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Die berühmteste Leseratte der Welt
Matilda ist ein sehr besonderes kleines Mädchen. Sie ist blitzgescheit und liest unendlich viele Bücher, sie ist mutig und abenteuerlustig und sie hat ein großes Herz. Jeder Pappkopf könnte das erkennen – doch die Erwachsenen sind leider völlig ahnungslos. Allen voran die gefürchtete Rektorin von Matildas Schule. Sie heißt Knüppelkuh und benimmt sich auch so. Einzig Matildas Klassenlehrerin, Jennifer Honig, erkennt, was in Matilda steckt. Leider hat es die Knüppelkuh auf Jenny Honig ganz besonders abgesehen. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte: Matilda ist nicht nur ein Wunderkind, sondern auch ein Zauberkind. Und unerbittlich, wenn es um die Verteidigung ihrer Freunde und Freundinnen geht ...
Unerschrockene Heldinnen und Helden voller Kraft und Fantasie, die Kinder stark machen: Egal, wer und wo du bist, egal, wer dich kleinmachen will – mit Fantasie, Entschlossenheit und Mut kannst du deine eigene verrückte Geschichte selbst in die Hand nehmen und alles sein, was du willst. Die unsterblichen Kinderbücher von Roald Dahl erstmals in einer hochwertigen, farbig ausgestatteten Hardcover-Ausgabe, neu übersetzt von Andreas Steinhöfel sowie Sabine und Emma Ludwig.
Weitere Kinderromane von Roald Dahl:
Charlie und die Schokoladenfabrik
Hexen hexen
James und der Riesenpfirsich
Der fantastische Mister Fox
Die Trottels
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Seitenzahl: 202
Für Michael und Lucy
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2022 Penguin JUNIOR in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Text © The Roald Dahl Story Company Limited, 1988
ROALD DAHL ist ein eingetragenes Warenzeichen von The Roald Dahl Story Company Ltd.
Illustrationen © Quentin Blake, 1988, 2013
Kolorierung: Vida Kelly
Diese Ausgabe ist zuerst in England erschienen bei
PUFFIN BOOKS, Penguin Random House Ltd, 80 Strand, London WC2R 0RL
Umschlaggestaltung: Miriam Wasmus
Umschlagillustration: Quentin Blake
ck · Herstellung: UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a.A
ISBN 978-3-641-28868-6V002www.penguin-junior.de
Kapitel 1– Die Bücherleserin
Kapitel 2– Herr Wurmwald, der große Autohändler
Kapitel 3– Der Hut und der Superkleber
Kapitel 4– Der Geist
Kapitel 5– Mathe
Kapitel 6– Der platinblonde Mann
Kapitel 7– Fräulein Honig
Kapitel 8– Die Knüppelkuh
Kapitel 9– Die Eltern
Kapitel 10– Hammerwurf
Kapitel 11– Tommy Topfgang und die Torte
Kapitel 12– Lavendel
Kapitel 13– Die Knüppelstunde
Kapitel 14– Das erste Wunder
Kapitel 15– Das zweite Wunder
Kapitel 16– Fräulein Honigs Häuschen
Kapitel 17– Fräulein Honigs Geschichte
Kapitel 18– Die Namen
Kapitel 19– Die Durchführung
Kapitel 20– Das dritte Wunder
Kapitel 21– Ein neues Zuhause
Das ist schon witzig mit Müttern und Vätern. Selbst wenn ihr Kind das widerlichste kleine Blag ist, das man sich vorstellen kann, halten sie es trotzdem für ganz wunderbar.
Manche Eltern treiben es noch weiter. Ihre Bewunderung macht sie blind, und so kommen sie zu der Überzeugung, ihr Kind sei praktisch ein Genie.
Gut, das ist ja erst mal nicht weiter schlimm. Die Welt ist bunt und rund. Aber spätestens wenn diese Eltern versuchen, uns von der Großartigkeit ihrer widerlichen Sprösslinge zu überzeugen, fangen wir an zu schreien: »Bringt uns einen Eimer! Uns wird schlecht!«
Lehrer müssen unter diesem Quatsch überstolzer Eltern gehörig leiden, finden aber in der Regel Genugtuung, sobald sie die Zeugnisse schreiben. Wenn ich Lehrer wäre, würde ich mir für die Kinder solcher abgehobenen Eltern ein paar hübsche Gemeinheiten ausdenken. »Ihr Sohn Maximilian«, würde ich schreiben, »ist ein Totalversager. Hoffentlich gehört Ihnen ein Unternehmen, in dem Sie ihn nach der Schule unterbringen können, denn anderswo findet er garantiert keinen Job.« Sollte ich mich an diesem Tag in dichterischer Gemütsverfassung befinden, würde ich vielleicht schreiben: »Eine merkwürdige Eigenart des Grashüpfers ist es, dass dessen Hörorgane sich seitlich an seinem Bauch wiederfinden. Gemessen an dem, was sie im letzten Halbjahr gelernt hat, scheint Ihre Tochter Vanessa keinerlei Hörorgane zu besitzen.«
Ich könnte sogar in die tiefsten Tiefen der Naturgeschichte hinabsteigen und sagen: »Die Larven einer Untergruppe der Singzikaden verbringen sechs Jahre ihres Daseins als Larve unter der Erde und nur sechs Tage als freie Geschöpfe in Luft und Sonne. Ihr Sohn Wilfred hat sechs Jahre als Larve in dieser Schule verbracht, und wir warten immer noch auf seine erfolgreiche Verpuppung.« Ein besonders mieses kleines Mädchen könnte mich zu der Äußerung treiben: »Fiona ist von ähnlich kalter Schönheit wie ein Eisberg, verbirgt allerdings, anders als der Eisberg, absolut nichts unter ihrer Oberfläche.« Ich glaube, das Schreiben von Abschlusszeugnissen für die ekligsten kleinen Bratzen in meiner Klasse würde mir jede Menge Spaß machen.
Aber genug davon und weiter im Text.
Gelegentlich trifft man auf Eltern, mit denen es sich genau andersherum verhält, die sich also keinen Deut um ihre Kinder scheren, und die sind natürlich ungleich schlimmer als die Verblendeten. Herr und Frau Wurmwald gehörten zu dieser Sorte Eltern. Sie hatten einen Sohn namens Michael und eine Tochter namens Matilda, und speziell Matilda war in ihren Augen kaum mehr als ein Krüstchen Wundschorf. Wundschorf ist etwas, womit man sich so lange abfinden muss, bis man es abknibbeln und wegschnippen kann. Herr und Frau Wurmwald freuten sich schon jetzt unbändig auf den Moment, wenn sie Matilda endlich abknibbeln und wegschnippen konnten, am besten bis weit hinter die Landesgrenzen oder sogar darüber hinaus.
Es ist schon schlimm genug, wenn Eltern ein gewöhnliches Kind wie Wundschorf oder wie Gnubbelzehen behandeln. Ungleich schlimmer aber ist es, wenn ein solches Kind außergewöhnlich ist, und damit meine ich gefühlvoll und großartig. Matilda war beides, aber vor allem war sie großartig. Ihr Verstand war so flink, und sie lernte so überaus schnell, dass diese Eigenart selbst dem größten Pappkopf hätte auffallen müssen. Aber Herr und Frau Wurmwald waren dermaßen beschränkt und so sehr mit ihrem eigenen dummen kleinen Leben beschäftigt, dass ihnen an ihrer Tochter nichts Außergewöhnliches auffiel. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, wäre ihnen vermutlich nicht mal aufgefallen, wenn sie mit einem gebrochenen Bein ins Haus gehumpelt gekommen wäre.
Matildas Bruder Michael war ein völlig durchschnittlicher Junge, aber seine Schwester ließ einem, wie ich schon sagte, die Kinnlade runterfallen. Im Alter von eineinhalb konnte sie perfekt sprechen und kannte bereits so viele Wörter wie die meisten Erwachsenen. Anstatt zu applaudieren, nannten ihre Eltern sie eine lärmende Plappertasche und gaben ihr scharf zu verstehen, dass man kleine Mädchen sehen, aber nicht hören sollte.
Mit drei Jahren hatte Matilda sich durch das Studium von im Haus herumliegenden Zeitschriften und Magazinen selber das Lesen beigebracht. Mit vier las sie bereits gut und flüssig, und natürlich begann sich in ihr das Verlangen nach Büchern zu regen. Das einzig verfügbare Buch in diesem Bildungshaushalt war irgendwas mit dem Titel Kochen leicht gemacht und gehörte ihrer Mutter, und als sie es von vorne bis hinten durchgelesen und alle Rezepte darin auswendig gelernt hatte, beschloss sie, sich interessanterem Lesestoff zuzuwenden.
»Papa«, sagte sie, »meinst du, du könntest mir ein Buch kaufen?«
»Ein Buch?«, sagte er. »Wozu willst du so ein beknacktes Buch?«
»Um es zu lesen, Papa.«
»Stimmt irgendwas mit dem Fernseher nicht, Herrschaftszeiten? Wir haben einen mit einem riesigen Monitor, aber du kommst angedackelt und willst ein Buch! Ich glaube, dir geht’s zu gut, Mädchen!«
Nahezu jeden Nachmittag wurde Matilda allein zu Hause gelassen. Ihr Bruder (fünf Jahre älter als sie) ging zur Schule. Ihr Vater ging zur Arbeit und ihre Mutter fuhr zum Bingospielen in eine dreizehn Kilometer entfernte Stadt. Frau Wurmwald war süchtig nach Bingo und spielte es fünfmal die Woche. Am Nachmittag jenes Tages, an dem ihr Vater sich geweigert hatte, ihr ein Buch zu kaufen, machte Matilda sich mutterseelenallein auf den Fußweg zur städtischen Bibliothek. Dort angekommen, stellte sie sich Frau Schilf vor, der Bibliothekarin. Sie fragte, ob sie sich für ein Weilchen irgendwo hinsetzen und ein Buch lesen dürfe. Frau Schilf war ein wenig verwundert über die Ankunft eines so kleinen Mädchens, ganz ohne elterliche Begleitung, hieß sie aber dennoch herzlich willkommen.
»Wo stehen die Bücher für Kinder, bitte?«, sagte Matilda.
»Dort drüben, in den niedrigen Regalen«, erklärte ihr Frau Schilf. »Soll ich dir helfen und eins mit schönen Bildern drin aussuchen?«
»Nein danke, ich komm schon zurecht«, sagte Matilda.
Von nun an trottete Matilda jeden Nachmittag, sobald ihre Mutter zum Bingospielen aufgebrochen war, zur Stadtbibliothek. Das war ein Fußweg von nur zehn Minuten. So blieben ihr also zwei herrliche Stunden, die sie ungestört in einer kuscheligen Ecke verbrachte, wo sie ein Buch nach dem anderen verschlang. Als sie jedes einzelne vorhandene Kinderbuch gelesen hatte, begann sie auf der Suche nach neuem Lesestoff herumzustreunern.
Frau Schilf, die sie während der letzten Wochen fasziniert beobachtet hatte, verließ ihren Schreibtisch und ging zu ihr. »Kann ich dir helfen, Matilda?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, was ich als Nächstes lesen soll«, sagte Matilda. »Die Kinderbücher habe ich alle durch.«
»Du meinst, du hast alle Bilder betrachtet?«
»Ja, aber ich habe die Bücher auch gelesen.«
Frau Schilf schaute von hoch oben auf Matilda herab und Matilda schaute unbefangen zu ihr hinauf.
»Ein paar von ihnen waren lahm«, sagte Matilda, »aber dafür waren andere ganz wunderbar. Am besten von allen hat mir Der geheime Garten gefallen. Das war so voller Geheimnisse. Das Geheimnis des Zimmers hinter der verschlossenen Tür und das Geheimnis des Gartens hinter der hohen Mauer.«
Frau Schilf war erstaunt. »Wie alt bist du genau, Matilda?«, fragte sie.
»Vier Jahre und drei Monate«, sagte Matilda.
Frau Schilfs Erstaunen kannte kaum noch Grenzen, aber sie war klug genug, sich das nicht anmerken zu lassen. »Welche Art Buch würdest du denn gern als Nächstes lesen?«, fragte sie.
Matilda sagte: »Am liebsten ein richtig tolles, das auch Erwachsene lesen. Ein berühmtes. Ich weiß aber leider nicht, wie die heißen.«
Frau Schilf nahm sich alle Zeit der Welt, um an den Regalen entlangzuschauen. Sie war unschlüssig, was sie herausziehen sollte. Wie, fragte sie sich, sucht man ein berühmtes Erwachsenenbuch für ein vierjähriges Mädchen aus? Ihr erster Gedanke galt einer dieser Teenager-Romanzen, wie sie für 15-Jährige geschrieben werden, aber aus irgendeinem Grund ging sie, geradezu instinktiv, an diesem speziellen Regal vorbei.
»Probier’s mit diesem hier«, sagte sie schließlich, »das ist sehr berühmt und sehr gut. Wenn es dir zu lang ist, lass es mich wissen. Dann finde ich eins für dich, das kürzer ist, und etwas leichter.«
»Große Erwartungen«, las Matilda, »von Charles Dickens. Mit dem würde ich es gerne probieren.«
Ich muss verrückt sein, sagte Frau Schilf zu sich selber, aber zu Mathilda sagte sie: »Natürlich kannst du es damit probieren.«
Über die kommenden Nachmittage hinweg konnte Frau Schilf ihre Augen kaum von dem kleinen Mädchen abwenden, das Stunde um Stunde in dem großen Ohrensessel am anderen Ende des Raumes saß, das Buch auf dem Schoß. Die Kleine musste es auf den Schoß legen, weil es zum Hochheben viel zu schwer für sie war, was sie dazu zwang, sich beim Lesen vornüberzubeugen. Es war ein merkwürdiger Anblick, wie dieses winzige dunkelhaarige Persönchen dort saß, die Füße irgendwo hoch über dem Boden baumelnd, ganz versunken in die wunderbaren Abenteuer von Pip und Fräulein Havisham in ihrem spinnwebverhangenen Haus, gebannt von dem Zauber, den der große Erzähler Charles Dickens aus Worten gewoben hatte. Die einzige Regung der Leserin war ein gelegentliches Anheben der Hand, wenn sie eine Seite umblätterte, und Frau Schilf war immer ein wenig traurig, wenn es Zeit war und sie den Raum durchqueren musste, um zu verkünden: »Es ist zehn vor fünf, Matilda.«
In der ersten Woche hatte Frau Schilf Matilda noch gefragt: »Bringt dich eigentlich deine Mutter jeden Tag hierher und holt dich später wieder ab?«
»Meine Mutter fährt nachmittags immer zum Bingospielen nach Aylesbury«, hatte Matilda gesagt. »Sie weiß nicht, dass ich hierherkomme.«
»Aber das ist doch sicherlich nicht richtig«, sagte Frau Schilf. »Ich finde, du solltest sie besser fragen.«
»Lieber nicht«, sagte Matilda. »Sie hält nicht viel vom Bücherlesen. Mein Vater auch nicht.«
»Aber was denken sie denn, was du jeden lieben langen Nachmittag allein zu Hause anfangen sollst?«
»Herumhängen und fernsehen.«
»Ich verstehe.«
»Es ist Mama eigentlich egal, was ich mache«, sagte Matilda ein wenig traurig.
Frau Schilf machte sich um die Sicherheit des Mädchens Gedanken, wenn es entlang der geschäftigen Hauptstraße ging und die Kreuzung überqueren musste, beschloss aber, sich nicht einzumischen.
Binnen einer Woche hatte Matilda Große Erwartungen beendet, das in dieser Ausgabe vierhundertelf Seiten umfasste. »Das hat mir sehr gut gefallen«, sagte sie zu Frau Schilf. »Hat Mister Dickens noch mehr geschrieben?«
»Eine ganze Menge«, sagte die erstaunte Frau Schilf. »Soll ich etwas für dich aussuchen?«
Über die nächsten sechs Monate las Matilda, unter den wachsamen und mitfühlenden Augen von Frau Schilf, die folgenden Bücher:
Nicholas Nickleby von Charles Dickens
Oliver Twist von Charles Dickens
Jane Eyre von Charlotte Brontë
Stolz und Vorurteil von Jane Austen
Tess von Thomas Hardy
Heim zur Erde von Mary Webb
Kim von Rudyard Kipling
Der Unsichtbare von H. G. Wells
Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway
Schall und Wahn von William Faulkner
Die Früchte des Zorns von John Steinbeck
Die guten Gefährten von J. B. Priestley
Am Abgrund des Lebens von Graham Greene
Die Farm der Tiere von George Orwell
Das war eine eindrucksvolle Liste, und Frau Schilf war inzwischen ebenso verwundert wie verzückt, aber es war vermutlich gut, dass sie sich nicht von ihren Gefühlen davontragen ließ. Beinahe jeden anderen Menschen hätten die Leistungen des kleinen Mädchens dazu verführt, eine solche Neuigkeit durch die ganze Stadt und darüber hinaus zu posaunen, aber nicht Frau Schilf. Sie kümmerte sich um ihren eigenen Kram und hatte längst gelernt, dass es sich in den wenigsten Fällen auszahlte, andere Leute auf ihre Kinder anzusprechen.
»Bei Mister Hemingway stehen viele Sachen, die ich nicht verstehe«, sagte Matilda. »Besonders über Männer und Frauen. Ich hab es aber trotzdem gemocht. Wie er erzählt, fühlt es sich so an, als wäre man mittendrin und könnte zusehen, wie alles passiert.«
»So wird es dir mit jedem guten Schriftsteller ergehen«, sagte Frau Schilf. »Und mach dir um die Stellen, die du nicht verstehst, keine Gedanken. Lehn dich einfach zurück und erlaube den Worten, dich zu umspülen wie Musik.«
»Das mache ich, ja, das mache ich.«
»Wusstest du eigentlich«, sagte Frau Schilf, »dass öffentliche Bibliotheken wie diese es dir gestatten, Bücher auszuleihen und mit nach Hause zu nehmen?«
»Nein, das wusste ich nicht«, sagte Matilda. »Dürfte ich das auch?«
»Selbstverständlich«, sagte Frau Schilf. »Wenn du ein Buch gefunden hast, das dir gefällt, bringst du es zu mir, dann mache ich eine Notiz und du kannst es zwei Wochen lang behalten. Wenn du magst, kannst du sogar mehrere mitnehmen.«
Von nun an besuchte Matilda die Bibliothek nur noch einmal pro Woche, um neue Bücher zu entleihen und alte zurückzubringen. Ihr kleines Zimmer daheim wurde zum Lesezimmer, wo sie fast jeden Nachmittag saß und las, meistens eine Tasse heiße Schokolade neben sich. An die wenigsten Dinge in der Küche kam sie heran, dafür war sie nicht groß genug, aber im Anbau gab es eine kleine Kiste, die holte sie herein und stieg darauf, um alles zu erreichen. Meistens bereitete sie heiße Schokolade zu, indem sie zunächst Milch in einem kleinen Topf auf dem Herd aufkochte und dann Kakao darin verrührte. Manchmal machte sie sich auch eine Rinderbrühe oder eine Ovomaltine. Es gefiel ihr, das heiße Getränk mit nach oben auf ihr Zimmer zu nehmen, wo es neben ihr stand, während sie die Nachmittage im stillen Raum des leeren Hauses mit Lesen verbrachte. Die Bücher eröffneten ihr neue Welten und machten sie mit den erstaunlichsten Menschen bekannt, die aufregende Leben führten. Sie segelte mit Joseph Conrad auf altertümlichen Segelschiffen. Sie zog mit Ernest Hemingway nach Afrika und mit Rudyard Kipling nach Indien. Sie reiste um die ganze Welt und saß dabei in ihrem kleinen Zimmer in einer englischen Kleinstadt.
Matildas Eltern besaßen ein recht hübsches Haus mit drei Schlafzimmern in der oberen Etage und mit einem Wohnzimmer, einem Esszimmer und einer Küche im Erdgeschoss. Ihr Vater verkaufte Gebrauchtwagen, und das machte er anscheinend ziemlich gut.
»Sägemehl«, pflegte er stolz zu sagen, »ist eines der großen Geheimnisse meines Erfolges. Und ich muss nicht mal dafür bezahlen, ich kriege es umsonst aus dem Sägewerk.«
»Wofür benutzt du es denn?«, fragte ihn Matilda.
»Ha!«, sagte ihr Vater. »Das wüsstest du wohl gerne!«
»Ich verstehe ja bloß nicht, wie Sägemehl dir dabei helfen kann, Gebrauchtwagen zu verkaufen, Papa.«
»Das liegt nur daran, dass du eine unwissende kleine Dummbacke bist«, sagte ihr Vater. Seine Sprache war wenig zartfühlend, aber daran war Matilda gewöhnt. Sie wusste auch, wie gerne er den Angeber spielte, und stachelte ihn schamlos dazu an.
»Du musst sehr klug sein, wenn du Verwendung für etwas gefunden hast, das nichts kostet«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte das auch.«
»Kannst du aber nicht«, sagte der Vater. »Weil du zu dumm bist. Dem kleinen Mike hier bringe ich es aber gerne bei, schließlich wird er ja eines Tages in meinen Laden einsteigen.« Ohne Matilda weiter zu beachten, wandte er sich seinem Sohn zu und sagte: »Ich freue mich über jedes Auto, das ich irgendeinem Trottel abkaufen kann, der die Gänge dermaßen reingehauen hat, bis irgendwann das Getriebe wie verrückt klappert. Da muss ich bloß jede Menge Sägemehl reinkippen, und schon läuft alles wieder wie am Schnürchen.«
»Und wie lange funktioniert das Getriebe dann, bevor es wieder anfängt zu klappern?«, fragte Matilda.
»Lang genug, um den Käufer des Autos auf sicheren Abstand zu bringen«, sagte der Vater grinsend. »Etwa hundertfünfzig Kilometer.«
»Aber das ist unehrlich, Papa«, sagte Matilda. »Das ist Betrug.«
»Von Ehrlichkeit ist noch keiner reich geworden«, sagte der Vater. »Kundschaft ist dafür da, dass man sie ausnimmt.«
Herr Wurmwald war ein kleiner, rattengleicher Mann, dessen Vorderzähne unter einem dünnen, rattigen Schnurrbart herausragten. Er trug gerne Jacken mit großen, leuchtend bunten Karos und, in der Regel, gelbe oder mattgrüne Krawatten. »Nimm zum Beispiel den Kilometerstand«, fuhr er fort. »Das Erste, worauf jeder schaut, der einen Gebrauchtwagen kauft, ist der Kilometerstand, korrekt?«
»Korrekt«, sagte sein Sohn.
»Also kaufe ich eine alte Karre, die zweihundertfünfzigtausend Kilometer auf dem Tacho hat. Mit dem Kilometerstand kauft mir aber natürlich niemand so eine Kiste ab, korrekt? Und heutzutage kann man den Tacho nicht einfach ausbauen und am Kilometerstand herumfummeln, wie man das vor zehn Jahren noch konnte. Das haben sie inzwischen abgestellt, das funktioniert nicht mehr, es sei denn, man ist ein verflixter alter Uhrmacher oder dergleichen. Was tu ich also? Ich setze mein Gehirn ein, Kumpel, das ist es, was ich tue.«
»Wie?«, fragte der kleine Michael fasziniert. Er schien die Vorliebe seine Vaters für Gaunereien von ihm geerbt zu haben.
»Ich setze mich hin und frage mich: Wie kann ich einen Kilometerstand von zweihundertfünfzigtausend runter auf fünfzehntausend bringen, ohne den Tacho auseinanderzunehmen? Tja, könnte ich den Wagen lange genug im Rückwärtsgang fahren, wäre die Sache damit erledigt. Die Zahlen würden dann rückwärtslaufen, richtig? Aber wer fährt schon so eine beknackte Karre Tausende und Abertausende von Kilometern im Rückwärtsgang? Kannst du vergessen.«
»Und wie du das vergessen kannst«, sagte der kleine Michael.
»Also kratz ich mich am Kopf«, sagte der Vater. »Ich nutze meinen Verstand. Wenn man einen so herausragenden Verstand hat wie ich, sollte man ihn auch benutzen. Und plötzlich fällt mir die Antwort ein! Ich sage dir, ich fühlte mich genauso wie dieser Schlaumeier damals, nachdem der das Penicillin entdeckt hatte. ›Heureka!‹, schrie ich. ›Ich hab’s gefunden!‹«
»Wie hast du es gemacht, Papa?«, fragte ihn sein Sohn.
»Der Tacho«, sagte Herr Wurmwald, »hängt an einem Kabel, das wiederum an einen der Vorderreifen gekoppelt ist. Also löse ich zunächst das Kabel vom Vorderreifen. Dann besorge ich mir eine von diesen Hochgeschwindigkeitsbohrmaschinen und bringe das Kabelende so daran an, dass der Bohrer es beim Drehen rückwärtslaufen lässt. Alles klar? Hast du mich so weit verstanden?«
»Ja, Papa«, sagte der kleine Michael.
»Diese Bohrmaschinen haben eine enorme Geschwindigkeit drauf«, sagte der Vater. »Wenn ich den Bohrer einschalte, laufen die Zahlen auf dem Tacho mit einer unglaublichen Drehzahl rückwärts. Mit so einem Hochgeschwindigkeitsbohrer haue ich in wenigen Minuten achtzigtausend Kilometer vom Tacho runter. Und wenn ich fertig bin, hat die Karre nur noch fünfzehntausend Kilometer drauf und ist bereit zum Verkauf. ›So gut wie neu‹, erkläre ich dem Kunden. ›Gerade mal zehntausend runter. Gehörte einer alten Dame, die nur einmal pro Woche damit zum Einkaufen gefahren ist.‹«
»Kannst du wirklich den Kilometerstand mit einem Bohrer zurückschrauben?«, fragte der kleine Michael.
»Ich verrate dir hier Betriebsgeheimnisse«, sagte der Vater. »Also quatsch gefälligst mit keinem darüber. Du willst doch nicht, dass ich im Knast lande, oder?«
»Ich verrate keinem Menschen was«, sagte der Sohn. »Machst du das mit vielen Autos so, Papa?«
»Jeder Wagen, der mir in die Finger gerät, erhält diese Behandlung«, sagte der Vater. »Bei allen trimme ich die Fahrleistung auf unter fünfzehntausend Kilometer, bevor sie in den Verkauf gehen. Und ich bin der Erste, der auf diese Idee gekommen ist«, fügte er stolz hinzu. »Hat mir ein Vermögen eingebracht.«
Matilda, die genau zugehört hatte, sagte: »Aber Papa, das ist ja noch unehrlicher als die Sache mit dem Sägemehl. Es ist widerlich. Du täuschst Menschen, die dir vertrauen.«
»Wenn dir das nicht passt, kannst du ja zukünftig aufs Essen verzichten«, sagte der Vater. »Das wird nämlich von meinem Umsatz bezahlt.«
»Das ist dreckiges Geld«, sagte Matilda. »Ich hasse es.«
Auf den Wangen ihres Vaters erschienen zwei rote Flecken. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist, verdammt noch mal?«, brüllte er. »Irgend so ein Erzbischof, der meint, mir einen von Ehrlichkeit vorkauen zu müssen? Du arme kleine Wurst hast nicht die blasseste Ahnung, wovon du redest!«
»Ganz recht, Harry«, sagte die Mutter. Und zu Matilda sagte sie: »Ganz schön unverschämt, wie du mit deinem Vater sprichst! Und jetzt halt gefälligst dein freches Mundwerk, damit wir weiter in Ruhe fernsehen können.«
Sie saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, ihr Abendessen auf den Knien. Das Essen bestand aus Fertiggerichten in wackeligen Aluminiumschalen, die in einzelne Fächer für das gegarte Fleisch, die gekochten Kartoffeln und die Erbsen eingeteilt waren. Frau Wurmwald mampfte ihr Essen, ohne ihre Augen auch nur für eine Sekunde von der Seifenoper im Fernsehen abzuwenden. Sie war eine große Frau mit platinblond gefärbtem Haar, außer dort, wo es mausbraun aus der Kopfhaut wuchs. Sie war dick geschminkt und besaß eine dieser unvorteilhaft ausladenden Figuren, bei denen das Fleisch am ganzen Körper festgeschnallt scheint, damit der nicht auseinanderfällt.
»Mami«, sagte Matilda, »hättest du etwas dagegen, dass ich im Esszimmer esse? Dann könnte ich dabei mein Buch lesen.«
Ihr Vater blickte scharf auf. »Ich hätte was dagegen«, schnappte er. »Ein Abendessen ist eine Familienangelegenheit, und es verlässt keiner den Tisch, bevor es nicht vorbei ist.«
»Aber wir sitzen nicht am Tisch«, sagte Matilda. »Da haben wir noch nie gesessen. Wir essen immer von unseren Knien runter und sehen dabei fern.«
»Hast du ein Problem mit dem Fernsehen?«, sagte ihr Vater. Seine Stimme klang plötzlich sanft und gefährlich.
Matilda wagte nicht, ihm zu antworten, und schwieg daher lieber. Sie spürte, wie Wut in ihr hochkochte. Sie wusste, dass es falsch war, ihre Eltern derart zu hassen, aber sie kam kaum dagegen an. Alle die vielen von ihr gelesenen Bücher hatten ihr einen Blick auf das Leben geschenkt, wie ihn ihre Eltern nie gekannt hatten. Nur ein kleines bisschen Lektüre von Dickens oder Kipling, und sie würden rasch entdecken, dass das Leben aus mehr bestand als Betrug an anderen Menschen und fernsehen.
Und da war noch etwas. Sie war es leid, immer wieder vorgehalten zu bekommen, sie sei dumm und unwissend, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht war. Die Wut in ihr brodelte weiter und immer weiter, und als sie an diesem Abend in ihrem Bett lag, traf sie eine Entscheidung. Sie beschloss, dass sie jedes Mal, wenn ihr Vater oder ihre Mutter gemein zu ihr waren, es ihnen irgendwie zurückzahlen würde. Ein, zwei kleine Triumphe würden es ihr leichter machen, deren Blödheiten zu tolerieren und nicht darüber verrückt zu werden. Man darf nicht vergessen, dass Matilda kaum fünf Jahre alt war, und für jemanden solch geringen Alters ist es nicht leicht, Punkte gegen allmächtige Erwachsene zu erzielen. Trotzdem war sie wild entschlossen, es zu versuchen. Und nach allem, was heute Abend beim Essen vor dem Fernseher geschehen war, war ihr Vater die Nummer eins auf ihrer Liste.
Am folgenden Morgen, kurz bevor ihr Vater in seine schreckliche Werkstatt aufbrach, schlich Matilda in den Ankleideraum und schnappte sich den Hut, den er jeden Tag trug, wenn er zur Arbeit ging. Sie musste sich auf die Zehenspitzen drücken und mithilfe eines Spazierstocks so hoch herumstochern, wie sie nur konnte, um den Hut von seinem Haken am Kleiderständer zu fischen, und selbst das gelang ihr nur gerade so. Der Hut selbst war eines dieser pastetenflachen Dinger mit einer bunten Vogelfeder im Hutband und er war Herrn Wurmwalds ganzer Stolz. Er fand, dass ihm dieser Hut, zusammen mit der grellbunt karierten Jacke und der grünen Krawatte, einen verwegenen Ausdruck verlieh, besonders dann, wenn er ihn leicht geneigt in die Stirn drückte.