Marsmädchen - Tamara Bach - E-Book

Marsmädchen E-Book

Tamara Bach

0,0
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ich will tanzen und trinken, und gute Musik zum Tanzen. Und ich will küssen und mich ein bisschen verlieben. Und ich will nicht kotzen.« Laura schaut mich mit großgrünen Augen ganz ernst an, sagt nichts. Dann küsst sie mich auf die Wange und sagt: »Dein Wunsch sei mir Befehl.« Miriam ist 15. Manchmal fühlt sie sich gut, so wie sie ist. Aber manchmal findet sie alles einfach zum Davonlaufen. Sie wäre gern wie die aus der Zwölften, so schön und selbstbewusst, oder wie Laura, die neu in ihrer Klasse ist. Die scheint genau zu wissen, was sie will. Und dann freunden sich Miriam und Laura an, sie gehen tanzen, trinken nachmittags literweise Kaffee, und Miriams Langeweile und Unzufriedenheit sind wie weggewischt. Wenn Laura bloß nicht immer mit Phillip rumhängen würde. Ist Phillip wirklich nur ein »guter Freund«? Denn am liebsten hätte Miriam Laura ganz für sich allein. Tamara Bachs erster, mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichneter Roman, endlich wieder im Taschenbuch lieferbar!  »Ein einzigartiges Buch, erfrischend, ernst, ergreifend, unvergleichlich.« Neue Westfälische über »Sankt Irgendwas« »Großartige Montage-Erzählung für Jugendliche und Erwachsene.« FAZ über »Sankt Irgendwas« »Die bei aller Nähe dennoch intensive wie diskrete Art des Schreibens, ungewöhnlich für ein Jugendbuch.« Süddeutsche Zeitung über »Vierzehn«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2014

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



CARLSEN-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. © CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014 Erstmals erschienen im Verlag Friedrich Oetinger, 2003 Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor © für »Felix sagt« CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014 Erstmals erschienen unter dem Titel »Das Muschelgesetz« in »Meine besten«, Hrsg. Nicola Bardola, Arena Verlag 2006 Umschlaggestaltung und -typografie: Kerstin Schürmann, formlabor E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN: 978-3-646-92483-1 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

»This small town hasn’t got room for my big feelings«Björk, Violently Happy für Mams und Julia, Anke und elis

ERSTENS

Is there anybody out there?

1.

Name

Adresse

Geburtstag

Geburtsort

Größe

Gewicht

Hobbys

Lieblingsgetränk

Lieblingsessen

Lieblingsfilm

Lieblingslied

Lieblingsstar

Freunde

Das mag ich

Das mag ich nicht

Das wünsche ich dir

Name

Mein Name ist Miriam.

Alter, Geburtstag, Ort

Ich bin 15 Jahre alt. Fünfzehn.

Adresse

Die Stadt, in der ich wohne, ist hübsch und klein, im Sommer kommen Touristen, um sich die Kirche und die alte Burg anzuschauen und durch die alten Gassen zu spazieren. Im Sommer ist es hier schön. Man kann auf einem Feld sitzen, ins Tal schauen und sich mit jemandem eine Flasche Wein teilen, vielleicht ist es dann Abend. Man kann an den Baggersee fahren, wenn es Tag ist, oder ins Schwimmbad einbrechen, wenn es Nacht ist. Man muss gar nicht viel im Sommer machen, um etwas zu machen. Im Sommer reicht es, wenn man einfach da ist. Egal wo.

Im Winter ist die Stadt zu klein und friert ein. Die Stadt ist nirgendwo, keiner kennt sie, die Leute vergessen im Winter, dass es hier eine Kirche und eine Burg und alte Gassen gibt, und die Leute, die hier wohnen, vergessen sich plötzlich auch. Und verstecken sich. Ich bin kein Wintermensch. Ich bin Miriam. 15. Blond. Braune Augen. 1,62 m, 59 kg oder auch nicht. Kind, Schwester, Schülerin, Banknachbarin.

Ich bin Miriam. Ich bin müde. Und das war es.

Das bin ich. Mehr nicht und nicht weniger. Einfach nicht mehr.

Was mag ich und was nicht?

Lieblings…, Lieblings…

Ich bin unsportlich. Ich bin faul, sagt Mama. Ich bin nicht blöd, sagt der Mathelehrer. Manchmal bin ich so. Und manchmal bin ich doch anders.

Ich starre auf das Buch. Nach dem Sommer haben sie uns in eine neue Klasse gesteckt. Neu, mit neuen Leuten, weil der Jahrgang zu klein geworden ist. Vor zwei Wochen hat mir eine aus der neuen Klasse dieses Buch in die Hand gedrückt. Und gestern ist sie sauer geworden, weil ich es ihr noch nicht zurückgegeben habe, »morgen«, hab ich gesagt.

Steckbrief. Das heißt, man soll sich so genau wie möglich beschreiben. Warum will die, dass ich mich so genau beschreibe, was will die denn von mir?

Ich blättere vor. Das Buch ist schon halb voll. Das ist keins, wie man es in den Schreibwarenläden kaufen kann. Nein, hier schreibt jeder das, was er will, aber die meisten halten sich an Lieblingsweißnichtwaslisten. Haben vielleicht ein schönes Foto von sich reingepappt. Da, wie Bille. Die sieht eigentlich gar nicht so aus. Fredi hat das ganze Blatt voll gemalt mit irgendwelchen Schriftzügen, die nach Sprayer aussehen sollen. Fredi hat noch nie eine Farbdose in der Hand gehabt.

Bambambam, Kuli trommelt aufs Buch. Heute braucht die das zurück.

Was ich dir wünsche.

Ich wünsche …

Was ich mir wünsche.

Ich wüsste gerne, was ich schreiben soll.

Stell dir ein Mädchen vor. Eine mit Begabungen, eine, die strahlt, nach der man sich umschaut. Der man hallo sagt und lächelt. Und die selbst ganz gerne lächelt. Und dann stell dir eine vor, die niemand mag, weil sie vielleicht irgendwie stinkt oder eine komische Lache hat. Ich bin dazwischen. Bin ein bisschen hübsch vielleicht. Ja, sagt Mama, sagt der alte Pit im Kiosk. Ich bin vielleicht ein bisschen hässlich, sagt Alex aus der Zehnten, sagt Dennis, aber der ist egal.

Ich bin ganz klug, sagen meine Noten in Mathe und in Französisch. Aber Geschichte und Chemie sagen, ich sei der letzte Idiot.

Was ist man denn, wenn man immer mittendrin ist, nicht ihm und nicht ihr, nicht Fleisch oder Fisch? Langweilig ist man dann.

Was soll ich denn nur schreiben?

Freunde

Unter dem Waschbecken sitzt Ines und schreibt Mathe ab. Auf dem Klo sitzt Suse und steckt sich die dritte Zigarette an. Suse redet gerade über ihren neuen Freund. Sie hat ihn vor ein paar Tagen kennen gelernt. Und jetzt sind sie zusammen. Er heißt Martin. Martin ist echt süß. Er hat eine tolle Figur. Er ist achtzehn und fährt einen VW Golf, einen roten mit einer guten Anlage. »Er holt mich nachher ab.«

Ich stelle mir Martin vor. Er hat kein Gesicht, weil er eine Baseballmütze trägt. Er hat sie tief in die Stirn gezogen. Er hat irgendeinen Pulli an, vielleicht beige oder weiß mit Schrift drauf. Und irgendwelche Hosen. Im Hintergrund steht sein VW Golf. Martin zieht Suse zu sich, sie lässt das zu, er ist größer als sie, Martin küsst sie und die Baseballmütze schiebt sich vor ihr Gesicht, und sie spreizt ein Bein ab. Suse. Nicht die Mütze.

Dann nimmt Martin Suses Hand und führt sie zum Auto. Suse steigt ein. In den Fenstern spiegelt sich die Schule. Dann fahren sie davon. Man sieht Suse kaum. Das Auto fährt in den Sonnenuntergang. Vielleicht fahren sie ans Meer. Vielleicht fahren sie in die Berge. Vielleicht hat er eine eigene Wohnung.

»Was machst du denn da?«, fragt Ines.

Zeig ihr also das Buch und sie: »Aha.« Zieht ein Gesicht. »Von wem denn?«

»Carola.«

»Carola hat also Freunde«, lacht Suse.

»Und anscheinend passt Miriam ganz gut da rein, in den leckeren Freundeskreis von der liebenlieben Carola.«

Dann steckt sich Ines einen Finger in den Hals.

»Carola findste also nicht so …?«, frag ich.

»Nicht wirklich.« Ines beugt sich wieder über das Matheheft.

Freunde also. Als unsere Klasse getrennt wurde, sind Ines und Suse mit mir in die neue Klasse gekommen. Wir gehören irgendwie zusammen. Oder so. Sind also Freunde.

Sitzen hier zusammen in der kleinen, aber größten Kabine im Mädchenklo. Draußen ist es Winter und kalt.

Jedes Klo in der Schultoilette ist gleich, jeden Morgen sehe ich das gleiche »For the world you are somebody, but for somebody you are the world«. Ich bin seit fünf Jahren auf dieser Schule und den Spruch gibt es wohl schon länger. Ich hasse diesen Spruch. Jeder Morgen ist gleich, egal ob es Montag ist oder Donnerstag. Fünf Tage in der Woche sind gleich, denn sie sind Schultage und sie machen keinen Unterschied. Suse und Ines sitzen jeden Morgen in der größten Kabine, dem Behindertenklo. Immer sitzt Suse auf dem Klo und Ines unter dem Waschbecken, und immer sitzen wir hier, weil es draußen kalt ist und langweilig, und wir warten und rauchen und warten,

dass was passiert.

7.23h: Hast du Mathe?

7.30h: Ich bin müde.

7.35h: Die blöden Scheißkinder sollen sich verpissen.

7.45h (erstes Klingeln): Ich rauch noch eine und komm dann nach.

So ist das alles. Das ist Freundschaft.

Bambambam. Suse reißt mir das Buch aus der Hand. »Was brauchst du denn so lange?«

Suse blättert das Buch durch und lacht an manchen Stellen. Dann zieht sie an ihrer Zigarette und blättert weiter. »Das hätteste wohl gerne!«, lacht sie.

Ines schaut hoch. »Was denn?«

»Kai schreibt hier, er wär der große Hecht. Der hat’s gerade nötig.«

»Gib her!«

Suse ziert sich ein wenig, gibt es dann aber doch zurück.

Ich blättere wieder auf meine Seite. Es klingelt. Ines flucht. »Ich rauch noch eine«, sagt Suse. Ich steh auf. Ich stehe vor dem Waschbecken und sehe mich an, und in der Ecke Ines und Suse. Aber in der Mitte ich. Ich stehe da und schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Das bin ich. Blond, braune Augen, mittelgroß, mittelschwer, jeden Tag gleich.

Es ist Winter und da bin ich jeden Tag gleich.

2.

Wenn eine Fee käme und du drei Wünsche frei hättest, was würdest du dir wünschen?

Weltfrieden und ein Heilmittel für Krebs und Aids. Und dass die Welt wieder ganz wird.

Nein, jetzt mal in echt.

Zweitausend neue Wünsche. Dann ein Alarmzeichen, das mir sagt, wann Wunsch 1999 erreicht ist, damit ich mir wieder so viele wünschen kann.

Och, ich bin ganz zufrieden.

Bück dich, Fee, Wunsch ist Wunsch.

Haha.

Wenn ich mir was wünschen könnte, so ganz für mich allein, und keiner bewertet das und sagt danach: »Wie?! DAS hast du dir gewünscht?!«, dann würde ich …

Es gibt da so eine in der Zwölften. So möchte ich sein. Sie ist einfach nur schön. Sie ist groß und hat wunderschöne Augen und Haare und Hände und Bauch und Brüste und …

Weiß nicht, die ist einfach nur schön. Nicht nur, weil sie so geboren ist oder so. Nein. Schau sie dir an. Die steht da, für sie ist das ganz normal, aber niemand an dieser Schule, nein, niemand, den ich je kennen gelernt habe, kann so schön stehen. Und dann vielleicht noch einen Schritt nach vorne machen. Und wenn sie redet, dann hebt sie ihre Hand und redet mit der Hand. Du, das sieht schön aus. Und ihre Stimme ist schön. Ganz dunkel. Sie redet klar und weiß wohl immer, was sie sagen soll. Die Frau aus der Zwölften ist auch in einer Band, ich hab sie mal auf einem Konzert gesehen. Und sie singt unglaublich.

So wäre ich gerne. So. Schön. Aber nicht, weil ich die richtigen Klamotten anhabe. Oder Make-up. Sondern einfach, weil ich schön bin.

Und dann wäre ich auch gerne sehr schlau. Ich würde gerne mehr Sprachen sprechen und mehr über Politik wissen. So wie Florian. Der weiß alles über Politik. Aber ich glaube, der schaut nicht nur Nachrichten, der liest auch fünf verschiedene Zeitungen und Spiegel und Stern und Focus und bestimmt auch noch, ach, was weiß ich. Und Geschichte würde ich auch gerne können. Chemie ist mir egal. Und dann, dann wäre ich gerne auch noch talentiert. Die Frau aus der Zwölften kann singen. Eine aus meiner Klasse malt und zeichnet ganz wunderschön. Jane aus meiner alten Klasse spielt Klavier. Und macht Ballett.

Wenn ich das alles hätte. Oh Mann. Wenn man so ist, dann hat man es wirklich gut.

Das ist egoistisch und oberflächlich.

Also: Weltfrieden. Ein Ende mit Hunger und Elend. Eine intakte Umwelt oder so.

»Hier vorne spielt die Musik!«

Wie?

Hab aus dem Fenster geschaut und das mag der Lehrer nicht.

»Miriam träumt zu viel, Frau Sander.«

»Ach, das stand schon in ihrem ersten Zeugnis, da sind Sie nicht der Erste.«

Haha.

Wenn man drei Wünsche frei hat, dann heißt das, dass irgendjemand will, dass man glücklich wird. Die Fee vielleicht. Und die Fee wird mich nicht schräg anschauen und sagen: »Na, Miriam, das sind aber mal ganz schön dreiste Wünsche, denk doch mal lieber an die Kinder in der Dritten Welt, die haben’s nicht so gut wie du, oder an die schmelzenden Polarkappen, aber wenn du lieber Klavier spielen willst, na gut, wer braucht schon Hamburg!«

»Miriam!«

»Ja?«

»Jetzt pass endlich auf!«

»Ja.«

»Schau nicht immer raus, sonst lass ich die Jalousien runter!«

Na, jetzt wird er aber albern.

»O.k.«

Nicht rausschauen. Schau also an die Tafel. Ich hab das schon abgeschrieben. Hör zu. Ist aber langweilig.

Wir sind erst seit drei Monaten in dieser Klasse. Hier kennen sich fast alle. Aber ich hab mit den meisten nichts zu tun. Die Mädchen aus der Klasse haben Angst vor Suse und Ines. Sie sind auch ein wenig anders. Die Mädchen hier. Tragen Pullis mit Pferden drauf. Und füttern am Wochenende den Gaul. Carola weiß nicht, dass das das Falscheste war, was sie sagen konnte.

Suse: »Na, Carola, was haste denn letztes Wochenende so gemacht?«

Carola: »Ich war bei meinem Pferd.«

Suse: »Soso.«

Und dann hat Suse ihre Augenbraue hochgezogen und sehr breit gegrinst. Carola hat zurückgelächelt. Aber Carola kennt Suse auch nicht seit der fünften Klasse. Da hat sie also nicht wissen können, dass sie sich damit endgültig ins Aus gespielt hat.

Carola sitzt drüben, mit noch ein paar Mädchen. »Die Pferdefotzen« nennt Suse die Reihe. Vor uns eine Reihe Jungs, die mit uns in der Fünften in einer Klasse waren, dann aber Latein gewählt haben. Aber die sind noch so wie in der Fünften.

In der ersten Reihe schaut mich jemand an. Laura. Sie wiederholt die Neunte, ist also auch neu in die Klasse gekommen. Laura sitzt in der ersten Reihe auf einem dieser Strebersitze, wo man alles mitkriegt, da liegt sie auf ihrem Block. Sie hält einen Stift in der Hand und schaut mich an. Und dann schaut sie wieder weg.

Soll sie.

Neben ihr sitzt Mario. Ich sehe, wie Mario den Jungs hinter Lauras Rücken Zeichen gibt, wie er Grimassen zieht, wie er sich aufspielt, ha, die werde ich auch noch flachlegen, logo. Mario ist ein Wichser. Ein Angeber. Die Jungs finden Mario geil. Supermario, wie der aus dem Computerspiel. Anführer einer Gruppe von Idioten, und das schließt jeden einzelnen Jungen aus unserer Klasse ein.

Was mach ich hier eigentlich?

Die aus der Zwölften. Ich weiß gar nicht, wie die heißt. Aber die sitzt bestimmt gerade in einem Kurs und nicht in ihrer Klasse, oder vielleicht hat sie frei und sitzt im Café um die Ecke. Vielleicht hat sie sich gerade gemeldet und was ziemlich Kluges gesagt. Etwas, was sie letztens in einer Reportage gesehen hat. Oder sie hat diesen Artikel über die Frauen in Afghanistan gelesen und berichtet über die Verhältnisse dort. Vielleicht redet sie mit ihren Freunden über wichtige Dinge. Was wohl?

Suse redet über ihren Freund. Ines auch. Wir reden über die Schule und die Leute da. Und über die Eltern. Musik manchmal, »Ich hab mir ’ne neue CD gekauft«, nein, eher selten. Weiß nicht. Wir reden einfach nur.

Vielleicht wäre ich gerne ein wenig älter. Fünfzehn ist ein komisches Alter. Fünfzehn ist so … gar nichts. Auch so mittendrin. Mal auf die Uhr schauen.

»Miriam, ist dir das hier zu langweilig?«

Der hat’s aber heute auch mit mir!

»Nee. Tut mir Leid.« Laberrababer.

»Gib mir noch ein paar Minuten, o.k.?«

»Klar.«

Wie spät war’s jetzt? Na super.

Ines schreibt einen Brief an ihren Freund. Er heißt Florian. Flo. Sie sind jetzt schon fast fünf Monate zusammen. Sie schlafen miteinander, wenn sie können. Aber Ines’ Eltern mögen Flo nicht. Ich glaube, sie haben eigentlich nicht richtig was gegen Flo, aber sie haben was dagegen, dass Ines einen Freund hat, mit dem sie schläft. »Sex hat«, sagt sie.

Ich stelle mir Ines vor, wie sie die Tür hinter sich zuzieht. Und wie Flo sie dann auszieht. Keine Musik, weil sie sonst die Haustür nicht hören können. Ich stelle mir eine kleine neugierige Schwester vor, die weint, wenn die Tür abgeschlossen ist, die laut schreit: »Was macht ihr da drinnen?« Ich stelle mir Ines’ Bett vor, schmal ist es, vielleicht quietscht es, und sie tun es auf dem Boden oder im Stehen an der Wand.

Ich würde jetzt gerne auf die Uhr schauen, aber der da vorne fixiert mich und ich muss so tun, als ob ich wirklich noch zuhöre. Als er wegschaut, sehe ich, dass es immer noch 17 Minuten sind. Super. Blicke durch die Klasse. Carola und die anderen schreiben mit. Felix in der letzten Reihe bastelt irgendwas. Mario schaut ab und zu nach hinten zu den Idioten und macht irgendwelche »Fickenficken«-Gesten. Ganz geil. Laura liegt immer noch auf ihrem Block und fixiert den Schroeder. Und dann dreht sie sich leicht zur Seite und malt auf ihren Block. Ich kann von hier aus sehen, dass sie nicht mitschreibt, sondern irgendwas malt oder krakelt. Aber ich kann nicht sehen, was. Das sollte der Schroeder mal kommentieren. Dann schaut sie hoch. Nicht wirklich hoch, sie hebt nur ihren Blick und schaut mich direkt an, malt aber weiter.

Die hat ja grüne Augen, wie ’ne Hexe. Komisch. Ich kann nicht wegschauen und sie schaut mich einfach nur an, einfach so, will gar nichts, guckt nur.

Vielleicht sollte ich mal lächeln oder so. Vielleicht. Dann steht Schroeder vor mir. »Miriam.«

»Herr Schroeder?«

»Gut, dass du wenigstens meinen Namen noch weißt. Also, schreib auf, Hausaufgaben für Donnerstag.«

Und dann kram ich schnell meinen Kalender raus und schreib auf, Seite 45, Nr. 5 ganz, Nr. 6 b–f, Text 3 lesen.

3.

Wenn man in einer großen Stadt wohnt, ist das Leben anders. Anders als hier. Hier, in der kleinen Stadt, ist jeder Tag gleich. Ich stehe auf und bin nicht wach, esse und weiß nicht, ob ich Hunger habe. Trinke und mein Mund bleibt trocken. Es ist Winter und ich schlafe noch. Jeder Tag ist gleich.

In einer Stadt muss das anders sein. Ich war mal in Berlin und habe da eine Brieffreundin besucht. Wir sind sehr viel mit der U-Bahn gefahren und immer woanders ausgestiegen, und immer sah es anders aus. »Riech mal«, hab ich zu ihr gesagt, »wie das hier riecht.« Im U-Bahnhof war das, und an die Wände waren Schweineumrisse gemalt. »Was meinste denn?«, hat sie gefragt. »Na, hier riecht’s.« »Hier riecht’s scheiße, ich weiß«, hat sie gesagt. Und einmal hat sie mir Fotos gezeigt von ihren Ferien auf dem Reiterhof. »Mitten auf dem Land«, hat sie gesagt.

In der U-Bahn hat es nach Stadt gerochen, ein bisschen nach Gummi und Staub und Neon. Das war ein Geruch, den man richtig anfassen konnte. Der einem ins Gesicht gesprungen ist und dann direkt in die Nase hinein. Hier riecht alles so, soo, sooo … weiß nicht. Manchmal ein wenig nach Erde und nach Regen oder nach Mist. Aber wenn man das nicht riechen will, dann riecht man das auch nicht.

Es ist Nachmittag. Nachmittage sind gleich. Von der Schule nach Hause kommen. Essen. Tisch abräumen, spülen. Ins Zimmer nach oben gehen, Radio an. Sitz am Schreibtisch. Mach Hausaufgaben. Geh wieder nach unten. Mach eine Kanne Tee. Schau aus dem Fenster, passiert nichts, schau trotzdem weiter, bis das Wasser kocht und ich den Tee aufgieße. Vielleicht ruft jemand an und dann rede ich ein wenig und höre zu.

In der Stadt wäre das anders. Da kann man einfach in der U-Bahn sitzen und sich die Leute anschaun. Da gibt es Leute, die bleiben nicht zu Hause, die verstecken sich nicht in ihren kleinen Häusern mit Schornsteinen. Man kann einfach rumlaufen, aussteigen, einsteigen, schauen. Und immer ist es wieder ein wenig anders. Ob ich wohl auch anders wäre?

Ich stell mir vor, wie ich in der Stadt wäre. Ich hätte eine Karte für die Bahn und müsste mein Fahrrad nicht benutzen. Ich hätte Freunde, die in alten Häusern wohnen. Mit Balkon. Ich würde keinen Stadtplan brauchen. Ich wäre den ganzen Tag unterwegs, würde Leute sehen und Sachen machen. Interessante Sachen, andere Sachen, Sachen, die ich noch nie gemacht habe.

Ich sitze in der Kleinstadt an meinem Schreibtisch und habe Nummer fünf fertig. Es ist halb vier. Ich geh irgendwann in ein paar Stunden ins Bett.

Scheiße, ist mir langweilig.

Keiner zu Hause. Das Haus ganz ruhig. Manchmal ist es so, kennst du das, es ist ganz ruhig und in dir schreit alles plötzlich, ganz laut, und du willst selbst einfach nur schreien oder treten oder spucken und Flickflack machen oder so? Manchmal bin ich innen viel größer und passe nicht hier rein.

Ich mach Musik an. Ich stell sie laut. Ich tanz ein wenig. Und dann setze ich mich in den Sessel am Fenster und schau raus. Dann leg ich mich aufs Bett. Ich stelle die Musik leise und dann ganz aus.

Ich liege auf meinem Bett und lausche in das Haus hinein. Es ist ein altes Haus, das Holz knackt, es arbeitet. Der Baum im Garten streckt seine Äste nach meinem Fenster aus, kratzt an der Scheibe, vielleicht ist ihm kalt und er will, dass ich ihn reinlasse, wie eine Katze. Ich höre irgendwann meine Mutter, wie sie die Tür aufschließt und »Ich bin zu Hause« ruft, ohne auf Antwort zu warten. Irgendwer schaltet den Fernseher ein. Papa hat Spätschicht. Dennis redet im Flur am Telefon, seine Stimme wird leiser, dann geht er die Treppe runter.

Manchmal hört man nur ein gleichmäßiges Summen wie Neonlicht oder der Kühlschrank. Es ist nie wirklich ruhig. Aber es passiert auch nie wirklich was. Ich denke an eine Stadt und an nichts. Dann mache ich die Musik an und stelle sie laut. Verdammt laut.

Am Abend wird das Haus stiller. Ich stehe mit meiner Mutter an der Spüle und trockne einen Topf ab. Mama ist nur manchmal schön. Sie hat ein lautes Lachen und ist nicht schlank, sie färbt sich die Haare, seitdem sie grau werden, rot. Ich glaube nicht, dass wir uns ähnlich sehen. Mama wippt leicht zu der Musik, die das Radio vor sich hin dudelt. Alle sagen, wir seien uns ähnlich. Einmal, als ich klein war, wurden wir von einem Fremden angesprochen: »Da sieht man ja, dass sie zusammengehören, Mutter und Tochter.« Sie nimmt mir den Topf aus der Hand und stellt ihn in den Schrank, dann greift sie nach einem Lappen und wischt über die Arbeitsfläche. Summt.

»Wie war’s in der Schule?«

»Gut.«

»Irgendwas passiert?«

»Nö.«

»Hast du schon Tante Helene angerufen und dich für ihre Karte bedankt?«

Scheiße. »Nein.«

»Ruf sie doch eben mal an. Sonst ist sie wieder sauer. Dauert doch auch nicht lange.«

»Ich muss noch Hausaufgaben machen.«

»Jetzt?«

Ah, schau, sie zieht wieder die Stirn kraus, das macht sie IMMER!

»Ja.« Lies es von meinen Lippen!

»Nur fünf Minuten, Miriam.«

Ganze Länder sind in fünf Minuten untergegangen. Ich wische mit dem Handtuch nach.

»Los, Miriam.«

»Jaha.«

»Die Telefonnummer steht im Buch unter D wie Danz.«