentischen. Die Bänke waren mit rotem Kunstleder bezogen, das bereits einige Risse aufwies.

Susan deutete auf die Bühne an der Stirnseite, die aktuell leer stand. »Kommt ihr am Sonntagabend? Wir haben eine Live-Band, die Coversongs spielt. Die Jungs sind neu im Geschäft, aber verdammt gut. Achtzigerjahre-Mucke«, setzte sie unnötigerweise hinzu.

Was sonst? Ryan konnte das Grinsen nicht unterdrücken. »Mal sehen, ich überlege es mir.«

»Elly und ich sind dabei«, sagte Brandon. »Komm, gib dir einen Ruck, und schalt mal ein bisschen ab.«

Nachdenklich rieb sich Ryan über den Dreitagebart. Er hatte schon länger nicht mehr mit den anderen abgehangen; es war mal wieder an der Zeit. Die Tanzfläche würde ihn zwar vermutlich weniger zu sehen bekommen, aber gegen gute Musik hatte er nichts einzuwenden. »Alles klar. Wenn ich nicht weggerufen werde, bin ich dabei!«

»Brave Jungs!« Susan nickte zufrieden. »Wollt ihr noch ein Bier?«

Ryan trank den letzten Rest, wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und reichte ihr den Krug. Einen Moment rang er mit sich, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, danke! Ich bin platt, bereit für mein Sofa. War ein harter Tag. Gestern Nacht litt Carls Pferd unter schweren Koliken, ich war bis zum Morgengrauen dort. Und heute Vormittag hat Hank ein Stück nördlich eine trächtige Elchkuh angefahren. Wir mussten eine Notgeburt einleiten. Mutter und Kalb sind momentan stationär aufgenommen und befinden sich in Marys Obhut.«

Susan nickte zuversichtlich. »Mary wird das schaffen, sie hat dafür ein Händchen. Wie oft hat sie Tiere durchgebracht, die Glenn schon abgeschrieben hatte!«

»Da hast du recht.« Ryan lächelte.

Es war unglaublich, welche Wunder Marys magische Hände bewirken konnten. Sie war einfach die gute Seele der Veterinärpraxis. Mary lachte immer nur, wenn ihre »beiden Männer«, wie sie Ryan und ihren Mann Glenn gern nannte, sie mit ihren Wunderhänden aufzogen.

Susans Tätscheln seines Arms war freundschaftlich. »Dann erhol dich heute Abend gut und lass dich nicht wieder aus dem Bett klingeln.«

»Das ist der Plan.« Er bückte sich zu seinem Bobtail, der brav in der Nähe des Billardtisches lag, und kraulte ihm den Kopf. »Außerdem killt mich Chief, wenn ich noch bleibe und ihm nicht bald was zu fressen gebe.«

Chief gab ein bestätigendes Kläffen von sich.

Susan lachte auf. »Dein Hund kann keiner Fliege was zuleide tun.«

Damit hatte sie wohl recht. Zum Glück. Chief war einfach eine herzensgute Seele, Ryan liebte den alten Hund abgöttisch.

Besser, er schaute, dass er fertig wurde. Mit wenigen Stößen schaffte es Ryan, sämtliche halbe Kugeln einzulochen und auch die schwarze Acht erfolgreich im letzten Loch zu versenken.

»Wolltest du mich nicht schlagen?«, fragte er Brandon scheinheilig, was ihm einen gutmütigen Schlag auf den Arm einbrachte.

»Ich brauche halt länger zum Warmspielen, aber du haust ja jedes Mal gleich wieder ab.«

»Gleich? Das waren zwei Runden, und ich bin der klare Gewinner. Ich gehe nur, damit du zu deiner Frau kommst. Elly wartet sicher schon mit dem Essen auf dich!«

»Freundin«, korrigierte Brandon.

»Was nicht ist, wird demnächst werden.«

»Sagt der ewige Single«, kam es lakonisch zurück.

Ryan beschloss, nicht darauf einzugehen, sondern hob nur den Finger. »Du schuldest mir beim nächsten Mal ein Bier! Komm, Chief! Die Gewinner gehen jetzt!«

Beim Hinauslaufen schüttelte er noch die ein oder andere Hand und erhielt diverse freundschaftliche Schläge auf den Rücken. Die Tierarztpraxis von Hopes Eltern, in der er seit dem Ende seines Studiums arbeitete, war in Lynnwood Falls beliebt, und die Zuneigung weitete sich auf ihn aus.

Der Bobtail trottete geduldig hinter ihm her in die laue, nach Kiefern duftende Abendluft.

Doch der Abschied von Brandon ließ Ryan nicht los.

Ewiger Single! Damit hatte sein Freund einen Nerv getroffen. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zu Hope. Er sah ihren herausfordernden Blick vor sich, die dunklen Augen, die stets auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen. Die Farbe schwankte zwischen braun und grün; je nach ihrer Stimmung glänzten sie wie Bernstein. Die vollen Lippen, die einen direkt zum Küssen einluden, konnte sie so aufreizend vorstülpen, wenn ihr etwas nicht passte. Und das kam häufiger vor, eigenwillig, wie sie war. Genau wie ihre dichten dunklen Haare, die nie taten, was Hope wollte. Zumindest ihrer Meinung nach – Ryan hatte die wilde Mähne immer bezaubernd gefunden. Verlockend, die Hände darin zu vergraben.

Ewiger Single! Empört schnaubte er auf. Er war nicht immer Single gewesen. Doch irgendwie hatte er es seit der Trennung von Hope vor sechs Jahren nicht wieder geschafft, sich länger als ein paar Wochen zu binden. Natürlich hatte er Bedürfnisse. Die er auch gelegentlich stillte, bei Ausflügen nach Portland oder in Nachbarorte. Wenn er Zeit dazu fand, was zunehmend schwieriger wurde. Aber jedes Mal befielen ihn schon nach kurzer Zeit die Zweifel. Und er stellte unwillkürlich Vergleiche an. Zu Hope. Der Liebe seines Lebens, die ewig währen würde, wie er früher einmal gedacht hatte.

Vehement riss er sich aus den Grübeleien und öffnete die Fahrertür, während Chief auf die Ladefläche des rostbraunen Pick-ups sprang und sie abschnüffelte. Vermutlich roch sie immer noch nach Elch, obwohl Ryan sie mit dem Schlauch abgespritzt hatte.

»Los, komm, Chief. Nach vorn! Ich mach dir auch das Fenster auf.«

Sein Hund liebte es, sich den Wind um die Schnauze wehen zu lassen. Irgendwie widerstrebte es Ryan heute, Chief auf der Ladefläche mitfahren zu lassen. Er hatte wohl noch den Unfall vom Vormittag vor Augen.

Der alte Wagen orgelte einige Male, und es kostete Ryan einiges an gutem Zureden, bis er ansprang. Eigentlich war es heute Abend doch warm genug; im Winter machte sein Wagen mehr Zicken.

Die Farm, die er von seinen Eltern geerbt hatte, lag etwas außerhalb des Ortskerns. Sie hatte sich mit der Zeit zu einem Gnadenhof für alte Tiere entwickelt, weil Ryan es nicht übers Herz brachte, die Nutztiere, die nicht mehr arbeiten konnten, einzuschläfern. Das Haupthaus und die Ställe lagen im Dunkeln, nur über der Garage brannte Licht. Das bedeutete, die Tiere waren schon gefüttert. Der alte Angus zog sich nie in sein Zimmer zurück, bevor ihre Schützlinge nicht versorgt waren.

Erleichtert seufzte Ryan auf. Eigentlich hatte er nur alten Tieren eine Heimat geben wollen, aber nachdem Angus gesundheitsmäßig nicht mehr konnte und seinen Hof verkaufen musste, weil er in massiven finanziellen Schwierigkeiten steckte, hatte Ryan ihn kurzerhand bei sich aufgenommen. In dem Altersheim, in das ihn seine Kinder hatten stecken wollen, weil sie kein Interesse an dem arbeitsintensiven Bauernhof gehabt hatten, wäre der einst so arbeitsame Farmer schlichtweg eingegangen. Und für Ryans Hof erwies er sich als Segen, denn Angus war heilfroh, noch eine Aufgabe zu haben, und half ihm mit den Tieren, so gut er konnte.

Von der Gicht gebeutelt, brauchte er seine Zeit, doch daran mangelte es ihm hier nicht, wo keine sonstigen Arbeiten für ihn anfielen. Angus’ Dankbarkeit war völlig überzogen für das mickrige Gehalt, das Ryan ihm zahlen konnte. Es reichte ja gerade fürs Essen, für das abendliche Bier und eine gelegentliche Prise von Angus’ geliebtem Kautabak. Doch Ryan spürte, wie wichtig es dem alten Mann war, noch gebraucht zu werden. Das war wohl der Lohn, um den es Angus ging. Dabei wäre die Erleichterung eigentlich mehr wert, die Tiere versorgt zu wissen, wenn Ryan oft spät von der Arbeit kam oder nachts rausmusste und nicht vor dem Morgen nach Hause kam. Er konnte es sich offen gestanden nur nicht leisten. So gut wie alles, was er verdiente, verschlang der Erhalt seiner Farm.

Wenigstens konnte er den alten Mann mietfrei bei sich wohnen lassen. Das Zimmer über der Garage hatte eh leer gestanden, und eine einfache Sanitäranlage war schnell installiert gewesen, denn ein Wasseranschluss war vorhanden. Das Arrangement mit Angus war eine echte Win-Win-Situation für sie beide.

Kaum hatte Ryan den Wagen vor dem Haus geparkt und war ausgestiegen, ertönte ein Wiehern von der anliegenden Koppel, gefolgt von einem unrhythmischen Hufgetrappel. Die alte Quarter-Horse-Stute Suzie-Q lahmte wohl wieder stärker. Aus dem bereitstehenden Fass schnappte er sich eine Karotte, als Suzie-Q schon den Kopf über den Zaun streckte und herausfordernd wieherte. Lachend streichelte Ryan ihr die dunkle Mähne, fuhr über die weichen Nüstern und hielt der Stute mit der flachen Hand die Karotte hin. Er presste den Kopf an ihren Hals. »Na, meine Schöne, auch dir ein Hallo. Morgen früh, wenn es hell ist, sehe ich mir noch mal deinen Knöchel an.«

Als hätte sie ihn verstanden, schnaubte sie zustimmend.

Chief war wohl der Meinung, er hätte nun lange genug mit Suzie-Q geschmust, und stupste ihn auffordernd an.

»Ja, ja, schon gut, du kriegst gleich dein Fresschen.« Grinsend folgte er ihm ins Haupthaus. Die letzten Tage hatte Ryan den Kamin angefeuert, es roch immer noch angenehm nach Holzfeuer. Wie immer war er froh über die schlichte, aber gemütliche Bleibe, die er sein Eigen nennen konnte. Die Einrichtung bestand hauptsächlich aus hellem Holz, was dem Ganzen viel Wärme verlieh.

Während Chief genüsslich sein Fressen in sich hineinschlang, nahm sich Ryan eine eisgekühlte Cola, schaltete den Fernseher ein und ließ sich aufs Sofa fallen. Die Federn ächzten unter dem plötzlichen Gewicht. Er sollte sich unbedingt bei Gelegenheit nach einer neuen Couch umsehen. Damals hatte er sie recht günstig erstanden, und der vermutlich nicht wirklich hochwertige dunkelblaue Stoff verschliss schon. Doch ihm fehlte die Zeit, um sich nach einer neuen umzusehen; wie für so vieles andere. Und das Geld wurde für Wichtigeres benötigt. Zumindest war das Sofa bequem, und das war ja die Hauptsache.

Genussvoll ließ er das kalte Getränk seine Kehle hinuntergluckern. Er kämpfte mit sich, ob er sich noch ein paar Eier aus dem Stall holen und sie in die Pfanne hauen sollte, sicherlich hatte Angus einige eingesammelt. Aber er war zu müde. Zum Glück hatte ihm Annabella am späten Nachmittag ein Roastbeef-Sandwich von den Ausmaßen eines Wagenrades zubereitet, das ihn immer noch sättigte. Obwohl sie in ihrem Café eigentlich nur Frühstück, Lunch und nachmittags Kuchen anbot, tischte sie ihm jedes Mal auch später noch etwas Handfestes und Herzhaftes auf, wenn er bei ihr vorbeikam. Der Verdacht keimte in ihm auf, dass sie es extra schon für ihn zurückgelegt und ihn erwartet hatte, doch darüber wollte er besser nicht nachdenken. Er mochte die ein Jahr jüngere Annabella sehr gern. Sie war mit ihrer braunen Haut, die einen exotischen Kontrast zu ihren naturblonden Haaren bot, auch ausnehmend hübsch, aber er empfand eben nur freundschaftliche Gefühle für sie. Hoffentlich sah sie das auch von ihrer Seite aus so.

Ryan griff nach der Fernbedienung, verfolgte eine Weile die Nachrichten und zappte dann weiter. Er blieb bei einer Doku über Tiere in der Serengeti hängen. Chief sprang zu ihm aufs Sofa, worüber es sich wieder mit einem lauten Ächzen beschwerte, und machte es sich hinter den Kniekehlen seines Herrn bequem, den Kopf auf seinem Oberschenkel. Ryan kraulte ihn hinter den Ohren.

»Wir müssen dich noch bürsten«, murmelte er, bevor er, eingelullt von Chiefs Schnarchen, wegdämmerte.

Er konnte nicht sagen, wie lange er geschlummert hatte. Das Schrillen seines Telefons schreckte ihn aus dem Tiefschlaf. Auch Chief bellte erschrocken auf. Eilig hangelte Ryan nach dem Handy.

Die Nummer der Praxis! Er unterdrückte ein Stöhnen. Nicht schon wieder ein nächtlicher Notfall!

»Mary, was gibt’s?«, meldete er sich und versuchte, so wach wie möglich zu klingen.

Als Antwort kam nur ein Schluchzen. Alarmiert richtete er sich auf, was ihm ein unwilliges Brummen von Chief einbrachte. »Was ist passiert?«

Mary gingen die Tierschicksale sehr zu Herzen, vor allem, wenn ein Schützling ihrer Obhut anvertraut war. Doch er konnte sich nicht erinnern, dass er sie bislang schon einmal weinen gehört hatte. Es musste etwas Schlimmes geschehen sein.

»Nein, es …«, sie schniefte, »es geht um Glenn.«

»Glenn?« Ryan erstarrte. Der grausame Tod seiner Eltern war mit einem Schlag präsent. Er vermeinte, wieder die Stimme seiner Großmutter zu hören, die mit dem New Yorker Polizisten telefoniert hatte, während er selbst paralysiert auf den Fernseher gestarrt hatte, und die Bilder, die sich ihm dort präsentiert hatten, nicht hatte fassen können. Was für seine Eltern ein fröhlicher Ausflug in die Stadt hätte werden sollen – zum ersten Mal im »Big Apple« –, hatte tödlich geendet. Es war in seinem letzten Schuljahr der Primary School gewesen. Glenn war inzwischen eine Art Ersatzvater für ihn geworden. Eine eisige Hand ergriff Ryans Herz und quetschte es zusammen. Er rang nach Luft.

»Was ist mit ihm?«, stammelte er und schnappte im Hinauslaufen die Schlüssel vom Sideboard, Chief auf den Fersen.

Mary schien sich wieder etwas gefasst zu haben; die Worte wurden klarer. »Plötzlich waren seine Beine taub, völlig gelähmt! Sein Rücken … Er muss sich wohl verhoben haben heute Mittag?« Sie betonte es wie eine Frage.

»Die Elchkuh, verdammt!«, fluchte Ryan harscher als beabsichtigt. »Hank und er haben sie auf die Trage gehievt, während ich mich um das Kalb gekümmert hatte. Ich habe noch gesehen, dass Glenn sich an den Rücken gefasst hat, aber er sagte, es sei nichts. Der alte Sturkopf! Verflucht, hätte ich nur gleich reagiert! Oder hätten wir nur gemeinsam …«

»Gib dir bloß keine Schuld!«, fiel ihm Mary ins Wort.

Doch, das tat er! Zum Diskutieren blieb jedoch jetzt keine Zeit. »Wo ist er?«

»Ich habe gleich den Krankenwagen gerufen. Sie vermuten, es ist etwas mit der Bandscheibe. Wir sind gerade auf dem Weg nach Portland ins Krankenhaus. Eventuell wird Glenn unverzüglich operiert, sagt der Notarzt. Es könnte sonst bleibende Schäden geben. Die Lähmung …« Sie schniefte wieder.

Bilder von dem einst so aktiven Glenn im Rollstuhl schoben sich vor Ryans inneres Auge. Er erschauderte. »Ich komme sofort!«

»Ich … du musst nicht!« Doch sie klang nicht wirklich überzeugt. »Francy fährt hinterher; sie war bei uns. Ich wollte dir nur …«

»Quatsch nicht, das ist doch selbstverständlich«, fuhr er ihr über den Mund, vermutlich etwas zu rüde, doch die Sorge um seinen väterlichen Freund schnürte sich wie ein Ring um seinen Hals, der sich enger und enger zog. »Ich bringe nur kurz Chief zu Angus, dann bin ich schon unterwegs. Ich nehme die Harley, damit bin ich schneller.« Schön und gut, dass Marys beste Freundin, die örtliche Tierbedarfshändlerin und ihre größte Unterstützerin, ebenfalls kam. Aber vielleicht konnte er aus ärztlicher Sicht noch etwas tun. Zu Hause hätte er eh keine Ruhe.

»Danke!«, sagte Mary leise, und er konnte ihr die Erleichterung anhören.

»Ich danke dir fürs Bescheidgeben.« Ryan zögerte. »Hast du … Hope schon angerufen?«

»Ja, aber ihr Handy ist aus. Sie sagte etwas von einem Konzert. Denkst du, sie wird kommen? Sie hat gerade so viele Termine.« Die sonst so taffe Mary, die die Praxis mit resoluter Hand managte, klang auf einmal ungewöhnlich hilflos.

»Natürlich! Sie wird ihren Vater besuchen und bei dir sein wollen«, sagte er im Brustton der Überzeugung. Zumindest hätte die Hope, die er früher einmal gekannt hatte, alles stehen und liegen lassen und wäre losgestürzt. Bevor sie ein Stadtkind geworden war. Er hoffte für ihre Eltern, dass sie auch jetzt mit wehenden Fahnen herbeieilen würde.

Kapitel 2

Hope

Portland

Der strahlende Sonnenschein passte so gar nicht zu ihrem Gemütszustand, als Hope die Gangway hinuntereilte. Auf dem Geländer glitzerte noch der Morgentau; sie hatte den ersten Flug nach Portland genommen. Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Die Wahrscheinlichkeit einer bleibenden Lähmung war zwar nicht ganz so hoch, dennoch lag ihr die Angst um ihren Vater wie ein Sack Zement im Magen, der ihr regelrecht auch den Hals zuschnürte.

Ungeduldig drängte sie sich mit ihrem Rucksack an einem älteren Ehepaar vorbei, das alle Zeit der Welt für sich gepachtet zu haben schien. Wie gut, dass sie auf den Rollkoffer verzichtet hatte, so war sie schneller! Colin, der sie netterweise am Morgen mit seinem Jaguar zum Flughafen gebracht hatte und Miss Sophie für heute in seine Obhut nahm, ging davon aus, dass sie am Abend wieder zurückfliegen würde, doch Hope hatte sich sicherheitshalber Wäsche zum Wechseln eingepackt. Der Kleiderschrank bei ihren Eltern war zwar noch voll mit zeitlosen Freizeitklamotten, die sie in New York seltener brauchte, da dort ihre privaten Aktivitäten eher kultureller Natur waren und sie hauptsächlich elegante Kleidung benötigte. Aber die Unterwäsche von damals war doch eine andere als die, die sie heute trug.

Zum Glück erwischte sie direkt ein Taxi. Heute hatte sie keinen Blick für den weißen Leuchtturm, der markant in den blauen Himmel ragte, und die bezaubernden Klinkerstein-Gebäude der Hafenstadt Old Port aus dem neunzehnten Jahrhundert. Oder für die vorgelagerten Inselchen des Arcadia National Park, grau-grüne Tupfen inmitten des tiefblauen Atlantiks. Bei ihren vorigen Besuchen hatten ihre Eltern sie vom Flughafen abgeholt, und sie hatte das Fenster im Land Rover ihres Vaters heruntergekurbelt, um die salzhaltige Luft des Atlantiks einzuatmen. Heute jedoch begnügte sie sich mit der Klimaanlage des Taxis, das für ihren Geschmack viel zu langsam vorankam.

Vorübergehende Paralyse, Querschnittslähmung, dauerhafte Schädigung, jagte es durch ihren Kopf. Ihre Eltern waren ihr immer unverwundbar erschienen. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie älter wurden. Wenn ihr Vater tatsächlich durch den Bandscheibenvorfall gehandikapt bleiben würde, wäre das eine Katastrophe. Wie sah es mit der Versicherung ihrer Eltern aus? Hatten sie für solch einen Fall vorgesorgt? War das Haus abbezahlt? Die wirrsten Gedanken wirbelten durch ihren Kopf, als befänden sie sich auf einem sich endlos drehenden Glücksrad, auf dem nur Nieten zu finden waren.

Endlich ragte der Gebäudekomplex des Krankenhauses vor ihnen auf. Hope drückte dem Fahrer eine Zwanzig-Dollar-Note in die Hand und eilte zum Haupteingang, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Sie hörte noch, wie der Fahrer ihr einen fast unterwürfigen Dank für das üppige Trinkgeld hinterherrief, dann wurde sie schon von der Drehtür am Hauptportal verschluckt.

Der Geruch nach Desinfektionsmitteln war vertraut und doch irgendwie fremd. Hier, in dieser in die Jahre gekommenen Klinik, gesellten sich die Ausdünstungen zahlloser kranker Menschen hinzu. Hope verfluchte sich, dass sie vergessen hatte, ihre Mutter nach der Station zu fragen, und stellte sich am Informationsschalter an. Zum Glück waren nur zwei Personen vor ihr.

»Das Zimmer von Doktor Glenn Archer, bitte«, verlangte sie, als sie an der Reihe war.

Obwohl Hope mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, erschrak sie, als sie hörte, dass ihr Vater gerade erst aus dem Aufwachraum gekommen war. Die Rezeptionistin musste sich mehrmals verbinden lassen, bis sie die Zimmernummer in Erfahrung gebracht hatte; sie war noch nicht im Computer. Dann war die Operation wohl doch schwieriger gewesen als befürchtet. Hope folgte den Anweisungen der Schwester und läutete kurz darauf an der Tür zur Station.

Es dauerte einen Moment, bis ein in eine blaue Tracht gekleideter Krankenpfleger kam und sie durch den Türspalt nach ihrem Wunsch fragte.

»Doktor Hope Archer, mein Vater Glenn Archer liegt hier«, sagte sie so resolut wie möglich. Wie erwartet öffnete der Pfleger die Tür sofort. Sie gehörte sonst nicht zu den Menschen, die mit ihrem Doktortitel hausieren gingen, aber hier erschien es ihr angebracht, um schnellstmöglich an Informationen zu kommen. Mit der weißen Jeans und dem weißen Polohemd wirkte sie hoffentlich auch einigermaßen seriös und kompetent.

An der Tür zum Zimmer ihres Vaters hielt Hope kurz inne und atmete tief durch. Leise Stimmen erklangen. Sie zögerte, bevor sie schließlich anklopfte und die Tür vorsichtig öffnete.

Schemenhaft erkannte sie durch den Vorhang zwei Personen, die neben dem Bett saßen. Das Nachbarbett war zum Glück leer, sogar in Folie gepackt. Das Piepen der Gerätschaften, das vom Krankenbett ihres Vaters kommen musste, zerrte an ihren Nerven. Da wurde auch schon der Vorhang beiseitegezogen, und ihre Mutter stand vor ihr.

»Mom!« Mit einem Aufseufzen, das beinahe schon einem Schluchzen glich, fiel sie ihrer Mutter in die ausgebreiteten Arme. Und spürte sofort ein Gefühl des Nachhausekommens.

»Hope, Sweatheart, ich bin so froh, dass du gekommen bist!«

»Das hat viel zu lange gedauert, aber es war der erste Flug«, murmelte sie gegen den Hals ihrer Mutter, bevor sie sie von sich schob. Unter den bernsteinfarbenen Augen, die vermutlich vom Weinen von roten Äderchen durchzogen waren, lagen tiefe Ringe. Um die vollen Lippen zeichneten sich feine Fältchen ab, die Hope bei ihrem letzten Besuch nicht aufgefallen waren. Und auch in den dunklen Locken zeigten sich mehr Silberfäden als zuvor.

»Wie geht es Pops?« Vorsichtig schob Hope den Vorhang ein Stück zur Seite und blickte auf das aschfahle Gesicht ihres Vaters, das sich farblich kaum von dem Weiß des Krankenhaushemdes abhob. Dieses hatte wenigstens noch blaue Blüten, während die Haut ihres Vaters wächsern wirkte. Sein Gesicht war auch sonst eher hager – er war der sehnige Typ –, aber nun wirkte er regelrecht eingefallen. Die geschlossenen Lider lagen tief in den Augenhöhlen.

Sie hatte ihren Vater immer blond vor Augen gehabt. Doch zum ersten Mal fiel ihr auf, dass die Haare einen Graustich angenommen hatten. Mit zweiundsechzig war dies zwar nicht verfrüht, aber es erweckte auf einmal ein eigenartiges Gefühl in ihr.

»Er schläft. Sie haben ihn die halbe Nacht operiert«, sagte ihre Mutter leise.

»Und?«

»Er ist erst kurz wieder aus dem OP zurück; der Arzt müsste jede Minute zu uns kommen. Und dann erfahren wir hoffentlich mehr.« Ihre Mutter seufzte. Die unterschwellige Nervosität war in jeder ihrer angespannten Bewegungen zu erkennen.

Erst durch das Quietschen von Stuhlbeinen auf dem Linoleum wurde Hope wieder der zweiten Person am Bett ihres Vaters gewahr.

Und schon lag sie in weichen Armen, die sie umhüllten wie ein warmer, weicher Mantel an einem kühlen Herbsttag. Sie sog Geborgenheit ein.

»Francy! Wie schön, dass du da bist!«

»Ich lasse doch deine Mutter nicht allein«, kam es resolut zurück.