Matratzendesaster. Literatur und Sex - Rainer Moritz - E-Book

Matratzendesaster. Literatur und Sex E-Book

Rainer Moritz

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Beschreibung

Für guten Sex gilt: Leichter getan als geschrieben! Die richtigen Worte für die schönste Sache der Welt zu finden, ist für Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine Herausforderung, bei der sie immer wieder aufs Amüsanteste scheitern. Rainer Moritz, "der Doktor Sommer der Narratologie" (FAZ), begibt sich in der Weltliteratur und der deutschsprachigen Literatur der letzten Jahrzehnte auf Stellensuche und findet: peinliche Verrenkungen, tierische Vergleiche und delikate Tiefpunkte unter den Höhepunkten. Herausgekommen ist dieses einmalige literarische Aufklärungsbuch – zum Fremdschämen, Lachen und Genießen!

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Seitenzahl: 236

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Rainer Moritz

Matratzendesaster

Literatur und Sex

Reclam

Erweiterte und aktualisierte Neuausgabe von Wer hat den schlechtesten Sex? Eine literarische Stellensuche. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2015

 

2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961458-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020389-7

www.reclam.de

Inhalt

1 Mit Hesse im Heuschober2 Erotik, Sex, Pornografie3 Die Schwierigkeit, gut über Sex zu schreiben4 Gedankenstriche5 Sie rissen sich die Kleider vom Leib6 Kommen wie ein trinkendes Pferd7 Aufgeplatzte Feigen, wuchernde Kürbisse8 Tiefer! Tiefer! Tiefer!9 Matratzendesaster10 Das große Fressen11 Intellektuelle Nummern12 Bleiben Sie am Apparat!13 Scheiden schlämmen14 Harte Sachen15 Wenn der Kaktus blühtDankLiteraturverzeichnisRegister

Dieses Buch wollte niemand gewidmet bekommen.

»Er schien weniger geneigt, unser Gespräch in eine Diskussion über den Stellenwert von Schmutz in der Literatur ausarten zu lassen. ›Für mich, wissen Sie, steckte da zu viel Sex in Ihnen‹, fuhr er fort, ›aber nun ja, die Rüge betraf eine Frage, die wohl relativ ist. Wie viel Sex ist zu viel Sex?‹

›So viel, wie man halt nicht lesen will‹, sagte ich.

›Aber man will doch gar keinen lesen.‹«

HOWARD JACOBSONJacobson, Howard, Im Zoo

1 Mit HesseHesse, Hermann im Heuschober

Sex, persönlich

Vor der Praxis steht meist die Theorie, vor der Erfüllung die Neugier, die Sehnsucht, die Erwartung. Wenn es um Sex geht, kommen die wenigsten gleich zur Sache. Wenn es um Sex geht und wenn man wie ich in den 1960er- und 1970er-Jahren in der nordwürttembergischen Provinz aufgewachsen ist – also in einer Region, die von den sexuellen Revolutionen und den Umtrieben studentischer Kommunen nicht zentral berührt war –, dann ergeben sich Probleme, wenn man danach strebt, erwachende erotische Begierden umstandslos umzusetzen.

Über Petting (so sagte man damals), Geschlechtsverkehr und andere Dinge, die einen Pubertierenden stärker als Vektorrechnung oder Annette von Droste-HülshoffDroste-Hülshoff, Annette vons Judenbuche interessieren, wurde in meinem bürgerlich soliden Elternhaus nicht gesprochen, und ich bin mir sicher, mit solchen Erfahrungen der Themenumgehung nicht allein dazustehen. Die Freizügigkeit, die bald den streng gehüteten, wenn auch selten offen angesprochenen Sittenkodex einer guten, anständigen deutschen Familie erschütterte, brauchte eine Weile, bis sie nach Heilbronn am Neckar kam. Ich hatte davon nichts mehr und musste mich anderweitig behelfen. Denn auch von den Eltern war keine Hilfestellung zu erwarten. Wurde ich jemals im Gespräch »aufgeklärt«? Von meinem Vater, der Heikles gern delegierte, sicher nicht, und meine pragmatische Mutter setzte darauf, dass mir die Schule und der Sportverein en passant die nötigen Basisinformationen lieferten, suchte lieber Unterstützung im Schriftlichen und schob mir irgendwann ein Büchlein über den Tisch, das mir frühes Anschauungsmaterial zum Themenfeld »Literatur & Sex« lieferte.

Lies das mal, sagte Mutter. Und wenn du Fragen hast, frag nur. Woher kommen die kleinen Buben und Mädchen?, hieß das schmale, typografisch schlicht aufgemachte Werk, geschrieben von einem Kurt SeelmannSeelmann, Kurt, der Erziehungsberater und Psychotherapeut war. So also begann die elterliche Einweisung, ich hatte darauf gewartet, und diese distanzierte Form erschien mir angenehmer, als wenn sich Vater oder Mutter mit mir an den Tisch gesetzt und über Fortpflanzung gesprochen hätten. Herr SeelmannSeelmann, Kurt jedoch war mir in seiner Onkelhaftigkeit nicht angenehm. Sein Duzen und seine Anrede »Meine junge Leserin! Mein junger Leser« gingen mir auf die Nerven. Fotos gab es in seinem Buch keine, stattdessen dezent gehaltene (Ali-MitgutschMitgutsch, Ali-)Zeichnungen von Kleinkindern, stillenden Müttern und Unterleibsanordnungen. Und von Blüten, die befruchtet wurden. Es dauerte ewig, bis Kurt SeelmannSeelmann, Kurt Fahrt aufnahm. Offensichtlich meinte er, ausschweifend über alles sprechen zu müssen, über Höflichkeit gegenüber den Eltern, Reifezeit, Körpergrößen, bis er zur Sache kam. Oder doch nicht, denn die entscheidende Frage, wie man es miteinander machte, beantwortete er auf Umwegen. Als er sich im vorletzten Kapitel dem Akt näherte, klang das wie eine Gebrauchsanweisung und strahlte kaum mehr Sinnlichkeit als eine Bonanza-Folge aus: »Wenn Vater und Mutter ein Kind zeugen wollen, dann wird das Glied steif und dringt in die Scheide ein. Die Hoden geben ihre Samenfäden ab und schicken sie auf den Weg.«

Dieser SeelmannSeelmann, Kurt war der Ansicht, dass nur bei verheirateten Paaren Sex vorkommen sollte, was Männern schwerer falle, denn deren Geschlechtstrieb sei drängender und heftiger. Ich legte das Buch rasch zur Seite. In einem halben Jahr, sagte Erziehungsberater SeelmannSeelmann, Kurt, möge ich es nochmals zur Hand nehmen. Das würde ich mit Gewinn tun.

Diesem Rat folgte ich selbstverständlich nicht, und mit Kurt SeelmannsSeelmann, Kurt Aufklärungsbestseller, der schon 1968 in der 14. Auflage (386.–496. Tausend) vorlag, hatte ich ein erstes Beispiel in Händen, das mir zeigte, wie mühsam es ist, sexuelle Vorgänge sprachlich wiederzugeben. Vielleicht tat ich Kurt SeelmannSeelmann, Kurt(1900–1987) sogar Unrecht, denn der umtriebige Münchner Jugendpsychologe war damals – so ein Artikel Peter BrüggesBrügge, Peter im Spiegel von 1968 – ein gern gesehener Gast, wenn es galt, der unterentwickelten Sexualaufklärungskompetenz der Deutschen auf die Sprünge zu helfen: »Als einer der wenigen Stegreifredner, die vor Deutschen aller Altersstufen behaglich über Lust und Liebe referieren können, hat SeelmannSeelmann, Kurt in weniger als fünf Jahren tausend Vorträge gehalten. Von der Humanistischen Union, die in München Jugendliche unter Ausschluss Erwachsener zum Preise von 4,50 Mark restlos aufklärt, wird dieser krampflösende Senior ebenso um Mitwirkung gebeten wie von bayerischen Landfrauen, von denen er einen ganzen Bierkeller voll in die Geschlechtserziehung einführte.«

Kurt Seelmann & Co. Seelmann, Kurtalso konnten mir nicht weiterhelfen, Vater, Mutter, Schwester und Bruder auch nicht, und so blieb allein die Möglichkeit, andernorts auf Spuren- und Stellensuche zu gehen. In den Bravo-Heften zum Beispiel, die mir Frau Müller vom Schreibwarenladen an der Schule zum Lesen gab, wenn ich bei ihr eine Cola trank und einen Fleischsalatlaugenweck aß. Oder in der Stadtbücherei etwa, deren Angestellte – Frauen in farblosen Kleidern mit praktischen Kurzhaarfrisuren – sich alle ähnlich sahen. Manche setzten strenge Mienen auf, wenn man die Bücher zu spät zurückbrachte, Seiten umgeknickt oder sich etwas angestrichen hatte. Argwöhnisch gingen sie durch die Regalreihen, befürchteten, dass man die Bücher, städtisches Eigentum immerhin, nicht sorgsam genug behandelte. Ich hielt die Augen auf, wenn ich mir einen Lexikonband herausgriff und mich an einen der hinteren Tische zurückzog. Keiner sollte merken, wie ich nachschlug, was ich zu Hause, im kleinen Brockhaus, nicht fand. Wie das mit dem anderen Geschlecht war. Wo und wie man alles einzuführen hatte. Sehr aussagekräftig und fotoreich waren die Nachschlagewerke in der Stadtbücherei nicht, es handelte sich meist um seriöse Lexika.

Leichter war es, sich literarisch zu tarnen, Hinweisen zu folgen, die ich aufschnappte, und so trug ich Daniel DefoesDefoe, Daniel1722 erschienenen Prostituiertenroman Moll Flanders nach Hause und durchsuchte ihn nach »Stellen« – ein unverfängliches Verfahren, denn einen in der seriösen Hanser-Ausgabe seriös anmutenden Roman mit einem Titel, der klang wie Effi Briest oder Anna Karenina, den konnte man, ohne Verdacht zu erregen, sogar zu Hause auf dem Wohnzimmertisch liegen lassen.

Sich auf diese Weise erotisch prickelnde Prosa zusammenzusuchen ist ein – keineswegs nur unter jungen Menschen – weit verbreitetes Phänomen und beschränkt sich nicht auf die Sozialisation in der Bundesrepublik der 1970er-Jahre. Auch in Südostbulgarien ging es früher wie in Heilbronn zu. Georgi Gospodinov, Jahrgang 1968, erzählt davon in seinem Roman Physik der Schwermut (2014). Sein autobiografisch grundierter Held greift nicht auf Kurt SeelmannSeelmann, Kurt zurück, sondern auf Siegfried SchnablSchnabl, Siegfried und dessen unter anderem im Ost-Berliner VEB Verlag Volk und Gesundheit erschienenes Werk Mann und Frau intim. Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens (zuerst 1969): »Wir lasen es heimlich. Es war gleichzeitig ein praktisches Handbuch, intimer Arzt und erotische Literatur.« Zur eigentlichen sexuellen Initialzündung für GospodinovsGospodinov, Georgi Protagonisten und zur »Taufe einer ganzen Generation« wird indes Mario PuzosPuzo, MarioDer Pate (1969). Dessen »mythische Seite 28« wird sorgsam mit der Hand abgeschrieben und wirkt als »Offenbarung«:

»Als sie jetzt die Treppe emporeilte, durchfuhr die Begierde ihren Körper wie ein gewaltiger Blitz. Oben nahm Sonny sie bei der Hand und zog sie über den Flur bis zu einem leeren Schlafzimmer. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wurden ihr die Knie weich. Sie fühlte Sonnys Mund auf dem ihren, den bitteren Geschmack nach verbranntem Tabak auf den Lippen. Sie öffnete ihren Mund. In diesem Augenblick merkte sie, wie seine Hand unter ihrem langen Kleid nach oben glitt, hörte das Rascheln des Stoffes, fühlte, wie seine große, warme Hand zwischen ihren Beinen das Seidenhöschen beiseite schob und sie streichelte. Sie legte ihm die Arme um den Hals und hängte sich an ihn, während er seine Hose öffnete. Dann legte er ihr beide Hände unter das nackte Hinterteil und hob sie hoch. Sie machte einen kleinen Hopser, so dass ihre Beine sich um seine Oberschenkel schlingen konnten. Seine Zunge war in ihrem Mund, und sie saugte an ihr. Er stieß mit wilder Begierde zu, so kräftig, dass ihr Kopf gegen die Türfüllung schlug. Sie spürte etwas brennend Heißes zwischen den Schenkeln, löste die rechte Hand von seinem Hals und griff hinunter, um ihn zu führen. Ihre Hand schloss sich um eine ungeheure, blutgeschwollene Muskelmasse, die in ihren Fingern pulste wie ein Tier. Fast weinend vor dankbarer Ekstase lenkte sie ihn.«

So anregend PuzosPuzo, Mario Türschwellennummer auf die bulgarische Jugend wirkte, so offensichtlich ist, dass die Beschreibung von Sex bei Lesern eine gewisse Nachdenklichkeit hervorzurufen vermag, ja, möglicherweise hemmenden Leistungsdruck nach sich zieht. Georgi GospodinovsGospodinov, Georgi Held kommt prompt ins Grübeln: »Sex schien eine komplizierte akrobatische Nummer zu sein, es wurde gesprungen, gefangen, hochgehoben, gestoßen, die eine Hand, die Zunge, die andere … Ich würde es nie lernen.«

So heftig wie in PuzosPuzo, Mario Mafiosiroman, wo Frauenschädel gegen Türpfosten knallen, ging es in meinen ersten Begegnungen mit erotisch geprägter Weltliteratur nicht zu. Angeleitet durch die Lektüre von Hermann HessesHesse, Hermann1919 veröffentlichtem Demian im Religionsunterricht, vertieften wir uns in das Werk des im Schwäbischen ohnehin populären Autors, lasen Unterm Rad, den Steppenwolf … und Narziss und Goldmund (1930). Denn in diesem Roman, so hatte mir ein Mitschüler zugeraunt, gebe es eindeutige Passagen, die in einem Heuschober spielten. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und saugte auf, was der »Frauenverführer« Goldmund in der fast freien Natur erlebte.

Heute, gut vierzig Jahre später, bedarf es – gestählt, wie wir durch die sexuelle Massenproduktion in der Literatur mittlerweile sind – geduldigen Nachschlagens, um jene ungeheuerlichen Seiten wiederzufinden, die mich als Jugendlichen so anregten. Mitten in Gottes unverdorbener Natur sieht ein »Weib in einem verblichenen blauen Rock« den »hübschen, schlafenden Jüngling« Goldmund und kommt ohne Umschweife zur Sache:

»Aber der Kuss war noch nicht zu Ende. Der Frauenmund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf bis ins Innerste, und im langen stummen Spiel gab die braune Frau, ihn sacht belehrend, sich dem Knaben hin, ließ ihn suchen und finden, ließ ihn erglühen und stillte die Glut. Die holde kurze Seligkeit der Liebe wölbte sich über ihm, glühte golden und brennend auf, neigte sich und erlosch.«

Sehr detailliert und aussagekräftig ist das, seien wir ehrlich, nicht. Ein paar Seiten später finden sich Goldmund und seine Lise im süß duftenden Heu wieder:

»Langsam nur ließ er sich vom Duft und der Wärme seiner Geliebten anziehen und bezaubern, erwiderte je und je das Streicheln ihrer Hände und fühlte beglückt, wie sie neben ihm allmählich zu erglühen begann und sich näher und näher zu ihm schob. Nein, hier waren weder Worte noch Gedanken vonnöten. […] Still ließ er die Ströme durch sich hingehen, glücklich empfand er das lautlose still wachsende Feuer, das in ihnen beiden lebendig war und das ihre kleine Lagerstätte zur atmenden und glühenden Mitte der ganzen schweigenden Nacht machte.«

Kurz darauf, als der Akt (um einen solchen scheint es sich bei aller Dürftigkeit der Beschreibung ja gehandelt zu haben) vorüber ist, steigt der Mond über dem Wald auf und lässt sein »weißes sanftes Licht über ihre Stirn und Wangen fließen«.

Das ist Kitsch, keine Frage. Vermutlich sind es die Nachwirkungen dieser glutvollen Prosa, die mich dazu brachten, das vorliegende Buch zu schreiben. Früh begriff ich, dass es den meisten Autorinnen und Autoren leichter fällt, einen menschenleeren Strand, ein abstoßendes Einkaufscenter oder einen blutrünstigen Mordfall zu beschreiben als den sexuellen Akt. Wie immer sich die Libertinage der vergangenen fünfzig Jahre in der Gesellschaft und in der Kunst widerspiegelt und wie sehr eine sich wandelnde Sexualmoral die Rezeption von »Stellen« verändert – es ist auffällig, wie oft Schriftsteller hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben, wie sie Fragen der Technik nicht zu lösen verstehen, sobald es um die Beschreibung von sexuellen Praktiken geht, ja, wie sie dabei jämmerlich versagen.

So ist dieses keinesfalls um Vollständigkeit bemühte Buch eine Stellensuche – vor allem in der deutschsprachigen Literatur der vergangenen Jahrzehnte, mit gelegentlichen Seitenblicken auf die Tradition und auf die Literatur anderer Länder. Es geht – auf den Spuren von Mario PuzoPuzo, Mario und Hermann HesseHesse, Hermann – um missratene Stellungsspiele, um peinliche Verrenkungen, tierische Vergleiche, um das Verbale und Non-Verbale, um die »Angstblüten« des Alterssex, um Spielarten, die die Generation meiner Eltern nicht dem Sexualleben Mitteleuropas zugeordnet hätte, und um aufblühende Kakteen. Die gleichgeschlechtliche Liebe – das sei freimütig eingeräumt – kommt dabei entschieden zu kurz. Ebenso wie die aufschlussreiche Anthologie The Big Book of Lesbian Horse Stories von Monica NolaNola, Monica und Alisa SurkisSurkis, Alisa (2002). Man kann sich nicht überall auskennen.

Es geht um Sex-Stellen, um ein Wort, das, so der Literaturwissenschaftler Thomas HeckenHecken, Thomas in seiner Doktorarbeit Gestalten des Eros (1997), für eine »besondere Dringlichkeit« einstehe, denn »entsprechende Komposita, die darauf hinweisen, dass innerhalb eines Buches oder Filmes von Gartenarbeiten oder vom Autofahren gehandelt wird, gibt es nicht«. Es geht um eindeutige Sex-Stellen, die schamlos aus dem Zusammenhang gerissen werden und oft genug zeigen, welche Desiderate die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wirklich hat.

Ich wünsche eine anregende Lektüre.

2 Erotik, Sex, Pornografie

Sex, definitorisch-historisch

Tun wir am besten erst einmal das, was wir in Phasen der Unsicherheit schon während des literaturwissenschaftlichen Grundstudiums taten. Greifen wir zu den einschlägigen Fachlexika und setzen darauf, dass sich auf diesem Weg definitorische Klarheit herstellen lässt. Gero von WilpertsWilpert, Gero von1955 erstmals erschienenes Sachwörterbuch der Literatur spiegelt in seinen zahlreichen Auflagen die Wandlungen des Zeitgeistes trefflich wider. Um eine Grenzziehung zwischen Erotik und Pornografie in der Literatur ist WilpertWilpert, Gero von auch in der Ausgabe von 2001 nicht verlegen. Demnach sei erotische Literatur eine »thematische Sammelbezeichnung für Werke aller literarischen Gattungen mit stärkerer Betonung des Körperlich-Sinnlichen und Sexuellen in den Geschlechtsbeziehungen jeder Art«, wohingegen Pornografie eine »gesteigerte Form der erotischen Literatur« darstelle »mit ästhetisch, kompositorisch, stilistisch und literarisch wertlosen, ausführlichen Beschreibungen geschlechtlicher Vorgänge (Geschlechtsverkehr, Sexualpraktiken, Perversionen), ohne jeden qualifizierten Kunstanspruch mit der zentralen und ausschließlichen Wirkungsabsicht sexueller Stimulierung und daher stets unoriginell, monoton in Wiederholung und Steigerung und das schickliche Maß des noch vertretbaren Geschmacks zum Obszönen hin übersteigernd«.

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Tröpfchen – so leicht wie Gero von WilpertWilpert, Gero von noch Anfang des 21. Jahrhunderts meint, das feinsinnig Erotische vom plump Pornografischen unterscheiden zu können, so wenig hilft das weiter, um dem Spektrum der Gegenwartsliteratur gerecht zu werden. Die Bestimmung des künstlerisch Wertlosen, des Unoriginellen oder Monotonen ist strittig geworden, und das »schickliche Maß«, mit dem von WilpertWilpert, Gero von argumentiert, mag allenfalls noch in den 1950er-Jahren als Argument vertretbar gewesen sein.

Dass die Darstellung sexueller Details hinnehmbar sei, sofern sie auf einem künstlerischen Anspruch beruhe, gehört zu den wiederkehrenden Argumenten, um Kunst und Literatur vor der Indizierung zu bewahren. So werden bis heute Germanisten vor Gericht zitiert, um in ausführlichen Gutachten resistenten Juristen zu erklären, warum ein verklagtes Werk als künstlerisch wertvoll zu erachten sei. Das als pornografisch (oder gewalttätig) Eingestufte muss ästhetisch gerettet werden; dann darf es pornografisch (oder gewalttätig) bleiben. Wer Glück hat wie BoccaccioBoccaccio, Giovanni (Das Dekameron), Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich (Lucinde), George SandSand, George (Lelia), Arthur SchnitzlerSchnitzler, Arthur (Traumnovelle), Henry MillerMiller, Henry (Sexus) oder Benoîte GroultGroult, Benoîte (Salz auf unserer Haut), steigt zum erotischen Höhenkamm auf, nachzulesen in Barbara SichtermannsSichtermann, Barbara und Joachim SchollsScholl, Joachim50 Klassiker: Erotische Literatur (2011). Wer Pech hat, muss manchmal sehr lange warten, bis sich der Zeitgeistwind dreht, sich die akzeptierten Wert- und Obszönitätsvorstellungen wandeln und die Gesellschaft neu definiert, was sie an Freizügigkeit tolerieren mag.

Es genügt, einen Blick auf die Anfänge der Bundesrepublik zu werfen, als 1954 die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ihre Arbeit aufnahm und den Sittenkodex der Adenauer-ÄraAdenauer, Konrad zu verteidigen suchte. Indiziert wurde damals viel und vor allem viel sexuell Verdächtiges. Manche Werke wie Felix SaltensSalten, Felix Dirnengeschichte Josefine Mutzenbacher (1906) wurden mehrfach vor Gericht verhandelt. 1997 entschied das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen erneut, dass sie als jugendgefährdendes Werk anzusehen sei: »Der Roman erschöpft sich nahezu – nur wenige Seiten sind hiervon ausgenommen – in einer Aneinanderreihung pornografischer Episoden, an denen Kinder und Jugendliche stets maßgeblich beteiligt sind. Die Hauptfigur der Josefine Mutzenbacher agiert dabei im Alter zwischen sieben und dreizehn Jahren. Detailreich werden inzestuöse Szenen zwischen Geschwistern sowie zwischen Kindern und ihren Eltern geschildert. Verführung in allen Varianten, gelegentlich aber auch Gewalt, Erpressung und Demütigung durch überlegene Geschlechtspartner (Eltern, Hausbewohner, Soldaten, den Beichtvater, den Katecheten, den Lehrer usw.) gehören zum Alltäglichen des auf das Sexuelle konzentrierten Kinderdaseins. All diese dargestellten Widerfahrnisse und ihr Ergebnis – der Status des Dirnenlebens der Titelfigur – werden stilistisch und inhaltlich in einer Weise gutgeheißen, die Kindern und Jugendlichen kaum ermöglicht, kritische Distanz zu gewinnen.« Immerhin schlossen sich die Nicht-Juristen Barbara SichtermannSichtermann, Barbara und Joachim SchollScholl, Joachim dem Urteil an und halten das Werk »zu weiten Teilen für schändlichste Kinderpornografie«.

Wenn wir uns schon in der Literaturgeschichte bewegen: Im Herbst 2018 veröffentlichte der Rowohlt Verlag, ihn als Weltsensation preisend, Rudolf BorchardtsBorchardt, Rudolf von seinen Erben lange zurückgehaltenen Roman Weltpuff Berlin. Das 1938/39 entstandene, sehr umfangreiche Opus ist eine Mutzenbacher für die gebildeten, gern französisch parlierenden Stände und für Altherrenfantasien jeder Art eine Fundgrube. Natürlich genügen so bei Borchardt den männlichen Akteuren wenige gut platzierte Stöße, um Frauen zu »heiserer Raserei« und nur Sekunden später zur »zweiten Ekstase« zu bringen. Seitenlang geht das in diesem Puff so weiter. Auf die Mahnung »Attendez ne poussez pas – ça va marcher, ne forcez pas« folgt Einsicht, nach einer kurzen Pause aber geht es weiter mit dem »Stoßen, Rutschen, Mahlen, Bohren«, und selbstverständlich genießt die so Penetrierte alsbald das »16tel Takt-Fortissimo meines Finales«. Hätten sich die Borchardt-ErbenBorchardt, Rudolf nicht erweichen lassen, wäre das auch nicht schlimm gewesen.

Juristischen Ärger hatte auch Günter GrassGrass, Günter. Nachdem dieser mit der Blechtrommel (1959) das Sittlichkeitsempfinden konservativer Kreise tief verletzt hatte, empörte seine zwei Jahre später erschienene Novelle Katz und Maus einen Beamten des hessischen Ministeriums für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen derart, dass er bei der Bundesprüfstelle einen Antrag stellte, Grass’Grass, Günter Buch als jugendgefährdende Schrift einzustufen. Auslöser der Erregung war eine Passage, die als Onanierolympiade in die Literaturgeschichte einging.

Hauptfigur Mahlke entledigt sich seiner Badehose, legt Hand an sich, bis sein Schwanz, das »Stehaufmännchen«, so »sperrig« steht, »dass die Eichel aus dem Schatten des Kompasshäuschens herauswuchs und Sonne bekam«. So gerüstet, kann Mahlke in den Wettbewerb eintreten:

»Er hatte es uns wieder einmal gezeigt und zeigte es uns gleich darauf noch einmal, indem er sich zweimal nacheinander etwas – wie wir es nannten – von der Palme lockte. Mit nicht ganz durchgedrückten Knien stand Mahlke knapp vor der verbogenen Reling hinter dem Kompasshäuschen, guckte starr in Richtung Ansteuerungstonne Neufahrwasser, war etwa dem flachen Rauch des schwindenden Hochseeschleppers hinterdrein, ließ sich durch ein auslaufendes Torpedoboot der Möwe-Klasse nicht ablenken und gab, von den leicht über Bord ragenden Zehen bis zur Wasserscheide der Scheitellinie, sein Profil zur Ansicht: bemerkenswerterweise hob die Länge seines Geschlechtsteiles das sonst auffällige Hervortreten seines Adamsapfels auf und erlaubte einer, wenn auch bizarren, dennoch ausgewogenen Harmonie, seinen Körper zu ordnen.

 Kaum hatte Mahlke die erste Ladung über die Reling gespritzt, begann er sogleich wieder von vorne. Winter stoppte die Zeit mit seiner wasserdichten Armbanduhr: etwa so viele Sekunden, wie das auslaufende Torpedoboot von der Molenspitze zur Ansteuerungstonne benötigte, benötigte auch Mahlke; er wurde, als das Boot die Tonne passierte, genauso viel los wie beim erstenmal: wir lachten überdreht, als sich die Möwen auf jenes, in den glatten, nur selten krausen See schlingernde Zeug stürzten und nach mehr schrien.«

Ein viriler junger Mann, dieser Mahlke, und sein Autor nicht minder. Bis hin zu seinen Altersgedichten Letzte Tänze (2003) zeigt GrassGrass, Günter Freude daran, seine Leser mit kraftvoller Erotik zu erfreuen. Auf die Betonung seiner kaum getrübten Potenz, wie sie Grass mit über achtzig Jahren öffentlich äußerte, hätte man indes vielleicht verzichten können.

Die Masturbationsanleitung in Katz und Maus zeugt von ungetrübtem Wohlgefallen am eigenen Fortpflanzungsorgan, wenngleich die Wendung »sich etwas von der Palme locken« nicht mehr sehr geläufig ist. Späte Reflexe finden sich immerhin in Wolfgang HerrndorfsHerrndorf, WolfgangTschick (2010) – »… und wedelte sich einen von der Palme« – und in Clemens MeyersMeyer, Clemens im Prostituiertenmilieu angesiedelten Roman Im Stein (2013): »Keiner macht auf. Weil sie plötzlich Schiss gekriegt haben und sich einen von der Palme gewedelt oder was weiß ich.«

Um Grass’Grass, Günter Novelle vor der Indizierung zu bewahren, bedurfte es germanistisch geschulter Verteidiger, darunter den Stuttgarter Professor Fritz MartiniMartini, Fritz und den Brentano-SpezialistenBrentano, Clemens Hans Magnus EnzensbergerEnzensberger, Hans Magnus, die – in typischer Argumentation – betonten, dass Mahlkes imposante Onanierfertigkeiten sehr wohl Kunstcharakter aufwiesen. Das Gericht zeigte sich beeindruckt und wies den Antrag des hessischen Beamten ab. Trotzdem behielt Günter Grass seinen Ruf als politischer und sexueller Provokateur. In seiner berühmten Rede vom Dezember 1966 hatte der Zürcher Germanist Emil StaigerStaiger, Emil Grass’ Werk vor Augen, als er ausrief: »Wenn solche Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Säufer Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie?« Auch StaigersStaiger, Emil Landsmann, der einflussreiche Kritiker Max RychnerRychner, Max, hatte zuvor, auf GrassGrass, Günter anspielend, markige Worte gefunden: »Das Säuische im Menschen kannten alle Jahrtausende, aber man erhob es nicht zum Substrat der Literatur.«

Bleiben wir kurz beim Onanieren. Wo die einen von eher biegsamen denn hammerharten »Palmen« sprechen, greifen andere zu kräftiger Metaphorik. Maxim BillerBiller, Maxim zum Beispiel, ein viriler Autor, der sich sexualiter gern in der Philip-RothRoth, Philipp- und Bukowski-NachfolgeBukowski, Charles sieht, lässt in Biografie (2016) seinen Ich-Erzähler natürlich mit »ungewöhnlich kräftiger Erektion« masturbieren: »Nein, das war kein noahhafter Halber, das war der Opera Tower in der Hayarkon!« Überhaupt ist BillersBiller, Maxim etwas dick geratener Roman ausgesprochen sexstellenreich und bietet Stoff genug für viele Masterarbeiten.

Nachwehen der Kontroversen, die die Blechtrommel und Katz und Maus auslösten, waren in meiner Heimatstadt Heilbronn, wohin der Aufbruch der 68er-Bewegung erst mit Verzögerung gelangte, noch Mitte der 1970er-Jahre zu spüren. Im Februar 1976 präsentierte der Kunstverein Grass’Grass, Günter Radierungen, in Anwesenheit des Künstlers. Eine davon – Koch Grün – erregte das Heilbronner Publikum schon im Vorfeld der Vernissage, zeigte es doch einen Koch, aus dessen Mund ein stattlicher Penis herausragte. Der Betreiber der Heilbronner Festhalle »Harmonie«, Frieder WeberWeber, Frieder, ein gelernter Koch, sah darin »keine Kunst, sondern eine Schweinerei« und forderte ein Aufhängverbot des »ekelerregenden« Bildes. Das eilig angerufene Gericht kam dem nicht nach, und die Staatsanwaltschaft sah keinen Anlass, eine Strafverfolgung wegen Verbreitung pornografischer Schriften einzuleiten. Die Ausstellung erfreute sich großen Zuspruchs.

Günter GrassGrass, Günter ragte aus der Sexödnis heraus, die die deutsche Literatur der Adenauer-ÄraAdenauer, Konrad an den Tag legte. Ganz im Einklang mit einer Gesellschaft, die über Sex nicht offen sprach, zeigten die Schriftsteller keinen Wagemut, unzweideutig über Geschlechtsverkehr zu schreiben. Es blieb – sieht man vielleicht von Arno SchmidtsSchmidt, ArnoDie Gelehrtenrepublik (1957) ab – bei Andeutungen, und wer in jenen Jahren bei Alfred AnderschAndersch, Alfred, Wolfdietrich SchnurreSchnurre, Wolfdietrich, Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg, Ilse AichingerAichinger, Ilse, Wolfgang KoeppenKoeppen, Wolfgang, Hans Erich NossackNossack, Hans Erich, Heinrich BöllBöll, Heinrich, Siegfried LenzLenz, Siegfried oder Max FrischFrisch, Max nach Deftigem suchte, suchte fast immer vergeblich. Die Literatur, die – wie man sagt – ihrer Zeit oft voraus sei, gab sich meist schamhaft und befand sich in völligem Einklang mit der Werbung oder der Unterhaltungsmusik. Auch der deutsche Schlager jener Zeit blieb im Bereich des Züchtigen, obwohl er thematisch permanent von der Liebe handelte. Doch mehr als die Beine von Dolores oder Küsse unterm Regenbogen wurden nicht besungen. Eine Doktorarbeit wie Burkhard BussesBusse, BurkhardDer deutsche Schlager. Eine Untersuchung zur Produktion, Distribution und Rezeption von Trivialliteratur (1976) hielt zu Recht fest, dass die Frau im Schlager dieser Jahre busenlos gewesen sei. Wer Erotisches besingen und nicht Gefahr laufen wollte, von den Rundfunkanstalten ignoriert zu werden, musste zu sublimen Verschlüsselungen greifen – wie die niederösterreichische Sängerin Ditta EinzingerEinzinger, Ditta (Lolita)Lolita s. Einzinger, Ditte, die sich bezeichnenderweise Lolita nannte. Ihr von Walther RothenbergRothenberg, Walther verfasstes Männer, Masten und Matrosen (1965) ist dafür ein prägnantes Beispiel: Das eher textarme Lied erzählt die vertraute Geschichte vom Seemann, der Abschied nimmt (»Er muss fahren, immer fahren«), und gibt der verlassenen Hawaiianerin Mohavana zugleich die Hoffnung, dass er zurückkommen wird. Wer oder was in diesem Lied freilich nach Hawaii zurückschippert, bleibt unklar.

»Männer, Masten und Matrosen kommen immer wieder nach Hawaii«, das ist die mehr als merkwürdige Refrainzeile. Will sie sagen, dass Matrosen keine Männer sind? Dass sie in ihrer Wertigkeit mit Schiffsteilen, den Masten, gleichzusetzen sind? Und gehen wir zu weit, wenn wir die Masten als phallisches Symbol interpretieren, eine Codierung, der sich die keusche Adenauer-ÄraAdenauer, Konrad bediente, bedienen musste, um das Eindeutig-Zweideutige in züchtige Lieder einschleusen zu können? Mohavana ist in Erwartung von »Männern, Masten und Matrosen«, und Lolita gibt ihr beruhigende Gewissheit: »Und auch deiner ist dabei.« Wer nun? Der Mann, der Matrose oder nur der Mast?Einzinger, Ditta (Lolita)

Auf solche feinsinnigen Tricks konnten Schlager, Werbung und Literatur wenige Jahre später verzichten. Mit der Studentenrevolte von 1967/68 und der Aufbruchsstimmung der sozialliberalen Koalition brachen die Dämme, und die bis dahin gut versteckte Erotik breitete sich allenthalben aus. Die Literatur nach 1970 kennt kaum Scheu, eindeutige »Stellen« einzubauen, und lässt die Grenzen zwischen feiner Erotik und drastischer Pornografie verschwimmen. Die zunehmende Verfügbarkeit von sexuell expliziten Darstellungen bis hin zu den kostenfreien Pornoplattformen im Internet veränderte das Bewusstsein dessen, was als anstößig und schamverletzend gilt. Beispielhaft steht dafür Willi ForstsForst, Willi Film Die Sünderin aus dem Jahr 1951, der einen handfesten Skandal heraufbeschwor – weniger weil Hildegard KnefKnef, Hildegard als Prostituierte Marina einen Augenblick lang nackt zu sehen war, sondern vor allem weil sich kirchliche Kreise daran stießen, dass der Film Prostitution und Sterbehilfe verherrliche. Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) erwog, den Film zu verbieten – eine Entscheidung, die erst nach mehreren Krisensitzungen aufgehoben wurde. Vielerorts wurde zum Boykott des Films aufgerufen; in Regensburg kam es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Erzbischof Michael BuchbergerBuchberger, Michael sprach von einem »Vorgeschmack auf einen bolschewistischen Angriff, der die christliche Grundordnung zerstören« wolle. Heute ist der Film ab zwölf Jahren freigegeben.

Mit literarischem Sex (bevorzugt in Verbindung mit den Themen Nationalsozialismus, Gewalt und Religion) zu provozieren, ist – wie die Romane Charlotte RochesRoche, Charlotte (Feuchtgebiete) oder E. L. James’James, E. L. (Shades of Grey) zeigen – weiterhin möglich, doch bedarf es gehöriger Ausreizungen, um die sexgestählten Leserinnen und Leser unserer Tage in Wallung zu bringen. Staatsanwälte geben sich damit höchst selten ab, es sei denn, Persönlichkeitsrechte werden wie in Alban Nikolai HerbstsHerbst, Alban NikolaiMeere (2003) verletzt. Zu behaupten, dass die Sexualisierung der Literatur eine bessere Literatur hervorgebracht habe, ist freilich zweifelhaft. Denn die Lust, alle möglichen Spielarten des Sexualverkehrs detailreich zu beschreiben, geht bei sehr wenigen Autoren mit dem Können einher, diese zu beschreiben. Was dieses Buch belegen soll. Kandidaten für den »schlechtesten Sex« gibt es genügend.