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Was tun, wenn plötzlich niemand mehr vor die Haustür darf? Am besten dieses Buch lesen! Es ist Winter und so kalt, dass alle Schulen geschlossen werden. Erst kommt es Clara fast so vor wie ein langes Wochenende oder schneefrei. Aber schnell fühlt es sich gar nicht mehr lustig an. Wie gut, dass Claras kleine Schwester Luze einen unsichtbaren Hund hat, der für Aufregung sorgt. Und dann ist da ja noch Vincent, der schönste Junge der Welt, der zum Glück auch zu Hause bleiben muss. Vielleicht kann Clara ihn doch noch mit einem ihrer Witze zum Lachen bringen, wenn alle Aufgaben geschafft sind. Das neue Kinderbuch der preisgekrönten Autorin Tamara Bach erzählt von Familie, Freundschaften und Spielen, vor allem von der Hoffnung – warmherzig, witzig und voller Fantasie.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Es ist Winter und so kalt, dass alle Schulen geschlossen sind. Erst kommt es Clara wie ein langes Wochenende vor und sie freut sich darüber schneefrei zu haben. Aber irgendwann fühlt es sich gar nicht mehr lustig an. Da ist es gut, dass Claras kleine Schwester Luze einen unsichtbaren Hund hat, der für Aufregung sorgt. Und dann ist da ja noch Vincent, der schönste Junge der Welt, der zum Glück auch zu Hause bleiben muss. Vielleicht kann Clara ihn mit einem ihrer Witze zum Lachen bringen.
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Vita
Für Pony
und die D16
und Gwens Ohren
Also das war so ungefähr.
Luze ist irgendwann komisch geworden. Also komischer als vorher. Kleine Kinder sind ja eh komisch und Luze erst recht. Aber dann noch mehr.
Erst sind unsere Nachbarn von gegenüber, die Jakobs, weg gezogen, und das war nicht gut. Mir war das wumpe, ich hab mit denen nichts zu tun gehabt, aber mit Silas, deren Sohn, war Luze dick befreundet. Die sind also weggezogen, weil die sich ihre Wohnung nicht mehr leisten konnten. Und Luze war traurig. Klar.
Mama und Gregor haben gedacht, dass Luze in der Schule schon jemanden findet, einen neuen Freund oder eine Freundin. Mama nennt das Anschluss finden.
Hat Luze aber wohl nicht. Und ist ja auch nicht so, dass Silas irgendein Freund war. Die waren wie eingeschweißt im Zweierpack, hat Mama immer gesagt. Ich glaub nicht, dass man das so leicht und so schnell wiederfindet. Aber Mama anscheinend.
Ich bin dann auch mal mit Luze auf den Kinderbauernhof, aber halt nur zweimal oder so, vielleicht war das zu wenig.
In der Schule hat sie keinen Anschluss gefunden, und daheim ist sie irgendwann auch gar nicht mehr aus unserem Zimmer rausgekommen. Egal womit Mama und Gregor sie aufheitern wollten. Oder ablenken. Kuchen backen wollte sie nicht, spazieren gehen nicht.
Und dann, und das ist uns erst später aufgefallen, war das wohl auch wegen Rosa aus dem vierten Stock. Die hätte nämlich einen Hund bekommen sollen. Das hat ewig gedauert, bis der kam. Wochenlang hat das gedauert. Und Luze hat sich so auf den Hund gefreut! Einen Monat lang hat sie nur noch Hundebilder gemalt und sich Bücher über Hunde aus der Bücherei ausgeliehen, und jedes Mal, wenn sie Rosa begegnet ist, hat sie ihr Löcher in den Bauch gefragt. Und dann kam der Hund, aber dann musste Rosa den schon nach einer Woche wieder zurückgeben. Luze hat den nicht mal zu Gesicht bekommen, weil Rosa meinte, dass der Hund nicht mit Kindern kann. Und dass sie uns dann doch lieber mag als den Hund. Deswegen durfte der auch nicht hierbleiben.
Also war der Hund weg und wie gesagt, Luze ist danach noch trauriger geworden, aber das ist uns erst später aufgefallen.
Irgendwann hat Luze nicht mal mehr mit Gregor Polnisch gesprochen.
Irgendwann hat sie fast gar nichts mehr gesagt, nur noch Ja oder Nein. Nur noch die allerallerklitzekleinsten Worte.
Da bin sogar ich traurig geworden. Und Mama und Gregor eh. Und Mama hat gesagt »Was machen wir denn nur mit Luze?«, denn kuscheln hat nicht geholfen, neue Buntstifte haben nicht geholfen, und in der Schule haben die auch keine Ahnung gehabt und nur gesagt, dass so was auch einfach wieder vorbeigehen kann. Dass sie trauert oder so, dabei ist gar niemand gestorben. Aber Luze sei so sensibel.
»Was heißt das denn?«, hab ich Mama gefragt, und die meinte irgendwas mit dünner Haut und Gefühlen, die mehr sind und größer als bei anderen. Oder so.
Luze hat auf ihrem Bett gesessen und nicht mehr über meine Musik gemeckert und nicht mehr mit meinen Spielsachen gespielt, für die sie eh zu klein ist, aber das hätte sie jetzt echt gedurft. Und sie hat auch nicht mehr andauernd geredet und gesungen, wie sonst. Irgendwie ist sie kleiner geworden und grauer. Ich dachte, irgendwann verschwindet sie einfach.
Aber dann ... Wo fang ich denn jetzt am besten an?
Also: Erst mal kam Mama auf die Idee, dass Struktur hilft. Und für sie hieß das, dass Luze Aufgaben bekommt. Im Haushalt helfen. Den Nachbarn Sachen bringen. Also, als zum Beispiel Tatiana aus dem dritten Stock sonntags mal backen wollte, aber keine Eier daheim hatte, hat Mama ein Körbchen mit Eiern befüllt und Luze musste das zu Tatiana hochbringen. Und dann hat Tatiana noch ein bisschen mit Luze gequatscht, aber nicht lange, weil Luze eben nicht mehr geredet hat.
Wäre das zwei Monate vorher passiert, dann hätte man Luze gar nicht mehr aus Tatianas Küche rausbekommen.
Also immer, wenn jemand im Hausfunk (so nennen die ihre Chatgruppe) nach was gefragt hat, dann hat Luze das bringen müssen. Wir wohnen in so einem Haus mit vielen Wohnungen, muss ich vielleicht mal erklären. Vier Stockwerke und Erdgeschoss und Dachgeschoss und dann noch ein Seitenflügel und noch ein Hinterhaus. Und auf jedem Stockwerk gibt es mindestens zwei Wohnungen, manchmal auch drei.
Und bei uns im Vorderhaus kennen sich die meisten. Also mehr als in anderen Häusern, hab ich irgendwann gemerkt. Woanders nicken sich Nachbarn allerhöchstens zu, wenn die sich begegnen.
Also Struktur hat Mama gesagt und damit eben gemeint, dass Luze Aufgaben kriegt. Die hat das einfach so gemacht, nicht gemault, nicht gemotzt, so traurig war sie, dass sie nicht mal mehr das konnte. Als ob ihr alles egal wäre.
Und plötzlich hat jeden Tag jemand im Haus was gebraucht: einen Kreuzschlitzschraubenzieher oder Wollwaschmittel oder Backpulver oder Briefumschläge oder eine Gießkanne oder einen Pümpel fürs Klo. Irgendwann hab sogar ich kapiert, dass die sich alle abgesprochen haben.
Und dann hab ich angefangen Luze zu fragen, ob sie mir hilft.
Beim Ausmalen, oder ob sie den alten Puppen von Mama die Haare kämmen kann und sie alle schön anzieht. Sie hat alles gemacht, aber so ... lustlos. Wie ein kleiner Roboter, so automatisch.
Das ist nicht besser geworden.
Bis Hotte sie zum Briefkasten um die Ecke geschickt hat, um einen Brief einzuschmeißen.
Dafür hat sie ein bisschen zu lange gebraucht. Aber als Luze dann zurückgekommen ist, hat sie zum ersten Mal seit Wochen gelächelt. Und uns wieder richtig angeschaut, ins Gesicht, in die Augen.
Und dann hat sie uns erzählt, dass sie unterwegs Flori begegnet ist und mit ihm getauscht hätte. Und SO ein tolles Geschäft, fünf Päckchen Brause (die hatte sie von Hotte fürs Briefwegbringen bekommen) gegen: einen Hund!
Mama hat gleich panisch geguckt, die kann Hunde nämlich nicht ausstehen. Und Gregor hat sich wild umgeschaut, wo denn dieser Hund ist, und ich eh.
»Ist der noch vor der Tür?«, hab ich gefragt, aber Luze hat gesagt: »Quatsch, der ist doch schon hier, bei uns in der Küche!«
Aber da war kein Hund in der Küche.
»Der ist unsichtbar«, hat Luze ganz leise gesagt, als wäre das ein Geheimnis. »Nur ich kann den sehen!«
Mama hat Gregor angeschaut und die haben so ein Augengespräch gehabt, als ob sie Gedanken übertragen könnten.
Und ich hab nur gedacht, arme Luze, jetzt hat sie Brause für Luft eingetauscht, und wenn ich Flori das nächste Mal begegne, knöpf ich mir den vor. Dabei hau ich eigentlich niemanden. Aber Flori kann sich echt in Acht nehmen vor mir.
Mama hat wohl was Ähnliches gedacht, aber netter. Wahrscheinlich wollte sie eher mit Floris Eltern reden. Aber da in der Küche wollte sie zuerst Luze zu sich auf den Schoß ziehen und umarmen. Die hat das aber nicht mit sich machen lassen. »Nee, Mama, ich hab zu tun«, hat sie gesagt und ist dann aus der Küche marschiert in unser Zimmer. Und wir hinterher.
Luze und ich teilen uns nämlich ein Zimmer. Ich hab meine Sachen auf der linken Seite, wenn man reinkommt, und Luze ihre rechts. Luze hat also Tücher und Kissen und Puppendecken und ihre alte Schmusedecke und einen Schal genommen und daraus ein Nest ... gewickelt. So sah das jedenfalls aus. Als hätte sie das schon total oft gemacht. Und dabei hat sie ganz normal wie immer geredet und gesungen.
Mit uns, dachte ich erst. Aber sie hat immer »du« gesagt, und irgendwann hab ich gedacht, ach je, die meint den Hund. Den Hund aus Luft. Den Hund, den es gar nicht gibt.
»Schau, da schläfst du, wenn du müde bist, aber nicht jetzt, jetzt ist ja Tag. Aber nachher, wenn ich auch schlafe, dann schläfst du hier, das ist dein Nest.« Und dann hat sie die Luft gestreichelt und gelächelt.
Mama ist mit Gregor raus und ich hinterher. Luze ist weiter in unserem Zimmer geblieben.
Mama stand da im Flur und hat zu Gregor gesagt: »Und jetzt?«
Gregor hat sich den Kopf gekratzt, »Hui« gesagt und dann ist er in die Küche und hat erst mal Wasser aufgesetzt. Einfach einen Topf mit Wasser vollgemacht, auf den Herd gestellt und den Herd angemacht.
»Gregor!«, hat Mama gesagt. Aber der hat dem Wasser dabei zugeschaut, wie es wärmer geworden ist, und ich hab mich gefragt, ob er jetzt Nudeln kocht, dabei war es so mitten am Nachmittag, drei Uhr oder so. Keine Nudelzeit.
Mama hat dann ihren Laptop geholt und angefangen zu googeln, was man mit unsichtbaren Hunden macht, mit eingebildeten Freunden. »Ist Luze nicht zu alt dafür?«, hat sie gefragt, vielleicht mich, vielleicht Gregor, vielleicht aber auch das Internet, und das hat wohl gesagt: Nee, ist sie nicht. Luze war zwar schon in der ersten Klasse, aber eingebildete Freunde kann man wohl sehr lange haben.
Und dann hat Mama viel gelesen und das Wasser auf dem Herd hat irgendwann gekocht und Luze hatte einen Hund aus Luft.
»Dann ist das jetzt so«, hat Mama gesagt und den Laptop wieder zugeklappt. Gregor hat sich umgedreht und Mama hat gesagt, dass das nichts Schlimmes ist, dass das sogar gut für die Entwicklung ist, und wir sollen einfach mitspielen.
»Echt?«, hab ich gefragt.
Mama hat erst Gregor angeschaut, dann mich und dann bestimmt gesagt: »Ja.«
Dann ist sie aufgestanden, um den Laptop wieder wegzubringen, und ist kurz stehen geblieben und hat noch gesagt: »Wenigstens lächelt sie wieder. Ja.«
Und Gregor hat das Wasser angeschaut, das hat vor sich hin gekocht und geblubbert, dann hat er zwei Topflappen genommen, das Wasser in die Spüle geschüttet und den Herd wieder ausgestellt.
Ich bin dann ins Kinderzimmer.
Da hat Luze neben dem Hundenest gesessen, gesummt und ein Bild gemalt, einen Regenbogen, eine Sonne, und darunter stand was Krakeliges und ich habe gefragt, was das heißt.
»Das Perd.«
»Das Pferd?«, hab ich gefragt.
»Mmmh«, hat Luze genickt.
»Wieso das Pferd?«
»Der Hund heißt das Pferd.«
Und ich wollte schon sagen »Du spinnst ja komplett«, aber Mama hat gesagt, dass wir mitspielen sollen. Also hab ich nur »Okay« gesagt, und dann war das auch okay. Und weil nichts weiter passiert ist, hab ich mich dann an meine Hausaufgaben gemacht und Luze hat gemalt und gesummt und in unserem Zimmer lag ein unsichtbarer Hund in einem Nest.
Ich muss noch ein paar mehr Sachen erklären. Das mit Lisa. Und Vincent. Und überhaupt, vielleicht muss ich erst mal sagen, dass es Winter war.
Also DER Winter. Wo es so kalt war!
Kalt war es schon vor Weihnachten, und nach Weihnachten und Silvester ist es dann noch kälter geworden. Und dann noch kälter. Und bei manchen Häusern sind schon die Wasserleitungen eingefroren. Und der Fluss war nur noch eine Eisdecke.
Und an einem Freitag war es plötzlich so kalt, dass sie uns früher von der Schule nach Hause geschickt haben, weil die Heizung das nicht mehr mitgemacht hat oder so. Es gibt nämlich auch kältefrei. Wusste ich vorher auch nicht.
An dem Tag hab ich mich vorher außerdem mit Lisa gestritten. Das hatte gar nichts mit der Kälte zu tun, sondern ... nee, erzähl ich später. So schlimm haben wir uns noch nie gestritten. Und wir kennen uns seit der Kita. Wenn man sich so schlimm streitet, dass man irgendwann anfängt zu zittern vor lauter Streit, dass man rot wird und laut und die Fäuste ballt und stampft und sich danach nicht wieder verträgt, sondern immer noch Streit hat, nur dass dann beide stumm sind und still, das ist die schlimme Art zu streiten, mit Zähneknirschen und einander nicht mehr angucken und gleichzeitig so sauer und so traurig sein, dass es nicht auszuhalten ist. Und mit man meine ich mich. Klar.
Da war es eigentlich ein Glück, dass es plötzlich hieß, dass alle nach Hause sollten. Weil sich in der Aufregung keiner mehr drum gekümmert hat, was ich vorher zu Lisa gesagt habe und Lisa zu mir. Oder was wir gebrüllt haben.
Und in dem ganzen Durcheinander bin ich dann ganz schnell aus der Schule.
So schnell, dass ich vergessen habe, auf Vincent zu warten.
Und jetzt muss ich vielleicht auch von Vincent erzählen. Gleich. Ja, gleich.
Auf dem Nachhauseweg bin ich noch bei Luzes Schule vorbeigegangen, weil Mama mir eine Nachricht geschickt hat, dass Luze auch Schluss hat und sie nicht rechtzeitig von der Arbeit und ob ich nicht ... Also: Mama hat eine Sprachnachricht aufgesprochen, das dauert immer sehr lange. Ich hab ihr nur »Okay« geantwortet und dann Luze in der Grundschule abgeholt. Die hat schon auf mich gewartet und saß im Gang auf einer Bank in voller Montur, Mütze, Handschuhe, Schal, Winterstiefel, Ranzen, alles.
Da war das Pferd, der Hund gerade zwei Tage bei uns.
Laut Luze.
Und sehen konnte das Pferd immer noch keiner außer ihr.
Draußen hab ich Luze dann gefragt, wie sie den Hund denn sieht, wenn der doch unsichtbar ist.
»Weil, der ist für mich nicht unsichtbar, nur für euch.«
»Stimmt ja«, hab ich gesagt und dann versucht Luze dazu zu bringen, dass sie ein bisschen schneller läuft. Weil es so kalt war, dass es schon wehgetan hat.
»Wie sieht der denn aus?«, hab ich gefragt.
Und da hat sie geguckt und gesagt: »Wie ein Hund!«
»Und wie groß? Oder ist der klein? Ist das ein Junge oder ein Mädchen? Lange Haare? Kurze? Und welche Farbe?«
Da hat Luze geseufzt und mit den Augen gerollt und dann gesagt: »Mann, das ist doch ganz einfach!«
Und dann hat sie noch mal geschnauft, so laut, dass man das sogar durch den Schal gehört hat, den sie vor dem Mund hatte, und gesagt, dass das Pferd ganz weich ist. Und dann hat sie gesummt und dann gesagt oder gesungen, dass das Pferd manchmal ganz groß ist, größer noch als ein Pferd.
»So groß bis zur Decke«, hat sie gesagt. Und gesummt, dass ich gedacht hab, das denkt sie sich aus, die komponiert jetzt ein Lied auf das Pferd, auf den Hund. »Und manchmal ist sie ganz klein, so klein, dass sie neben mir auf dem Kopfkissen liegt.«
»Aha, sie! Also ein Mädchen!«, hab ich gesagt.
Luze hat mich angeschaut und mit dem Kopf geschüttelt und so getan, als würde ich gar nichts kapieren, und nur weiter gesungen, welche Farben das Hundepferd, der Pferdehund alle hat. Ganz schwarz und ganz weiß und rote Flecken und goldene Haare.
Und dann hab ich gedacht, dass sie sich halt nie entscheiden kann.
Zum Beispiel waren wir im Sommer Eis essen und Luze sollte sich zwei Bällchen aussuchen. Ewigkeiten hat das gedauert, und irgendwann hat sie angefangen zu weinen und gesagt »Aber wenn ich Himbeere nehme, dann sind Erdbeere und Blaubeere doch traurig!«, als hätte sie im Sportunterricht Himbeere in ihre Mannschaft gewählt und die anderen beiden nicht.
Wir haben dann gar kein Eis gegessen an dem Tag. Gregor hat uns Schorlen gekauft und die haben wir getrunken und Luze hat wieder aufgehört zu weinen.
Der Hund ist also vielleicht ein Mädchen oder ein Junge oder gar nichts und ganz groß und ganz klein und hat alle Farben und alle Felle.
Weil Luze vielleicht alle Hunde am liebsten hat.
Dann ist das so.
Kurz hab ich überlegt, ob ich sie jetzt ärgere. Sage, dass das ja gar nicht geht. Dass ja kein Hund alle Farben haben kann. Oder dass sie ja selbst gar nicht weiß, wie ihr eigener Hund aussieht.
Bestimmt hätte sie irgendwann geweint.
Das wäre gemein gewesen. Ich glaub, ich war einfach immer noch so auf Krawall gebürstet, wie Mama das nennt. Streitlustig. Dabei ist Streit nie lustig. Manchmal will man jemandem wehtun, weil man selbst wehtut.
Aber ehrlich gesagt war ich ganz froh, dass Luze wieder gesungen hat. Und seit der Hund da war, hat sie auch wieder gelächelt und sogar gelacht. Gekichert. Das hat sie vorher ewig nicht gemacht.
Aber eben auch ganz viel mit der Luft geredet.
Mama hat natürlich allen Erwachsenen im Haus-Chat Bescheid gesagt.
Und ich glaube, kein Einziger hat sich drüber lustig gemacht.
Die sind alle verdammt NETT.
Und dann hab ich mich gefragt, ob die in der Schule auch so nett zu Luze und ihrem unsichtbaren Hund sind.
Also hab ich gefragt, ob das Pferd denn mit in der Schule war. Ob es denn jetzt mit uns nach Hause geht. Da hat Luze gesagt, dass es dabei war, dass das aber niemand weiß, weil Tiere in der Schule verboten sind.
Sie hat mich angeschaut und den Handschuh vor den Schal gehalten, also Scht.
Ich hab genickt. Und dann hab ich gefragt, ob sie denn irgendwem in der Schule von dem Hund erzählt hat. So im Geheimen.
»Nein«, hat sie da leise gesagt. Und erst war ich froh, weil andere Kinder ja echt fies sein können. Aber dann hab ich Luze angeschaut und gedacht, dass es auch traurig ist, wenn da niemand in der Schule ist, dem man sein Geheimnis erzählen kann. Oder möchte. Und hab an Lisa gedacht. Und dann zu Luze gesagt, dass wir jetzt echt schnell nach Hause sausen müssen, weil wir sonst einfrieren.
Als wir heimgekommen sind, hab ich das Radio angemacht und da hieß es eben auch, dass es irrsinnig kalt ist und noch kälter werden würde und dass sich die Politiker deswegen treffen würden. Und am Abend, als Mama und Gregor wieder daheim waren, hieß es, dass wahrscheinlich alle Kinder zu Hause bleiben müssten und nicht mehr in die Schule durften. Und alte Leute sollten auch daheim bleiben.
»Wie alt?«, hab ich gefragt. Weil Gregor ist auch schon ganz schön alt, also hab ich gesagt: »So alt wie Gregor?« Der hat mir die Zunge rausgestreckt, was ganz schön kindisch ist, aber jünger macht ihn das auch nicht. Und dann hat er mir die Haare verstrubbelt.
»Älter als wir«, hat Mama gesagt.
Und damit war der Käse gegessen.
Und am Sonntag dann, da waren die Politiker fertig mit Treffen und Reden und hatten ihre Käses (Käsen?) auch gegessen, und entschieden, dass alle Kinder, die noch nicht in die Oberstufe gehen, daheim bleiben müssten. Und eben die Alten. Aber die haben »Senioren« gesagt.
»Keine Schule!«, hab ich gerufen und bin ein bisschen durch die Wohnung gehüpft und hab immer wieder »Keine Schule!« gerufen. Und dann wollte ich schon Lisa schreiben, aber dann ist mir wieder eingefallen, dass wir ja verkracht waren. Und wenn man mit Lisa verkracht ist, wenn man, nein, wenn ICH Streit mit Lisa habe, dann schweigt die. Dann tut die so, als würde es mich gar nicht geben. Was echt eklig ist. Wie Zahnschmerzen.
Schön ist anders.
Freundschaft eh.
(Von dem Streit hab ich zu Hause nichts erzählt. War eh egal.)
Also war Schluss mit Freuen und ich bin wieder in die Küche, wo Mama und Gregor gerade Abendbrot gemacht haben, oder das Abendbrot machen sollten, aber dann mussten sie sich unterhalten, planen. Weil Luze und ich ja zu Hause bleiben sollten. Also haben Mama und Gregor sich drüber unterhalten, wer wichtiger auf der Arbeit ist. Und Mama hat irgendwann gefaucht und Gregor hat doofe Sachen gesagt, und dann hat Mama auf den Tisch gehauen und gesagt, dass das albern ist, »Wir machen halbe-halbe«.
Und beide müssten eben mal zu Hause bleiben. Da hat Gregor gesagt, dass das aber bei ihm nicht so einfach ist, und Mama hat gesagt, sie könnte gerne bei Gregors Chef anrufen und ihm erklären, wie einfach das zu sein hat.
Ich versteh nicht, dass Gregor immer noch denkt, dass er mit Mama so argumentieren kann. Die diskutiert jeden in Grund und Boden.
Also hat Mama gesagt, dass sie dann eben die ersten Tage zu Hause bleibt, aber dass sie von Gregor erwartet, dass er sich gleich Montag mit seinem Chef auseinandersetzt.
Ich sag das nur so, weil sie das so gesagt hat.
Was argumentieren ist, weiß ich auch nur wegen Mama.
Dann hat sie mich gesehen und gesagt, dass es gleich Abendbrot gibt und ich Luze Bescheid sagen soll.
Also wieder zurück in unser Zimmer, wo Luze dem Pferd, dem Hund ein Buch vorgelesen hat.
Also nicht echt. Luze war ja gerade erst ein halbes Jahr in der Schule. Die ersten paar Monate hat sie noch jeden Schultag gezählt. Jedes Mal, wenn wir jemandem im Flur oder so begegnet sind, oder wenn irgendwer gesagt hat »Na, Luze, wie ist alles?«, dann hat sie so was gesagt wie »Ich bin schon 28 Tage in der Schule«.
Bei 60 Tagen hat sie aufgehört zu zählen.
Jedenfalls hat Luze dagesessen und dem Hund, dem Pferd, ein Bilderbuch vorgelesen, auch wenn sie nach dem ersten halben Jahr immer noch nicht so viel von Buchstaben gehalten hat.
Das macht aber nichts, hat sie gesagt, weil sie die Geschichten ja eh kennt, und wenn sie was vergessen hat, dann hat sie sich den Rest einfach ausgedacht. Oder erzählt, was auf den Bildern so passiert.
»Es gibt Abendbrot«, hab ich gesagt. Aber Luze hat einfach weiter vorgelesen.
Und weil ich sauer war, auch wenn ich schon nicht mehr gewusst habe, warum, hab ich zu Luze gesagt: »Wir dürfen ab jetzt nicht mehr raus.«
Und weil sie nicht reagiert hat, hab ich außerdem gesagt: »Weil es so kalt ist. Musst auch aufpassen, dass das Pferd nicht rausgeht. Weil es sonst einfriert. Das ist ganz schön doof, weil du ja auch Gassi mit dem gehen musst. Oder muss dein Hund nie?«
Da hat Luze geseufzt, das Buch zugeklappt, vorher noch ein Papierchen als Lesezeichen reingelegt und dann ist sie aufgestanden, hat die Luft über dem Hundenest gestreichelt und erst dann hat sie mich angeschaut und gesagt: »Das Pferd weiß das ja schon. Und ich auch.«
»Ja und?«, hab ich gesagt.
»Und wenn das Pferd muss, dann geht es eben aufs Klo.«
Dann ist sie in die Küche gegangen.
Ich war immer noch sauer und hab gedacht, das wäre wegen dem Hund und wegen meiner kleinen Schwester.
Und dann bin ich auch in die Küche und hab mich an meinen Platz gesetzt.
Wenn es dunkel ist und Vincent in seinem Zimmer ist, dann kann man das von unserer Küche aus sehen. Im Innenhof ist ein Aufzug, und der Aufzugschacht ist aus Glas. Und Vincent hat sein Zimmer direkt über unserer Küche.
Ich hab da auf meinem Platz gesessen und gesehen, dass die gelbe Papierlampe in Vincents Zimmer an war. Und hab ein bisschen von seinem Kopf gesehen, aber nur das obere Ende.
Ich glaub, ich will ein bisschen über Vincent erzählen.
Vincent ist der schönste Junge auf der Welt.
Er hat grüne Augen, die sehen aus wie mit Filzstift ausgemalt, und Sommersprossen, das ganze Gesicht voll, und dann hat er auch noch Locken, die sind so korkenzieherig und so wild und sehen aber so weich aus, dass ich mir selbst immer die Hände festhalten muss, damit ich nicht reingreife.
Und seine Nase geht ein bisschen nach oben, aber nur so ein ganz klein wenig, und wenn er läuft, sieht er aus, als hätte er ein total cooles Lied im Ohr und würde dazu im Takt laufen. So lässig. Ein doofes Wort. Aber passt.
Vincent ist zwei Klassen über mir, und hab ich schon gesagt, wie wunderschön er ist? Man kann das gar nicht oft genug sagen.
So schön, dass mir das Herz immer ein bisschen wehtut, wenn ich ihn sehe. Auch ohne dass es kalt ist.
Das klingt jetzt ganz schön schmalzig und kitschig und so.
Aber es geht nicht anders.
Ist alles wahr. Auch das mit dem Herz.
Aber ich hab nur gewusst, wie schön er von außen ist.
Das ist wichtig, aber nicht alles. Und vielleicht ist es dann auch wieder nicht so wichtig. Wenn man nämlich von innen hässlich ist, dann kann man draußen die allerschönste Schönheitskönigin sein, das macht es auch nicht besser.
Jedenfalls ist Vincent außen ganz schön hui, und ob der innen hui oder pfui ist, hab ich nicht gewusst.
Dabei gehen wir sogar auf dieselbe Schule. Mit demselben Schulweg und so. Aber das hat Vincent nicht interessiert.
Das Allerallerschönste an Vincent aber, das ist sein Lachen. Alles wird besser, wenn Vincent lacht.
Leider lacht Vincent sehr selten.
Und in dem Winter hat er meistens sauer geguckt. Ich hab das nicht verstanden. Na gut, morgens auf dem Weg zur Schule, das kenn ich ja von anderen, dass die morgens nicht reden wollen. Oder müde sind. Oder sich nicht auf die Schule freuen. Aber Vincent hat morgens so geguckt und mittags auch (ich hab ihn immer abgepasst und bin dann so halb mit ihm nach Hause gegangen).
Und im Haus, wenn ich ihn da gesehen habe, auch. Wenn er den Müll runterbringen musste oder so.
Jedenfalls hab ich mir dann vorgenommen, Vincent zum Lachen zu bringen. Mit Witzen. Klar.
Weil ich mich immer freue, wenn mir jemand einen neuen Witz erzählt.
Morgens hab ich ihm einen erzählt, da hat er nur die Augenbraue hochgezogen, mittags auf dem Heimweg auch, und wenn ich ihn dann im Hof bei den Mülltonnen getroffen habe, da noch mal.
Irgendwann hat er mit den Augen gerollt. Und später hat er sich sogar Kopfhörer in die Ohren gesteckt, sobald er mich gesehen hat.
Das war mir aber egal. Ich hab weiter Witze rausgesucht. Und Gregor hat geholfen. Der kennt ganz gute. Mama hat das auch versucht, aber die ist nicht so gut darin, weil sie sich Witze nicht merken kann und sie dann auch noch schlecht erzählt, was eigentlich auch wieder witzig ist. Aber egal. Die beiden haben nicht gewusst, warum ich Witze sammle. Ich hab die zu Hause ausprobiert, und wenn jemand gelacht hat, dann hab ich den Witz Vincent erzählt. Weil ich eben gedacht hab, wenn ich nur den richtigen Witz erzähle, wenn er nur einmal richtig lacht, so dolle, dann muss er auch nie wieder sauer sein. Vielleicht braucht es nur einen guten Witz und ein gutes Lachen.
Aber wie gesagt: Hat nicht funktioniert.
Und dann hab ich dagesessen am Esstisch und die oberen fünf Prozent von Vincent im Fahrstuhlschachtglas gesehen und gedacht, dass wir ja jetzt nicht mehr in die Schule gehen. Keine Schule heißt kein Schulweg. Kein Witz morgens, keiner nachmittags.
Und ich hab mich gefragt, wann ich Vincent dann noch sehen soll, also ihn und nicht nur fünf Prozent von ihm, und die auch noch gespiegelt.
Aber dann hat Mama auch schon angefangen zu reden, dass das jetzt nicht heißen würde, dass ich Ferien hätte. Oder Luze.
»Eure Lehrer werden sich bestimmt melden und euch Aufgaben schicken.«
Und dann hat sie uns beide angeschaut und ich hab gedacht, dass Mama bestimmt strenger ist als unsere Lehrerinnen. Also keine Ferien.
Nur, dass wir jetzt in Wollsocken Mathe machen konnten. Das macht Mathe nicht wirklich besser. Und ich mag Mathe!
Und dann ist das Licht in Vincents Zimmer ausgegangen und ich hab im Küchenfenster nur noch uns gesehen und draußen war alles dunkel.
Schweinekalt und zappenduster.
Morgens bin ich davon wach geworden, dass Luze ein sehr lautes und plötzliches Geräusch gemacht hat und senkrecht im Bett saß. Ich hab mich wieder umgedreht und wollte weiter schlafen, aber dann stand Luze neben mir und hat mich angetippt und immer wieder »Clara, Clara, Clara, bist du wach?« gesagt, bis ich die Augen aufgemacht und sie angestarrt hab, und selbst dann hat sie nicht gleich aufgehört.
»WAS?!«, hab ich gesagt. Und gedacht: Ich muss doch gar nicht aufstehen. Ich muss doch gar nicht in die Schule.
Draußen hab ich Gregor und Mama gehört, die uns nicht geweckt haben, weil die bestimmt auch gedacht haben, dass wir ja nicht aufstehen müssen.
»Die malen unsere Wand an!«, hat Luze gesagt und ganz entsetzt geguckt.