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Im »Blue Café« zählt nur eine Regel: Niemand verrät seinen wirklichen Namen. Für Jonathan ist es der perfekte Ort, um den Weihnachtsabend zu verbringen. Hier kann er sich vor den Schatten seiner Vergangenheit verstecken. Als die junge Marley das »Blue Café« betritt, sucht auch sie die Geborgenheit der Anonymität. Vom ersten Augenblick an sind sich »Joe« und »Em« sympathisch. Sie verbringen eine aufregende Nacht miteinander, die sie in das romantisch weihnachtliche Städtchen Seekers Hope entführt - und in der es gewaltig knistert! Bis zuletzt halten sie sich an die Regel: keine Namen! Doch als sich am nächsten Morgen ihre Wege trennen, kann keiner von beiden den anderen vergessen. Eine nahezu aussichtslose Suche nacheinander beginnt ...
Ein Liebesroman, so knisternd und wärmend wie ein heißes Kaminfeuer an einem kalten Wintertag.
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Seitenzahl: 389
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
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Epilog
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Im »Blue Café« zählt nur eine Regel: Niemand verrät seinen wirklichen Namen. Für Jonathan ist es der perfekte Ort, um den Weihnachtsabend zu verbringen. Hier kann er sich vor den Schatten seiner Vergangenheit verstecken. Als die junge Marley das »Blue Café« betritt, sucht auch sie die Geborgenheit der Anonymität. Vom ersten Augenblick an sind sich »Joe« und »Em« sympathisch. Sie verbringen eine aufregende Nacht miteinander, die sie in das romantisch weihnachtliche Städtchen Seekers Hope entführt – und in der es gewaltig knistert! Bis zuletzt halten sie sich an die Regel: keine Namen! Doch als sich am nächsten Morgen ihre Wege trennen, kann keiner von beiden den anderen vergessen. Eine nahezu aussichtslose Suche nacheinander beginnt ...
HELEN PARIS
Für Holly und Sabrina
Es ist so schön, dass es euch gibt!
»Aimer, ce n'est pas se regarder l'un l'autre, c'est regarder ensemble dans la même direction.«
(Antoine de Saint-Exupéry)
»Lieben bedeutet nicht, einander anzusehen, sondern dass man gemeinsam in dieselbe Richtung blickt.«
Sacramento
Zwei Wochen vor Weihnachten
Jonathan lockerte die verkrampften Schultermuskeln. Doch im Grunde wusste er nur zu genau, dass die Verspannungen dieses Mal nicht ausschließlich vom stundenlangen Sitzen vor dem Bildschirm herrührten.
Sein Blick schweifte zum Fenster, auf dem sich eine Eisblume bildete – ein seltener Anblick in Sacramento. Unwillkürlich hoben sich seine Mundwinkel. Seit er vor vier Jahren in dieses Zwei-Zimmer-Apartment gezogen war, hatte er auch noch keinen Schnee auf dem Fensterbrett gesehen. Die Scheibe beschlug, als er sich nach vorn beugte und hinuntersah. Die Wege waren inzwischen geräumt; er selbst hatte die Zufahrt zum Haus vom Schnee befreit, aber auf dem mit Weihnachtsfiguren verzierten Rasen und mit Lichtergirlanden umwickelten Bäumen lag eine hauchdünne weiße Schicht, als wären sie mit Zuckerguss überzogen.
Auch die farbenprächtig dekorierten Häuser ringsherum verbreiteten eine festliche Stimmung. Offenbar befanden sich die Besitzer alle im Fieber der Sacramento Christmas Lights und versuchten, sich im Schmücken zu überbieten. Auf der Straße fuhr eine mit Tannenzweigen und Girlanden dekorierte Pferdekutsche vorbei. Das Klappern der Hufe wurde rhythmisch vom Bimmeln der angebrachten Glöckchen begleitet.
Mit einem Mal überkam Jonathan ein beklemmendes Gefühl, und er schob den Stuhl zurück – das war wirklich eine geballte Ladung Weihnachtsfeeling!
Schnell füllte er sich in der Küchenzeile ein Glas mit Wasser, trank es in einem Zug leer und versuchte, sich wieder auf den Artikel über seine Recherche-Reise ins Amazonas-Gebiet zu konzentrieren. Seine Gedanken schweiften beim Tippen allerdings immer wieder ab. Er kippte den Bürostuhl nach hinten und rieb sich die Augen.
Doch die Bilder, die ihn verfolgten, ließen sich nicht vertreiben: von gierigen Flammen, die Mammutbäume in riesige Fackeln verwandelten, bis die verkohlten Gerippe schließlich in Schutt und Asche zerfielen. Fast meinte er, wieder die glühende Hitze zu spüren, die einem das Atmen unmöglich machte; sie ätzte sich in die Lunge. Er roch den beißenden Rauch, der ihm Tränen in die Augen trieb und den Hals brennen ließ, als wütete auch dort die Glut. Hörte das Bersten der ehemals grünen Giganten, wenn sie auf den nächsten Mammutbaum krachten.
Und er sah die hilfesuchenden Blicke des kleinen Jungen in der Hütte, umzingelt von dem Feuer, das sein Dorf verschlang ...
Das Klingeln an der Tür schreckte Jonathan auf. Schnell sicherte er die aktuelle Textversion unter einem neuen Namen, bevor er an die Tür eilte.
Seine Schwester Jodie brachte einen Schwall Winterkälte mit herein, als sie ihm, auf die Zehenspitzen gereckt, um den Hals fiel und ihre kalten Lippen auf seine Wange drückte.
»Puh, welch eine Affenkälte heute! Das Klima spielt wirklich verrückt – wie oft hat es hier in Sacramento geschneit?« Bevor er darauf eingehen konnte, fuhr sie fort: »Ich liebe den Schnee ja, aber er hätte doch auch noch die zwei Wochen warten können. Weiße Weihnachten wären ein Traum.« Mit einem andächtigen Seufzen zog sie sich die feuerrote Strickmütze vom Kopf und schüttelte die langen blonden Haare aus – Jonathan wurde in Kälte gehüllt.
»Was soll ich sagen?« Er nahm ihr den schwarzen Mantel ab, um ihn an die Garderobe zu hängen, und zwang sich zu einem Lachen. »Ich komme aus über vierzig Grad Hitze – der Temperaturunterschied ist krass.«
Jodie stach ihm den Zeigefinger in die Brust. »Über diese Recherchereise ins Amazonas-Delta zu den Ureinwohnern, die aus ihrem Gebiet vertrieben wurden, will ich alles hören!« Ihr Blick, in dem sich Neugierde mit Mitgefühl mischte, gefiel ihm gar nicht.
»Jetzt komm erst mal an den Kamin zum Auftauen. Ich mache dir gleich eine heiße Schokolade«, wich er aus.
Wie befürchtet rief Jodie ihm hinterher: »Glaub nicht, dass du mir entkommst!«
Jonathan unterdrückte ein Seufzen. Er liebte seine kleine Schwester abgöttisch, und sie stand ihm von seinen drei Geschwistern am nächsten. Äußerlich sahen sie sich gar nicht ähnlich – sie blond und blauäugig wie ihr Vater und eher von zierlicher Statur, er dunkelhaarig mit braunen Augen – wie ihre Mutter – und groß und sportlich gebaut.
Aber manchmal war es auch eine Last, dass Jodie in ihm lesen konnte wie in einem Buch ... Eigentlich hatte er bei ihrem letzten Telefonat nur beiläufig erwähnt, dass er ausnahmsweise an Weihnachten nicht gedachte, mit zu den Eltern zu kommen, doch er hätte wissen müssen, dass Jodie das niemals auf sich beruhen lassen würde, ohne dass er ihr die Hintergründe näher erläuterte.
Kaum hatte er die beiden dampfenden Tassen, die einen köstlichen Kakaoduft verströmten, zum Couchtisch balanciert und einen Teller mit dem Weihnachtsgebäck ihrer Mutter dazugestellt, musterte Jodie ihn kritisch. »Mom wird es gar nicht gefallen, wenn sie erfährt, dass du über die Feiertage nicht kommst.«
Unwillkürlich schaltete er in den Verteidigungsmodus. »Ich war bei dreißig Weihnachtsfeiern dabei. Nun habe ich eben das einunddreißigste Mal was anderes vor. Du und Phil, ihr habt euch auch mal über Weihnachten in die Karibik abgesetzt. Und June und Andrew haben sich schon in Aspen vergnügt.«
»Mit ihren Yuppie-Freunden«, ergänzte Jodie grinsend.
Jonathan musste lachen. »Jep.« Der Mann ihrer älteren Schwester war ein netter Kerl, stammte aber aus einer neureichen, eher unterkühlten Familie, was mit den Taylors, ihrer eigenen »Bande«, wie sie sich oft selbst betitelten, die eher umtriebig und laut war, nicht immer ganz in Einklang zu bringen war. Aber Andrew gab sich Mühe, locker zu werden, und den beiden Kindern gefiel es in der Sippschaft ihrer Mutter, bei der immer etwas los war.
»Immerhin sind auch Jackson und Debbie mit den Kids dieses Jahr wieder bei Mom und Dad«, wandte Jonathan ein. Es wäre schlechter gewesen, wenn ihr gemeinsamer großer Bruder, der Zweitälteste, die Feiertage mit den zwei kleinen Kindern dieses Jahr bei den Eltern seiner Frau in Colorado verbracht hätte, wie er es im Wechsel tat. Aber so war das Haus ihrer Eltern definitiv nicht leer.
»Es geht ja nicht darum, dass du etwas anderes vorhast. Das ist durchaus legitim. Wenn du zum Beispiel mal statt der wechselnden Liebschaften eine feste Freundin hättest, mit der du die Feiertage verbringen würdest.« Der Spott blitzte in ihren Augen.
Nachdem er lediglich die Brauen gehoben und ihr einen strengen Blick zugeworfen hatte – schließlich wusste seine Schwester nur zu gut, dass er als Journalist für das internationale Natur- und Wissenschaftsmagazin Terra Incognita Journal ständig unterwegs war und keine Zeit für eine feste Beziehung hatte –, fuhr sie fort:
»Es geht um die Gründe, warum du dich absondern willst.« Jodie pustete in ihre Tasse und rümpfte die Nase, was vermutlich nicht dem leckeren Kakaogeruch, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet war, dass ihr nicht gefiel, dass er sich so vage geäußert hatte.
»Ich hatte ein turbulentes Jahr. Und war schließlich an Thanksgiving zu Hause. Kann ich denn nicht ein Mal meinem Bedürfnis nach ein paar ruhigen Feiertagen nachgeben?«, erwiderte er harscher als beabsichtigt und griff nach einem Erdnussplätzchen.
Jodie legte ihm die Hand auf den Arm. Nun trat Mitleid auf ihre Züge. »Ich habe dich gegoogelt, Nathan P. Taylor. Du hast diesen Jungen aus den Flammen gerettet, als der Hubschrauber, in dem eigentlich auch du hättest sitzen sollen, explodiert ist. Ich weiß, dass deine Kamerafrau und die beiden Piloten ums Leben kamen.«
Jonathan umklammerte die Tasse so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein logisches Denken sagte ihm, dass das Unglück nicht seine Schuld war – es war ein technischer Defekt gewesen. Er hatte nur unendlich viel Glück gehabt, dass er sich entschieden hatte umzukehren, nachdem er den Jungen entdeckt hatte, der in der Hütte von den Flammen eingekesselt gewesen war. Der Kleine war nochmals zurückgekehrt, während ihn alle schon an Bord einer der Einbäume gewähnt hatten. Die Menschen hatten sich so dicht in die schmalen Kanus gedrängt, die gerade die Breite des dafür ausgehöhlten Baumes besaßen, dass es schwierig gewesen war, den Überblick zu behalten, wer noch fehlte.
Jonathan hatte Natalie noch zugerufen, dass sie starten solle und er mit den Einheimischen nachkommen werde. So hatte der Hubschrauber ohne ihn abgehoben ...
Die Bilder verfolgten ihn bis heute.
Die Behörden hatten nach den Trümmern des Hubschraubers gesucht, doch aufgrund des Waldbrandes nicht einmal die Überreste gefunden. Natalie hatte die letzten Kamera-Aufnahmen live über Satellit an den Verlag übertragen. Aus der Luft hatte sie noch gefilmt und kommentiert, wie Jonathan zu der Hütte gerannt war, um den Jungen zu befreien.
Aber selbst wenn es dadurch eine Zeitverzögerung gegeben hatte, änderte dies natürlich nichts an dem Absturz – Jonathans Verstand wusste, dass das Schuldbewusstsein, das ihn plagte, unbegründet war. Nur die Gefühle bekam er manchmal nicht in den Griff. Unwillkürlich rieb er sich über die Brandnarben am Arm, die der Pullover verdeckte. Die äußerlichen Narben heilten besser als die in seinem Inneren.
Seine Familie kannte ihn zu gut. Er hatte keine Lust auf bohrende Fragen, bei denen er ständig alles wieder aufleben lassen musste – auch der Trubel war ihm momentan zu viel. »Würdest du Mom davon überzeugen, dass mit mir alles okay ist?«
Jodie legte ihm die Hand auf die Wange und strich ihm über den Dreitagebart. »Ist es das denn?«
Jonathan zuckte mit den Schultern. »Ich lebe, oder?« Dass er um Natalie und die beiden Piloten trauerte, brauchte er nicht zu betonen – so gut kannte ihn seine Schwester.
Nun blinzelte sie. »Scheiße, Mann, ja! Ich hatte sogar im Nachhinein noch eine riesige Angst um dich, als ich davon gelesen und die Aufnahmen gesehen habe. Dass du in solcher Gefahr geschwebt hast ...«
»Hier in Sacramento ist es schon gefährlich, die Straße zu überqueren, und mindestens jede Woche stirbt jemand bei einem Verkehrsunfall«, wiegelte er ab.
»Aber trotzdem ... Ich bin vor Sorge fast verrückt geworden.«
Er hob die Mundwinkel. »Du sollst mich auch nicht googeln!«
»Zum einen bin ich total stolz auf meinen älteren Bruder und gebe gern bei meinen Freundinnen mit ihm an. Seit der Rettung des Jungen bist du ein Held. Aber du solltest nicht versuchen, mir etwas vorzumachen, wenn es dir nicht gut geht – ich merke es ja doch!« Sie stellte die Tasse auf den steinernen Couchtisch und drückte die Stirn gegen seine Schulter.
Er strich ihr wortlos über den Kopf.
»War es ... nur eine Kollegin?«, murmelte sie gegen seinen Oberarm.
»Natalie war schon länger meine Kamerafrau, wir waren eng befreundet.« Er räusperte sich, weil seine Stimme heiser klang. »Wir hatten mal ganz kurz was miteinander, aber das ist schon über drei Jahre her. Sie war ...«, das Schlucken fiel ihm schwer, »frisch verlobt und wollte im Frühjahr heiraten.«
»Oh nein, der Arme!«
»Du sagst es!« Gedankenverloren streichelte er Jodie über den Arm. Der Druck in seiner Brust kehrte zurück. Die Hilflosigkeit drohte ihn zu überwältigen. Er konnte sich nur mühsam zusammennehmen.
»Wie bist du weggekommen?«
»Mit den Matipu in den Einbäumen.«
»Haben sie alle überlebt?«
»Zum Glück ja.«
»Und was wird aus ihnen?«
»Sie wohnen momentan in Behelfsunterkünften, bis sie endgültig irgendwohin umgesiedelt werden.« Dieses Mal war der steinerne Kloß in seinem Magen auf Zorn zurückzuführen. Die Sorge um diese Menschen, die ihm in der kurzen Zeit, in der er ihre naturverbundene Lebensweise hatte kennenlernen dürfen, ans Herz gewachsen waren und die nun ihre Heimat wegen der Gier einiger kapitalistischer Mächte verloren hatten, ließ ihn ohnmächtig vor Wut zurück.
»Die Vernichtung des Regenwalds für die Bohrungen nach Öl oder auch für den Anbau von Monokulturen wie Palmöl ist solch eine Riesensauerei – auf allen Ebenen!«, erboste sich Jodie.
»Allerdings!« Dass er mit seinen Artikeln allenfalls auf Missstände aufmerksam machen konnte, war ihm häufig nicht genug. Gerade in diesem Fall wäre er den Verantwortlichen am liebsten an die Gurgel gegangen – auch wenn das nichts ändern und auch Natalie nicht wieder lebendig machen würde.
Seine Schwester konnte manchmal endlos plappern wie ein Wasserfall, das Gute an ihr war jedoch, dass sie spürte, wenn er auf etwas absolut nicht näher eingehen wollte, weil ihn das Thema zu sehr belastete. Sie richtete sich auf und schwenkte um. »Weißt du schon, was du über die Feiertage machst? Du bleibst doch nicht allein zu Hause, oder?« Nun stand Sorge auf ihren Zügen.
»Nein. Ich ...« So richtig hatte er sich noch nicht überlegt, was er tun wollte. Tatsächlich erschien ihm der Gedanke, einsam und allein zu Hause in Grübeleien zu versinken, wenig attraktiv. Auch mit Freunden, die ihn gut kannten, etwas zu unternehmen stand für ihn gerade nicht hoch im Kurs. Er wollte niemandem die Festtagsstimmung vermiesen.
Die Idee traf ihn wie ein Blitz. In einem Artikel einer Kollegin hatte er über diese coole Location gelesen. In der die vollkommene Anonymität gewährleistet wurde. Nachnamen spielten keine Rolle, und jeder gab sich einen Vornamen, mit dem er sich in dem Moment am wohlsten fühlte. Ein ewig währender Maskenball – nur bezog sich die Maskerade auf Persönliches, nicht auf Äußerlichkeiten. Es war gleichgültig, woher man kam oder wer man war. Was vorgefallen war, welches Päckchen der Einzelne mit sich herumtrug. Niemand stellte Fragen; die anderen nach persönlichen Hintergründen auszuhorchen war absolut tabu. Das Einzige, was zählte, war, dass man dort war – und zwar frei von allen Lasten für diese kurze Zeitspanne. Man brauchte sich nicht zu verstellen, verbrachte eine zwanglose Zeit miteinander, ohne ein mühsames Annähern – ganz nach Belieben.
Wie hieß die Kneipe noch mal? Gut, dass sein Journalistengedächtnis hervorragend funktionierte ...
The Blue Café!
»Ich werde wohl im Blue Café feiern«, sagte er möglichst beiläufig.
Um Jodies Mundwinkel zuckte es. »Was ist das? Ein Single-Treff?«
Er zuckte mit den Schultern. »So was in der Art.« Der Treffpunkt der verlorenen Seelen, hatte es die Kollegin in dem Artikel genannt.
Ein Sammelpunkt für Singles schien seiner Schwester zu gefallen, ihre Züge hellten sich auf. »Vielleicht begegnest du dort ja deiner Traumfrau?«
Ganz bestimmt nicht! »Tja, wer weiß?«, erwiderte er nur, um Jodie zu beruhigen. Eine Frau, die sein aktuell eher angeschlagenes Seelenheil zusätzlich gefährdete, war nun wirklich das Letzte, was er momentan ertrug. Er räusperte sich. »Aber jetzt erzähl du mal – was macht die Arbeit, Frau Architektin?«
»Wir hatten gehofft, dass das Wetter hält. Na ja, noch sind wir mit dem Bauprojekt im Zeitplan, falls das Schneetreiben nicht zu lange währt. Sicherlich bleibt der Schnee nicht liegen.«
»Ich drücke die Daumen. Ist mit dir und Phil wieder alles im Lot?« Bei ihrem letzten Telefonat hatten sich die beiden gerade kurz zuvor gestritten.
Jodie winkte ab. »Klar, du weißt doch, wie das ist – manchmal schaukelt es sich eben hoch.«
Jonathan schmunzelte unwillkürlich. Wer dabei wilder »schaukelte«, war keine Frage. Seine quirlige Schwester konnte manchmal ein kleiner Hitzkopf sein, aber zum Glück war sein Schwager in spe ein ausgeglichener Mensch, Jodies ruhender Pol, der sie ebenso von Herzen liebte wie sie ihn.
»Soll ich dann Moms Weihnachtsgeschenk von dir mitnehmen, oder willst du es ihr vorher geben?«, wechselte sie das Thema.
Jonathan stellte sich unwissend. »Geschenk? Hätte ich was besorgen sollen? Ich dachte, wir legen zusammen?«
»Oh, du Scheusal!« Sie schlug ihm gegen die Brust. »Du hast doch sicherlich im Duty Free Shop ihr Parfüm gekauft? Ich hatte dir doch gesagt, dass ihres leer ist. Sonst hätte ich ...«
»Natürlich.« Als die Anspannung sichtlich von ihr abfiel, musste er ein Grinsen unterdrücken. »Ich habe sogar noch einen schicken schwarz-roten Seidenschal dazu besorgt – so etwas mag sie doch – und beides schon eingepackt.«
»Selbst?« Neckend zuckte Jodie mit den Augenbrauen.
»Okay, einpacken lassen«, räumte er ein.
»Trotzdem: Du bist super!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ich weiß!« Nun gestattete er sich zu lächeln. »Aber bei Dad bleibt es doch tatsächlich dabei, dass wir dieses Jahr alle für sein Geschenk zusammenlegen? Besorgt Andrew die Golfschläger?«
»Genau.« Jodie gluckste. »Ich bin mal gespannt, wie Dad sich in seinem Ruhestand machen wird. Ob er tatsächlich zum Golfen geht oder Mom nur im Haushalt dazwischenfunkt. Er meinte kürzlich, er könnte ja anfangen, Brot zu backen.«
»Ach, herrje!« Jonathan lachte auf. »Na, das kann tatsächlich heiter werden!«
Für einen Moment bekam er Heimweh. Nach seinen Eltern, seiner ganzen Familie. So unterschiedlich sie alle waren – der Zusammenhalt war dennoch sehr eng.
Nichtsdestotrotz war es die richtige Entscheidung, in diesem Jahr Weihnachten woanders zu verbringen; das sagte ihm sein Bauchgefühl. Irgendwo, wo es keine Sentimentalität, kein Weihnachtsfeeling und – so albern es war – keine echten brennenden Kerzen gab wie bei seiner Mom. Von Flammen und von Feuer hatte er vorerst genug.
Jodie leerte ihre Tasse und zog ihr Handy aus der Hosentasche, um auf die Uhr zu sehen. »So langsam muss ich los. Ich treffe mich noch mit einer Freundin, Isabella. Hast du Lust mitzugehen? Phil kommt später auch.«
Jonathan musterte sie zwischen zusammengekniffenen Lidern. »Isabella? Sagt mir nichts.«
»Du kennst sie auch nicht.« Jodie sah viel zu unschuldig aus. »Sie ist eine unserer Technischen Zeichnerinnen.«
»Das ist doch wieder einer deiner Kuppelversuche?« Er brummte unwillig.
»Isabella ist wirklich nett«, verteidigte sich Jodie.
»Falls sie wirklich ›nett‹ ist, ist es ganz fatal. Dann ist sie nämlich viel zu schade für mich. Wenn du mal eine Freundin hast, die ausschließlich an heißem, hemmungslosem Sex interessiert ist, sag Bescheid«, gab Jonathan zurück und musste seine zuckenden Mundwinkel beherrschen.
Jodie stöhnte auf. »Kannst du auch mal an was anderes denken?«
»Lass mich überlegen ...« Scheinbar grüblerisch rieb er sich über die Stoppeln am Kinn. »Hm, nein?«
»Die Frau, die dich einmal für sich einnimmt, hat ein riesiges Glück, denn du bist wirklich ein toller Typ. Loyal, großzügig, grenzenlos hilfsbereit – ich muss nur an den Jungen denken, den du gerettet hast ...«
»Wir haben uns quasi gegenseitig gerettet«, unterbrach er sie, doch Jodie fuhr ungerührt fort:
»Mit einem Herzen aus Gold, außerdem siehst du wirklich passabel aus. All meine Freundinnen standen total auf dich. Aber bis dahin ...«
»Bis dahin stoße ich mir die Hörner ab – mit Frauen, die ebenfalls nur das Eine im Sinn haben«, unterbrach er sie grinsend. »Aber danke für die Blumen.« Er legte Jodie den Arm um die Schultern. »Meine kleine Schwester ist auch ein toller Mensch. Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Gedanken um mich machst. Aber geh du jetzt mal mit deiner netten Freundin Isabella aus. Und ich werde noch ein Weilchen an meinem Artikel arbeiten – der Abgabetermin drängt nämlich.«
Nachdem sich Jodie mit einer stürmischen Umarmung verabschiedet hatte – nicht ohne ihn nochmals zu fragen, ob er Isabella wirklich nicht kennenlernen wollte –, machte Jonathan sich, entgegen seiner Worte, nicht direkt an die Arbeit, sondern suchte im Internet stattdessen nach dem Blue Café.
Die Website strahlte so viel Anonymität aus, wie es der Aufenthalt dort versprach. Kein geheucheltes oder, noch schlimmer, kein echtes, vor Mitleid strotzendes Interesse.
Kein Weihnachtsgedöns. Ein paar Runden flippern oder Billard spielen, einige Bierchen zischen mit Menschen, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Das klang doch wirklich nach einem perfekten Abend.
Seekers Hope
24. Dezember
Verflucht, war das ein Schneegestöber! Marley schaltete die Scheibenwischer eine Stufe höher. Eigentlich hatte sie sich so richtig auf Winter Wonderland gefreut. Schließlich hatte sie ausgiebig die Wetterkarten studiert und sich auf Schneemassen eingestellt – sturmerprobt war sie ebenfalls ausreichend. Aber das, was sich nun rund um ihren Wagen abspielte, war doch ein bisschen zu viel des Guten.
Obwohl die Uhr erst zwei am Nachmittag zeigte, war es so düster, dass die Scheinwerfer kaum den dichten Schneevorhang durchdrangen. Links und rechts säumten hohe Kiefern die Straße, deren Äste unter den Schneemassen zu bersten drohten.
Im Radio träumte Bing Crosby von einer White Christmas –er hätte aktuell seine wahre Freude.
Zum Glück war ihr Pick-up, ein Allrad-RAM-Truck, geländegängig. Als Meteorologin war sie auch gelegentlich querfeldein unterwegs, wenn sie als Stormhunter den Tornados, auf die sie sich spezialisiert hatte, auf der Spur waren. Nun musste sie nur auf Glatteis aufpassen, das auf dieser Höhe von fast zweitausend Metern jederzeit vorkommen konnte.
Marley verlangsamte die Fahrt, als die Scheinwerferkegel ein Straßenschild beleuchteten: noch siebenundzwanzig Kilometer bis Seekers Hope. Das Ende ihrer Fahrt nahte.
Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. In ihrer Kindheit hatte sie die Weihnachtsfeiertage jedes Jahr mit ihren Eltern hier verbracht, bis diese kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag bei einem Tornado ums Leben gekommen waren. Die Brücke, unter die sie sich geflüchtet hatten, hatte der puren Gewalt des Twister nicht standgehalten.
Marley unterdrückte ein Seufzen. Schließlich hatte sie zumindest Glück gehabt, die letzten dreizehn Jahre bei ihrem Grandpa leben zu dürfen, mit dem sie sich großartig verstanden hatte und der sich alle Mühe gegeben hatte, einem damals pubertierenden Mädchen Vater und Mutter zu ersetzen. Da war es nur selbstverständlich, dass sie ihn die letzten acht Monate, als es ihm so schlecht ging, gepflegt hatte – bis zu seinem Tod vor sechs Wochen.
Chloe! Marley schnaubte. Was für eine falsche Schlange von Nachbarin! Zuerst immer so viel Mitgefühl mit ihr wegen der Doppelbelastung von Pflege und Job vorzuspielen – und sich dann ausgerechnet während der Organisation der Bestattungsfeierlichkeiten nicht nur die übliche Tasse Zucker, sondern auch noch gleich Marleys Ex-Verlobten Darryl mit »auszuborgen«. Nur weil sich dieser »arme Mann« so vernachlässigt gefühlt hatte während Grandpas Krankheit.
Definitiv waren die Weihnachtsfeiertage zu Hause tabu, solange Darryl sie immer wieder anflehte, zu ihm zurückzukommen, auch wenn er Chloe, zu deren Leidwesen, sofort wieder fallen gelassen hatte. Die Bilder, wie sich die beiden nackt in ihrem Bett gewälzt hatten, als Marley überraschend nochmals nach Hause gekommen war, ließen sich nicht aus ihrem Kopf löschen.
»Mistkerl«, stieß Marley zwischen den Zähnen hervor und schnaubte verächtlich. Irgendwie war sie immer davon ausgegangen, dass man in den schwersten Stunden füreinander da war. Schließlich litt sie schrecklich unter dem Verlust ihres Großvaters – das Verhältnis war doch sehr eng gewesen, nachdem nur noch sie beide übrig geblieben waren. Nun war sie allein, die letzte Überlebende in ihrer kleinen Familie ...
Schnell verdrängte sie den deprimierenden Gedanken und rief sich lieber die Wut in Erinnerung, mit der sie besser umgehen konnte.
Grandpa hatte Darryl nie übermäßig gemocht ... Marley seufzte. Sie hätte auf ihn hören sollen. Anfangs hatte sie immer gedacht, der alte Mann wäre eifersüchtig.
Doch sie hatte sich vermutlich von Darryls gutem Aussehen und dem Charme blenden lassen und die Tatsache, dass er sie stets mit kleinen Aufmerksamkeiten überschüttet hatte, für Liebe gehalten. Dabei war es für ihn nur einfacher gewesen, etwas zu kaufen, statt für sie da zu sein, als sie ihn am dringendsten gebraucht hätte.
»Nein, du wirst jetzt nicht verbittert werden, Marley Lara Brookes!«, sagte sie resolut zu ihrem Ebenbild im Rückspiegel, bevor sie die Konzentration wieder auf die Straße richtete. »Du bist achtundzwanzig Jahre alt – kein Grund, in Torschlusspanik zu verfallen. Wenn sich kein vernünftiger Kerl auftut, bleibst du lieber allein. Du bist selbstständig, unabhängig, verdienst genug und ...« Sie stockte. »Und wenn sonst niemand mit dir redet, führst du eben Selbstgespräche«, fuhr sie trocken fort und zog eine Grimasse, was die paar Sommersprossen auf ihrer Nase zum Tanzen brachte.
Sie war nicht unbedingt der Typ Frau, nach dem sich die Männer scharenweise umdrehten – eher durchschnittlich. Durchschnittlich groß, durchschnittliche Figur ohne auffällige Kurven, aber auch nicht unweiblich, manchmal ein bisschen burschikos, was vielleicht auch mit dem frühen Verlust ihrer Eltern, der Erziehung durch einen alleinstehenden Mann oder ihrem von Männern dominierten Beruf zusammenhing. Ihr manchmal trockener bis schwarzer Humor traf nicht jeden Geschmack.
Das Auffälligste an ihr waren vermutlich die kastanienbraunen Locken, die sie momentan auf Kinnlänge gekürzt hatte, weil Darryl auf lange Haare stand. Und natürlich die großen braunen Augen, die ihr Dad immer als »Schokokugeln« bezeichnet hatte, als sie klein gewesen war.
Wärme stieg in ihr auf, die nicht von ihrer Sitzheizung herrührte.
Weihnachten an dem Ort zu verbringen, an dem sie mit ihren Eltern glücklich gewesen war, war doch sicherlich keine allzu schlechte Idee. Seekers Hope. Schon der Name, der auf die Zeiten des Goldrauschs zurückzuführen war, verströmte etwas Hoffnungsvolles.
Sie ging vom Gas und verfiel in Schritttempo, als erneut ein Schild am Straßenrand auftauchte.
Willkommen im Blue Café!, stand in großen, blauen Lettern auf einem weißen Schild, auf dem eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger nach rechts zeigte. Darunter in kleinen Buchstaben:
Egal, wo Du herkommst oder was Du darstellst – was zählt, bist nur Du allein. Lass Deine Sorgen zu Hause! Hier findest Du den Platz, an dem Du einfach Du selbst sein kannst. Leben und leben lassen!
Die Worte lösten eine unbestimmte Melancholie in ihr aus, die sie schnell abschüttelte. Sie ignorierte die Abzweigung und fuhr geradeaus weiter in Richtung Seekers Hope.
Die Wehmut verstärkte sich, als Chris Rea im Radio davon sang, dass er an Weihnachten nach Hause kommen würde.
Nach Hause! San Francisco war definitiv ihr Zuhause. In der »Golden City« war sie aufgewachsen und hatte nirgendwo anders gelebt, auch wenn es sie auf der Jagd nach Tornados gelegentlich für einige Tage in andere Gebiete der Vereinigten Staaten verschlug. In der »Bay« ruhten ihre Wurzeln.
Aber auch die Fahrt nach Seekers Hope löste seltsamerweise eine Art Heimatgefühl in ihr aus, das sie überraschte. Ob es daran lag, dass die Erinnerungen an die Zeit mit ihren Eltern hier so präsent waren? Auf einmal wünschte sie sich, sie wäre auch mal mit ihrem Grandpa hierhergefahren. Aber als Marley älter war und einen eigenen Führerschein besaß, war ihr Großvater, der seit längerer Zeit an Parkinson gelitten hatte, schon nicht mehr fit gewesen, und sie hatte ihm die inzwischen aufgrund der Witterungsverhältnisse fast schon fünf Stunden währende Fahrt nicht zumuten wollen.
Als die Scheibenwischer anfingen zu quietschen, fiel Marley auf, dass es aufgehört hatte zu schneien. Schnell betätigte sie die Spritzanlage. Der Geruch nach Frostschutzmitteln zog durch die konstant brummende Lüftung ins Innere.
Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie das Ortsschild von Seekers Hope passierte, auf dem ein Murmeltier Besucher willkommen hieß. Es war über und über mit Weihnachtsschmuck behängt, alles glitzerte und blinkte.
Hier schien die Zeit wirklich stehen geblieben zu sein. Viel hatte sich seit ihrem letzten Aufenthalt vor dreizehn Jahren auf den ersten Blick nicht verändert. Seekers Hope versuchte nach wie vor, sich das Flair des Goldgräberstädtchens zu bewahren. Die Fassaden der Häuser waren antik angehaucht – zumindest das, was man unter dem Glitzern und Blinken des üppigen Weihnachtsschmucks noch erkennen konnte.
Marley unterdrückte ein Schmunzeln. Für Weihnachtshasser war der Ort definitiv nicht geeignet. Auch über die Straßen zogen sich Lichterketten aus funkelnden Sternen und Schlitten mit dem Weihnachtsmann und seinen Rentieren, die von Rudolph angeführt wurden.
Die Pension, in der sie einst mit ihren Eltern gewohnt hatte, gab es leider nicht mehr – heute war ein Souvenirladen darin untergebracht. Aber das Bed & Breakfast, das sie sich alternativ gebucht hatte, hatte, zumindest den wenigen Bildern auf der eher einfach gehaltenen Website nach zu urteilen, ebenfalls sehr ansprechend ausgesehen. Ein altes Ehepaar vermietete in einer persönlichen Atmosphäre Zimmer.
Marley folgte den Anweisungen des Navigationssystems quer durch den Ort. Überall standen glanzvolle Weihnachtsbäume, doch der Christbaum im Ortskern übertraf sie alle an Prunk. Mit den Ästen, die nicht nur mit Lichtern und Figuren, sondern auch mit einer Schneeschicht bedeckt waren, erstrahlte er regelrecht. Die Erinnerungen, wie sie hier an der Hand ihrer Eltern die Krippe mit ihren mannshohen Holzfiguren bewundert hatte, prasselten auf sie ein. Auch diese stand noch unverändert da.
Schnell zwang sich Marley, die Aufmerksamkeit wieder auf die Straße zu richten. Der Verkehr hier war um diese mittägliche Zeit noch zähfließend, sie musste aufpassen. Einige der Fahrzeuge hatten Skier auf dem Dach, andere Dachboxen – vermutlich waren sie zu den umliegenden Skigebieten der Sierra Nevada unterwegs oder kamen daraus zurück.
Das B&B lag am westlichen Ortsrand. Das Steinhaus mit den grünen Fensterläden war über und über mit Lichterketten und blinkenden Sternen verziert, die in allen Farben funkelten. Die Parkplätze vor dem Haus waren belegt, aber es war sicherlich in Ordnung, dass sie kurz hinter den Fahrzeugen hielt, um einzuchecken und ihre Tasche auszuladen.
Marley tauschte die Sneakers, die sie zum Fahren getragen hatte, gegen Boots, hangelte sich den Anorak vom Rücksitz ihrer Doppelkabine und griff nach dem kleinen Rucksack, der ihr als Handtasche diente, bevor sie durch den kalten Wind über den wohl erst kürzlich frei geschippten Pfad zur hölzernen Veranda eilte. Vor dem Nachbargebäude erklang Kindergeschrei – ein paar Jungs und Mädels machten Schneeengel.
Marley lächelte. Die Luft roch nach Schnee, und aus dem Inneren duftete es verlockend nach Gebäck. Genießerisch sog sie den Atem ein, als sie auf den Klingelknopf drückte.
Ein grauhaariger, vom Alter gebeugter Mann öffnete die Tür und blinzelte sie durch eine fleckige Brille verwirrt an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Name ist Marley Brookes, ich habe ein Zimmer reserviert.«
Er wirkte noch verwirrter als soeben. »Norma, haben wir noch ein Zimmer frei?«
»Nein, Alfred, es ist alles belegt«, kam es aus dem Inneren des Hauses zurück.
»Ich hatte gebucht«, erklärte Marley freundlich und zückte ihr Handy, um die Buchungsbestätigung zu öffnen.
Der Alte winkte ab. »Oh, mit dem neumodischen Zeugs komme ich nicht klar. Das macht mein Sohn, aber er ist über die Feiertage verreist.« Über die Schulter gewandt rief er: »Norma, kommst du mal?«
Die dralle Frau, die Marley mit Lockenwicklern im Haar und einer mehlbestäubten Schürze entgegenhumpelte, war sicherlich auch weit über siebzig. »Was gibt's denn, Alfred?«
»Ich hatte ein Zimmer reserviert auf den Namen Marley Brookes«, wiederholte sie.
»Also, ich bin ja körperlich nicht mehr so fit«, Norma klopfte sich mit dem Finger gegen die Stirn und hinterließ dabei einen mehligen Abdruck, »doch mein Oberstübchen funktioniert noch. Der Name sagt mir gar nichts.«
Marley trat einen Schritt nach hinten und überprüfte die Hausnummer und das Klingelschild. »Aber ich bin doch hier beim Glen Madison Country House?«
»Ja, Darling, das sind Sie«, bestätigte Norma.
Verwirrt hielt Marley ihr die Buchungsbestätigung auf dem Handy entgegen. »Ich habe gebucht, und es wurde mir bestätigt.«
»Haben Sie schon bezahlt?«
»Nein, es hieß in der E-Mail, das Zimmer sei für mich reserviert, ich solle vor Ort bezahlen.« Marley wurde es mulmig zumute – hätte sie bloß über ein Buchungsportal gebucht!
Norma legte besorgt die Hände auf die Wangen, was erneut Mehlspuren hinterließ. »Es tut mir schrecklich leid, ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist, aber alle Gäste haben schon eingecheckt. Wir haben kein Zimmer mehr frei.«
Marley seufzte. »Wissen Sie zufällig, ob es sonst noch freie Unterkünfte hier im Ort gibt?«
Norma nahm sie am Arm. »Jetzt kommen Sie erst mal rein, junge Frau, bevor wir hier draußen erfrieren. Ich denke, alle Übernachtungsmöglichkeiten in der Gegend sind ausgebucht – wissen Sie, die Leute kommen gern über die Feiertage nach Seekers Hope, weil es hier so gemütlich ist.« Stolz klang aus ihrer Stimme.
Bevor Marley der Verzweiflung, die sie überkam, Luft machen konnte, zog Norma sie in die gemütlich mit viel Holz eingerichtete Küche – der Geruch nach frischem Gebäck verstärkte sich.
Sie drückte sie auf einen Holzstuhl. Ohne zu fragen, schenkte sie ihr eine Tasse nach Vanille duftenden Tee ein, schob ihr die Zuckerdose hin und befüllte einen Teller mit noch dampfenden Plätzchen vom Blech. »Greifen Sie zu.«
»Das ist nicht nötig ...«
»Papperlapapp. Sie sind schließlich umsonst hergekommen – das tut mir sehr leid. Kosten Sie meine Cream Cheese Cookies. Ich schreibe Ihnen derweil eine Adresse auf, wo sie noch ein Zimmer bekommen, wenn Sie sagen, ich hätte Sie geschickt. Die O'Donnells, Carrie und Larry, sind in der Kirche sehr aktiv und haben gelegentlich fremde Gäste von auswärts.«
»Ganz herzlichen Dank! Für die tolle Versorgung und die Adresse.« Marley rührte einen Löffel Zucker in die Tasse. »Ich möchte aber niemanden heute am Weihnachtsabend privat belästigen. Wird in den Hotels oder Pensionen nichts mehr frei sein?«
Norma, die sich zum Schreiben an den Tisch gesetzt hatte, schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Lockenwickler bedenklich ins Wanken gerieten. »Höchstens oben im Blue Café. Das ist auf dem Berg.« Sie wirkte sorgenvoll. »Aber die feiern gar kein Weihnachten, das ist kein Platz zum Fröhlichsein.«
»Danke! Das Gebäck ist sehr lecker.« Marley knabberte gedankenverloren an einem der durch den Frischkäse weich und saftigen Plätzchen und rief sich das Straßenschild des Blue Café in den Sinn.
Egal, wo Du herkommst oder was Du darstellst – was zählt, bist nur Du allein. Lass Deine Sorgen zu Hause! Hier findest Du den Platz, an dem Du einfach Du selbst sein kannst. Leben und leben lassen!
Frisch gestärkt und mit der Anschrift der O'Donnells auf einem Zettel, den sie in die Hosentasche ihrer Jeans schob, verabschiedete sich Marley kurz darauf wieder. Das Innere des Wagens hatte sich bereits merklich abgekühlt – schnell schaltete sie die Sitzheizung an und stellte das Gebläse auf die höchste Stufe, bevor sie die Adresse der O'Donnells in das Navi eingab.
Gemächlich tuckerte sie die Hauptstraße entlang. Tatsächlich hatten sämtliche Pensionen das rote Zeichen für »alle Zimmer belegt« draußen hängen. Kurz überlegte Marley, an dem großen Skihotel Seamus River Inn in der Ortsmitte anzuhalten, dann entdeckte sie auch dort ein Schild, auf dem Belegt stand.
Sie steuerte auf den Parkplatz und ließ den Blick über den Ortskern und die weihnachtlich geschmückten Straßen und Geschäfte schweifen. Auf einmal fiel ihr auf, dass es hier niemanden zu geben schien, der allein war. Da waren Pärchen, die Hand in Hand oder sogar Arm in Arm die Auslagen studierten. Ein älteres Paar – er auf einen Stock gestützt – lief hinter einer Familie mit kleinen Kindern her. Zwei Frauen bummelten untergehakt an den Schaufenstern vorbei, und eine Gruppe Männer an einer Straßenecke lachte.
Sonst war Marley doch nicht der trübsinnige Typ, aber auf einen Schlag fühlte sie sich allein. Und zwar buchstäblich mutterseelenallein!
Nach dem Tod ihres Grandpas hatte sie nie richtig Zeit gehabt zu weinen – sie hatte einfach funktionieren müssen. Nun brannten die Tränen hinter ihren Lidern, doch die Augen blieben trocken.
Eine Weile gestattete sie sich den Kummer, dann richtete sie sich resolut auf. Das hätte Grandpa nicht gewollt – er hatte Sentimentalität seinetwegen nicht leiden können. Sosehr sie sich auf den Ort und die Erinnerung an ihre Eltern gefreut hatte – auf einmal schmerzte auch dieser Verlust wieder unmäßig. Nur der Gedanke an Darryl erfüllte sie mit Trotz und Wut, deshalb konzentrierte sie sich darauf.
Ganz bestimmt würde sie nicht einsam Trübsal blasen!
Das Zuhause der O'Donnells lag direkt am Ortskern. Dies schien tatsächlich eher eine Privatvermietung zu sein – es gab zumindest kein Schild, das das Gebäude als Pension auswies.
Marley lenkte rechts ran in eine Parklücke. Das Herz ging ihr auf, als sie das gemütliche Haus sah. Es war ganz aus Holz gebaut. Der Dachfirst, die Fenster und die gesamte Veranda waren mit weißen Lichterketten verziert, die wie Tropfen hinunterfielen – ein funkelnder Wasserfall. Ein älterer Mann, der mit den weißen, zerzausten Haaren ein bisschen wie Doc aus Zurück in die Zukunft aussah, fegte den Schnee von dem Weg, der zum Eingang führte.
In dem Moment trat auch eine ältere Frau, eingemummelt in eine dicke lila Steppjacke, mit einer Mülltüte in der Hand auf den Hof. Als der Alte sie sah, ließ er die Schippe fallen und eilte, so schnell ihn seine Beine auf dem glatten Weg trugen, zu ihr, um ihr die Tüte abzunehmen. Sie küsste ihn auf die Wange und streichelte ihm über den Kopf.
Die Szene war so rührend, dass Marleys Kehle wieder eng wurde. Ihre Eltern hatten auch solch ein inniges Verhältnis zueinander gehabt, wie auch ihre Großeltern, als ihre Granny noch gelebt hatte. Das war fast zwanzig Jahre her, aber Marley erinnerte sich noch gut daran.
Früher hatte sie noch gedacht, es würde Darryl und ihr auch so gehen, wenn sie sich einmal zusammengerauft hatten, aber nun musste sie sich eingestehen, dass sie sich etwas vorgemacht hatte. Diese ganz spezielle Verbindung hatte nie zwischen ihnen existiert, dafür war er viel zu egozentrisch.
Marley schüttelte sich. Sie würde diese lieben Leute hier nicht belästigen. Sicher würden sie sich verpflichtet fühlen, sie einzuladen, den Weihnachtsabend mit ihnen zu feiern. Sie wollte sich nicht in diese traute Zweisamkeit drängen.
Schnell zückte sie ihr Handy und googelte das Blue Café. Es war keine normale Bar, kein übliches Hotel; es lud die Gäste ein, die Sorgen zu Hause zu lassen und Geselligkeit in vollkommener Anonymität zu genießen – doch gerade diese Namenlosigkeit barg eine gewisse Hoffnung auf Gemeinschaft, die Marley irgendwie ansprach.
Vielleicht wäre es tatsächlich das Beste, einfach ein paar Stunden Vergessen zu finden? Wenn es ihr nicht gefiel, konnte sie immer noch in den Ort zurückkommen. Zumindest hätte sie im Blue Café für die Nacht ein Dach über dem Kopf, ohne irgendwelche fremden Leute behelligen zu müssen. Schnell buchte sie das letzte freie Zimmer. Ansonsten gab es nur noch zwei Plätze in einem Schlafsaal mit acht Betten.
Beim letzten Blick auf das Haus, das so viel innige Wärme ausstrahlte, geriet ihr Entschluss ins Wanken, und nur mühsam riss sie sich los und lenkte den Wagen in Richtung Ortsausgang.
Die Strecke zum Blue Café führte steil bergauf, es lag ein Stück vom Ort entfernt. Hier gab es auch rundum Einsamkeit für die Einsamen. Momentan wirkte das schlichte weiße Gebäude mit dem dunklen Dach richtig malerisch, wie es von den hohen schneebedeckten Kiefern eingerahmt wurde.
Just in dem Moment, in dem Marley ihren Pick-up parkte, riss der Himmel auf, und ein Sonnenstrahl fiel auf das Haus, hüllte es in einen hellen Schein. Obwohl sie sich eigentlich nicht für abergläubisch und Wetterphänomene als Meteorologin auch nicht für göttliche Fügungen hielt, lief ihr unwillkürlich eine wohlige Gänsehaut über die Arme. War es vielleicht genau die richtige Entscheidung gewesen hierherzukommen?
Resolut ergriff sie ihren kleinen Rucksack und stapfte über den schneebedeckten Weg zum Eingang. Aus dem hinteren Teil des Hauses, in dem das eigentliche Café lag, ertönte leise Rockmusik. Die Halle hatte das Flair eines Backpacker-Hotels, und sogar hier wurde Anonymität gewahrt: Es gab einen Automaten zum Einchecken.
Sie tippte den anonymisierten Buchungscode ein, zahlte bar und bekam eine Zutrittskarte für das Zimmer mit der Nummer acht. Ihr Grandpa, der einige Zeit beruflich in China verbracht hatte, hatte immer gesagt, dass die Acht dort eine »gute Zahl«, also positiv besetzt sei.
Die Zimmer waren schlicht, fast schon nüchtern gehalten. Ein Einzelbett aus Buchenholz-Imitat mit den passenden Möbeln – Nachttisch, Schrank, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. Alles war definitiv auf eine Einzelperson ausgelegt. Ein smaragdgrüner Linoleumbelag bedeckte den Boden. Praktisch zum Wischen bei dem Wetter, ging es Marley durch den Kopf.
Eine Tür führte ins Bad, das mit weißen Kacheln, einer Eckdusche und einer Toilette mit Waschbecken ebenfalls einfach gehalten war. Selbst die Handtücher waren weiß. Aber alles war sauber und roch schwach nach einem Desinfektionsmittel.
Sie nahm den Plan des Gebäudes von ihrem Nachtisch und studierte die Raumaufteilung. Es gab das Blue Café, das wohl mehr einer Bar glich, in dem es neben einem Essbereich auch Lese- und Spielecken gab sowie Dart-Automaten, Billardtische und sogar eine Bowlingbahn im Keller.
Jetzt würde sie erst mal ihr Gepäck holen und sich einen Kaffee am Automaten ziehen, den sie im Foyer gesehen hatte. Sie freute sich schon auf eine schöne heiße Dusche danach. Vielleicht würde sie auch noch ein kleines Nickerchen machen – in den letzten Wochen hatte sie kaum Ruhe bekommen, sich jede Nacht viele Stunden schlaflos im Bett gewälzt. Und später würde sie sich einen Beyond Meat Burger gönnen.
Verschlaf doch einfach Weihnachten, lockte diese kleine Stimme in ihrem Inneren.
Das würde sie mit Sicherheit nicht schaffen, aber zumindest wirkte es hier im Blue Café nicht, als würden zu viele Erinnerungen in ihr aufkochen.
Schnell verdrängte sie die Nervosität, die beim Gedanken daran aufkommen wollte, dass sie Weihnachten allein inmitten lauter wildfremder Menschen verbringen sollte.
Sei einfach du selbst, kleine Marley, denn genau so bist du wunderbar, erklang die Stimme ihres Großvaters in ihrem Ohr.
»Ich weiß, du hörst es nicht gern, aber du fehlst mir«, erwiderte sie leise, bevor sie auf den Flur hinaustrat.
Blue Café
24. Dezember
Jonathan fuhr mit der Kreide über die Spitze des Queues, während er die Blicke durch das Blue Café schweifen ließ. Das einzig Blaue hier waren das Schwarzlicht rund um die Bar und der Lederbezug der Barhocker. Ob der Name wohl eher da herrührte, dass der eine oder andere »seinen Blues« hier zu vergessen suchte?
Im Publikum waren jegliche Altersgruppen vertreten, die Mehrheit war wohl zwischen zwanzig und Mitte fünfzig. Die meisten trugen Jeans und Shirts, auch Hemden, meist kariert, waren dabei. Es herrschte ein leichter Männerüberschuss.
Sein aktueller Billardgegner gehörte zu den Ältesten. Vermutlich war er jünger, als er mit den grauen Haaren und dem wettergegerbten Gesicht aussah – er wirkte wie weit über sechzig.
Auf jeden Fall war er im Billard äußerst erfahren, denn er räumte momentan bereits gehörig ab und versenkte eine halb volle Kugel nach der nächsten. Endlich verfehlte er, und Jonathan kam zum Zug. Es gelang ihm, vier volle Kugeln zu versenken, bevor auch er das nächste Loch knapp verpasste: Die grüne Fünf prallte von der Kante ab.
Es wurde ein schnelles Spiel. Nach zwei weiteren Runden gewann der Ältere. Jonathan spendierte ihm ein Bier, schlug aber eine Revanche aus.
Er lachte. »Ich muss erst mal etwas essen, bevor ich noch mehr Verlierer-Bier trinken kann.«
Der Ältere schlug ihm feixend auf die Schulter. »Alles klar. Vielleicht später wieder.«
Als Jonathan die Speisekarte studierte, auf der hauptsächlich Burger in unzähligen Varianten sowie Salate angeboten wurden, musste er unwillkürlich an seine Familie denken, die wohl gerade bis über beide Ohren in den Vorbereitungen zum Weihnachtsessen steckte. Am Weihnachtsabend aßen sie immer das Gleiche: einen mächtigen Truthahn mit viel Soße, dazu Süßkartoffeln, einen Auflauf aus grünen Bohnen, Kartoffelbrei, und dazu wurden eingekochte Cranberrys mit Birnen serviert. Zum Nachtisch gab es traditionell einen Pecan Pie.
Während der Essensvorbereitungen, die hauptsächlich die Frauen übernahmen, würde sein Grandpa wie jedes Jahr einen Eierpunsch zubereiten. Eigentlich durfte er selbst aufgrund der Blutdruck- und Cholesterinwerte nichts davon trinken, aber er behauptete stets, dass er ja schließlich kosten musste, was er servieren wollte. Und das tat er ausgiebig.
Unwillkürlich musste Jonathan grinsen.
Die dunkelhaarige Frau, an der er soeben vorbeikam, hob fragend die Augenbrauen. Abrupt blieb er stehen. Diese dunklen Augen waren markant. Kurz setzte sein Verstand aus, bis er realisierte, dass sie vermutlich dachte, sein Grinsen hätte ihr gegolten.
Verschämt zuckte er mit den Schultern. »Sorry, ich musste gerade an etwas denken.«
»Dann ist es ja gut. Ich habe mich schon gefragt, ob mir noch etwas von dem leckeren Burger im Gesicht klebt oder ich eine Klopapierfahne am Schuh hängen habe, so breit, wie du gegrinst hast«, gab sie trocken zurück.
Jonathan musste lachen. »Nein, mit dir ist alles in Ordnung.« Sogar mehr als! Sie sah nicht nur unglaublich sympathisch aus mit diesen faszinierenden dunklen Augen, den süßen Lachfalten und den kinnlangen rötlich braunen Locken – ihm gefiel auch der trockene Humor. Ihre ebenmäßigen Zähne leuchteten im Schwarzlicht beim Lachen grellweiß auf. Der dunkelblaue Hoodie, die enge verwaschene Jeans und die knöchelhohen Boots wirkten sportlich, doch er war sich ziemlich sicher, dass sich darunter eine sexy Figur verbarg.
»Dann bin ich ja froh«, erwiderte sie und schob sich schmunzelnd an ihm vorbei, wobei ihm kurz der frische Duft nach Seife in die Nase stieg.
Kurz kämpfte Jonathan mit sich. Sie hatte ein unbestimmtes Prickeln in ihm ausgelöst, das ihn verwirrte. Normalerweise hätte er jetzt in den Flirtmodus geschaltet, wäre ihr nachgegangen und hätte sie nach einer Burger-Empfehlung gefragt, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Doch nicht hier. Nicht heute.
Zumal sie nicht in sein Beuteschema für One-Night-Stands passte – nämlich Frauen, die gleich schon auf den ersten Blick so aussahen, als hätten sie nichts anderes als ein unverbindliches Abenteuer im Sinn.
So wirkte diese hier ganz und gar nicht. Sie war wohl eher der kumpelhafte Typ – eine Gefährtin, mit der man Pferde stehlen konnte. Vermutlich war sie auch sehr gut dazu in der Lage, einen Mann, der sie anflirtete, abblitzen zu lassen. Schließlich war auch sie sicherlich nicht umsonst hier im Blue Café: Sie wollte ihre Ruhe haben, wie er eigentlich auch.
Zudem hatte er wirklich Hunger.
Jonathan entschied sich für einen Truthahn-Burger mit Süßkartoffel-Pommes-frites. Wenigstens ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Essen zu Hause. Die Rockmusik war hier im Essensbereich etwas gedämpfter, dennoch wippte er gelegentlich unwillkürlich mit dem Fuß mit. Er aß direkt an der Theke, neben einer schlanken Blonden, die ihn sogleich in ein Gespräch verwickelte. Trotzdem wanderten seine Gedanken immer wieder ins Amazonasdelta zurück.
Knapp zwei Wochen hatten sie in dem Dorf verbracht. Er hatte schon von Anfang an mit der Überlegung gespielt, mit den Ureinwohnern in den Einbäumen zu fahren, falls die Ölfirmen ihre Drohungen wahr machten und tatsächlich mit der Brandrodung begannen. Aber Natalie hatte unbedingt den Abzug der Einheimischen aus dem Hubschrauber filmen wollen. Hätte er sie bloß überredet ...
Schnell rief er sich zur Vernunft, als er merkte, dass seine Grübeleien sich schon wieder um dasselbe Problem drehten, und stand so abrupt vom Barhocker auf, dass dieser ins Schwanken geriet. Geistesgegenwärtig fing er ihn auf.
Die Blonde zwinkerte ihm zu. »Bist du immer so stürmisch?«
Er grinste. »Es kommt darauf an – gelegentlich schon.«
Auch ihr Lächeln wurde breiter; man könnte es schon als anzüglich bezeichnen. »Gut zu wissen.«