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Wo die Liebe hinfällt
Annabellas Existenz ist bedroht, denn die Schwierigkeiten in ihrem Café häufen sich. Ganz Lynnwood Falls steht ihr zur Seite - auch Will. Er ist es auch, der ihr zur Hilfe kommt, als sie in einer kalten Winternacht mit dem Auto steckenbleibt. Dabei ist sie eigentlich gar nicht gut auf ihn zu sprechen, seit er sie einst beim Abschlussball ohne Absage hat sitzenlassen. Als sie die wahren Gründe für sein damaliges Nichterscheinen erfährt, stürzt sie das in ein tiefes Gefühlschaos.
Nachdem sie ihn bei einer Feier ihrer Freunde Elly und Brandon unter dem Mistelzweig küsst, ist es um sie geschehen: Sie verliebt sich bis über beide Ohren. Doch Will hat sich geschworen, niemals eine feste Bindung einzugehen ...
Knisternde Romantik, warmherzige Charaktere und viel Drama - das alles bietet der zweite Band der romantischen Reihe um die idyllische Kleinstadt Lynnwood Falls.
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Seitenzahl: 432
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Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung TEIL
Zitat TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Dankeschön
Lynnwood Falls – Sommer der Liebe
Annabellas Existenz ist bedroht, denn die Schwierigkeiten in ihrem Café häufen sich. Ganz Lynnwood Falls steht ihr zur Seite – auch Will. Er ist es auch, der ihr zur Hilfe kommt, als sie in einer kalten Winternacht mit dem Auto steckenbleibt. Dabei ist sie eigentlich gar nicht gut auf ihn zu sprechen, seit er sie einst beim Abschlussball ohne Absage hat sitzenlassen. Als sie die wahren Gründe für sein damaliges Nichterscheinen erfährt, stürzt sie das in ein tiefes Gefühlschaos.
Nachdem sie ihn bei einer Feier ihrer Freunde Elly und Brandon unter dem Mistelzweig küsst, ist es um sie geschehen: Sie verliebt sich bis über beide Ohren. Doch Will hat sich geschworen, niemals eine feste Bindung einzugehen ...
Helen Paris liebt das Abtauchen in fremde Welten, ob virtuell in Geschichten oder auf ihren Reisen rund um den Globus. Seit knapp zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann zeitweise auf ihrem Segelkatamaran und ist auf allen Weltmeeren unterwegs. Eine halbjährige Reise quer durch Nordamerika mit Schiff und Wohnmobil hat ihre Liebe zu diesem vielseitigen Kontinent geweckt.
Helen Paris
Lynnwood Falls – Und dann kamst du
Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven © iStockphoto: jacoblund; © shutterstock: Dudarev Mikhail | tomertu | Tanya Sun
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9849-6
www.be-ebooks.de
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„Jeder sieht, was du scheinst.
Lynnwood Falls
Ein Poltern schreckte Annabella aus den Gedanken. Seit der E-Mail, die sie am Morgen erhalten hatte, war sie wirklich durch den Wind – sonst war sie doch nicht so unaufmerksam! Normalerweise hätte sie sofort reagiert und die Tür geöffnet, doch die Furcht legte sie regelrecht lahm.
»Warten Sie, Mrs Albright, ich helfe Ihnen!« Annabella griff nach ihrer Strickjacke und schlüpfte hinein. Sie eilte der alten Dame hinterher, die, in einen lilafarbenen wattierten Mantel gehüllt, eine mit Kürbiskuchen und Cupcakes beladene Pappschachtel in den Händen balancierte, und öffnete die Glastür.
Die eisige Kälte fühlte sich auf Annabellas Wangen an, als wäre Happy Lee, ihre Katze, ihr mit den Krallen ins Gesicht gefahren. Schaudernd wickelte sie sich die dünne Jacke enger um die Schultern, als sie ihrer Kundin zu deren Wagen hinterhereilte, um auch dort die Tür zu öffnen. »Einen schönen Nachmittag und viel Spaß bei Ihrem Kaffeekränzchen!« Die Tür des alten Dodge schepperte beim Zuschlagen.
Als sie sich umdrehte, sah sie, dass in der rot leuchtenden Schrift von Annabella's Café offenbar ein Lämpchen im »f« defekt war. Erschreckend, dass es schon um drei Uhr nachmittags so dunkel war, dass ihr das auffiel. Heute war wirklich ein extrem trüber Tag. Er hatte eine Nebeldecke über Lynnwood Falls gelegt, die nicht mal der frostige Wind wegpusten konnte, der doch so mühelos den Weg zwischen die Maschen ihrer Strickweste fand.
Das einzig Schöne an der Kälte waren die Eisblumen, die sie an die Fensterscheiben des Cafés zauberte, und das heimelige Licht im Inneren, das bei solch einem Wetter irgendwie mehr wohlige Wärme als sonst verbreitete.
Annabella trat einen Schritt zurück, um sich nochmals die Fassade anzusehen, und prallte mit voller Wucht gegen etwas. Genauer gesagt: gegen einen Menschen.
Mit einer Entschuldigung fuhr sie herum, legte den Kopf in den Nacken und blickte in ein Paar Augen – grau wie ein Novembertag in Maine. Ein Stich fuhr ihr bis tief ins Innerste. Will McGinty!
Sofort prasselten unzählige Eindrücke und Erinnerungsfetzen auf sie ein, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Das Bedrohliche ging nicht körperlich von ihm aus – groß und schwarzhaarig wie er war –, auch nicht von der dunklen Kleidung oder der kleinen Narbe an seiner linken Augenbraue. Sein Blick wirkte eher schuldbewusst, und komischerweise versetzte genau das sie in Aufruhr. Heiße Wut kochte in ihr hoch, die sie für kurze Zeit die Kälte vergessen ließ.
»Sorry«, murmelte er, während er krampfhaft versuchte, den Karton auf seinem Arm, in dem vermutlich Einkäufe aus Doris' Supermarkt steckten, vor dem Hinabstürzen zu bewahren.
Die Entschuldigung kommt reichlich spät, lag ihr auf der Zunge zu erwidern, doch sie beherrschte sich. Das war ja albern. Schließlich hatte Will es auf den Zusammenstoß soeben bezogen. Und er hatte ihr damals gesagt, wie leid es ihm tue – nur hatte ihr das hinterher auch nicht mehr geholfen.
»Es war gerade meine Schuld. Pardon!«, sagte sie steif. Demonstrativ drehte sie ihm wieder den Rücken zu. Sie schaffte es sogar, den süßen Golden Retriever zu ignorieren, der an ihrem Bein schnüffelte, obwohl es ihr beim Anblick der treuherzigen braunen Augen und des kuscheligen goldfarbenen Fells von Herzen schwerfiel. Doch offensichtlich gehörte er zu Will, und sie hatte nun wirklich keine Lust, unnötig Zeit mit ihm zu verbringen. Der Tag war bislang schon schlecht genug gewesen.
Kurz hatte sie den Eindruck, Will wollte noch etwas sagen, aber immerhin verstand er wohl den Wink und eilte nach einem »Es ist ja nichts passiert« weiter.
Genau. Es ist nichts passiert. Vielleicht ist das genau das Problem, schoss es ihr durch den Kopf, bevor sie den Gedanken weit von sich schob. Sie wollte gerade die Tür aufstoßen, als ein Ruf sie zurückhielt.
»Annabella! Warte!« Hilary Higgins, die rechte Hand des Bürgermeisters, kam im Stechschritt auf sie zugeeilt. Sie stieß in kurzen Abständen Atemwolken aus, und die hochtoupierten blondierten Haare gerieten ins Wanken. Wenigstens trug Hilary warme Stiefel und einen Wintermantel, um die Annabella sie im Moment glühend beneidete.
Fröstelnd schlug sie die Arme um ihren Oberkörper und wünschte sich, sie hätte die dicke Jacke angezogen. Die Kälte kam mit aller Macht zurück. »Was kann ich für dich tun, Hilary?«
»Wir dachten, wir könnten für die Dezember-Ausgabe des Gemeindeblatts dieses Mal dein Café auf das Titelblatt nehmen.« Sie rang nach Luft. »Du hast doch normalerweise immer so zauberhaft dekoriert. Dein Sinn für Stil ist einfach unnachahmlich.«
»Danke für das Kompliment«, erwiderte Annabella, obwohl sie auch die Rüge durchaus nicht überhört hatte. »Normalerweise« dekorierte man am Samstag nach Thanksgiving. Und der war gerade vorbei. In den umliegenden Häusern und Geschäften, wie Doris' Lynnwood Falls Grocery und Deli, blinkte bereits Weihnachtsschmuck in allen Farben, auch das Rathaus war schon festlich mit bunt leuchtenden Sternen geschmückt; die Büsche davor trugen farbenfrohe Lämpchen. Annabella hatte sich lediglich zu einer rot-weißen Lichterkette durchringen können, die zu den Farben des Cafés passte. Annabella seufzte lautlos in sich hinein. »Ich bin noch nicht dazu gekommen ...«
Ein mitleidiger Ausdruck trat auf Hilarys Gesicht. »Ich weiß, Honey, dass dir dieses Jahr vermutlich noch nicht so weihnachtlich zumute ist, aber ...« Sie tätschelte ihren Arm. »Mir fehlt deine Mom auch.« Immerhin war Hilary eine enge Freundin ihrer Mutter gewesen.
Annabella blinzelte, hatte Mühe zu atmen. Der erst ein Vierteljahr zurückliegende, so überraschende Tod ihrer Mutter durch dieses verfluchte Aneurysma würde vermutlich auf ewig schmerzen. »Danke«, wisperte sie. Die Kälte breitete sich nun auch in ihrem Inneren aus. Resolut straffte Annabella die Schultern. »Willst du nicht reinkommen?«
Nun erst schien Hilary ihr Zähneklappern zu bemerken. »Natürlich, Honey, du hast ja nur ein dünnes Jäckchen übergezogen, ich unsensibles Ding! Ich kann auch jetzt gleich schon was für den Bürgermeister zum Kaffee besorgen.«
Nachdem sich Hilary zwei cremegefüllte Eclairs mit Schokoglasur und zwei Donuts mit bunten Streuseln hatte einpacken lassen, sah sie Annabella nochmals eindringlich an. »Der Fotograf würde Ende der Woche kommen. Reicht dir das zum Dekorieren? Brauchst du Hilfe?«
Kurz war sie versucht, Hilary von dieser E-Mail zu erzählen, dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Nein, das schaffe ich, kein Problem. Ich habe die nächsten Abende nichts vor. Dann werde ich die Deko in Angriff nehmen.«
Sie holte in der nächsten Pause, in der sie kurz Luft hatte, wenigstens schon mal den Elf on the Shelf hervor und platzierte ihn auf der Glastheke. Der kleine Gehilfe des Santa Claus, eine circa dreißig Zentimeter hohe schlanke Gestalt mit großen blauen Augen, spitzer roter Mütze, in einem roten Anzug mit weißem Spitzenkragen und biegsamen Gliedern, war inzwischen zur Tradition geworden, die aus keinem Haushalt – vor allem mit Kindern – mehr wegzudenken war. Der Elf überwachte in den Tagen vor Weihnachten tagsüber die guten und schlechten Taten und erstattete Santa Claus nachts Bericht, damit der wusste, ob die Kinder an Christmas Day ein Geschenk bekamen. Morgens kam der Elf immer zurück, deshalb wurde er auch jeden Tag woanders platziert.
Sonst störte sich offenbar keiner der Bewohner von Lynnwood Falls heute an der mangelnden Weihnachtsdekoration; die nächsten beiden Stunden wurden äußerst betriebsam.
Obwohl sie ihr Café über alles liebte, war Annabella froh, als sich der letzte Gast verabschiedete und nur noch ihre Freundin Kylie hereinschneite. Ihr Geburtsname lautete eigentlich Ketura – doch zu heißen wie die zweite Frau Abrahams, die verstoßen wurde, um dem Sohn Isaak das Erbe nicht streitig zu machen, fand Kylie schrecklich. Schon in ihrer Kindheit hatte sie sich selbst nach ihrem damaligen Popidol Kylie Minogue umbenannt. Der Musikgeschmack hatte sich zwischendurch gelegentlich gewandelt, der Name »Kylie« war geblieben. Die Einzige, die auf der Nennung des Taufnamens bestand, war die streng gläubige Mutter Perpetua Cummings.
Zwei eisige Küsse streiften Annabellas Wangen, bevor Kylie aus Mantel, Mütze, Schal und Handschuhen schlüpfte und sich auf den Barhocker vor der Glastheke fallen ließ.
Vorsichtig ließ Annabella das kochende Wasser aus der Maschine über das mit Teeblättern gefüllte Sieb laufen. Der aromatische Duft der Roibos-Winter-Mischung – nach Vanille, Zimt, Nelke und Orangenblüten – stieg ihr in die Nase.
»Oh, das riecht lecker«, kommentierte auch Kylie und fuhr sich durch die kurzen schwarz gefärbten Stoppelhaare mit dem asymmetrisch geschnittenen Pony. An der Ohrmuschel zogen sich zahllose Ohrringe entlang – seit ihrer Jugend ein Zeichen der Rebellion gegen die biedere Mutter. Ihre Wangen waren noch von der Kälte draußen gerötet. »Dein Tee ist einfach der Beste, ich weiß nicht, wie du das machst!«
»Mit Liebe!« Annabella zwinkerte ihr zu. »Aber ernsthaft: Ich konnte noch nie verstehen, wie jemand nur einen Teebeutel in heißes Wasser hängen kann. Schließlich ist Tee ein Aufguss- und kein Häng-den-Beutel-rein-Getränk«, kommentierte sie trocken. »Da kann sich der Geschmack doch gar nicht entfalten.«
Kylie lachte. »So habe ich das noch nie gesehen, aber du hast recht.« Sie nahm zwei Stück Zucker aus der silbernen Dose, die Annabella ihr über die Theke entgegenschob, und warf sie in das leere Teeglas.
»Muss fünf Minuten ziehen, kommt sofort.« Annabella belud einen Teller mit buntem Spritzgebäck, das schöne farbige Akzente zauberte, legte noch einen mit rosa Zuckerguss verzierten Donut dazu, der übrig geblieben war, und schnitt ihn in Stücke. Sie schaltete die Beleuchtung in der Theke und über den Sitzgruppen aus, sodass der Raum nur noch von der rot-weißen Beleuchtung in den wandhohen Fenstern und dem gedämpften Licht hinter dem Tresen erhellt wurde. Sie achtete zwar sonst nicht so darauf, pünktlich Feierabend zu machen, doch heute wollte sie in Ruhe mit ihrer Freundin sprechen.
Bevor sie auf das Thema kommen konnte, das ihr am meisten am Herzen lag, fragte Kylie: »So, nun erzähl mal. Wie war Thanksgiving bei deiner Tante?«
»Ach, du weißt ja, Tante Ruth ist eine Seele von Mensch. Meine Mom hat einen eigenen Gedenkplatz am Tisch bekommen.« Annabella schluckte. »Und alle waren bemüht, trotzdem fröhlich zu sein. Mom hätte es so gewollt.« Sie straffte den Rücken. Es war nicht leicht gewesen. Aber sie hatte es irgendwie überstanden.
»Und wie lief's mit deinem Ex?«, hakte Kylie nach.
»Mit Phil verstehe ich mich immer noch blendend.«
»Ich meinte eigentlich eher seine Neue? Sie war doch auch da, oder?«
Annabella schürzte die Lippen. »Ich glaube, sie hasst mich. Zumindest dachte ich manchmal, mir bleibt der Truthahn im Hals stecken, und ich falle vom Stuhl, weil ihre Blicke mich töteten, sobald Phil mit mir gescherzt hat. Sie ist krankhaft eifersüchtig, aber wenigstens scheint sie ansonsten okay zu sein. Das hätte mir sonst für Phil leidgetan.«
Kylie pustete gegen den asymmetrisch geschnittenen Pony. »Klingt, als hättest du schon schönere Thanksgivings gehabt!«
»Ach ja, es ging. Mit meinem Cousin Chester ist es immer lustig. Ich hatte ja keine riesigen Erwartungen.« Obwohl Annabella eigentlich positiv hatte klingen wollen, platzte es doch aus ihr heraus. »Ich hatte nur ehrlich gesagt Mühe, mir etwas einfallen zu lassen, wofür ich danken könnte. Gerade läuft doch echt alles beschissen.«
Die Tradition, am Ende des Thanksgiving-Dinners reihum zu sagen, wofür man dankbar war, hatte ihr dieses Mal wie ein Stein im Magen gelegen.
»Was hast du dann gesagt?«
Annabella lächelte. »Dass ich dankbar dafür bin, in Lynnwood Falls zu leben, wo mich alle unterstützen. Und dass ich nach wie vor eine tolle Familie und großartige Freunde habe, die immer für mich da sind. Und dafür konnte ich wenigstens von Herzen danken.«
Kylie hauchte ihr einen Kuss über die Theke. »Es kommt nur alles zurück. Du bist doch sonst die, die für alle da ist – jetzt ist es mal Zeit, dass wir auch was für dich tun können.«
»Danke! Aber nun erzähl mal, wie war's bei euch?«
Kylie winkte ab. »Du kennst doch meine Mutter. Ich habe Krämpfe in den Händen vom Beten. Sonst war's nett. Die ganze Verwandtschaft war da, das war schön. Meinem Bruder Matty hat's auch gefallen. Aber zurück zu dir: Du klangst in deiner Nachricht so aufgebracht? Es ging nicht um Thanksgiving mit dem Ex?«
»Nein! Ich habe eine E-Mail bekommen. Der alte Besitzer dieses Hauses, Mr Dunne, ist ja kürzlich verstorben.« Annabella legte die Hände auf die Wangen und rieb sich mit den Fingerspitzen über die Augen. »Jetzt hat das Haus neue Besitzer. Und die wollen den Mietvertrag für mein Café nicht übernehmen.«
Kylie riss die Augen auf. »Wie meinst du das? Geht das denn so einfach?«
»Meine Mom stand in dem Vertrag. Sie war ja Teilhaberin. Das hat sich damals einfach so ergeben, weil sie gut mit dem ehemaligen Besitzer stand. Und wir haben den Vertrag dummerweise nicht gleich auf mich umgeschrieben nach ... ihrem Tod. Ich ... hatte gar nicht daran gedacht.« Wieder drohte die Verzweiflung sie zu überwältigen.
Kylie legte mitleidig die Hand auf ihre. »Das gibt's doch nicht!«
»Anscheinend doch! Dabei habe ich auf eigene Kosten renoviert. Es ist doch quasi wie neu!« Sie machte eine weit ausholende Geste durch den Raum. Aus dem einstigen heruntergekommenen Coffee-Shop hatte sie wirklich ein schönes Café gezaubert: französischer Stil, wie sie es in Paris bei ihrem Studium kennengelernt hatte. Die schwarz-weißen Bodenfliesen glänzten trotz des winterlichen Schmuddelwetters draußen wie nagelneu, die Wände leuchteten frisch verputzt – eine in Himbeerrot, die anderen in Weiß; auch die Fensterfront funkelte. Die gesamte Einrichtung war neuwertig beziehungsweise komplett restauriert: die Glastheke und gegenüber schmiedeeiserne Tische und Stühle, auf denen leuchtend rote Kissen farbenfrohe Akzente zauberten. Alles wirkte tipptopp. Der Gedanke, dies alles, was sie so mühevoll aufgebaut hatte, so plötzlich aufgeben zu müssen, schnitt ihr ins Herz. Weil sie um ihre Beherrschung kämpfen musste, wandte sie sich der Teekanne zu, um das Sieb zu entfernen.
Kylie schwang sich vom Barhocker und lief zur himbeerfarbenen Wand. Hier hatte Annabella Bleistiftzeichnungen aufgehängt, die sie während ihres Kunststudiums in Paris gemalt hatte: den Eiffelturm, Notre-Dame mit beiden Türmen, einen Clochard, der auf einer Bank an der Seine lag, Moulin Rouge und auch Sacre Cœur. Unbeschwerte Zeiten waren das gewesen! Annabella ignorierte den Druck in ihrem Magen und goss den Tee in die bereitstehenden Gläser. Ein aromatischer Duft verbreitete sich.
»Willst du auch einen Schluck Rum hinein? Ich könnte gerade einen vertragen.«
Kylie nickte. »Gern!«
Als Annabella mit der Flasche Eight Bells-Rum aus der lokalen Brennerei aus ihrer Wohnung zurückkam, die zwei Stockwerke über dem Café lag, rieb sich ihre Freundin nachdenklich das Kinn.
»Vielleicht wollen sie nur eine Mieterhöhung rausschlagen?«
»Mehr kann ich mir – mit den Schulden durch die Beerdigung – aktuell nicht leisten!«
»Ich wiederhole mich nur ungern, aber warum versuchst du nicht, weitere deiner Bilder zu verkaufen? Ich nehme sie gern alle in meiner Galerie auf. Wir könnten auch wesentlich mehr dafür verlangen als die Spottpreise, die du forderst.«
»Ich weiß nicht ...« Annabella pustete in ihre Tasse, heißer Dampf strich ihr über die Wangen.
»Hope hat mich erst neulich gefragt, ob es Nachschub gibt. Sie war so hin und weg von dem Gemälde von Chief ...«
»Du hast ihr doch nicht gesagt, dass es Ryans Hund ist, den ich gemalt hatte?«, unterbrach Annabella sie entsetzt. Die Tierärztin war erst kürzlich wieder mit ihrem Freund zusammengekommen, und die beiden führten nun gemeinsam die örtliche Praxis.
»Natürlich habe ich nichts gesagt! Ich habe mich auch überrascht gezeigt, wie viel Ähnlichkeit zu Chief besteht, und das war ja nicht mal gelogen. Das Bild ist dir hervorragend gelungen.« Das Lächeln sollte wohl beruhigend wirken.
»Hoffentlich merkt sie nichts, es ist mir ja sowieso peinlich ...« Annabella schlug verschämt die Hände vors Gesicht.
»Das muss dir doch nicht peinlich sein. Du mochtest Ryan. Jeder mag Ryan, er ist verdammt schnuckelig. Ich war früher auch mal in ihn verschossen.«
»Aber ich war anfangs nicht besonders nett zu Hope, als sie plötzlich wieder da war. Ich ... habe ja sofort gespürt, dass mir alle Felle davonschwimmen und ... Dabei ist sie solch ein toller Mensch und hat definitiv die älteren Rechte. Die beiden passen einfach ideal zusammen. Es war nur einfach so überraschend, als sie wiederkam.« Sie könnte dafür immer noch vor Scham im Boden versinken.
»Ach, das trägt Hope dir bestimmt nicht nach – so ist sie nicht. Ihr habt euch doch prima verstanden, als sie und Ryan dir beim Ausräumen der Wohnung deiner Mutter geholfen haben.«
»Ja, schon. Sie ist total klasse, ich mag sie. Aber wenn sie merkt, dass das Bild ...«
»Nun, ein Blinder mit Krückstock sieht, dass da eine frappierende Ähnlichkeit zu Chief besteht. Und wenn irgendjemand mitbekommt, dass du malst – der Weg von deinem Pseudonym Bellamy Karms ist nicht allzu weit von dir entfernt, Annabella Marks. Du hättest vielleicht vorher darüber nachdenken sollen, nicht gerade ein Anagramm deines Nachnamens zu wählen, wenn du wirklich anonym bleiben willst.«
»Du hast recht, das war dämlich.« Mit einem Aufstöhnen schlug sie abermals die Hände vors Gesicht.
»Warum überhaupt verstecken? Da ist doch nichts, wofür du dich schämen müsstest. Die Leute würden die Bilder bestimmt noch viel eher kaufen, wenn sie wüssten, dass sie von dir sind und ...«
»Genau das möchte ich nicht. Sie sollen sie um ihrer selbst willen mögen und nicht, weil sie mich unterstützen wollen, womöglich aus Mitleid.«
»Also, ich finde deine Bilder nicht nur aus Mitleid großartig, und ich bin Fachfrau, vergiss das nicht! Untersteh dich, mein Urteilsvermögen anzuzweifeln, sonst werde ich sauer!« Kylie stemmte die Hände in die Hüften. »Glaubst du vielleicht, die Anwohner hier in Lynnwood Falls haben dich nach dem Tod deiner Mutter aus reinem Erbarmen unterstützt? Natürlich ist es hier Usus, dass man sich hilft, dafür leben wir auf dem Land. Es tut Mrs Bloomberg jedoch auch gut, mal rauszukommen und gebraucht zu werden. Sie ist richtig aufgeblüht, seit sie dir beim Backen hilft. Genauso bei Mrs Moffatt, die mit Leidenschaft kocht. Die Krankheit ihres Mannes verschlingt sicherlich einiges an Geld. Selbst wenn sie noch von der Entschädigung, die sie von Obligon Chemicals bekommen haben, Geld übrig hat, ist das Taschengeld sicherlich willkommen. Zumal sie der Typ ist, der immer eine Beschäftigung braucht. Ich weiß, du wirst verlegen bei Komplimenten, aber du gibst den Menschen Wertschätzung! Du tust ihnen gut. Sie gewinnen genauso dabei, dir zu helfen.« Kylie kippte sich einen großen Schluck Rum in den Tee. »Den brauche ich jetzt auch!«
»Ach, danke! Du magst ja recht haben, dass es ihnen auch guttut«, räumte Annabella ein.
»Na also! Und du brauchst ein bisschen Aufmunterung! Ich würde eine schöne Ausstellung für dich organisieren. Es wäre mir wirklich eine Ehre. Die Leute von Lynnwood Falls platzen vor Stolz, wenn sie erfahren, welch ein Talent sie in ihrer Mitte haben. Das schadet auch dem Café nicht. Und es käme etwas Geld rein, das du momentan dringend brauchst, falls du tatsächlich mehr Miete zahlen musst.«
Annabella seufzte. »Ich denke darüber nach.« Wohl fühlte sie sich dabei nicht. Es war irgendwie, als müsste sie sich entblößen.
Kylies Blick sagte ihr, dass es noch nicht alles war, was ihre Freundin hatte loswerden wollen. Und prompt folgte es auch schon: »Du bräuchtest wirklich rechtlichen Beistand bezüglich des Mietvertrags! Ich weiß, du wirst gleich an die Decke gehen, wenn du den Vorschlag hörst, aber wieso fragst du nicht ...«
»Komm mir nicht mit Will McGinty«, unterbrach Annabella sie scharf. Als hätte die plötzliche Begegnung sie nicht schon den ganzen Tag beschäftigt!
»Findest du nicht, dass du ein bisschen überreagierst, wenn du seinen Namen hörst?«
»Findest du es okay, was er mit mir gemacht hat?« Die Empörung schoss in Annabella hoch, so heiß wie der Dampf aus ihrem Milchaufschäumer.
»Nun ja, es war ziemlich mies, dich beim Abschlussball zu versetzen, abe...«
»›Ziemlich mies‹ ist die Untertreibung des Jahres!«
Doch Kylie fuhr ungeachtet ihres empörten Einwandes fort: »Es ist zwölf Jahre her. Vielleicht war er damals feige oder einfach ein Idiot, aber Leute ändern sich. Inzwischen sind wir alle erwachsen. Ich glaube nicht, dass er ein schlechter Mensch ist. Er ist ein hervorragender Anwalt, sehr erfolgreich in dem, was er tut. Denk nur dran, was er für die Arbeiter von Obligon Chemicals erreicht hat! Ohne ihn wären sie heute noch den giftigen Dämpfen ausgesetzt und blieben allein auf den Arztkosten sitzen.«
»Nun, er hat bei diesem Deal auch selbst gut verdient«, unterbrach Annabella spitz, doch Kylie fuhr direkt fort:
»Du bestellst ja schließlich auch das Fleisch von Wills Schweine-Farm ...«
»Das hat nichts mit ihm zu tun – ich beziehe es über den Metzger, und ich tue es den Tieren zuliebe, die es eben auf einem Bio-Bauernhof besser haben als zum Beispiel auf der Kingsman Farm.«
»Will kümmert sich um seine Tiere! Sooo ein schlechter Mensch kann er also nicht sein.«
»Zu Tieren war er nie schlecht – im Gegenteil! Er spielt nur mit den Frauen ...«, brummte sie, doch Kylie überging den Einwand abermals.
»Warum holst du dir nicht einen Rat von ihm? Du musst dich doch nicht gleich wieder mit ihm anfreunden.«
Annabella verschränkte die Arme vor der Brust. Kurz war sie versucht, Kylie von der heutigen Begegnung mit Will zu erzählen, aber ... Was gab es denn schon zu berichten? Im Grunde nichts. Außer, dass schon eine sekundenlange Begegnung mit ihm ausreichte, um sie aus ihrer Lethargie zu reißen und ihre Wut neu zu entfachen. Womöglich würde Kylie es als »Schicksal« bezeichnen, dass Annabella gerade heute – nach dieser verhängnisvollen Mail – auf Will getroffen war, wo sie ihn zuvor doch schon länger nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte. Der Gedanken war ihr schließlich selbst schon gekommen. »Einen Anwalt kann ich mir nicht leisten«, erwiderte sie schließlich.
»Für einen Rat wird dir Will sicherlich keine Rechnung schreiben. Ich weiß, dass er vielen hier schon kostenlos geholfen hat.«
Als Annabella nur die Schultern zuckte, wurde Kylies Blick durchdringend. »Du hast mir doch damals nichts verschwiegen, oder? Es lief nichts zwischen euch?«
»Nein, wir waren nur Freunde. Wenn man das so nennen kann. Im Literaturkurs haben wir uns über Bücher und Kunst ausgetauscht. Und gemeinsam Artikel für die Schülerzeitung geschrieben. Gut, wir haben uns ziemlich gut verstanden, uns respektiert, zumindest dachte ich das, aber mehr nicht«, erwiderte Annabella, ohne ihren Unmut zu verbergen.
Warum drängte sich ihr so vehement sein Bild in den Sinn? Diese grauen Augen hatten so etwas Intensives. Und manchmal zog ein Schleier darüber, wenn er in Gedanken versunken war – wie Nebel auf den Feldern von Lynnwood Falls. Die dichten schwarzen Haare, die er heute noch nackenlang trug, verlockten, die Hände darin zu vergraben. Dabei war das, was sie für schüchterne Zurückhaltung gehalten hatte, nur gleichgültiges Desinteresse gewesen. Abermals gewann die Empörung die Oberhand. »So ein Abschlussball ist das Highlight im Schülerleben. Zu kneifen und mich ohne Absage aufgebrezelt sitzen zu lassen, nur weil sein sauberer Big Daddy«, die Worte spuckte sie nur so aus, »nicht will, dass sein feiger Sohn mit einer Niggerin ausgeht ...«
»Jetzt hör aber mal auf. Ich hasse es, wenn du so was sagst!« Kylies Augenbrauen stießen beinahe gegeneinander, so grimmig blickte sie drein. »Deine Haut ist lediglich ein bisschen dunkler als unsere, ein herrliches Goldbraun. Wenn ich demnächst Ski fahren gehe«, nun erhellte ein Grinsen ihre Züge, »dann toppe ich dich mit der Bräune, zumindest im Gesicht. Und dein Haar schimmert wie Gold – jede Frau beneidet dich um diese Naturhaarfarbe. Andere wären mit deinem Aussehen eingebildete Schnepfen.«
»Der Alte pflegte mich so zu nennen, das stammt nicht von mir«, erinnerte Annabella. »Ich habe ja auch kein Problem damit. Mein Dad war nun mal dunkelhäutig. Für den alten McGinty waren die Kapverden aber wildestes Afrika. Das hat dem doch schon gereicht, um mich auf offener Straße anzuspucken. Bei ihm hat es nicht gezählt, dass die Familie meiner Mom seit Generationen aus Lynnwood Falls stammt; auch sie hat er als ›Schlampe‹ verdammt.«
Annabella versuchte, mit einem Plätzchen die Verbitterung hinunterzuschlucken. Sie merkte selbst, dass sie nicht wie üblich klang. Normalerweise war sie doch ein positiver Mensch und ließ sich nicht so schnell auf die Palme bringen, doch sobald das Gespräch auf diese Angelegenheit kam, reagierte sie übermäßig gereizt – warum auch immer!
Zerknirscht rümpfte sie die Nase. »Entschuldige. Ich höre mich gerade wirklich schrecklich an. Aber in letzter Zeit scheint irgendwie alles über mir zusammenzubrechen.«
Kylies Lächeln wurde mild. »Komm mal her! Auf meine Seite der Theke!«
Seufzend folgte Annabella der Aufforderung. Ihre Freundin schlang die Arme um sie und strich ihr übers Haar.
»Das weiß ich doch. Deshalb möchte ich dir auch so gern helfen. Wenn du nicht mit Will sprechen willst, dann lass mich mit ihm reden. Einen unverbindlichen Rat einholen. Er schreibt ganz sicher nicht sofort eine horrende Rechnung, schließlich hat er bei dir was gutzumachen.«
»Ich will keinesfalls, dass er so denkt«, fuhr sie auf, doch Kylie ignorierte – nicht zum ersten Mal heute – den Einwand.
»Oder lass uns zu Elly Johnson gehen, sie arbeitet doch für ihn. Mit ihr kommst du gut aus, oder?« Kylie zog sie fester an sich.
Ob es die liebevolle Umarmung gewesen war – die letzte lag schon eine Weile zurück, und so hatte immer ihre Mutter über ihr Haar gestrichen, wenn sie Sorgen gehabt hatte – oder der milde Tonfall oder einfach all die widrigen Umstände, auf einmal begann es hinter ihren Lidern zu brennen. Sie blinzelte, schob Kylie von sich und rieb sich die feuchte Wange. »Dein Wollpullover kratzt«, redete sie sich heiser heraus.
Kylie sah sie nur an, mitleidig und fragend zugleich.
»Okay, von mir aus! Lass uns mit Elly reden, ich mag sie. Oder, wenn's sein muss, auch mit Will.« Das Grummeln in ihrem Magen schob sie auf den Rum. Bevor Kylie noch weiter auf dem Thema herumreiten konnte, schwenkte Annabella lieber um: »Warum gehen wir nicht hoch in meine Wohnung? Dort ist es gemütlicher. Fläzen uns aufs Sofa, reden dummes Zeug, oder wir streamen was. Nimm doch schon den Tee und die Kekse, im Küchenschrank oben sind auch Chips. Ich räume hier kurz noch den Rest weg, schließe alles ab und komme nach.«
Kylie zögerte, als wollte sie noch etwas sagen, dann nickte sie nur, und kurz darauf fiel die Hintertür ins Schloss.
Annabella folgte ihr wenig später nach oben. Sie zog ihre Arbeitskleidung aus – eine schwarze Hose, ein schwarzer dünner Rollkragenpullover und darüber eine schwarz-weiße Weste mit einem roten Einstecktuch, passend zu den Farben des Cafés – und schlüpfte in eine bequeme dunkelblaue Leggins und einen weiten grauen Strickpullover. »Willst du noch was essen? Ich habe ein paar Reste ...«
»Nein, danke! Ich hatte reichlich zu Mittag, ein bisschen Unfug futtern reicht.« Grinsend schwenkte Kylie die Chipstüte, bevor sie hineingriff.
»Wie sieht's aus, wollen wir einen Film gucken?« Annabella ließ sich neben Kylie aufs Sofa fallen, die mit ihrer weiß-rot-schwarzen Maine-Coon-Katze Happy Lee schmuste. Die treue Seele löste sich sofort von ihrer Freundin, kroch auf Annabellas Schoß und schnurrte, als sie sie kraulte. Annabella drückte die Wange an das flauschige Fell, bevor sie sich noch eine Tasse Tee einschenkte und abermals einen großen Schuss Rum dazugoss, obwohl sie den vorigen bereits spürte.
Vom Reden hatte sie heute eigentlich genug.
Kylie offenbar nicht, denn sie ging nicht auf die Frage ein, schaute sie wieder so forschend an. »Hast du eigentlich diesem Typen aus Portland geschrieben?«
»Welchem Typen?«
»Von der Dating-Plattform«, erinnerte Kylie sie ungeduldig. Vermutlich wusste sie sehr wohl, dass Annabella sich nur dumm stellte.
»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, murmelte sie, hinlänglich damit beschäftigt, in ihren Tee zu pusten und Happy Lees Kopf zu kraulen. Sie könnte sich heute noch dafür verfluchen, dass sie Kylies Drängen nachgegeben hatte, sich dort anzumelden, nur weil die der Meinung war, sie bräuchte etwas Ablenkung.
Prompt sagte Kylie auch: »Dann werden wir noch nicht fernsehen, sondern du antwortest ihm. Wir haben jetzt Zeit. Und es tut dir gut, mal rauszukommen.«
»Muss das sein?«, stöhnte Annabella.
»Etwas Ablenkung tut dir gut!«, beharrte Kylie. »Du hast gefühlt zehntausend Typen abgesagt, aber dieser hat es bei deinem gnadenlosen Aussiebungsverfahren irgendwie geschafft, sich an den Maschen des Netzes festzuklammern und dein leidliches Wohlwollen zu erringen. Also muss das etwas zu sagen haben. Kismet, du weißt schon!«
Annabella verkniff sich das Schmunzeln, das sich ihr anhand der bildlichen Beschreibung aufdrängte, und rümpfte stattdessen die Nase. »Muss das wirklich sein?«
»Es muss! Los komm, wir schreiben ihm. Dieses eine Date. Wenn es ein Flop wird, zwinge ich dich nie wieder, etwas auszumachen.«
»Versprichst du mir das auf die Bibel?« Immerhin würde die streng christliche Erziehung Kylie verbieten, solch einen Schwur zu brechen.
»Ja, ja, von mir aus. Also komm, dann lass uns keine Zeit verlieren.«
Widerwillig platzierte Annabella Happy Lee wieder auf Kylies Schoß und stand auf, um ihren Laptop zu holen. Sie öffnete die Datei des Netzklammer-Kandidaten.
»Dieser Typ klingt doch wirklich nicht schlecht. Hobbys: Wandern, Natur, Tiere, Fotografieren, Musik, Literatur«, Letzteres betonte Kylie besonders. »Das passt doch zu dir Leseratte.« Sie machte eine weit ausholende Handbewegung in Richtung des Bücherregals, das zwei Wände des Wohnzimmers einnahm, nur unterbrochen von diversen Topfpflanzen und den Harlekin-Figuren, die sie sammelte. »Und schlechte Eigenschaften: Manchmal zu ehrlich. Trinkt vor dem Einschlafen noch Kaffee, falls er nicht anderweitig beschäftigt ist. Komm, dieser Typ hat bestimmt auch Humor.«
»Super, da freue ich mich«, brummte Annabella mit wenig Begeisterung und studierte das Foto des Mannes, der sich »Tomcat« nannte. Schlecht sah er nicht aus. Hatte ein offenes Lachen, das gepflegte Zähne zeigte, das war ihr wichtig. Braune Haare und einen Dreitagebart, wie ihn Jean-Pierre getragen hatte. Oder auch Ryan, der örtliche Tierarzt, in den sie verschossen gewesen war. Ob dieser Tomcat sich deshalb hatte an die Maschen klammern können?
»Okay, wann hast du Zeit?« Ihre Freundin war sichtlich im Tatendrang-Modus.
»Eigentlich nie«, murrte sie. »Das Café hat bis auf montags jeden Tag geöffnet, und das ist der Tag, an dem ich mir Zeit zum Malen nehme.«
»Du wirst dich doch auch mal freimachen können. Es kann nicht so weitergehen, dass du tagein, tagaus nur schuftest. Mrs Moffatt und Mrs Bloomberg vertreten dich bestimmt auch gern mal einen Tag im Verkauf.«
Annabella öffnete gerade den Mund, um zu protestieren, da hob Kylie die Hand. »Und komm mir nicht mit dem Argument, die schaffen das nicht. Sonst petze ich ihnen, dass du so denkst.«
»Und so was nennt sich ›Freundin‹«, brummelte Annabella. »Also gut. Ich muss am Freitag nach Portland zum Doc, Routinecheck. Da wollte ich um zwei los. Wir könnten uns zum Kaffee nachmittags treffen. So gegen vier. Das kannst du ihm schreiben.« Eigentlich hatte sie mit Protest gerechnet, sie solle selbst schreiben, doch Kylie schob Happy Lee sanft zur Seite, nahm Annabella das Laptop ab und fing brav an zu tippen.
»Lieber Tomcat«, las sie laut mit, »ich freue mich über dein Interesse ...« Kylie schüttelte den Kopf. »Nein, das klingt zu steif.«
»Was hast du denn bei Darren damals geschrieben?«, erkundigte sich Annabella. Schließlich hatte Kylie ihren derzeitigen Freund auch übers Internet kennengelernt.
»Puh, wir hatten miteinander gechattet. Das hat sich so nach und nach ergeben.« Nachdenklich fuhr sie sich durch das kurze schwarze Stoppelhaar. Schließlich tippte sie: Hi, Tomcat. Das klingt doch, als müssten wir uns mal treffen. Wie wäre es am Freitagnachmittag um vier Uhr zum Kaffee? Sie hielt inne. »Wo genau?«
»Old Port. Bei Doc Lessington um die Ecke gibt es doch dieses kleine Künstlercafé, Chez Charlie«, schlug Annabella vor.
»Oh, gute Idee, dort ist es wirklich schön.« Kylie tippte.
Sie hatte kaum auf Senden gedrückt, da piepte schon der Plattform-interne Messenger. Dieser Tomcat musste vor der App gelauert haben.
Klingt cool. Ich bin da! Du erkennst mich an der roten Rose zwischen den Zähnen.
»Ich sagte doch, der Kerl hat Humor.« Kylie grinste.
Annabella zog die Mundwinkel auseinander, mehr Begeisterung konnte sie nicht heucheln. Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen? Ein Blind Date! Ausgerechnet sie! Sie hatte jetzt schon Bauchgrummeln. Dass sie zugesagt hatte, lag sicherlich an dem Rum, den sie intus hatte. Doch nun gab es kein Zurück mehr.
Seufzend kraulte sie Happy Lees Bauch, die sich auf den Rücken gelegt hatte und alle viere von sich streckte. Ein Anblick, der sie sonst zum Grinsen brachte. Sie hatte regelrecht Mühe, eine mürrische Miene zu bewahren. »Und dafür hat man Freundinnen, dass die einen den Löwen zum Fraß vorwerfen. Du schuldest mir was. Zur Strafe gucken wir jetzt ...«
Kylie hielt ihr den Mund zu. »Du brauchst nichts zu sagen, ich bin mental schon darauf vorbereitet: Und täglich grüßt das Murmeltier. Mal wieder. Und jährlich müssen wir das in den Wochen vor Weihnachten gucken. Das ist ja fast ein wiederkehrender Albtraum, wie in dem Film.« Doch Kylie lachte bei ihren Worten.
»Du magst ihn doch auch. Du tust immer nur so, damit ich das Gefühl habe, dir einen Gefallen zu schulden, wenn wir ihn ansehen«, beschwerte sich Annabella und stupste sie an.
Kylie schlang die Arme um sie. »Shit, wenn man sich so lange kennt. Fast dreißig Jahre.«
Annabella stimmte in ihr Lachen ein und drückte sie ebenfalls.
Portland
»Eineinhalb Millionen. Plus die Eigentumswohnung.« Doreen Saunders wischte sich über die Augen. »Ich kann es noch gar nicht fassen. Vielen, vielen Dank, Mr McGinty!«
»Deshalb brauchen Sie nicht gleich wieder in die förmliche Anrede zu fallen, Doreen.« Wills Lachen fiel übermütig aus. Das Adrenalin peitschte noch immer durch seine Adern. Nach Verhandlungen, vor allem nach so erfolgreichen, fühlte er sich jedes Mal regelrecht aufgeputscht.
Ihre Wangen röteten sich. »Danke, Will. Sie haben im Gerichtssaal so beeindruckend gewirkt, das hat mich richtiggehend überwältigt. Aber im Ernst: Ohne Sie hätte ich das niemals geschafft, mich von dem Joch meines Mannes zu befreien.«
»Es war an der Zeit. Und dafür bin ich da.« Seine Blicke glitten über die zarte Frau, die ihm gerade bis zur Schulter reichte. Die letzten Jahre hatten sie gezeichnet, sie wirkte – trotz der kastanienbraun gefärbten Haare – manchmal wie eine alte Frau, obwohl sie mit fünfunddreißig nur fünf Jahre älter als er war. Sorgenfalten hatten sich in die Mundwinkel gegraben, und sie ging immer noch leicht gebückt, unterwürfig, obwohl sich das in den letzten Monaten, seit er sie juristisch vertrat, wesentlich gebessert hatte. Dennoch verlieh ihr das Strahlen, das momentan auf ihren Zügen leuchtete, etwas Anziehendes.
»Ich hätte es nie gewagt, es mir nicht mal leisten können. Sie sind so großzügig. Wenn Sie damals nicht gesagt hätten, Sie vertreten mich ohne Bezahlung ...«
»Nun, wir erhalten jetzt unseren Anteil, die Entlohnung ist wahrlich genug«, wehrte er ab.
»Aber wenn wir nicht gewonnen hätten«, beharrte sie, »hätten Sie umsonst ...«
»Das war mein Risiko, doch wir geben schließlich alles, um zu gewinnen, nicht wahr?« Er zwinkerte ihr zu, was abermals eine leichte Röte auf ihre sonst so blassen Wangen zauberte.
Sie drückte seinen Arm. »Ich bin Ihnen auf jeden Fall unendlich dankbar, Will. Selbst abzüglich Ihres Anteils und der Steuern bleibt mir ausreichend Geld zum Lebensunterhalt für die nächste Zeit.«
»Wenn Sie es geschickt anlegen, werden Ihnen die finanziellen Mittel sogar recht lange reichen, Doreen«, warf Wills Assistentin Elly lächelnd ein, die eben aus dem Waschraum kam.
»Ich bin Ihnen ebenfalls zu höchstem Dank verpflichtet. Es war so großartig, auch die mentale Unterstützung einer Frau zu haben, die mich in meinem Entschluss bestätigt.« Sie ergriff Ellys Hand mit ihren beiden.
Diese wehrte lächelnd ab. »Es war uns ein reines Vergnügen.«
Seine Mandantin nestelte an den Knöpfen ihres wattierten Mantels. »Ich würde Sie beide so gern noch zum Essen einladen, aber meine Schwester hat darauf bestanden, heute zur Feier des Tages mit mir auszugehen. Sie wartet vor dem Gerichtsgebäude. Vielleicht könnten wir ein andermal ...?« Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Das läuft uns nicht weg, Doreen. Nun genießen Sie erst mal ausgiebig den Erfolg. Und irgendwann in der nächsten Woche setzen wir uns zusammen und wickeln die restlichen Formalitäten ab«, beruhigte er sie.
»Sehr gern.«
Er schloss sie zum Abschied in die Arme, spürte trotz des dicken Wintermantels, wie sich die Haut über ihre Knochen spannte. Sie verschwand beinahe in seiner Umarmung. Ein zerbrechliches Vögelchen. Wie seine Mutter. Nicht nur in dieser Hinsicht.
Will schüttelte die Gedanken ab und sah ihr lächelnd hinterher. Die Schritte ihrer gefütterten Stiefel quietschten auf dem hellen Marmorboden. Er atmete tief durch, und allmählich wich die Anspannung von ihm.
»Sie steht auf dich«, riss Elly ihn aus den Gedanken.
»Was?«
»Doreen. Sie steht auf dich. Ihren Retter.« Schalk blitzte in ihren Augen. »Du bist ja auch ein echt ...«, die bedeutungsvolle Pause sagte ihm schon, dass gleich ihr Lieblingswort folgen würde, »fescher Typ: groß, mit den nackenlangen schwarzen Haaren so ein kleines bisschen verwegen, irisches Feuer im Blut, ganz im Gegensatz zu diesen grauen Augen, die so poetisch blicken können, gerade die richtige Mischung ...«
»Und du bist eine alte Kupplerin, Miss Johnson!« Er lachte. »Aber ich denke, sie verwechselt Dankbarkeit mit Zuneigung. Du weißt auch genau, dass ich niemals etwas mit einer Mandantin anfangen würde. Zudem ist sie nicht mein Typ.« Er brauchte bestimmt keine Untertanin; diese Gene hatte er nicht geerbt.
»Vermutlich wärst du sowieso zu nett für sie.« Elly drehte sich eine Strähne ihres kinnlangen blonden Haares um den Finger. »Sie wird es wieder tun.«
»Was meinst du?«
»Wieder auf solch ein Arschloch hereinfallen, das sie verprügelt. Vielleicht hat sie das nächste Mal das Pech, dass er nicht in Geld schwimmt, sondern ihr vermutlich die ganze Kohle abknöpft. Sie ist der Typ dazu.«
Will seufzte. »Da könntest du recht haben.« Auch das hatte Doreen mit seiner Mutter gemein, dass solche Typen sie wohl anzogen. Schnell verdrängte er abermals die trüben Gedanken. »Wir sollten jedoch feiern. Einnahmen von über einer Viertelmillion haben wir nicht jeden Tag.«
»Wir hatten nun auch eine ganze Weile Fälle, bei denen wenig hängen blieb und bei diesem genug Ausgaben, mit denen wir in Vorleistung treten mussten. Allein eure Reise auf die Cayman Islands, um die finanziellen Transaktionen von Doreens Ex zu überwachen ...«
»Das war natürlich das Härteste an dem Job: arbeiten zu müssen zwischen Strand und Palmen«, witzelte er.
Elly stupste ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. »Vor allem, wo doch durch diese karibischen Bikinischönheiten so viel Ablenkung gedroht hat.«
Will hob die Hände und bemühte sich um eine unschuldige Miene. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Wir mussten Erkundigungen über die lokalen Gepflogenheiten einhol...«
»Der Hundeblick nutzt dir gar nichts, überlass den lieber deinem Golden Retriever. Du solltest keinen solch gesprächigen Studenten mit auf Recherche-Reise nehmen. Dein lieber Helfer Gordon hat zu viel geschwärmt.«
»Verflucht!« Will musste lachen.
»Außerdem habe ich die Spesenabrechnungen gesehen, Boss.«
»Dir bleibt wirklich nichts verborgen. Du weißt, ich hätte dich auch mitgenommen ...«
»Als Anstands-Wauwau?« Ihr Lachen mutierte in ein Seufzen. »Das hätte ich Brandon wahrlich nicht antun können, vor allem direkt nach der letzten Knie-OP. Ich meine, er hätte ganz sicher nichts dagegen gehabt, aber ... Er war doch noch nie weiter weg, und ich würde so gern gemeinsam ...« Sie winkte ab, und das übliche Lächeln erhellte ihre kurzfristig wehmütig gewordenen Züge.
»Nach dem Deal ist auch für dich ein schöner Bonus drin. Schnapp dir Brandon und reise mit ihm bei diesem Schmuddelwetter irgendwohin in die Wärme.« Will deutete auf die von weiß getünchten Holzbalken durchzogenen Fenster, vor denen mit Feuchtigkeit vollgesogene graue Wolken hingen, die Portland in einen nebligen Schleier hüllten, und nahm sich vor, die Gratifikation, die er bei größeren Fällen an seine Mitarbeiter ausbezahlte, dieses Mal noch üppiger ausfallen zu lassen.
»Darauf habe ich nicht spekuliert.« So leicht war Elly nicht in Verlegenheit zu bringen, doch nun war es ihm gelungen. Ihre Wangen röteten sich. »Es hing ja nicht nur am Geld, aber Brandons Neuaufbau des Haus- und Gartencenters und dann all seine Knie-Operationen ...«
»Ich weiß, doch ich finde, ihr habt es euch verdient.« Er schlüpfte in seinen Wollmantel, den er über dem Arm getragen hatte. »Sollen wir zur Feier unseres Erfolges noch was trinken oder essen gehen?«, fragte er und nickte dem Gerichtsdiener, der gerade die Tür zum Gerichtssaal schloss, zum Abschied grüßend zu.
Auch Elly schloss ihren dunkelblauen Mantel und wickelte sich einen roten Schal um den Hals, bevor sie eine passende Mütze über das blonde Haar stülpte, sodass sich die Spitzen darunter nun frech nach oben wölbten. »Ein Gläschen ist noch drin. Essen höchstens eine Kleinigkeit, falls du hungrig bist, ich will heute Abend noch kochen – ich habe einen Grünkohl, der weg muss.« Sie hakte sich bei ihm ein. »Du kannst auch gern mit uns essen. Es gibt Kartoffeln dazu, und das Fleisch mache ich separat. Wenn du ...«
»Danke dir, aber ich habe doch morgen früh den Termin mit Richterin Cartwright; ich bleibe über Nacht hier in Portland. Dann lass uns ins Woody's gehen. Da gibt's Drinks und Fingerfood, das reicht mir.« Er mochte die gemütliche Kneipe mit dem rustikalen Ambiente, die direkt um die Ecke lag. »Ich möchte auch nicht ewig wegbleiben, damit ich Cindy Zeus nicht so lange aufbürde.« Seine Sekretärin passte zwar liebend gern auf seinen verspielten jungen Golden Retriever auf, wenn er bei Gericht war, dennoch wollte er ihre Gutmütigkeit nicht überstrapazieren.
Auf dem Weg zum Ausgang klackerten Schritte auf dem vorderen Abgang. Stimmen hallten durchs Treppenhaus, eine davon war ihm wohlbekannt.
Elly hob vielsagend die Augenbrauen. »Oho! Wer kommt denn da?«
Will hatte nichts dagegen, dass sie ihn am Ärmel festhielt, um zu warten, bis die Gruppe nach unten kam.
Heather Donovans Miene leuchtete auf, als sie ihn sah, und sie beschleunigte ihre Schritte. »Alles klar, Leute, wir sehen uns morgen im Büro. Danke, großartige Arbeit«, rief sie ihren Begleitern über die Schulter zu. Das Deckenlicht warf silberne Reflexe auf ihr schwarzes Haar. Sie begrüßte zuerst Elly mit Wangenküssen und dann ihn. Der zarte, blumige Duft ihres Parfüms zauberte einen Hauch Frühling in das neblige Winterwetter.
»Frau Staatsanwältin!« Er lächelte sie an.
»Herr Anwalt! So braun gebrannt um diese Jahreszeit?«
Er zuckte grinsend mit den Schultern. »Beruflicher Zwangsaufenthalt in der Karibik.«
»Du Ärmster!« Gutmütiger Spott ließ die blauen Augen blitzen.
»Ich habe gehört, du hast die Staatsanwaltschaft im Moretti-Fall vertreten?« Er betonte es als Frage.
Ihr siegessicherer Gesichtsausdruck sagte ihm schon vor ihren Worten, dass sie gewonnen hatte. »Wir haben ihn! Dieser Bastard ist erst mal für eine ganze Weile sicher verstaut.« Sie hob die linke Hand und spreizte Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen.
Er ergriff ihre Rechte. »Herzlichen Glückwunsch. Ich bin stolz auf dich. Aber es wundert mich nicht, du bist einfach verflucht gut.« Nur ganz langsam ließ er ihre Finger aus seinen gleiten, was ihm einen vielsagenden Blick einbrachte.
»Danke! Mich freut es natürlich auch besonders, dass wir es Dirty Dick gezeigt haben.«
Will lachte. »Ich gönne es ihm. Der ist schlimmer als das Pack, das er vertritt.« Der Strafverteidiger Richard »Dick« Cromwell war wirklich die übelste Sorte Abschaum seines Berufsstandes, nicht minder skrupellos als seine zwielichtigen Mandanten, die sich allesamt sämtlicher Kapitalverbrechen schuldig machten. Sein Spitzname »Dick« war nicht nur dem Namen Richard zu verdanken, sondern von den meisten durchaus vulgär gemeint.
»Wie wahr! Die Guten sind wir.« Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Du wirkst aber auch zufrieden?«
»Bin ich. Wir haben so einem Mistkerl klargemacht, dass er seine Frau nicht ungestraft misshandeln kann.«
»Hat sie keine Strafanzeige erstattet?«
»Dazu konnte ich sie leider nicht überreden. Aber der Kerl muss finanziell richtig bluten. Richter Robins hat ihr ordentlich Schmerzensgeld zugesprochen. Und ich habe diesen miesen Typen wissen lassen, dass ich ihn im Auge behalte und jederzeit liebend gern bereit bin, auch eventuelle Nachfolgerinnen juristisch zu vertreten, sollte er rückfällig werden.«
»Das hast du gut gemacht.« Dieses Mal ergriff Heather seine Hand, strich dabei mit dem Daumen über seinen Handrücken. »Wenn er noch mal solch eine Nummer abzieht, lass es mich wissen. Solche Bastarde habe ich immer gern am Nachbartisch.«
»Das mache ich«, versprach er.
»Ihr habt doch beide was zu feiern, warum stoßt ihr nicht irgendwo gemeinsam darauf an?«, schlug Elly vor. »Ehrlich gesagt bin ich gar nicht undankbar, wenn ich jetzt loskann, es dämmert ja schon wieder.« Sie deutete durch die Drehtür nach draußen, wo die heraufziehende Dunkelheit bereits vom Schein der Straßenlaternen und Weihnachtsbeleuchtungen erhellt wurde, obwohl es gerade erst kurz nach vier war. »Es soll richtig kalt werden; ich möchte nicht, dass es anzieht und glatt wird. Ich fahre bei dem Wetter sicherlich eine Stunde nach Lynnwood Falls. Und du weißt ja, der Grünkohl ...« Doch er sah dem verschmitzten Funkeln ihrer Augen nur zu deutlich an, dass dies nicht der einzige Grund war – sie betätigte sich schon wieder als Kupplerin. Dieses Biest! Er unterdrückte ein Schmunzeln und sah Heather fragend an.
Ihr Lächeln war vielversprechend, als sie sagte: »Ich hätte nichts gegen einen Schluck einzuwenden.«
»Bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, wandte sich Will an Elly.
»Absolut sicher, aber feiern müssen wir natürlich noch. Wir könnten das auf morgen Abend verschieben. Du kommst doch nach Lynnwood Falls?«
Er bejahte, schließlich hatte er seiner Mutter versprochen, sie am Donnerstag zu besuchen. Die Seniorenresidenz Saint Andrew's Manor, in der sie untergebracht war, lag auf halben Weg dorthin. Auch wenn seine Mom nicht mehr wusste, welcher Tag war, ihr vielleicht nicht mal bewusst war, wer er war, und sie das Versprechen schon lange vergessen hatte, wäre es ihm wie Betrug vorgekommen, es nicht zu halten.
»Dann gehen wir morgen Abend ins The Eighties?« Elly blinzelte ihn schelmisch an.
Er warf lachend den Kopf in den Nacken. »Du lässt nichts unversucht, mich überall hin mitzuschleppen, oder?«
»Logisch nicht! Du weißt, ich kann penetrant sein.«
»Oh ja, das weiß ich nur zu gut.« Er rollte gespielt genervt mit den Augen. »Von mir aus. Aber glaub nicht, dass du beim Billard gegen mich gewinnst!«
Nun war ihr Grinsen siegessicher, und sie hielt ihm die Hand hin. »Deal! Großes Indianerehrenwort, du kommst mit?«
»Ich halte immer ein, was ich zusage«, brummte er und schlug ein. Es war ja nicht, dass er ihre gemeinsame Heimat Lynnwood Falls nicht ebenso liebte. Es zog ihn schließlich jede verfügbare Minute in die Natur auf seinen Bio-Bauernhof und zu seinem Pferd. Er liebte die langen Ritte über die großartige Landschaft. Auch die Clique war dort, mit der er viel unternahm, und er unterhielt mit Elly vor Ort eine Niederlassung seiner Kanzlei für die Belange der Bewohner. Aber seine Familie war nun mal nicht die beliebteste gewesen, und das The Eighties war die In-Kneipe, wo sich wirklich jeder traf.
»Ich erwarte dich morgen!«
Will küsste sie auf die Wange und raunte ihr »Du kleine Manipulatorin!« ins Ohr, was ihm lediglich ein Lachen einbrachte. Laut fuhr er fort: »Sag Brandon einen Gruß von mir.«
Ein Schwall kalter Luft schlug ihnen entgegen, als Elly, mit einem herzlichen Gruß an die Wachmänner, durch die Drehtür nach draußen rauschte.
»Bist du mit dem Auto da?«, fragte Will.
»Nein, mit dem Taxi.« Heather deutete auf ihre Füße, die in hochhackigen Pumps steckten, und schwenkte den Beutel, den sie von ihrer Schulter nach unten gleiten ließ. »Lass mich schnell noch Schuhe tauschen, dann können wir los.«
Er bot ihr den Arm, um sie zu stützen. Sie hatte gerade den zweiten Pumps abgestreift, als abermals Stimmen aus dem Treppenhaus ertönten. Unisono stöhnten sie auf, und Heather zerrte hektisch an ihrem Stiefel – doch zu spät.
Dirty Dick und sein Gefolgsgeschwader hatten sie schon erspäht. Ein schmieriges Grinsen zog sich über das feiste Gesicht, das eine Reihe Jacketkronen entblößte. Er drehte sich zu seinen Begleitern, als wollte er sich versichern, dass sie ihm Rückendeckung gaben, und rieb sich über die Glatze. Im Nacken sammelten sich dabei die Speckröllchen wie ein Berg Würstchen. Sein Lächeln wirkte nun noch gekünstelter, als er sich wieder zurückdrehte.
»Na, wen haben wir denn da? Robin Hood, der Rächer der entehrten Frauen, der Lady Marion ritterlich den Arm reicht.« Dass er die Staatsanwältin so geflissentlich ignorierte, ihr nicht mal einen Blick schenkte, sollte vermutlich eine Rache für seine Niederlage darstellen.
Will nickte ihm kühl zu. »Cromwell.« Doch den Spott konnte er sich nicht verkneifen. »Ich habe schon vom Ausgang der Verhandlung gehört, mein herzlichstes Beileid.«
Die kleinen Äuglein – Wills Schweine besaßen dagegen regelrecht Kulleraugen – zogen sich zusammen. Doch immerhin hatte Cromwell sich so weit im Griff, dass er nicht auf die Spitze einging, auch wenn er sich nervös an dem fleischigen Ohrläppchen zupfte. »Und bei Ihnen so? Mussten Sie sich mal wieder Ihre Männlichkeit beweisen und den Helden bei einem schwachen Weibchen spielen? Aber keine Sorge, Sie sind noch jung, auch zu Ihnen werden die richtigen Fälle noch kommen. Oder war wieder irgendein Flüsschen vergiftet, und Sie mussten die Anwohner heroisch vor den bösen Industriefeinden retten? Irgendein Giftgasalarm? Chemische Keulen? Ich habe gehört, Sie vertreten neuerdings auch arme kleine Ferkelchen, damit denen nicht Aua gemacht wird, wenn ihnen der Schniedel abgeschnitten wird.« Er lachte dröhnend, mit verächtlich geschürzten Lippen.
Die Vorwürfe prallten an Will ab. Schließlich tat er –im Gegensatz zu Dirty Dick – nichts, wofür er sich zu schämen brauchte. Er verzichtete darauf, seinen Kontrahenten darauf hinzuweisen, dass bei Ferkel-Kastrationen nur die Hoden entfernt wurden und nicht das Geschlechtsorgan. Zu seiner Meinung, eine Kastration sollte nur unter Betäubung durchgeführt werden dürfen, um den Tieren unnötiges Leid zu ersparen, stand er; bei seinen Schweinen auf dem Hof hielt er es ebenso. Und in dem Punkt würde er auch vor den obersten Gerichtshof ziehen, um den Gesetzesentwurf endlich durchzudrücken.
So sagte er nur: »Was zappeln Sie eigentlich so nervös herum, Cromwell? Zögern Sie die Zeit hier drin hinaus, weil draußen jemand vom Moretti-Clan auf Sie wartet? Die Jungs werden ziemlich stinkig auf Sie sein.« Will wiegte den Kopf. »Ich hoffe bloß für Sie, dass die Ihnen kein Aua machen. Versager haben bei denen keinen guten Stand, habe ich mir sagen lassen.«
Damit schien er einen Nerv getroffen zu haben, denn Cromwells Augäpfel, in denen sich ungesunde rote Äderchen abzeichneten, traten beinahe aus den engen Höhlen, als er so nahe an ihn herankam, dass Will den alkoholgeschwängerten Atem riechen konnte. Vermutlich hatte Cromwell nach dieser Verhandlung mit einem Flachmann Frust und Sorge hinunterspülen müssen.
Dennoch kam Will nicht umhin, dass durch den Gestank Erinnerungen in ihm aufwallten, die er nur zu gern ganz tief in seinem Unterbewusstsein vergrub. Er hielt den Atem an, während Cromwell den Zeigefinger in seine Brust bohrte.
»Passen Sie bloß auf, dass Ihnen nicht mal jemand üble Schmerzen bereitet, McGinty!«, stieß er hasserfüllt hervor.
»Darf ich das als Drohung verstehen, Mister Cromwell?«, mischte sich Heather mit einer Stimme ein, aus der Eiswürfel klirrten. Ihre sonst so sympathischen Züge wirkten scharfkantig, und man bekam einen Eindruck davon, dass sie im Gerichtssaal keine leichte Gegnerin war.
»Aber nein, keinesfalls, Frau Staatsanwältin«, säuselte Cromwell. »Ich bin nur um den werten Kollegen besorgt, der sich in seinem jugendlichen Übermut so mächtige Feinde schafft.« Er legte eine vielsagende Pause ein. »Bei seiner Gegenseite meine ich natürlich«, wand er sich aalglatt heraus.