Marienbilder - Tamara Bach - E-Book

Marienbilder E-Book

Tamara Bach

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Beschreibung

Mareikes Mutter ist verschwunden. Einfach weg. Von einem Tag auf den anderen. Warum und wohin? Mareike hat keine Ahnung. Auch nicht, wie sie darauf reagieren soll. Ebenso wenig wie ihr Vater und ihre Geschwister. Also machen alle erst einmal so weiter wie bisher, als wäre nichts geschehen. Aber dann macht sich Mareike auf den Weg und versucht, sich ihre Geschichte zusammenzureimen. Doch von jeder Geschichte gibt es unendlich viele Versionen. Und alle sind nur Möglichkeiten. Welche wird Mareike zu ihrem Leben zusammensetzen? Marienbilder - Ein Roman in fünf Möglichkeiten.

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Wir danken dem Suhrkamp Verlag für die freundliche Abdruckgenehmigung eines Auszugs aus dem Gedicht »habe die Hände (von) Melancholie« aus: Friederike Mayröcker, Gesammelte Gedichte 1939–2003. Herausgegeben von Marcel Beyer. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Die Arbeit an diesem Roman wurde unterstützt durch die Zuerkennung des Martha-Saalfeld-Förderpreises.CARLSEN-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. © 2014 by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor Lektorat: Katja Maatsch Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, LemfördeISBN 978-3-646-92585-2 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

»All of the true things that I am about to tell you are shameless lies.«KURT VONNEGUT, CAT’S CRADLE »Ich habe / alles 1 x gewuszt aber jetzt habe ich alles vergessen, ich stehe / am Anfang meines Verstandes wie 1 neugeborenes Kind und ich habe / keine Grundfesten (mehr) und keine Erfahrung und stehe am Ende. Und / habe gewartet tage- und wochenlang habe ich gewartet darauf dasz / die Erde sich öffnet und mich verschlingt, aber jeder Morgen speit / mich von neuem aus und ich versuche zurechtzukommen, habe / die Hände von Vater von Mutter die Melancholie«FRIEDERIKE MAYRÖCKER, habe die Hände (von) Melancholie

1.

Die Sehnsucht meiner Mutter hat rote Haare.

2.

Als meine Mutter mit mir schwanger wurde, war Frank schon fast erwachsen und Nadine aus dem Gröbsten raus.

Als ich noch so klein wie ein Stecknadelkopf bin, weiß meine Mutter nicht, ob sie mich behalten soll. Das mit meinem Vater ist keine sichere Sache. Sie erzählt ihm, dass sie wieder schwanger ist, neun Jahre nach ihrer letzten Schwangerschaft.

»Das geht nicht«, sagt sie.

Und mein Vater hat Tränen in den Augen. »Du willst kein Kind von mir?«, fragt er, als ob er die anderen beiden schon längst vergessen hat.

Sie antwortet nicht. Was soll sie denn auch sagen? Dass sie nicht weiß, wie lange es dauert, bis er wieder auf gepackten Koffern sitzt und schweigt?

Das nächste Mal hätte er einfach gehen können. Ohne Rücksicht auf Frank und Nadine zu nehmen.

»Warum willst du kein Kind von mir?«, fragt er und weint.

Sie hat nicht geantwortet. Sie ist nach draußen gegangen,

hat meinen Vater in seinem Sessel sitzen lassen, die Hände vors Gesicht geschlagen.

Meine Mutter setzt Wasser auf, um Kaffee zu kochen, denn mein Vater hat wieder Nachtschicht und muss in wenigen Stunden arbeiten, zum Schlafen ist es schon zu spät.

Und während die Kaffeemaschine brodelt und mein Vater leise aus dem Wohnzimmer schluchzt, schaut Magda aus dem Fenster, auf die Straße, überlegt, dass sie bald die Blumen zurückschneiden muss, dass morgen die Müllabfuhr kommt, holt Tassen, Zucker und Löffel aus dem Schrank und behält mich.

Es war nicht mein Vater, der gegangen ist. Sie war es.

3.

Die Sehnsucht meiner Mutter hat rote Haare.

Morgens steigt er an der Kirche ein. Die Kirche ist die dritte Haltestelle, nachdem Magda eingestiegen ist. Der Morgen ist schon zweieinhalb Stunden alt, wenn der Bus vor der Kirche hält, wackelnd hält. Sobald die Tür aufgeht, steigt er ein. Nicht als Erster. Erst der Mann mit der grauen Mütze, der Ledertasche unterm Arm und der Thermoskanne. Wenn Markt ist, kommt noch eine Frau dazu. Die Frau hievt sich in den Bus, winkt ab, wenn der Busfahrer ihr die Hand entgegenhält, winkt also jedes Mal ab. Wenn Markt ist, setzt sich die Frau zu Magda, dabei ist der Bus fast leer. Dann grüßt sie Magda und fragt nach Mutter und Vater. Fragt nach der Ernte, fragt nach Regen und nach Sonnenschein. Wenn Markt ist, darf Magda ihn nicht sehen. Wenn Markt ist, sieht Magda stattdessen der Frau ins Halbprofil, nur manchmal gleitet der Blick nach draußen. »Noch früh«, sagt die Frau. Magda nickt leicht, nur leicht, zu sehr nicken heißt müde sein, heißt sich beschweren. Heißt nicht wissen können, was wirklich früh ist, denn die Frau neben Magda weiß, was wirklich früh ist.

Der Morgen hat vor zweieinhalb Stunden angefangen. Der Wecker ist keiner, ist ein Geräusch, das der Vater macht, wenn er aus dem Bett steigt. Wenn Vater aufsteht, steht Magda auf, zieht sich einen Kittel über und die alte Strickjacke für den Hof, dicke Socken und die Pantinen. Der Vater geht als Erster die Treppe runter zu den Tieren, Großmutter stellt in der Küche Wasser auf den Herd, Vater geht zu den Kühen, Magda geht zu den Kühen, vorne füttert Vater, hinten melkt Magda. Magda muss nur melken, muss danach die Schweine füttern, Vater hat inzwischen das Hoftor geöffnet, der Hund rennt ihm um die Beine. Mutter ist im Hühnerstall.

»Du musst dich ordentlich waschen«, sagt Schwester Agnes. Ich wasche mich ordentlich, will Magda sagen, hat es gesagt. Hat Agnes sie angeschaut, hat sie weiter angeschaut und doch noch ein Fleckchen gefunden, da, Dreck, hat sie gesagt, Hygiene, Hü-gjene, das ist mehr als sauber sein. Magda kommt in der Praxis an, ist schon sauber, geht trotzdem zum Waschbecken, schrubbt die Hände hoch bis zum Ellenbogen, schrubbt die Nägel, schiebt Nagelhaut zurück, schrubbt dort, schrubbt unter den Nägeln, das Wasser ist kalt, die Wurzelbürste, die Seife. »Bist du nun sauber?«, fragt Schwester Agnes und schaut lieber selbst noch mal nach.

Die Sehnsucht meiner Mutter ist so groß, dass er sich bückt, wenn er in den Bus einsteigt. Die Mütze nimmt er ab und ist trotzdem nicht kleiner. Als im April nach wochenlangem Regen endlich die Sonne scheint, als die Sonne morgens endlich scheint, wenn Magda im Bus sitzt, da scheint die Sonne durch die Ohren der Sehnsucht mit den roten Haaren, der drei

Reihen vor Magda sitzt. Wie in der Kirche, denkt Magda, wenn sonntagsfrüh das Licht durch die Fenster über dem Altar strahlt, und Magda die Augen zusammenkneifen muss, um den Pfarrer zu sehen. Die Ohren also kirchenfensterrot, schneewittchenapfelrot, die Haare orange. Die Sehnsucht meiner Mutter ist ein Sonnenaufgang im April. Magda legt die Hände zusammen.

4.

Der Tag, an dem meine Mutter verschwindet, ist ein Donnerstag.

Der Tag, an dem meine Mutter verschwindet, hat sechs Schulstunden, an diesem Tag hat der Schulbus

Verspätung, und ich stehe eine Viertelstunde vor der

Schule, vor dem Tor, während alle sich verabschieden,

in die anderen Busse einsteigen und mit dem Rad an mir vorbeifahren. Ich stehe da, und eine aus der Siebten schaut verlegen in meine Richtung. »Der ist verspätet«, sagt sie irgendwann. Ich zucke mit den Schultern, vor dem Tor stehen ein paar Oberstufler und haben Mittagspause. Der Tag ist ein Donnerstag, im Bus riecht es nach Sportstunde und Mathearbeit, nach nicht gegessenen Pausenbroten und der zuletzt gerauchten Zigarette des Fahrers. Im Schulbus klingt es nach heimlichen Briefchen in Bio, nach verhauenen Diktaten und Hunger.

An diesem Donnerstag schließe ich den Briefkasten auf, hole die Post raus, sortiere die Werbung aus, schließe die Haustür auf, schließe die Wohnungstür auf, mache einen halben Schritt in die Wohnung und ziehe die Schuhe aus, stelle die Schuhe zu den anderen, lege die Post auf die Ablage, nehme sie dann doch wieder und lege sie auf den Esszimmertisch.

In der Küche ist nichts auf dem Herd, ist nichts zum Aufwärmen im Kühlschrank, das macht nichts, im Kühlschrank ist Käse, sind noch ein paar Würstchen, ist Margarine, und Brot ist auch noch da.

Am Donnerstag, an diesem Donnerstag, ist mir das Wetter nicht aufgefallen, es war ein Donnerstag wie jeder andere, ich habe gegessen und das benutzte Geschirr in die Spüle gestellt, und eigentlich war es einfach irgendein Tag, es hätte auch ein Dienstag sein können, nur dass an diesem Tag der Bus zu spät kam, das kommt sonst nicht vor, dass der Busfahrer kurz mit den Schultern zuckt, dann aber sagt: »Hopphopp, bewegt euch, sind eh schon zu spät dran«, alles sonst eigentlich wie immer, nicht mal, dass da nichts zu essen stand, nicht mal das war außergewöhnlich. War’s denn wirklich ein Donnerstag? Ja, es war ein Donnerstag, und es hatte irgendein Wetter und irgendwelchen Unterricht, den es eben am Donnerstag hat, es hatte Mittagessen, und dann hatte es Hausaufgaben und dann Nachmittag.

An diesem Donnerstag, denn es war ein Donnerstag, klingelte um halb fünf das Telefon. Und Jutta war dran. »Jutta hier«, sagte sie, »Hallo, sag, kannst du mir mal deine Mutter geben?«

Ich hab da gestanden, das weiß ich noch, und auf den Fernseher geschaut, weil da irgendwas lief, irgendein Dreck, irgendeine Talkshow, die kein Mensch braucht, und mich geärgert, dass der Weg zur Fernbedienung so weit war, dass ich nicht einfach umschalten konnte, und das gedacht und gesagt: »Diesnichdakannichihrwasausrichtn?«

Und sie hat nicht gesagt: »Oh, nee, lass mal, ich meld mich später noch mal.«

Und sie hat nicht gesagt: »Och, sag ihr doch einfach, dass ich angerufen habe, machst du das? Das ist lieb.«

Und sie hat auch nicht gesagt, dass irgendwer irgendwas gemacht hat, dass ihr Mann mal wieder, oder ob meine Mutter wüsste, was man gegen Traubenflecken, oder irgendwas.

Jutta sagte: »Aber sie war doch nicht auf Arbeit.«

Und Jutta wusste das, weil Jutta mit meiner Mutter zusammenarbeitet, seitdem sie vorletztes Jahr in dem Betrieb angefangen hat, in dem meine Mutter seit sieben Jahren arbeitet.

»Vielleicht schläft sie ja. Ich hab gar nicht geschaut. Ja. Ich guck gleich mal. Soll ich …?«

Und sie sagte: »Nee, wenn sie schläft, dann lass mal, ich meld mich wieder.«

Und verabschiedete sich und legte auf, und es war Donnerstag und meine Mutter war nicht arbeiten gewesen.

Ich hab den Hörer aufgelegt, bin in die Küche gegangen und hab aus dem Fenster und nach dem Wagen geschaut, dabei nimmt meine Mutter den Bus zur Arbeit, weil es billiger ist, weil sie die Karte vom Betrieb bezahlt bekommt. Aber der Wagen stand nicht da, und da bin ich ins Schlafzimmer gegangen, und da war das Bett gemacht, aber nur zur Hälfte. Die eine Seite, die meines Vaters, war zurechtgemacht wie jeden Tag, aber ihr Bett war abgezogen und die Bettdecke zu einem kleinen Rechteck zusammengelegt, obendrauf das nackte Kopfkissen. Ich hab den Schrank aufgemacht,

da haben die leeren Kleiderbügel aneinandergeschlagen wie ein Windspiel. Und oben auf dem Schrank war kein Koffer, und im Bad, da war ihr Zahnbecher leer, und da hing auch kein Mantel an der Garderobe, und da waren keine Schuhe unter der Garderobe.

Da war kein Zettel.

Da war keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.

Da war keine Nachricht auf meiner Mailbox.

Und bei den Briefen, die noch auf dem Esstisch lagen, war eine Ansichtskarte einer Kindergartenfreundin, zwei Rechnungen, ein Brief unserer Tageszeitung und nichtsnichtsnichts sonst.

Es war Donnerstag, im Fernsehen lief nur Mist, und irgendwann würde Jutta wieder anrufen und fragen, ob meine Mutter denn nun wach sei.

5.

Meine Mutter ist weg.

Meine Mutter kommt nicht wieder.

Mein Vater fragt: »Wo ist deine Mutter?«

Und erst hört er nicht richtig zu, versteht er nicht, was ich meine, als ich »weg« sage, denn er fragt, ob es was zu essen gibt oder ob er kochen soll.

Dann sage ich es ihm noch einmal, dass meine Mutter, seine Frau, dass sie weg ist.

Sie ist weg.

Ich zeige meinem Vater das Schlafzimmer, ich zeige ihm das Bad, ich zeige ihm all die Stellen, aus denen meine Mutter sich herausgekürzt hat.

Ich zeige meinem Bruder alles noch einmal, als er nach oben kommt.

Und mein Bruder ruft meine Schwester an und sagt, dass meine Mutter, seine, ihre, unsere Mutter weg ist, weg.

Und meine Schwester sagt: »Wie, weg?«

Und mein Vater sagt nichts und steht im Flur.

Und mein Bruder sagt: »Sie hat ihre Sachen gepackt. Sie ist weg.«

Und alle fragen nach einem Brief, sie fragen, ob sie was gesagt hat. Dann kommt meine Schwester mit dem Zug, mein Bruder muss sie mit dem Auto vom Bahnhof abholen, mein Vater steht in der Küche, mein Vater steht am Tisch, als alle sitzen, als mein Bruder sagt: »Wir müssen jetzt besprechen, was wir weiter machen.«

Mein Vater steht neben mir. Er hat drei Finger an die Tischkante gelegt und ist kein Leuchtturm.

Dann beschließen sie Dinge. Sie sagen, dass man erst mal niemandem was sagen soll, dass vor allem ich niemandem was sagen soll, keinem Nachbarn, niemandem, wir werden bei ihr im Betrieb anrufen, werden sagen, dass sie sich Urlaub nehmen musste. Unbezahlt. Wir werden sagen, dass es was Familiäres ist.

Und mein Bruder sagt, dass erst mal nichts definitiv ist. Dass immer noch die Möglichkeit besteht, dass sie wiederkommt, morgen schon, dass das vielleicht eine Phase ist. »Ist denn irgendwas passiert? Irgendwas?«

Wir zucken die Schultern.

Wir warten erst mal ab.

Wir warten, was passiert.

Mein Bruder nickt, meine Schwester nickt, mein Vater nickt. Und ich.

Wir warten.

6.

Mein Vater schläft jetzt auf dem Sofa. Er kommt spät von der Arbeit, jeden Abend ein bisschen später. Dann legt er sich vor den Fernseher mit einem Liter Vollmilch und Wiener Kringeln. Er trinkt die Milch, er isst die Kekse, er schaut fern, irgendwann legt er sich die Decke über die Beine, legt eine Hand zwischen Wange und Sofa, dann fallen ihm die Augen zu.

Manchmal nimmt er nicht mal seine Brille ab.

Wir warten ab. Ich sage niemandem was.

Meine Mutter ist weg, es ist was Familiäres, sie ist weg, sage ich der Nachbarin, ich sage es der Bäckerin, dann ist eine Woche vorbei und wir warten ab und weiter.

Mein Bruder nimmt mich ins Gebet. Das geht niemanden was an. Meine Schwester sagt, sie kennt Geschichten, da sind Menschen nach zwei Wochen wieder aufgetaucht, dass es jedem Menschen zusteht, sich mal eine Auszeit zu nehmen. Das Schlafzimmer meiner Eltern ist das kalte Zimmer, wir haben die Heizung heruntergedreht, solange wir warten.

7.

Meine Eltern waren einmal zwei Menschen, die sich nicht kannten. Waren eine Magda und ein Günther. Waren zwei Gesichter, die sich nicht sahen, wenn sie aneinander vorbeigingen. Das Gesicht meiner Mutter, das Gesicht meines Vaters.

Damals gab es eine Hochzeit. Zwei Menschen heirateten, und meine Eltern kannten sich noch nicht.

Günther sitzt mit seinem Freund in einem kleinen Wagen, Günther sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut in eine Karte, im Auto ist es viel zu dunkel, und bevor er die Straße findet, die ihm sein Freund über den Lärm des Wagens zubrüllt, sind sie auch schon wieder drei Ecken weiter. »Wo?«, fragt Günther, schaut auf die Karte, schaut nach draußen, da ist es auch dunkel, und die Straßenschilder kann er nicht lesen. Günther überlegt, ob er eine neue Brille braucht. »Halt mal an!«, schreit er, und der Freund zieht den Wagen an den Straßenrand. Günther beginnt, seine Brille zu putzen. Der Freund schnauft: »Als ob das was hilft«, und draußen stackeln zwei Frauenbeine vorbei.

Eine Tür öffnet sich, ein Fahrer steigt aus, Günther hört »verfahren«, setzt sich die Brille wieder auf und blinzelt nach draußen, schaut an den Beinen vorbei, sieht das Straßenschild, sieht es zu wenig und kneift die Augen zusammen, was nicht hilft. Günther steckt sich eine Zigarette an und wartet. Ein bisschen Asche fällt auf den Atlas auf seinem Schoß.

Meine Mutter sitzt in diesem Moment ganz woanders, hat Feierabend und streckt die Beine aus, in dem Schwesternwohnheim, in dem sie wohnt, in dem zwölf Quadratmeter kleinen Zimmer mit dem Kreuz an der Wand. Neben dem Bett ein paar Frauenzeitschriften, die Kosmetika viel zu teuer, eines Tages vielleicht. Abends noch ein Bier mit der Rothaarigen von nebenan. Dem Kleinen haben sie ein Bettchen an das Ende ihres eigenen, kleinen Bettes gestellt, er schläft und sie schaut nach draußen, schaut dann auf die Uhr und rechnet aus, wie viele Stunden Schlaf die Nacht ihr bringen wird.

Damals bringt mein Vater noch die Schmutzwäsche zu seiner Mutter, die ihn sonntags mit frischer, gebügelter Wäsche zurückschickt.

Der Freund und die Passantin tauschen Telefonnummern. Die Passantin hat rote Haare und geht manchmal mit ihrer Zimmernachbarin abends ein Bier trinken.