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Die Feiertage sind vorbei, das Jahr ist ganz neu. Für Fienchen, Zanker, Mono und Bowie fühlt es sich trotzdem schneematschdreckig und alt an. Daran ändern auch die guten Vorsätze wenig. Abends ziehen sie gemeinsam um die Häuser, gehen tanzen, sehen sich DVDs an, quatschen. Aber was wissen sie wirklich von den geheimen Wünschen ihrer Freunde? Und lässt sich irgendetwas in ihrem Leben ändern? Neun Tage haben sie noch, bis die Schule wieder anfängt. Neun Tage auf der Suche nach dem Anderen, dem Besonderen, der Liebe und dem Glück.
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Veröffentlichungsjahr: 2014
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Wir sehn unmöglich aus,wir sind der Zeit voraus,wir sind die wunde Stellemitten unter euch.Wir sind ein Schattenrissaus Knochen, Fleisch und Blut,wir stehen auf der Schwelleeiner neuen Zeit. Kante, ZombiErnst Eiswürfel, du wirst es sehn,Ernst Eiswürfel, die Welt ist schön. Die Ärzte
von Exil zu Exil (anstatt einer Widmung)ich falte meine Händewie Papier das istmein Brief an dich M. Mutschler
Prolog
Das Zimmer ist ein Büro. Arbeitstisch, Telefon, Computer und Stühle. Auf der einen Seite sitzt ein Mann am Tisch im schwarzledernen Stuhl, beugt sich über Akten.
Erster Tag, denkt er. Erster Tag und dann gleich so was.
Der Mann ist neu hier in diesem Zimmer, der Mann hat ein neues Schild an der Tür. Heute früh war einer da, hat es angebracht. Erste Zeile: Direktorat. Zweite Zeile: Dr. E. Simmel. Dr. E. Simmel sitzt an seinem ersten Tag an dieser Schule in einem Stuhl, der nur langsam die Konturen des Vorgängers aufgibt. Dr. E. Simmel hat drei Akten vor sich liegen, die ihm nicht weiterhelfen. Die leer sind und unaufschlussreich. Johannes Zanker, Christian Bauer, Moritz Nothvogel, liest er und kann den Namen nicht die Gesichter vor sich zuordnen.
Draußen vor der Tür arbeitet die Sekretärin, die hätte er fragen können.
Bei Johannes Zanker hätte sie vielleicht gelächelt, hätte was von Lausbubenstreichen gesagt und dass das heute Morgen nicht als mehr eingestuft werden sollte. Dann hätte sie vielleicht noch einmal ganz weich seinen Namen gesagt und kurz ihren eigenen Gedanken nachgehangen.
Hätte man sie nach Moritz Nothvogel gefragt, wäre ihr vor allem sein großer Bruder eingefallen, der Richard: »Der ist aber auch schon seit anderthalb Jahren aus der Schule.« Und dann wäre ihr vielleicht noch eingefallen, dass die Firma der Eltern im Gespräch war, als es um den Neubau der Turnhallen ging.
»Christian Bauer«, hätte sie schließlich leiser und besorgt gesagt, denn eigentlich wissen nur wenige, dass Christians Mutter Mitte letzten Jahres, »wissen Sie?«. Und das in dem Alter und dass das bestimmt nicht leicht für den Jungen ist, hätte sie gesagt.
Doktor E. Simmel hat die Sekretärin nicht gefragt.
Doktor E. Simmel schlägt die Akten zu. Vor ihm der Tisch, dahinter zwei Stühle, dahinter drei Jungs. Und es ist noch nicht mal Mittag, denkt er.
Eins, zwei, drei stehen da und warten. Der Mann vor ihnen am Tisch starrt und starrt und wartet wohl auch.
Arsch, denkt Zanker. Nicht wirklich Arsch, aber ein Gefühl wie Arsch hat er für diesen Mann. Und denkt, dass der doch warten soll, bis er da festgewachsen ist, wo er sitzt und wartet. Zanker denkt an den Hintern im grauen Anzug, der da festwächst, das Gesicht, das irgendwann nicht mehr anders kann, als so zu schauen, wie es grade schaut, als hätte es zu oft geschielt.
Bowies Körper will nicht stehen und still sein, will Rhythmus schlagen, mit den Füßen, den Fingern, den Beinen, irgendwas schlagen, irgendein Geräusch erzeugen, das einen Takt hat. Der Rest ist weg. Nur noch Beat, nur noch irgendwas, was man nachklopfen kann.
»Johannes Zanker, Christian Bauer, Moritz Nothvogel.«
Der Arsch spricht, tut so, als kenne er sie, Schule mit 1500 Schülern, tut so, denn rechtlich gesehen stehen sie unter seiner Obhut, ergo hat er hier das Sagen, wenigstens bis Schulschluss.
»Ihr habt euch aufgrund eures Verhaltens …«
Der hat sie doch noch nie in seinem Leben gesehen! Vorher nicht mal gewusst, ob die drei auf diese Schule gehen oder auf eine andere.
»… wäre nun endlich mal jemand in der Lage, mir zu erklären, was das sollte?«
Schweigen.
Als hätte man Zeit, als hätte man Geld, hat irgendwer noch gesagt, denkt Mono jetzt und dass da nur noch das Lied war.
Bowies Hände fest in den Hosentaschen, under arrest, nicht hier, nicht jetzt.
»Ich glaube ja …«
Glauben, denkt Zanker und dass Glauben keine schlechte Sache ist. Der Glaube versetzt Berge. Noch im Radio letztens gehört, dass Gläubige gesünder sind, niedriger Blutdruck, weniger Herzbeschwerden, leben länger, manchmal – je nach Religion – auch mal öfter. Glaub du nur, denkt Zanker.
Sagt der Arsch in Anzug: »Johannes, hör auf so zu grinsen!«, und schaut dabei den Richtigen an.
Als ob sie alte Bekannte wären, sagt der das.
Bowie ist wieder mitten im Lied, festgehängt, aufgehängt, konstante Wiederholung.
Der tut hier so, als hätte man sonst was verbrochen, denkt Zanker.
Es war doch nur ein Lied, denkt Mono.
Aber manchmal ist der Platz falsch, die Idee richtig, die Welt noch nicht zu laut.
Nur ein Lied. Und Verkettungen unglücklicher Zustände.
Wer hätte das denn auch ahnen können?, denkt Mono und atmet mal kurz.
Silvester (Samstag)
»Silvester ist auch nur ein Tag wie jeder andere«, hat Zanker in den letzten Wochen immer wieder gesagt.
»Was machst du denn an Silvester?«
»Ist doch egal«, hat Zanker geantwortet.
»Aber wieso denn, neues Jahr, fett feiern, hey!«
»Brauch ich nicht«, hat Zanker gesagt. »Nee. Durchaus nicht.« Und dann manchmal auch »mitnichten«, weil das das neue Wort des Monats war und Zanker sich fest vorgenommen hat, es in seinen aktiven Wortschatz mit aufzunehmen. Manchmal, nur so aus Spaß. »Vielleicht bleib ich auch einfach zu Hause und geh früh schlafen. Ist doch nett, stehst auf, und das alte Jahr ist vorbei.« Damit hat Zanker dann meistens das Gespräch beendet.
Um fünf heißt es eben Fred, Party, na gut. Bowie und Mono kommen auch, wenn schon, dann mit denen. Aber nicht so lange.
In der Wanne denkt sich Zanker einen Zanker, der nachts um zwölf vielleicht irgendwo allein steht, vielleicht auf einem Hügel. Kalt sollte es sein, so kalt, dass er seinen eigenen Atem sehen kann, in das Tal schauen, das dann da ist. Zanker allein mit einer Flasche irgendwas und vielleicht einer Zigarette. Und wenn im Tal um zwölf die Glocken läuten und die Feuerwerke losgehen, wird er auf sie trinken, die sich da unten umarmen. Zanker grinst breit. Dann taucht er unter.
»Wann gehst’n du da hin?«, fragt Mono über das Telefon.
»Weiß nicht, keine Ahnung, ist doch egal.« Zanker reizt es aus.
»Was glaubst’n du, wann man da losgeht, also, wann das da losgeht? Also.«
»Irgendwann. Wenn du da bist, bist du halt da.«
»Und wann du?«
»Wenn ich da bin. Mach dich mal locker.« Spricht’s und hört Mono schief lächeln, sagt »Seeya!« und legt auf. Jede Wette, dass Mono jetzt bei Bowie anruft.
Bowies Vater trägt den dunkelgrauen Anzug, dazu ein schwarzes Hemd. Er riecht nach Boss, er trägt Boss. Sieht auf seine Uhr, sammelt Schlüssel, Portemonnaie, Handy. Bowie sitzt vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Durch die offene Tür sieht er den Vater hin und her laufen. Manchmal fällt es Bowie gar nicht auf, wie wenig sie reden, Vater und Sohn. Der Vater steht plötzlich neben der Couch, richtet sich den Schlips, starrt auf den Bildschirm.
»Ich geh jetzt«, sagt er plötzlich.
Bowie weiß nicht, was ihn reitet, als er nicht einfach nur nickt, sondern fragt: »Wohin?«
Vater zieht die Augenbrauen hoch, starrt Bowie an, bevor er bestimmt sagt: »Aus.« Fügt schließlich hinzu: »Ist ja Silvester.«
»Wohin?«, fragt Bowie wieder.
»Essen.«
»Mit wem?«, fragt Bowie sofort und denkt, vielleicht ein Arbeitskollege.
»Darüber reden wir ein andermal.«
Es gibt Sätze, da reicht eine Zeile, um dazwischen zu lesen.
»Eine Frau.« Bowie muss nicht mal fragen, stellt es nur fest. Eine Frau. Nur eine Frau, mit der Vater ausgeht, niemand sonst. Vater und eine Frau.
Der Vater schaut, nimmt den Schlüssel, sagt »Mach nicht so lang, Sohn«, geht. Mehr nicht.
Bowie hört noch, wie Vater den Mantel von der Garderobe nimmt, hört die Tür, leiser dann, wie das Auto startet und wegfährt.
Ein halbes Jahr, nur ein halbes Jahr und schon Anzug, Hemd, Parfüm. Ein halbes Jahr und schon eine Frau.
Immer wieder, den ganzen Tag lang, hat Bowie an letztes Silvester gedacht. Mama hatte kaum etwas runtergekriegt. Sie sind zu Hause geblieben, auch Bowie. »Geh nur«, hatte Mama gesagt. Und Bowie hätte gehen können. Aber irgendwann an diesem Tag war der Gedanke da gewesen, die Gewissheit: Das ist das letzte Silvester mit ihr. Keine Vermutung, kein »Das könnte«, er wusste es plötzlich. Dass Mama das neue Jahr nicht überleben würde. Er hat sich selbst dafür geohrfeigt, gehasst, dass da dieser Gedanke war, diese Gewissheit, das Wissen um ihren Tod, irgendwann in den nächsten 365 Tagen. 365 Tage waren plötzlich sehr wenig Zeit. Also blieb er.
160 Tage später saß er an ihrem Bett. 161 Tage später gab es sie schon nicht mehr. Jeden Tag seitdem hat er an sie gedacht, jeden Tag danach wusste er, dass es sie nicht mehr gab.
Es hört nicht auf.
Es ist etwas anderes gewesen, als das mit Sue auseinandergegangen ist. Das war vorbei. Aber was Ende, Schluss, aus bedeutet, das weiß Bowie erst seit 205 Tagen.
Auf dem Weg zu Fred wiederholen sich in Bowies Kopf zwei Worte, wie der Refrain eines Liedes, der festhängt, immer repeat bei »eine Frau«. Jeder Schritt »eine Frau«, jeder Atemzug »eine Frau«, jedes Blinzeln »eine Frau«, und der Weg ist lang.
»Meister Bowie«, sagt Fred, Bowies Hand hält plötzlich ein Bier, »gut, dass du kommst, Getränke da«, eine Frau, »Chill out«, eine, »neben«, Frau, »Klo«, eine Frau, »Gang runter«, eine Frau eine, »amüsier dich«.
Bowie sieht sich zum ersten Mal um, sieht, dass Fred nicht mehr da ist, sieht Menschen, hört Musik, fragt sich, warum seine Hand so kalt ist, bemerkt die Flasche Bier, sieht den Fernseher und einen Sessel. Er setzt sich. Nimmt die Fernbedienung.
Zu gehen ist kein Problem für Mono. Die Eltern bleiben zu Hause. Mono weiß, sie werden um zwölf anstoßen, zu zweit. Rick ist unterwegs und Ziska schläft bei Heilands. Die Eltern sind endlich mal für sich und werden den Teufel tun, Mono zu sagen, er solle doch verdammt noch mal hierbleiben, weil er zu jung sei.
Mono sagt beiden Gute Nacht, dass sie sich benehmen sollen, sie lächeln, der Sekt steht im Kühlschrank kalt. Die Mutter hat ihre Lieblings-CD eingelegt.
Mono zieht sich den Schal um den Hals, um den Mund, wickelt ein paarmal, dazu die Mütze und Handschuhe. Die Lederjacke ist eigentlich nichts bei diesen Temperaturen, daran wird auch die Trainingsjacke untendrunter nichts ändern. Nur die Harten kommen in den Garten. Mono schließt die Tür.
Zanker riecht gut, das Hemd ist schwarz, gut, Haare auch gut, also, auf geht’s!
Eltern in der Küche, kochen schon wieder. Jens vorm Fernseher. Zanker hebt kurz die Hand. Jens schaut nicht mal hoch. Comedy auf Sat. 1.
Zanker geht los, ist ja kein Weg, in den Ohren Little Barrie, Move on so easy ’til someone believes me, wird aber jetzt schon ein wenig frisch am Hals, hat den Schal vergessen, dumm das. What shalls, what else.
Dass sie ihm hinterherruft, kann er wegen der Musik nicht hören. Als sie ihn an der Schulter herumreißt, ist Zanker kurz davor, »Ey, geht’s noch?« zu rufen, dann sieht er Helena. Shit. Aus den Hörern, die jetzt an seiner Brust herumbaumeln, suppt noch die Musik, nur noch so ein barmherziges Genuschel.
»Du hättest ja mal ruhig sagen können, dass du da auch hingehst«, sagt Helena und schaut in Richtung von Freds Haus.
»Warum?« Zanker ist ganz Fragezeichen.
»Weil, Scheiße, frag doch nicht so blöd!« Helena zieht fest an ihrer Zigarette, die Zanker viel zu lang vorkommt. Sie schaut die Straße runter, als warte sie auf ein Auto oder so.
Zanker zuckt Schultern, ist kurz davor, sich wieder die Stöpsel in seine Ohren zu manövrieren, aber sie: »Ey, ich rede mit dir!«
»Was denn!?«, sagt er plötzlich lauter als gewollt.
»Ich dachte eigentlich, du würdest noch mal anrufen. Dass wir noch mal reden könnten.« Schaut auf den Boden.
Zanker denkt dran, dass er vor zwei Wochen nicht laut geworden wäre. Vor zwei Wochen war der Plan, mit Helena nach allen Regeln der Kunst abzustürzen, Advent, Feuerzangenbowle, Helena ganz weich und angelehnt – an ihn –, das hatte Weihnachten in sich und so eine friedliche Stimmung, dann noch ein bisschen was Körperliches. Aber Weihnachten ist seit knapp einer Woche vorbei. Helena hat das nicht begriffen. Zanker hat es ihr nicht erklärt. Nicht, als sie am nächsten Tag wieder vor seiner Tür stand, plötzlich auf Sonntag zu zweit gemacht hat. Dann das Anrufen jeden Tag, nur um ihm zu sagen, dass er schon wieder nicht angerufen hatte. Irgendwann mitten in der Nacht die Nachricht »Ich will dich nie wieder sehen, es ist aus«. 2. Weihnachtstag war das, und Zanker war’s nur recht.
»Ich geh jetzt auf diese Party«, sagt Zanker, setzt den Punkt deutlich, denn mehr gibt’s nicht zu sagen.
Zanker geht los, Helena folgt ihm. Vor der Haustür hält sie ihn dann doch wieder am Arm fest: »Ich kann das nicht. Ich kann nicht so tun, als ob nichts wäre. Als ob wir Freunde oder so sind.«
Zanker kommt das Wort »Freunde« sehr unwirklich vor. Weiß nicht, was Helena damit zu tun hat, »Freunde« und »Helena« passen in Zankers Grammatik nicht zusammen.
»Wieso Freunde?«, sagt er also.
»Warum bist du nur so?«, fragt Helena.
Irgendwas funktioniert hier nicht, denkt Zanker. Irgendwas läuft hier sehr falsch. Zanker schnauft, denkt, Worte reichen da nicht, weil anscheinend auch nicht gesunder Menschenverstand reicht, die Situation einzuschätzen und adäquat zu handeln. Zanker raucht jetzt erst mal eine. Er friert.
Helena wartet weiter.
Irgendwas stimmt hier nicht.
Mono läuft vorbei, »Hey, Zanker«, geht rein, ohne ihn mitzunehmen. Verdammt!
»Warum bist du nur so?«, fragt Helena schon wieder.
Heilige Scheiße. Warum bist du verdammt noch mal nur so?, denkt Zanker.
»Das ist dir alles total egal, oder?«, sagt sie.
Ganz schlechtes Kino. »Was?«, fragt er, als ob er irgendein Interesse an ihrer Antwort hätte.
Schweigt. Wieder mal der Blick nach woanders.
Verdammt, denkt sich Zanker, ich hätte einfach zu Hause bleiben sollen, das war doch eine gute Idee, aber nein, jetzt steh ich hier mitten in »Männer sind vom Mars und Frauen von der Venus«. Zanker, denk nach. Und dann fällt es ihm ein. Um den Abend zu überstehen, gibt es nur eine Lösung. Na gut, zwei, er könnte einfach abhauen. Oder:
Zanker schnauft Dampf durch die Nase, nimmt die Zigarette aus dem Mundwinkel, nimmt Helena in den Arm, so ganz wortlos. Braucht gar keine Worte mehr, streicht ihr zweimal über den Rücken, bis sie sich entspannt. Ihren Kopf an seine Brust legt.
»Du Volltrottel«, sagt sie dann weich.
Zanker hat für heute Abend noch mal die Kurve gekriegt, nicht wirklich straight, aber wenigstens irgendwie. Dann gibt er ihr noch einen Kuss, was relativ leicht ist. »Lass uns reingehen, du bist schon ganz durchgefroren«, sagt er, sodass sie ihn dankbar anblickt. Er legt seinen Arm um ihre Schulter. Na gut, einen Abend noch. Nur noch einen Abend.
Als Mono bei Fred ankommt, steht Zanker im Vorgarten. Er trägt Hemd und Jeansjacke und friert bestimmt. Aber er ist hart und steht schon im Garten. Hey, also: »Hey, Zanker.«
Zanker schaut kurz in seine Richtung, die Arme verschränkt, Mundwinkel nach unten gezogen. Vor Zanker steht Helena. Fair Helena. Mono hat diese Szene schon oft genug gesehen, weiß, das hat nichts mehr mit Shakespeare zu tun. Egal, Mono ist jetzt schon kalt, dabei hat er grade mal zwanzig Minuten bis hierhin gebraucht. Drinnen schlägt ihm feuchtwarme Luft entgegen.
Im Treppenhaus haben die Eltern Absperrseile gespannt, damit sich keiner am Wohnzimmer oder gar dem Elternschlafzimmer vergreift. An den Seilen hängt ein Schild: »Ab hier keine Party mehr!« Mono steigt in den Keller, der groß genug ist, um noch eine Familie unterzubringen. Mono sieht das Geld hier. Weiß, Fred ist ein laufendes Understatement. Einer, der immer in Secondhand rumläuft, die Haare gewollt unfrisiert, aber mit einem Schnitt, damit sie so aussehen. Mono glaubt, dass man es riechen kann, ob jemand Geld hat. Ob jemand sich keine Gedanken machen muss, wie er die nächste Miete bezahlt, die Telefonrechnung und all das.
In einer Ecke sitzt Bowie mit einer Flasche Bier vor einem Fernseher. Er schaltet hin und her, was egal ist, die Musik ist zu laut, als dass irgendwer was anderes hören könnte. Bowie starrt auf den Bildschirm, auf dem grade Robbie Williams tanzt, eine Sekunde später ein Klingelton-Werbespot, dann eine nackte Frau auf einem Bett, Telefonnummern, eine Gerichts-Show.
»Mono, du hier und nicht in Hollywood!«, sagt Fred, drückt Mono ein Bier in die Hand, bevor er auch nur »Föp« sagen kann. »Mach’s dir bequem, Essen ist dahinten, Klo den Gang runter, nebenan Chill-out-Area, Getränke im Kühlschrank.« Fred zeigt auf ein Riesending von Gefriertechnik, klopft Mono auf die Schulter und geht weiter zum Nächsten.
Mono sieht sich um. Auf Sitzkissen hocken Menschen, ein DJ-Pult, Ernest dahinter, zwei Turntables, dazu noch ein Laptop. Eine tanzt. Es ist grade mal halb zehn und die tanzt schon. Mono sieht, dass die schon jenseits von Gut und Böse ist. Mono tariert die Lage. Wozu hier sein? Wo sein? Wie sein? Auf einem Sitzding? Auf der Tanzfläche? Am Kühlschrank? Mono entscheidet sich für den Laptop. Er schaut nach der Playlist, achtet drauf, nicht in den Bereich von Ernest einzudringen, sieht, welche Lieder als Nächstes kommen. Nicht, dass er tanzen würde. Nicht, dass er nur bei einem bestimmten Lied tanzen würde. Mono tanzt nicht. Das Lied gibt es gar nicht, bei dem Mono auf die Tanzfläche geht, um zu tanzen.
Ernest hat zu tun. Wenn Ernest auflegt, dann ist seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sein Tun gerichtet. Versucht er, eine ausgewogene Mischung von gestern, heute und Sachendiedunochniegehörthast zu schaffen.
»Ist dir nicht heiß?«
Mono dreht sich um.
»Hallo? Ob dir nicht heiß ist? Du musst dir doch das letzte bisschen Arsch abschwitzen in dem Kram!«
Heiß, was meint die, wieso heiß, was für Sachen, heiß, ja schon, heiß, hui, heiß, wer ist das denn, Mann, ja, meint meine Klamotten, redet die mit mir oder, nein, die redet schon mit mir, die meint mich, die zupft an mir rum, Mann, hat die krasse Hände, da, an meiner Jacke, wieso fasst die meine Jacke an, blaue Augen, Gott, sind das blaue Augen, die zieht an meiner Jacke, Mann, zieht die Jacke aus, stimmt ja, ist heiß, sag was, dass sie recht hat oder so, oh Mann, wo kommt die denn her, und warte mal, ich hab die doch noch nie gesehen, was macht die hier, wer ist die, woher kommt die, lass mich ja nicht los, oh, lässt los, wer ist das, sag was, Mann, verdammt, warum legt der jetzt AC/DC ein, dieser Trottel, doch jetzt nicht loslassen, mein Hände, wo sind eigentlich meine Hände, wo sind ihre, ah, Potasche, grinst und sagt was, was, ist zu laut, bitte noch mal, verdammt, sie lacht, warum lacht die jetzt, und warum dreht die sich um und geht und …
Mann. Stimmt ja. Ist echt heiß. In den ganzen Klamotten. Wer ist das?
Mono beginnt langsam, sich auszuwickeln.
Sie geht auf einen zu, der nach Oberstufe, Führerschein und Auto aussieht. Der nimmt ihre Hand und zieht das Mädchen auf seinen Schoß. Mono sieht ihren Rücken, auf den blonde Haare lang fallen. Der Typ hat seine Hand auf der nackten Stelle zwischen ihrem Shirt und der Jeans. Sie streicht sich die Haare hinters Ohr. Kein Blick für Mono. Er merkt, dass er starrt, geht zu Bowie und steht neben ihm, ohne ein Wort zu sagen. Zu trinken reicht vollkommen.
Bowie fühlt eine Hand auf seiner Schulter, hebt den Blick, sieht Mono. Mono lässt seine Hand auf Bowies Schulter liegen. Irgendwann schaut auch Mono ihn an, bemerkt seine Hand und nimmt sie weg.
»Hi.«
»Tach«, sagt Bowie, trinkt, weil sein Hals trocken ist.
Mono zieht einen Stuhl ran, setzt sich zu Bowie, und als er das tut, sieht er, dass sie immer noch auf dem Schoß von diesem Typen sitzt, also muss er nicht weiter hinschauen, nicht wirklich.
Bowie schweigt. Bowies Schweigen ist anders als Monos. Mono findet, dass Bowie immer so schweigt, als wisse er etwas, was der Rest der Menschheit erst noch rausfinden muss. Wenn er selbst schweigt, dann nur, weil er nichts weiß.
Mono hört, wie sie auflacht. So lacht die also.
Bowie schaltet um. Dann liegt wieder eine Hand auf seiner Schulter. »Bowie, bin da.«
Mono schaut zu Zanker und lächelt. »Tach. Da biste ja.«
Zanker nickt. »Und nu, die Herren? Was geht?«
»Nichts«, sagt Bowie.
»Wer iss’n noch hier?«, fragt Zanker und schaut sich selbst um.
»Was ist denn mit Helena?«, fragt Mono.
»Die üblichen Gesichter«, sagt Bowie, und Zanker antwortet Mono nicht. Mono sieht im Augenwinkel blonde Haare. Die ist da. Will fragen, kennt ihr die? Vielleicht, Zanker kennt ja Gott und die Welt.
Mono denkt:
– Kennste die?
– Wen denn?
– Na die dahinten, jetzt guck doch nicht so, die Blonde da.
– Die auf dem Schoß von dem Typen?
– Ja, die.
– Was willst’n von der?
– Ist doch egal.
– Aha, egal. Ist dir ins Auge gefallen, was?
– Nee, sag mal, kennst du die?
– Wieso, geh doch hin, frag sie doch, wer sie ist.
Nein.
Geht nicht.
Besser nicht fragen.
»Ich geh mir mal was zu trinken holen«, sagt Zanker und macht sich auf in Richtung Kühlschrank. Helena sitzt bei ihren Freundinnen, schaut rüber, lacht.
Mono denkt, aha.
Bowie schaltet weiter. Das Bier wirkt nicht. Bowie steht auf, geht hinter Zanker her zum Kühlschrank. Beugt sich hinein, tief. »Wodka«, sagt er. Keiner da, der sagt, hey, der is nicht nur für euch. Die Flasche schwitzt.
Mono schaut kurz auf sein Bier und verlagert das Gewicht aufs andre Bein. Ist noch nicht mal elf.
Die Flasche ist schon halb leer.
Helena kommt rüber, schlingt ihre Arme von hinten um Zanker und küsst ihn auf den Hals, so unterm Ohr. Zanker ist ungerührt, Mono denkt wieder, aha, sagt es aber nicht.
Helena zieht weiter, als die Jungs schweigen.
»Was soll das denn?«, fragt Bowie.
Zanker zuckt mit den Schultern, steht auf, geht zur Anlage.
Mit Bowie kann Mono nur reden, wenn der will. Bowie schweigt aber, nimmt einen Schluck. Merkt man ihm gar nicht an, den Alkohol.
Bowie denkt, Zanker wird später Helena küssen. Wenn es zwölf ist. Letztes Jahr. Ob Vater wohl küsst, schnell den Gedanken wegspülen, macht keinen Spaß, an so was zu denken. Gar keinen Spaß.
Die Blonde geht zu Ernest. Mono lauscht, hört nichts. Schaut aber mal. Zanker steht da und bemerkt die Blonde gar nicht, muss Mono ein wenig aufatmen, als er sieht, dass sie Zanker auch nicht anschaut. Dass sich die beiden gar nicht wahrnehmen. Sie nickt. Aha. Nickt wieder, heftiger, lächelt, oh, lächelt. Wunderbar. Mono muss plötzlich auch lächeln. Sie macht die Augen zu, als ein neues Lied anfängt, tanzt. Die vom Anfang schaut zu ihr rüber. Chemical Brothers, Galvanize. Mono fragt sich, wie man auf dieses Lied tanzen kann, ohne total bescheuert auszusehen. Aber sie kann das, sie macht das. Die andere starrt und hört auf zu tanzen. Viel zu krass. Nicht so langsam sexy wie manche anderen Mädchen. Die ist Arme und Beine und Hüfte. Und alles bewegt sich. Bowie schaut auch mal hin, schaut länger. Als wär da nur noch sie. Nicht wie die anderen Mädchen, die immer noch eine brauchen, um zu tanzen, sich beim Tanzen dann auch noch unterhalten und so. Nee, die tanzt nur für sich. Leck, ist das krass.
Fienchen kommt zu spät. Fienchen kommt allein.
Fienchen sieht Zanker an der Anlage, hört aber gleich schon Helenas lautes Lachen und ihr wird ein wenig schlecht. Fienchen sieht Bowie und Mono. Mono starrt eine auf der Tanzfläche an.
Fienchen denkt, dass es doch eigentlich armselig ist, am letzten Abend des Jahres in einem Keller zu sitzen, denkt, an Silvester sollte es warm sein, damit man ein kleines Kleid tragen kann, man sollte draußen sein und aufs Meer schauen. Oder in einer großen Stadt in einem Club mit Glaswänden, draußen die Lichter. Irgendwie mehr als das hier.
Fienchen hört Helena für Zanker lachen.
Und eigentlich sollte man am Silvesterabend den küssen, den man liebt. Fienchen zuckt die Schultern und weiß in der Sekunde danach, dass das komisch aussieht. Setzt sich zu Mono und folgt seinem Blick.
»Sie heißt Natalie. Geht auf die Sophie-Scholl. 15. Wohnt im Skandinavischen Viertel. Mehr weiß ich auch nicht.« Fienchen greift zur Wodkaflasche, als sei nichts gewesen. Reicht sie dann weiter.
Mono ist dankbar für Fienchens leise Stimme.
Fienchen starrt Zanker an. Fühlt an ihrer Schulter den Blick von Helena, die ihn auch anschaut. Will fragen, ist die mit ihm gekommen, aber Mono schenkt seine Aufmerksamkeit der, deren Namen er jetzt kennt.
Na-ta-lie, denkt Mono.
Fienchen holt tief Luft. Sie schaut zu Bowie. »Gib mir mal die Flasche.« Bowie gibt sie ihr. Fienchen trinkt.
Ernest macht plötzlich die Musik aus und Fred ruft: »So, alle nach draußen.«
Fienchen flucht. »Kannste mir mal sagen, warum wir bei der Schweinekälte nach draußen müssen?«, fragt sie Mono.
»Na, macht man doch so. Feuerwerk gucken.«
»Hier kriegt man das höchstens in die Fresse. Bin auf dem Weg hierher schon von kleinen Kackkindern bombadiert worden, die das alles verdammt lustig finden.«
Fienchen redet in einer Tour. Dabei schaut sie zu Zanker, ganz leicht, damit es nicht mal Mono merkt. Da ist schon wieder Helena, die sich an Zanker hängt, während der sich gerade in seine Jacke schiebt und mit Bowie redet.
Bowie merkt endlich den Alkohol, der sich matt auf seine Nervenenden legt. Macht nichts. Bowie plant heute keinen chirurgischen Eingriff mehr, Bowie darf betrunken sein, Bowie will betrunken sein.
So sollte Silvester nicht sein. Alles ist ganz falsch, denkt Fienchen und wird von Mono zur Tür rausgeschoben.
In Freds Garten ist ein kleiner Hügel, der bei Weitem nicht genug Platz für alle bietet. Zanker denkt kurz an seine Idealvorstellung von einem Hügel, vergleicht sie mit der offensichtlichen Realität eines Hügels, verwirft. Auf der Straße bauen ein paar Raketen auf. Freds Eltern stehen auf dem Balkon.
Fienchen friert jetzt schon.
»Mir ist kalt«, sagt sie zu Mono.
Der schaut sie an und tut nichts. Fienchen blickt sich um. Zanker ist bei Helena, die bei ihren Freundinnen steht. Zehn vor.
Bowie dreht sich plötzlich zu Fienchen. »Willste meine Jacke?«
Fienchen erstaunt: »Und du?«
Bowie schüttelt die Frage ab, legt Fienchen seine Jacke um die Schultern, die ihr viel zu groß ist, sehr schwer, aber auch schön warm. Bowie schaut schon wieder woandershin.
Mono sieht Natalie bei dem Typen stehen, der mit einer ganzen Truppe da zu sein scheint, die alle irgendwie nach Oberstufe und so aussehen. Sie ist das einzige Mädchen. Vielleicht, denkt Mono kurz, könnte ja auch Bruder oder so, aber da küsst sie den schon, also richtig, und er greift ihr mit der einen Hand unter die Jacke, mit der anderen in eine Potasche. »Ich geh mal Sekt holen«, sagt Mono zu Fienchen.
»Nee«, meint die.
»Wieso?«
Fienchen antwortet nicht, zieht ihre Tasche vom Rücken zum Bauch und zaubert eine Flasche Sekt hervor.
»Was hast du da eigentlich alles drinnen?«, fragt Zanker, der plötzlich bei ihr steht.
»Nur das Essenziellste.«
Fienchen gewinnt wieder die Oberhand, denn Zanker steht jetzt geschätzte zwölf Meter von Helena entfernt, aber nur einen halben neben Fienchen. Sie öffnet die Flasche, während ihre Zigarette noch im Mundwinkel baumelt. Fienchen weiß, das ist nicht ladylike, weiß aber auch, dass sie mit dieser Geste sämtlichen Helenas in Sachen Coolness meilenweit voraus ist.
»Noch drei Minuten!«, schreit Helena angetrunken.
Fienchen schüttelt’s. Sieht, Helena schüttelt’s auch. Kein Wunder bei dem Jäckchen, das nur so tut, als sei es gefüttert. Helena schmollt in Richtung Zanker, Zanker ignoriert es und spiegelt Bowie: Hände in den Hosentaschen, Blick nach woanders, ganz woanders. Mono steht wie bestellt und nicht abgeholt, den Sekt gibt Fienchen nicht aus der Hand. »Erst um 12«, sagt sie, und Mono dauern drei Minuten zu lange. Er steckt seine Hände auch in die Taschen und hibbelt von Bein zu Bein.
Zanker überlegt sich, was so falsch an der Wanne zu Hause war, warum er da raus ist. Er hätte jetzt nass und schrumplig sein können, und da wäre keine Helena gewesen, die jetzt schon wieder schreit »Noch eine Minute!« und ihn selig angrinst.
Bowie leert sein Bier, schmeißt die Flasche in einen Busch, ohne dass es irgendeiner merkt oder sich drüber aufregt, öffnet gerade die nächste, da fangen sie an zu zählen »Zehn! Neun!«, und Fienchen trinkt doch schon einen Schluck Sekt. Sie sieht sich blitzschnell um, Helena steht plötzlich neben Zanker, Mono friert, Bowie festgemauert in der Erde.
Und plötzlich denkt Fienchen, dass sie unsichtbar ist.
»Drei! Zwei! Eins! Frohes neues JAAAAAHR!«, kreischt Helena direkt in Fienchens Ohr, selbst Mono zuckt kurz zusammen. Helena schmeißt sich um Zankers Hals, der in einer Hand noch ein Bier hält und mit der anderen kurz über Helenas Rücken streicht.
»Frohes neues«, sagt Fienchen leise, dreht sich zu Mono, lächelt ihn an. »Hey! Ein schönes! Ein neues!« Mono lächelt ganz klein und schief, nimmt Fienchen in die Arme, dass sie sich ein paar Zentimeter vom Boden löst.
Bowie schaut in den kaltschwarzen Himmel, sieht die Nadellöcher in ihm, durch die was anderes scheint. Sterne, denkt er und legt den Gedanken ab. Der Himmel ist leer. Bowies Brauen ziehen sich in der Mitte zusammen, als da der Gedanke an Mama ist. Bowie wird umarmt, ihm wird auf den Rücken geklopft. Nichts davon kommt wirklich an ihn ran. Der Alkohol wirkt. Ein Glück.
Als Helena sich in die Runde ihrer Freundinnen wirft, schlägt Zanker sich zu Fienchen. »Ey, bloß weg hier!«
Etwas in Fienchen hüpft kurz wie ein kleiner Gummiball, als Zanker ihre Hand nimmt und mehr und mehr Meter zwischen Helena und sich bringt.
Obwohl es Nacht ist und kein Licht in Freds Garten brennt, legt sich der Schein des Feuerwerks nur auf Natalies Haar, das so hell leuchtet, dass Mono denkt, das ist es also, wenn die Menschen von einer Erscheinung reden. Mono lächelt trotz Kälte und Lärm, Mono lächelt, obwohl er da allein steht und sie eben noch an dem Typen hing, der bestimmt irgendeine Sportart macht, in der er verdammt gut ist. Jetzt schwirrt sie durch die Menschen wie eine kleine Wunderkerze. In Zeitlupe sieht Mono ihre Haare fliegen, sieht sie lächeln, einfach nur lächeln.
»Shit!«, sagt Zanker, als er sich mit Fienchen auf die Schaukeln setzt. Der Spielplatz ist leer und nicht beleuchtet. »Hab die Zigaretten liegen lassen.«
Fienchen reicht ihm wortlos ihre, bleibt weiter still, denn jetzt ist es an Zanker zu reden, schließlich wollte er hierher. Jetzt, hier, mit ihr. Fienchen lächelt leise in sich hinein, anstatt laut in Helenas Richtung »HA!« zu rufen.
Zanker steckt sich eine Zigarette an. Fienchen beginnt leicht zu schaukeln, merkt, dass das keine gute Idee ist, wenn man schon angetrunken ist, also baumelt sie nur ein wenig vor sich hin. Zanker trinkt, wie Zanker trinkt, wie im Film, als sei es heiß und er sehr durstig. Verdammt gute Werbung, der Mann. Selbst hier kann man Helena hören, aber vielleicht kommt das Fienchen nur so vor.
»Kannst du mir mal sagen, warum du damals nich so ’n Aufriss gemacht hast?«, sagt Zanker, dreht sich zu Fienchen, wischt sich über den Mund. Zankers Augen.
»Wann damals?«, fragt Fienchen, denkt an den 17. Juni, Gartenparty und Flaschendrehen, albern, klar, aber Fienchens einzige Chance, Zanker jemals zu küssen. Hat ja auch geklappt. Und weil es so schön war, ging es den Rest des Abends dann auch so weiter. 17. Juni, denkt Fienchen, und es ist schwer, sich eine Zeit vorzustellen, in der es nicht Winter war. Fienchen denkt, das hat sie doch irgendwo gelesen, weiß aber nicht mehr, wo.
»Na, als wir damals zusammen abgestürzt sind. Wann war ’n das? Auf irgendso ’ner Party. Is ja auch wurscht.« Zanker drückt Fienchen leicht den Ellenbogen in die Seite, tut gar nicht weh. Heißt eigentlich nur, dass Zanker was an Fienchen liegt, was auch immer. Fienchen schaut zu Boden, die Schaukel bewegt sich hin, her, hin.
»Weißt du, was ich an dir so mag?«, fragt er nun und alles in Fienchen schreit »WAS, VERDAMMT NOCH MAL!?«, während Fienchen leise »Nö« sagt.
»Du bist cool. Mit dir kann man Spaß haben und du stresst nicht. Mit dir ist das anders als mit den anderen Mädchen.«
Während ein Teil in Fienchen jubelt und schon Transparente, Fähnchen und Konfetti auspackt, weil Fienchen anders als die anderen ist! und weil Zanker das merkt!, ist da plötzlich das Gefühl von eben, das sich aufbäumt und größer wird, lauter, den Kopf schüttelt und sagt: »Klar bist du anders als die anderen. Du bist nämlich unsichtbar. Fienchen, siehst du das nicht? Du bist für Zanker gar kein Mädchen.« Und Fienchen fragt sich plötzlich, ob das nicht stimmt.
»Mir ist kalt«, sagt sie, steht auf, geht los, und Zanker folgt ihr, ohne sich dabei was zu denken.
Als Bowie endlich wieder die Außenwelt an sich ranlässt, knutscht er grade mit einem Mädchen rum, das er nicht kennt, das definitiv nicht seine Freundin ist, denn eine Freundin hat er nicht. Das Mädchen hat schwarze Haare, ist sehr viel kleiner als er, küsst groß und fordernd und hat schon eine Hand in seinen Hosenbund geschoben. Sie berührt mit kalter Hand den Rand seines Hinterns. Bowie horcht in seinen Körper rein, nach Erregung, nach Schwindel, Alkohol, eventueller Übelkeit, merkt nur die Betäubung, ein wenig Unlust, aber nicht genug, um wirklich aktiv das zu beenden, was sich hier gerade abspielt. Bowie fragt sich, wie spät es ist.
Fienchen stellt sich neben Mono an den Rand der Tanzfläche. Mono trinkt, schaut, lächelt leicht, damit es keiner merkt, damit keiner fragt, was er denn so blöde in die Gegend grinst, als gäb’s einen Grund. Natalie ist nicht mehr die Einzige, die tanzt, die Einzige aber, die raussticht, noch immer, wenigstens für Mono. Mehr braucht es grade nicht für Mono. Einfach nur hier stehen und diesem Wunder auf zwei Beinen zuschauen, wie sie die Physik aus den Angeln hebelt. Solange sie tanzt, ist da auch kein anderer, der sich in Monos Blick schiebt, kein Kerl, dem Mono nie das Wasser reichen könnte.
Fienchen hat sich nicht nach Zanker umgesehen, als sie reingekommen ist. In Fienchen arbeitet es, schubst ein Gedanke den nächsten an, schieben sich mathematische Zeichen in ihr Hirn.
Gegeben ist: Fienchen, drei Jungen, keine Verbindung. Jedenfalls nicht aktiv.
Wenn Fienchen dann die ganze Zeit mit den Jungs rumhängt, ohne dass etwas passiert, dann
– wird Fienchen von den Jungen nicht als Mädchen gesehen, sprich: ist einer von ihnen, mehr Kerl als Mädchen.
– wird aus ihr und Zanker nie was werden. Weil Zanker sich nicht in ein Unmädchen verliebt.
– muss Fienchen schnellstens ein Mädchen werden. Weil: Zanker.
Fienchen dreht sich zu Mono. »Ich glaub, ich hab mir grade was fürs neue Jahr vorgenommen«, sagt sie.
Mono braucht zwei Sekunden zu lang, um zu reagieren. Als er den Mund öffnet, um nachzufragen, hat Fienchen einen entschlossenen Gesichtsausdruck, dreht sich auf dem Hacken um und geht.
»Wo warst du denn?«, lallt Helena leicht, als Zanker sich in ihren Radius bewegt. Zanker denkt nach, könnte sagen, »War mit Fienchen auf so einem Spielplatz«, aber dann wäre die Frage, ob Helena Fienchen so sieht wie er. Entweder als das, was sie ist, nämlich einfach eine nette Freundin, von der keine Gefahr ausgeht, oder aber als Konkurrenz, und dann gäbe es wieder Gezeter. Er müsste also lügen, aber plötzlich hebt sich in Zankers Geist der Zeigefinger der Vernunft, der dröhnend sagt: »Geht’s noch?«
Und da wird Zanker klar, erstens schweigt er jetzt, zweitens geht ihm das ganze Gedanken-um-Helena-machen schon wieder äußerst auf die Ketten, und außerdem ist es eh Zeit zu gehen. Und zwar for good, endgültig, und nicht nur weg von der Party, sondern vor allem weg von Helena. Zanker schaut nach den anderen, sieht Bowie in einer Ecke sitzen, auf seinem Schoß ein Mädchen, das nicht von ihm ablässt. Zanker macht einen Haken hinter Bowies Namen, sieht kein Fienchen, sieht Mono. »Mono, ich hau ab.«
Aber anders als sonst schnappt Mono jetzt nicht seine Sachen, nickt nur, nippt nur Bier, sagt »Machsmagut« und versucht Zanker blind die Schulter zu tätscheln.
»Wo is denn Fienchen?«, fragt Zanker, Mono zuckt mit den Schultern. Zanker schaut kurz nach Helena, die grade mal nicht in seine Richtung guckt, nutzt die Gelegenheit und verschwindet.
Draußen ist die Luft so klar, wie Zanker es jetzt braucht. Zanker legt sich fest. Erstens: keine Helena mehr. Zweitens: dieses Jahr vielleicht doch erst mal keine Mädchen mehr, wenigstens keine, die ernste Absichten haben. Dieses Jahr muss irgendwas anderes passieren, denn das mit der Geschlechtlichkeit ist ja ganz schön, zieht aber diesen Rattenschwanz an Stress hinter sich her, und irgendwie ist da was in Zanker, was nach Größerem, nach hehren Zielen strebt. Nur was das sein soll, ist noch nicht entschieden. Zanker gähnt und biegt in die nächste Straße ein.
Fienchen kommt vom Klo wieder, hat die Trainingsjacke ausgezogen, denn Fienchen hat eigentlich einen schönen Bauch und eine Taille und auch einen Po, den man ruhig anschauen darf. Fienchen hat auch noch ein wenig leichtrotes Lipgloss in der Tasche gefunden, es auf Lippen und Wangen getupft, sieht jetzt frisch und küssbar aus, hat die Haare aufgeschüttelt, also alles gegeben, was heute so drin ist.
Fienchen sieht Mono an, der immer noch starrt, sieht Bowie in einer Ecke begraben unter einem Mädchen, sieht keinen Zanker, dabei sollte der inzwischen doch wieder hier sein, und vorm Klo stand der auch nicht.
»Wo’s’n Zanker?«
»Gegangen«, sagt Mono, räuspert sich, weil seine Stimme irgendwie kratzig ist.
Fienchen überschlägt die Lage, denkt, es bringt ja doch nichts. Und wie schäbig das alles ist. Wie schäbig Silvester an sich immer ist, schäbiger noch als der Rest des Jahres.
Fienchen sagt Mono nicht mal Tschüs, als sie geht und ein anderer eine Zigarette im Nudelsalat ausdrückt. Würde Mono eh nicht merken.
Irgendwann steht das Mädchen auf, zieht Bowie hoch und hinter sich her. Bowie schaut sich kurz um und überlegt, ob es nicht doch besser wäre, hierzubleiben. Aber hier ist ihm alles zu sehr Silvester. Wenigstens gibt es jetzt einen Grund zu gehen. Die Kleine nimmt ihre Jacke, ihre Tasche, Bowie findet seine Jacke nicht, fragt sich noch, wo die ist, vergessen, wurscht, nur weg hier.
Das Mädchen sagt, sie muss noch mal aufs Klo. Bowie steht vor der Tür und sieht Fienchen gerade das Törchen zur Straße öffnen. »Hey!«, sagt Bowie. Das Wort versetzt ihn in Schwingung, und Fienchen dreht sich um.
»Na? Auch nach Hause?«, fragt sie, und Bowie sieht zwar seine Jacke an ihrem Körper, kann aber daraus keine logische Schlussfolgerung ziehen. Fienchen merkt es nicht. Bowie nickt.
»Mensch, Bowie«, sagt Fienchen, als er weiter schweigt und schwankt, »vergiss doch nicht immer zu lächeln.«
Bowie überlegt, was sie meint, zieht seine Mundwinkel nach oben, merkt, dass es nicht so leicht geht, wie das mal ging, aber das muss wohl am Alkohol liegen.
»Mach’s gut«, sagt Fienchen und geht, und Bowie denkt, da läuft meine Jacke.
Es dauert seine Zeit, aber irgendwann wird Mono schlagartig klar, dass er einen Fehler gemacht hat. Er ist geblieben. Die anderen sind weg, und als er endlich wieder zu sich kommt, als der Natalie-Rausch kurz aussetzt, merkt er, wie leer es hier schon ist, keiner mehr da, den er wirklich kennt, keiner, zu dem er sich stellen kann. Mono ist allein auf dieser Party. Plötzlich wird es Mono mulmig, und so schön sie auch sein mag, er muss jetzt gehen, weil er ja nicht die ganze Zeit hier stehen kann und dieses Mädchen anschauen, das fällt doch auf, vielleicht noch dem Kerl, mit dem sie hier ist, und vielleicht kann der das nicht leiden, wenn seine Kleine angeglotzt wird, wie Mono das grade macht. Als würde er sie mit seinen Augen abtatschen. Mono sieht, dass es halb vier ist, fragt sich, wo die ganze Zeit geblieben ist. Er schnappt sich seine Sachen, will sich auf den Weg machen, da greift ihn sich Fred.
»Mono, Alter, was hauste denn schon ab, bleib doch noch, fängt doch grad erst an.«
Es braucht ein Weilchen, bis Mono irgendwas nuschelt, damit Fred ihn endlich gehen lässt.
Als er auf der Straße steht, ist er froh, dass er sich nicht weiter unterhalten musste. Ist aber auch schade, denkt er kurz, fühlt er kurz, dass da diese Natalie, weil die bleibt ja jetzt auf der Party, aber die bleibt da ja auch mit ihrem Typen. Und Mono weiß, dass er die so schnell eh nicht wiedersehen wird. Schade eigentlich. Aber die Stadt ist groß. Mono schaut hoch zum Neujahrshimmel, der noch ganz neu und auch ein wenig verraucht ist von der Böllerei, sagt dem neuen Jahr Guten Tag, Guten Morgen, um diese Uhrzeit sagt man eh immer das Falsche. Er denkt sich, dass es schön gewesen wäre, sie kennenzulernen. Dass man seinen Namen sagt, nach ihrem fragt, dass man sich unterhält und vielleicht auch witzig ist, dass sie vielleicht auch lacht. Irgendwie so was, wie man das eben macht. Irgendwie mehr als nur Mono. Mono könnte sich vornehmen, mehr als das zu sein. Aber das schafft er nicht. Morgen vielleicht. Nicht jetzt. Mono läuft los. Auch wenn es kalt ist und er allein und nicht so, wie er gerne wäre, ist da doch was schönes Kleingoldenes in ihm, und es hat einen Namen. Ein Wagen rollt an, Mono zieht die Schultern hoch, wurschtelt Kinn und Mund unter den Schal, der Wagen fährt vorbei, fährt langsamer, hält ein wenig vor ihm und sie schaut aus dem Fenster, sagt »Ist dir das nicht zu kalt?« und lächelt und öffnet die Tür.
Mono steigt ein und ist zu groß und zu lang und zu alles.
»Wo musst ’n du hin?«, fragt sie aus ihrer Ecke der Rückbank.
Mono wünscht sich seine Stimme, und sie kommt zum Glück auch, sagt seine Straße und sie »Na, liegt ja auf dem Weg, hast du ein Glück, dass du mir begegnet bist«.
Mono nickt ein wenig und fragt sich, ob das die richtige Antwort ist.
Natalie schaut ihn ein bisschen länger an, sagt dann dem Fahrer »Können sie das Lied mal lauter machen?«, und der tut das. Mono verklemmt sich, bis das Taxi seine Straße erreicht. Der Fahrer hält, dreht sich um, sagt: »Stimmt doch, oder?«
Mono nickt.
»Bisschen ruhig, der Geselle«, sagt der Taxifahrer und Natalie lacht.
Mono sagt leise Tschüs und Danke, denn irgendwas schiebt ihn aus der Tür, schließt diese, lässt das Taxi fahren und mit ihm eine Chance.
Neujahr (Sonntag)
Bowie wacht auf. Der erste Gedanke ist keiner. Der zweite sagt, dass es hier nicht nach zu Hause riecht, dass sich die Bettwäsche auch anders anfühlt. Und Bowie ist nackt, das ist er in seinem eigenen Bett nicht. Über sich sieht er eine hohe Decke, von der ein Papierstern hängt, und er erinnert sich an die Ahnung eines Gedankens, den er letzte Nacht hatte, auch irgendwas mit Sternen. Bowie hört Mädchengeräusche neben sich, Atmen, kleines Maunzen. Die Art, wie nur Mädchen sich in einem Bett bewegen. Als er sich rührt, bemerkt er, dass das Bett keinen Lärm macht, das ist gut. Bowie hängt die Beine über den Bettrand, sieht seine Klamotten auf einem fremden Boden. Neben dem Bett ein Taschentuch, da drin ein Kondom. Bowie atmet auf, wenigstens das. Die Blase drückt, dringend. Trotzdem leiselangsamvorsichtig erst mal die Klamotten zusammensuchen, der Schlüssel klimpert in der Hosentasche. Bowie steigt in die Beine, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, was schwer ist, wenn man es langsam macht. Die Shorts steckt er in die Tasche seines Pullis, Socken findet er beide, hat Glück, nur seine Jacke nicht, die liegt nirgendwo. Die Geräusche vom Bett werden kurz lauter, dann wieder Schlaf. Gut. Sonst müsste Bowie ihr einen Kuss auf die Wange geben und etwas sagen, aber sie schläft, sie hat kein Gesicht, nicht jetzt, nicht in Bowies Erinnerung. An ihm hängt ein Geruch, aber nur ein Teil davon ist von ihr, der Rest ist Silvester, Überbleibsel vom Feuerwerk, Alkohol und schlechter Musik. Die Tür ist doch laut, aber keiner ruft ihm nach, der Rest der Wohnung ist sonntagsstill. Bloß niemandem begegnen, keine Fragen beantworten müssen. Auch hier keine Jacke. Bowie tritt aus der Tür. Treppenhaus. Da ist aber auch wirklich gar kein Stück Erinnerung, war wohl alles sehr dunkel letzte Nacht, wie soll man sich denn da auch erinnern. Bowie sieht das Klingelschild, kein Name, den er kennt. Geht runter, weiter, landet im Hinterhof, sucht die Tür, gelangt in den nächsten Hinterhof, verflucht leise die Architekten, die sich im vorletzten Jahrhundert diese Labyrinthe aus Hinterhöfen und Seitenflügeln ausgedacht haben, und merkt, dass er sich rasieren muss.
Gleich vor der Tür ist die U-Bahn, er setzt sich rein. Heute ist Neujahr, da kontrolliert eh keiner. Plötzlich kleiner Schock, greift sich an die Potasche, atmet auf, das Portemonnaie ist noch da.
Das Problem ist, dass Fienchen trotz größtem Kater nicht ausschlafen kann. Morgens um neun sind ihre Augen plötzlich auf und sie ist so was wie wach. Was nur heißt, dass sie nicht mehr einschläft. Fienchen geht aufs Klo, fühlt sich schimmlig und staubig wie ein altes Zimmer. Im Flur sieht sie eine Männerjacke auf dem Boden, fragt sich noch, wem die gehört, ob Mama wohl Besuch hat, kennt die Jacke aber. Hebt sie vom Boden auf. Haut sich innerlich vor die Stirn. Fienchen geht erst mal baden.
Zanker wacht davon auf, dass das Telefon, das eben noch im Traum geklingelt hat, real neben ihm auf dem Kopfkissen klingelt. Zanker versucht es zu ignorieren, irgendwann geht eben die Mailbox dran. Die Mailbox geht dran, das Telefon schweigt kurz, dann geht das mit dem Klingeln von vorne los. Zanker findet seinen rechten Arm da, wo er sein soll, nämlich rechts an ihm dran, aber auch halb unter seinem Bauch, daher ist er ein wenig taub. Keine Energie, den Arm zu schütteln. Der taube Arm greift nach dem Handy, hebt es hoch, dass Zanker das Display sieht. Oh nö, nicht die, nicht jetzt. Zanker schafft es, Helena wegzudrücken. Schafft es nicht, das Handy auszuschalten oder wenigstens auf stumm zu stellen. Das Klingeln geht wieder los. Zanker ist von der letzten Aktion noch total erschöpft und vergräbt sein Gesicht im Kissen. Das Klingeln bleibt allgegenwärtig. Zanker hört, wie jemand die Tür aufreißt. Jens jammert: »Mann, mach doch mal das Scheißding aus, geh ran, mach irgendwas!«
Das geht nicht, will Zanker sagen. Dazu hab ich nicht die Kraft, sei du der Held der Stunde. Zankers Mund klebt am Kopfkissen, raus kommt nur Brummen. Aber Blut ist dicker als Wasser und Jens greift nach dem Handy, reißt es hoch, ein bisschen weg von Zankers Ohr, das Klingeln hört kurz auf, weil die Mailbox wieder drangeht. Für eine Sekunde verharren Jens und Zanker in dieser Stille, atmen vorsichtig ein und aus. Da geht es wieder los. Jens, der ja auch jünger ist, drei Minuten, aber immerhin, ist daher auch noch unverbrauchter als Zanker, schreitet zur Tat, drückt erst Helena weg, dann das Handy aus. »Nacht«, sagt Jens und schließt die Tür. Zanker ist so dankbar für Verwandschaft an sich und im Besonderen.
In der Badewanne wird Fienchen weich. Mama schläft noch, die Wohnung ist still bis auf Fienchens Plätschern. Musik wäre nett, aber Mamas Zimmer ist direkt neben dem Bad, das hallt zu sehr. Fienchen lauscht ihren Gedanken nach, die einer nach dem andern durch den Kopf fließen. Sie hofft, dass sie nach dem Bad auch so fein riecht wie dieses Wasser, wie Rosenblüten oder so. So ein netter Geruch. Genau so muss ein richtiges Mädchen riechen, denkt Fienchen. Fein und blumig. Nicht nach Sportdeo. Unter dem Wasser wabert eine Ahnung von Fienchens Körper. Mädchen, denkt Fienchen. Greift nach ihrer Haut, sieht am Beckenrand Mamas Rasierer. Fienchen befühlt ihr Bein. Nicht glatt. Fienchen macht es glatt. Die Achseln gleich mit. Dann denkt sie an die Mitte. Ja, warum nicht. Links ein bisschen, rechts ein bisschen, wenigstens ab heute kein Gewusel mehr am Schlüpferrand. Fienchens Füße tauchen aus dem Wasser auf, sind ganz runzlig, kann Fienchen sie also auch gleich mal ein bisschen mit dem Bimsstein bearbeiten. Danach fällt Fienchen kurz mal nichts ein. Dann aber, dass sie jetzt im selben Wasser mit Hornhaut und abrasierten Haaren schwimmt. Nicht hübsch. Lässt das Wasser schnell ab, duscht sich, wäscht die Haare und knallt die superteuerhammergute Haarkur von Mama auf ihr Haupt. Sie wickelt es in ein frisches Handtuch. Fienchen gönnt ihrem Körper Bodylotion. Nicht schlecht, könnte Fienchen sich mit anfreunden, hui, brennt aber jetzt doch ein bisschen zwischen den Beinen. Fienchen leiht sich den dicken Bademantel und verzieht sich ins Wohnzimmer, um ganz Grande Dame vor dem Fernseher eine anständige Portion Honey Loops zu vertilgen.
Die Haustür ist abgeschlossen. Vater ist nicht nach Hause gekommen. Bowie setzt sich an sein Fenster und wartet. Kratzt sich übers Kinn, es stoppelt. Bowie lässt es stoppeln. Bowie hat Zeit. Das neue Jahr hat noch viele Tage.
Es klopft verhalten. Zanker hebt ein Auge in Richtung Uhr. Halb eins. Fühlt sich an wie halb fünf morgens.
Mama tritt vorsichtig ins Zimmer, in der Hand das Telefon. »Ja, er scheint wach zu sein«, sagt Mama in den Hörer und hält ihn dann Zanker entgegen.
Zanker kann nicht den Kopf schütteln und seinen Unmut artikulieren. Als Mutter müsste Mama doch spüren, dass er jetzt einfach nicht telefonieren kann, dass er weiter sehr tief schlafen muss, weil sein Körper danach verlangt. Zanker stellt sein Gesicht auf Frage.
Mama antwortet fast tonlos »Helena«.
Zanker stöhnt.